IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF
HIS ROYAL HIGHNESS
PRINCE HENRY OF PRUSSIA
MARCH SIXTH,1I02
ON BEHALF OF HIS MAJESTY
THE GERMAN EMPPROR
Baltifche
NMonatsjchrift.
Herausgegeben
von
Arnold von Tideböhl.
Adıtunddreigigiter Jahrgang.
XLIN. Band.
Reval.
Franz Sluge.
1596,
sb u VA
Harvard College Library
APR 23 1309
Hohenzollern Collection
Gift of A. C. Conlidge
Jıhalt
Seite.
Einiges zur _Geichichte der Dobleniche Kirche. _ Von Dr._W.
Vielenftein . . . INN PB
Gujtav Adolph und die Nubbeiche Sirehenoifiintian. Von
Dr, & 2. Nottberf 29
Baron Merander von der Pahlen 7. a 15
Zwei Epifoden aus der Zeit Kailer Tanks ri 63
Ein viendonnmer Brief des Stantsraths Channfow an Ben
Kürten Suworow v. I. 1848. R 73
Beziehungen Livlands und Kurlands zum Yoilantpropin in
au. Bon D. franfe 2 . m
Ein Brief Immannel Nants an Chrijtian Heinrieh Kalte 138
Mus einer Denkfchri Barrots an den staijer Nikolai I. 146
Zeraphims livländifche Sejchichte, _ Von _Dr._ U. Vergengrün 161
Ueber den Begriff der Entwidelung nad Herbert Spencer.
Ton N. von Schufmann FERIEN SE 178
Baron Eduard von der Brüggen . Yon 9. Diederichs 202
Die Eingeborenen Yivfande im 19. Anhrhumdert. Won
Map von Traniche 0 0. 2 28
Tomas und Andividnm in der Yitteratur. Von Dr. E. Erhardt
Der Uriprung des altlivländiichen Yandtages. Von I. v. Hernet
Lolfogeiit md Zeitgeift in der matraliftiichen Dichtung. Yon
U. Maing.
DVeiträge zur Gefchichte der Unterer] fung Nurlands, Dornehufich
nad den Alten des ach. preußiichen Stantonrchivs. Yon
E._von der Vrüggen . . . . . 383
500. BT.
Ueber |vanenlitteratur. ‚wei Vorträge von ntenis
h.
Alte und neue Parteien in Deutichland. Von Dr. E. Edihardt
Zur Aurländifchen NAararentwidelwig. Yon N. v. 9
Der X. archüologiche tongreh zu Riga. Von Dr, U. Bielenitein
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152. 264. 316.
Poli
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ars zur Befhiäte der Poblenfen Nirde‘). . =.
Von Kafter. Dr: U. Bielenftein.
7 1495 foll, ‚Ät Überliefert, Walter von lettenberg,
s Srpensmeirter zu Liofand, die Doblenfche Kirche gebaut
er. Erfejallte wordem modh feine chrüffiche rcdigt in
ar Gab x yevor hier. mod) fein Bethaus, wo die Aniee
Any ‚Daunen. Jefy Chrifti? Schon ziweibunbert Jahre
der, bentjehei: Gerrfchaft das Chriftenthum zu ben
Teitifchen Einwohnern, weftlich von der In gefommen,
AT au Jahre 12190
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Giniges zur Bejhihte der Poblenjhen Kirde‘).
Von Paitor Dr. A. Bielenftein.
I.
m Jahre 1495 joll, ift überliefert, Walter von Plettenberg,
der Ordensmeifter zu Livland, die Doblenjche Kirche gebaut
haben. Erjchallte vordem nod) Feine chriftliche Predigt in
diefer Gegend? Gab c5 zuvor hier nod) fein Vethaus, wo die Aniec
id) beugten im Namen Jeju Chrifti? Schon zweihundert Jahre
vordem mar mit der deutf—hen Herrichaft das Ghriftentjum zu den
Tcmgallen, den lettijchen Einwohnern, wejtlih von der Aa gefommen.
Aber die Anfänge reichen nod) viel weiter zurüd. Im Jahre 1219
hatten die Somgallen von Moefothen (Heinr. v. Lettl., Kap. XXIII
$ 3) den Nigafchen Bifhor Albert freiwillig gebeten, fie in die
Gemeinjchaft der Chriften aufzunehmen und ihnen Schug vor den
Kittanern zu gewähren. Bifchof Albert erfüllte ihre Bitte, jchickte
Geiftlihe und bewaffnete Männer, die beide freundliche Aufnahme
in Mefothen fanden. Das war der Anfang chriftlicher Kirche an
der Na, unterhalb VBauste. Bald darnad 7, 1230 (LU. B. 1,
pP. 134, Nr. 103) nahmen die Kuren an den beiden Ufern der
Winden und Abau freiwillig das Chriftenthum und die Oberherr-
Der verfürzte Inhalt des Folgen bei der eier des 100-jähe
vigen Nirchenjubiläums am 3. September 1805 der Doblenjchen Semeinde
vom Lerfajer vorgelragen worden,
Baltifhe Ronatsjgrift. Bd. XLIL. Heft 1. ı
2 Zur Gefchichte der Doblenfcen Kirche.
Ichaft der Deutjchen an, und jchlofien mit dem Nuntius des Gardinals
Otto, Yalduin von Alna, einen Vertrag, in weldem fie fih) ver-
pflichteten, chriftfiche Priefter aufzunehmen, als wahre Chriften diejen
zu gehordhen, nad) ihren heiljamen Mahnungen jtille zu werben, fie
gegen Feinde wie fidh felbft zu vertheidigen, den von päpftlicher
Autorität ihnen einzufegenden Vifchof, mit Ehrfurcht und Hingabe
wie ihren Vater und Heren aufzunehmen, die Gerechtigkeit dem
Bischof und feinem Prälaten jährlich zu feiften, wie die Eingeborenen
von Gothland cs thäten. Unter diefen Bedingungen war jenen
Kuren beftändige Freiheit (perpetua libertas) zugefagt, jo lange fie
nur nicht vom Chriftenthume abfielen, und feine anderen Yaften wurden
ihmen aufgelegt, als nur nod) diefe, daf; fie die Striegszüge gegen
die Heiden fowohl zum Schug des chritlichen Gebietes, als aud)
zur Ausbreitung des chriftlichen Glaubens mitmachen follten. Diejer
friedliche Pakt von 1230, welcher niemals oder nur ganz worüber:
gehend verlegt ward, brachte dem Abau-Gebiet den Namen von
Friede-Sturfand (Vrede euronia) ein, und ift in feiner Genauigfeit
hocyinterefiant, jofern er die milden und billigen Grundjäge angiebt
nad) welchen die chriftliche Kicche und der deutjche Orden mit den
beidnifchen Gingebornen auch in andern Theilen des baltifden
Yandes zu verfahren pflegten, wenn diefe das Evangelium annadınen
und dabei verdarrten.
Zeit 1230 blieb Nord: und Weit-fturland in den Händen der
Ehriften, und der Weg. den die deutfhen Ordensherren zu Lande
von Merienburg nad Piga machten, führte fange über die Ordens:
ichlöffer Miemel, Grobin, Goldingen, Nandau, Tucum um das
Semgaller- Gebiet zwifcen der Aa und den Quellen ihrer weitlichen
Zuflüffe (Blieden, Doben [Dobeloberg]. Au) herum. wurde
noch viel geitritten und Blut vergoffen, bis um’s Naht 1200 die
Zemgaller jelbit ihre Feten Burgen Doblen, Terweten (bei Hofzum
), Noaften (bei Schagarren), Sidroben (bei Janifchfi) in der
Roth) des Hungers und im Bewufitfein der Ohnmacht preisgaben
und foweit fie durd) ihre Feindfefigfeiten compremittirt waren, nach
Süden zu den Liltanern auswanderten (ef. Doblen, ein fultur
biftorifches Bild aus Scmgallens Vorzeit d. A. Bielenftein in der
Balt. Monatsfchrift 1873, I und II). Schon in jenen Friegerifdien
Sahrzehnten hat nad) heutiger Volfsfage eine erfte Nirde in unfre
Zur Gedichte der Toblenjchen Stirche. 3
Gegend, nämlich auf dem Heiligenberge (oft aus Arrthum
denihanze” genannt) bei Hofzumberge geitanden. Eine „Nicche* ift
es gewiß nicht aewejen, aber wohl eine Kapelle in dem feiten
„Baufe”, welches der CO. M. Willefin von Schauerburg im Winter
zwijchen 1286 und 1287 der Terwetenburg gegenüber auf dem
ligenberg aebaut hat (Neimchron. f 9960). Eine jolde
Hausfapelle hat in einer Trdensbing gefehlt.
ann nad) 1290 auf dem Hügel an. der Verje, wo jest der
Hochbau der alten Doblenf—en Ordens-Komthurei emporragt, nad)
Befeitigung der jemgalliichen Pallifaden, die erften Mauern des
deutichen „Daufes“ mit chriftlicier Kapelle aufgeführt jei, fagt uns
fein Zeugnif; jener Zeit. Jedenfalls aber dürfen wir annehmen,
dab, wie das Schwert in die Scheide geitedt war md Pilug und
Sichel ihre friedliche Arbeit auf den verwülteten Fluven wieder be
gannen, auch die Diener Gottes, die Priefter der Kirche ihrer Pflicht
gewartet haben, das Wolf zu Lehren, wie es ein Volt des wahren
Gottes werden fnne. Es giebt merfwürdige Yeweije dafür, dafi
in unfrem Lande nicht das Schwert und die Gewalt zum Chriften-
tum gezwungen habe, Tondern, daf; der Ichrende Priefter voran-
gegangen und der Nitter mit den Waffen erit nadaefolgt, als ein
Vejdüger di welche zumächit mit dem Schwerte des Wortes
Gottes die Finjterniß zu befämpfen famen. Ganz wie in Livland,
ficht es bei uns im Scmgaller-Lande feit, da bei Theifung der
Gebiete zwijchen Kirche md Trden die in’s Land hineinfiegenden,
von Kiga, dem Ausgangspunkt der deutfcen Herricaft, entfernteften
Gebiete dem Erz:Bifchof oder auch den Nigafchen Domfapiteln, alfo
den geiitlien Herren, die aber vücdwärts nad) Niga zu liegenden
dem Orden zum DVefig gegeben wurden. Co erhielt im Jahre
54, noch 36 Jahre vor der eigentlichen Eroberung des Landes,
der Exzbiichof die Yandihaften Silene und Saggara (Grenzhof und
hagarren), das Nigafche Domkapitel die Yandicaften Dobene und
jirnene (Dobeloberg und Ahlen), der Orden aber die öfllidh ge
fegenen Landjchaften Dubelone (it wohl wmrichtige Schreibung für
Doblen und
M
befene) und Tervetene ofumberge) (ef. &. U.®.
1, p. 345, Nr. 264 und Bielenftein, Grenzen, Zeite 108 ff.)
Daraus erfehen wir, dafı nicht das Schwert, fondern ber Krummitab
voranging, dal; erft die Stirche ihr Werf an den Heiden verjuchte,
x
4 Zur Gefchichte der Doblenfehen Kirche.
bdarnad) aber zum nothwendigen Schuß die Waffenmadht folgte.
Eine folde Thatfache ift geeignet, manche irrige Vorftellungen über
jene Zeit deutjcher Einwanderung zu berichtigen.
Ohne Waffen ging es freifich nicht, denn diefelben, die dem
Ghriftenglauben zufielen, fielen audy einmal wieder ab und ein Theil
der Eingebornen, ber begreifliherweife den Wert) allgemeiner
und chriftlicher Suftur mod nicht würdigte, übte Feindjeligfeiten,
welde Sühne forderten.
Mit dem Jahre 1290 war, wie fon gefagt, das ganze Sem-
galler Land und damit yiemlid) das ganze Heutige Nurland unter
die Herrichaft der Deutichen und ber chriltlichen Sirche gebracht.
Die alten Götter der Leiten waren zu ohnmächtig gewejen, die Celb-
Ntändigfeit ihrer Anbeter zu fügen. Die todesmuthigen Voten
Chrifti und die gewaltigen Eifenmänmer des Weitens hatten den
Sieg davongetragen.
Bei Doblen bezeugt Feine Tradition mehr den elfus-Falns, wo
damals die Leute der Gegend dem Lichtgott Deews, dem Frühlings:
gott Whfinfch, der Mutter Sonne (Saule) mit ihren Töchtern
(Saules meitas), den Gottesjöhnen (Deewa dehli), den Donnergott
RVehrfons, der Veihügerin der Mütter, der Kinder und der MWaifen
Zain) ihre Felte feierten und ihre Opfer brachten. Den Glauben
jener heidnifchen Vorzeit Fönnen wir hier nicht jehildern, aber wir
müffen bemerfen, daf; wir ihm billiger Weije mit dem Xolte felbjt
als „den Glauben der Alten“ (mezu laufchu tiziba) vichtiger be:
zeichnen, als mit dem Namen „Aberglauben“, in weichem ein Tadel
angebeutet ift, welcher auf dem Fonfejfionellen Standpunkt ein Recht,
aber auf dem Hiftoriichen weniger bereditigt ift. Wer denjelben
fennen lernen will, fann die jehr merkwürdigen und hochpoetiichen
Zeugnifje defielben in den noch heute Lebenden lettüichen Volkslieder
finden, welche freilid) uns nicht die conereten Gejtalten einer griecht-
ichen Götterwelt vor die Augen stellen, aber uns auf eine viel
ältere Stufe refigiöfer Vorjtellung führen, wie fie uns vielleicht nur
in den älteften Vebas entagegentreten.
Zur Gefhichte der Toblenfchen Kirche. 5
I.
Wir treten mit dem Jahre 1290 in die chrüftliche Zeit Doblens,
genauer gejagt in die Fatholiiche Periode, die von 1290 bis zur
Keformation durch Gotthard Nettler dauerte.
Es ift wahricheinlih, dah der Orden fojort nad) der Nieder:
brennung der hölzernen Semgaller Veite auf dem Hügel an der
VBerfe und zwar auf demfelben Meinen Plateau, wo jene geftanden,
fich ein einfaches feiteo Haus gebaut haben wird. Der Chronift
Hermann von Wartberge berichtet als Erjter einen, aber wahr:
ideinlich ipätern Yurgbau zu Doblen, feitens bes Orbensmeifters
Everhard von Munheim im Jahre 1335 und erwähnt eine weitere
Vlauerung und Verbefferung der Doblenichen Burg durd) Goswin
von Herife, die früheftens in das Jahr 1347 fallen Fönnte,
Wann und von wem ber deutfche Yurgplag über den eigent-
lichen heidnifchen Burgberg hinaus auf die heidnifche Vorburg hin,
durd Musfüllg des noch nadjweisbaren zwifchen beiden quer
durchgezogenen Grabens erweitert worden, läßt fi wohl fchwerlic,
mehr feititellen. Die Fundamente der urjprünglichen erften Ning-
maner, welche fi am Rande des fait runden alten heidnifchen
Yurghügels herumgezogen, find nod) deutlich über dem Verfe-Ufer
fihtbar, und daneben die Neite der, weit über den Graben hinaus:
gehenden fpäteren WViauerfundamente und Vlauern. Ebenfoiwenig
it cs nachweisbar, wo innerhalb der Trdensburg Doblen die erfte
Kapelle zum chriftlichen Gottesbienjt geftanden. I. Döring (Sigungs-
Ber. der furl. Gef. f. Litt. u. Kumfl 1883, p. 8 ff. über die Ge
ichichte der Ordensburg Doblen) vermuthet, dah diefelbe in dem
Heinen Hof am Nordojt:Ende der Yurg umd zwar an der Cfimauer
deffelben geftanden haben möge. Der Hochbau, welder heute noch
das Innere einer Kirche zeigt, ift jebenfalls nicht bie erite Kapelle
der Ordensritter gewefen, fondern jedenfalls urfprünglich der Nern
ihrer Vefeftigung, ihr Napitelfjaal u. j. w.
Es it Mar, daß die Heinen Kapellen der aud) nicht einmal
zahlreichen Ordensiglöffer im Lande räumlich nicht haben genügen
tönnen zur Aufnahme der Mafje von eingeborner Vevölterung, wie
fie heute die Kirchen des Yandeo füllen. Die Allmählichfeit, mit
weldyer die Eingebornen das Chriftenthum fich aneigneten und in
der That fi) auch mur aneignen Lonnten (Hlagt dad) noch in ber
6 Zur Gefchiehte der Doblenfcen Nürche,
Mitte des 17. Jahıh. der Superintendent Paul Cinhorn über den
Heibnifchen Aberglauben und die heibnifchen Sitten der Letten) amd
der Charakter der röm.-ath. Kirche, welche unleugbar mit geiftiger
Kraft im 13. Jahrhundert das baltifche Land chriftanifirt hatte,
aber doch nun nad der (ebensvolfen Glanzzeit eines Gregor des VIL.
eines Innocen; TIT. und der weltbewegenden Nrezzüge auf eine
tiefere Stufe herabjanf, forderte weniger großen Nam (zur Predigt);
der Heine für den Veichtfiuhl genügte, und weder die geiftigen noch
die materiellen Mittel zum Yan grofer Dome fanden fh bei uns
auf dem Lande bei dem noch jehr vohen und armen Volt und bei
der Fleinen Anzahl der Yandesherren, die nur unter großen Schwie
rigfeiten und Nämpfen ihre Serrfchnft befaupten und ihre Cultur
arbeit fortjegen konnten.
AS Gotthard Kettler nad) Einführung der Neformation im
%. 1566 durch feinen Superintendenten Stephan Bilan eine Kirchen:
vifitation im Lande anftellen läht, findet diefer, aufer den Burg
fapellen, als Frucht der vön.-fath. Fürforge und Arbeit, nur 3
größere Kirchen. Die eine it die Doblenfche Kirche, die beiden
andern find die zu Mitau und Bausfe. Außerdem aber Hat co
allerdings auch nod) andere, Fleinere und hölyerne Kirchen neben
den Burgfapelfen gegeben. Yülau nennt jolhe zu Goldingen,
dan, Tucdum, Zabeln, Talfen, Nandau, Auch diefe find nicht die
einzigen gewejen; in vorfettlericher Zeit werden Gotteshäufer and)
nod zu Selburg, Frauenburg, Durben, Born, Norft, Zoten, Val
dohn, GrofAup, Landien, Funfendof, Stenden, Erwahlen, Hafen:
poth, Amboten, Sadenhaufen und vielleicht nad mandıe andre ge
nannt, z.B. werden in dem Sebiele von Grobin, weldes an Derzog
Albrecht von Preußen verpfändet war, bei einer aus Nönigeberg
veranlaften Kirchenvifitation, zum Iheit zerfallene Gotteshäufer ae
Funden zu: Grobin, Ciba vanddorf Zcheven, Ober Bartatı,
Nieder-Barta, Nupan, Heiligen Na (ef. Th. Mallneyer- G. Otto,
die ev. Kirchen und Prediger Nurlande), Die meilten aller der
damaligen Nixchen mögen nun von Holz gewefen fein, wie eo in dar
Natur des waldreiden Yandes lag, und wie wir co in unfern
Strandgegenden noch bis heute finden. - Tetjch Nurl. Kirchengeich. 1,
109) berichtet von der einen Fleinen Ztadt Safenpoth, dak durch Fürforge
der Piltenfehen Biüchöfe dajelbii „fünf herrliche Kirchen“ gewefen,
Zur Gejchichte der Toblenjcen Kirche. 7
1) die eigentliche Parodjialfirche, 2) die Kirche St. Johannis Evan-
geliftä, 3) der Ihnen auf den Berge, worauf jego die ew.-Luth.
Kirche befindlich, +) die Zt. Katharinenfirche hinter der Mühle,
gleichfalls auf einem Berge und 5) das WVinoritenklojter, da jego
das hodhfüritliche Amt it; von welchen allen chemals großen (Se
bäuden, jego wenig mehr, als die bloen Nudera dafelbit anzutreffen
find. — Wir erfehen aus jolden Nachrichten, dah die Fatholifche
Kirche nicht mühig im Lande gemefen iit. — Aber dennod) üt die
Zahl der gottesdienftlichen Stätten, mögen aud bei Weitem nicht
alle in unfern Chroniken und Urkunden erwähnt fein, bei uns eine
jehr Heine gewefen, mögen wir fie mit der Zahl der heutigen Kirchen
hier, oder gar mit der Zahl der Kirchen vergleichen, die auf einem
gleich großen Terrain Heute in Viittel- oder Meit-Europa fich finden.
ie Eatholifche Geiftlichfeit, deren Energie und Treue wir bei
den Anfängen unfrer Gejchichte in vieler Hinficht in hohem Grade
anerfennen müjfen, hat fpäter vieles verfäumt. Die Inteinifche
Meffe brachte dem Volfe fein Verftändniß der heil. Schrift, die
Anrufung der Heiligen lich oft nur neue chriftlihe Namen an die
Stelle der heidnifchen Götter fegen, wie fih diefes aud) bei andern Wöl-
fern nachweifen läht, jo zeigt eo fi) in interefianter Meife im fet
tiichen Volkslied, wo an die Stelle der Yaima nur der Name der
Diaria gejegt it und num das heidnifche Yiedlein ohne Vedenten
Jahrhunderte lang, ja bis in umfre evangelifche Gegenwart hinein
gefungen wird. rn den jahfreichen Liedern, bie zur Zeit ber Som:
werfonnenwende in Zhur und Bujc vor taufend Jahren gefungen
wurden und nod) gejungen werden, ericeint naiv Nohannes der
Täufer, auch der heil. Petrus oder Iafobus an Stelle eines heid
nijchen Frühlingsgottes, etwa des Uhjinfch. Die Fatholische Theorie
der Accomodation an Heidnifche Vorjtellungen und Bräuche erleichterte
den Heiden den Uebergang in’s Chritenthum, fie blieben vielfach
im gewohnten Geleife, aber die innere Umwandlung fand nur erft
fangjamı und jpät jtatt.
Eine lettiiche Litteratur hat die Fatholiihe Kirche in den min:
deitens 300 Jahren ihrer Herrichaft hier nicht aeichaffen. Und
wenn wir das zu einem Theil enticuldigen müflen, dadurch, daf; e6
doch feine Vuchdruderkunit gab, jo mühlen wir bad) billig fragen,
warum haben die Priefter und Veönde, die Domberven und die
8 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche.
Viihöfe in der langen Zeit nicht auf Pergament und Papier
Shriftlic-Belehrendes und Erbaulices für das Wolf wenigitens
miebergefehrichen. Wir finden vor Beginn der Neformation zu Miga
faum welde Spuren davon. Was dem Volke von bergleichen ;
getragen war, geichah einzig und allein auf mündlichen Wege, |
68 durch die Mühwaltung treuer Seelforger hin und her auf dem
Lande und frommer chritlicher Frauen auf den Burgen, welche bei
der täglichen häuslichen Arbeit im reife der Mägde geiftige An:
vegung und chriftfiche Herzensbildung in reidhem Mafie um fi) her
verbreiteten.
In gefahrvoller Zeit teat Walther von Plettenberg ale Ordeno-
meifter an die Spige von Alt-Livland im Jahre 1494. Die Macht
der Groffürjten Mosfaus war nad) Abfcüttelung des Mongolen
jocjes geftiegen und es (ag in der Natur der Verhältniffe, daf fie
nad) der Herricjaft an den Oftieegeltaden ftrebten, bis fie im Lauf
von zwei Jahrhunderten ihr Ziel erreichten und Peter der Grohe
feine Hauptitabt an der Mündung der Newa gründete. Das ernjte
Vorfpiel dazu waren die Kämpfe und Siege Plettenbergs über bie
Auffen im Gebiet der Melikaja. Cs ift beachtenswerth, wie Met:
tenberg im erften Jahre jeines Amtes unter den Sorgen um den
bevorftehenden Krieg mit Jwan III. Waffiljewitich und während
der Vorbereitungen zu demfelben (1495) unfre Doblenfhe Kirche
erbaut hat, wie überliefert wird. Doblen war cin Kauptert des
Landes. Der Bau eines würdigen Gotteshaufes an dieiem Ort
fcheint dem Ordensmeiiter ein Dank: und Vittopfer geweien zu fein,
daß der Herr Himmels und der Erden ihm und dem Lande in den
böfen Zeiten gnäbiglid) beiftche. Ju den politiidhen Wirren Famen
während der Regierung lettenberg'o aud die Firdhlichen. Non
Wittenberg drang die Neformation, wie nad) Nieder-Sadhjien, To
au gar schnell nad) der niederjächlüichen Kolonie 2), und
breitete fid) ohme große Schwierigkeiten allmählich über ganz Alt
Livland aus. Die Forholifche Kirche hatte nady der Natur der Ver:
hältnifje hier im Volke durchaus nicht jo feite Wurzeln geichlagen,
als wie in den Ländern Züdweit-Europa’s. Das lag nicht, wie
Trusmann (Buezenie xpueriauersa 3% mpanızin. C-Herep-
Öypr» 1884) zu meinen jcjeint, an dem religiöfen Andifferentionnis
der Letten oder Ehjten, jondern zu einem Theil an der Willigkeit
Zur Sejchichte der Doblenfchen Kirche. 9
der Volfomajien überall und zu aller Zeit, einflufreicen Männern
zum Guten, wie ein ander Mal parteiführenden Leithämmeln zum
Schlimmen vertrauensvoll nachzugehen; zu dem andern Theil lag
es daran, daf; der Natholicismus dem Landvolf chen nod) nicht in
Fleiich und Blut hatte übergehen Fönnen, zumal der hier herrichende
norddeutiche, niederfächfiiche Geift durdaus nicht die poetische Fan-
tafie befafi, die fih zum fatholifchen Gultus hingezogen fühlt. Die
Häupter des Yandes jelbjt, die firhlichen und die weltlichen, Plet-
tenberg an der Spige, nahmen nicht eifrig Partei für den Kapit
Der Ordensmeifter und die Urdensritter waren über zwei Jahr.
hunderte lang mit den Biichöfen und Erybiichöfen Alt-Livlands in
oft böjen Streitigkeiten und Fchden gewefen, und Fonnten fi nur
freun, wenn durch die Keformation die Prieitermadht im Lande all:
endlich gebrochen wurde; alles drängte hin auf eine Wandlung der
fircplichen und politifchen Verhälmifie auf eine neue Zeit. Pletten-
berg. welcher fc perjönlich in bie Glaubensftreitigkeiten nicht mifchte,
fondern denfelben freien Yauf lich, hat doch durd einen Schritt die
neue Zeit anbahnen helfen, jofern er cs war, der den Dr. M. Luther
veranlafte 1523 feinen für das baltifche Kand jo bebeutfamen Brief
„an die Freunde in Riga, Neval und Dorpat” zu fchreiben. In
diefer Mebergangsperiode gerieth bei der Unbeitimmtheit der Lage,
bei der Unklarheit dev Zukunft alles in Verfall, und wenn Gotthard
Kettler, als er nad dem Untergang des Trdens als ein evangelifcher
Herzog eine neue Ordnung insbejondere für die Nirde in Murland
zu ichaffen unternahm, troitlofe religiöfe und firchliche Zuftände vor-
fand, jo erklärt fich das zum großen Theil aus den Wirren des
vorhergehenden Jahrhunderts, wo Niemand mehr recht Hand an die
Nilege des Veftehenden anlegen wollte oder Tonnte, wo man die
firchlicen Gebäude verfallen und die geiftlichen Yatanzen unbejegt
bleiben Lich. Berichtet doh Paul Einhorn, daß nod) in den Anz
fängen der Lutheriichen Zeit aus Mangel an Geiftlichen ein Prediger
zu Doblen aufer feiner Doblenihen Gemeinde aud nad) die Ge
meinden zu Grenzdof, Seifau und Mejothen zu verforgen ge:
habt habe.
10 Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche.
ur
Epoche madhend Nurlands Nirchen und aud für Doblen
war der Zandlag von 1567. Cs ward befchfoffen in unfrem Ländehen
nicht weniger als 70 Kirchen neu zu bauen, Schulen zu gründen,
wofür die fath. Kirche garnichts gethan zu haben jcheint (ef. Tetich,
url. 8.-Sefch. I, 115) und die materielle Lage der Prediger und
der Kirchendiener durd; Fundationen für alle Zeit ficher zu ftelfen.
An dem Necei; diejes Kandlago von 1567 heifit es über Voblen:
„Weiter zu Dobfen (foll nämlich „aufgefeget, erbauet und erhalten“
werden) die Pfarrkirche, Schule und Armenhaus.” — Cs ift nicht
befannt, wie viel Gotthard Kettler auf Grund diefes Neceifes an
Kirche, Schule und Mrmengaus neu gebaut, oder aber mr baulich
gebeffert hat. Bon Bedeutung aber it jevenfalls die Nennung von
Schule umd Armenhaus neben der Kirche. Dergleidhen Inftitute
werben mr bei den Snupfficchen im Lande, namentlich nur nod) bei
Mlurt, Bausfe, Mitau erwähnt; bei Zelburg. Windau, Holdingen,
Nandau wird neben der Nirche und der Schule jtatt des Armen:
haufes ein tal genannt. Schule und Armenhaus deinen
übrigens Neugründungen Gotthard Nettler’s im Geifte der Nefor:
mation zu fein, und in dem Nrmenhauje Kettfer'o dürfen wir den
Neim fehen zu der Stiftung des Dauptmanno Chrütoph Georg von
Dffenberg, derer fich heute die Armen Doblens erfreuen. In dem
Teftamente des Majors Alerander von Medem (cf. Schnurbud) des
Doblenschen Armenhaujes 1 u. 2) vom Jahre 16 werden 500
Rloren den Armen Doblens vermacht und der „herzliebiten Frau“
Sophia Gertrud geb. v. Niethinghoff empfohlen „Kirche, Schule
und Arne“ (offenbar zu Doblen) nicht zu veraeflen. Die Zufammen
itelhung diefer drei Stüce erinnert an diefelbe Zufanmenftellung im
Neceh von 1567. Zinfen des vermachten Napitalo werden bis
heute jährlich bei Eröffnung der Micchenlade vor Weihnachten gerade
den Anfafien des Doblenfchen Armenfliftes heute im Vetrage von
SRG. ausgezahlt. Es ijt hiernach wahricheinlich, daf das Armen:
haus Keitler's 100 Nabre jpäter (1 ) noch eriftirt habe, wenn
auch vielleicht in nicht glängendem Zuftande, Der nordiice Nrieg,
Pet und anderes Landeselend müjlen das Stift wohl ganz zu
Grunde gerichtet haben, jo da die Tifenberg’iche Stiftung als eine
Neugründung angefehen werden fonnte. Der innere Zufammendang
Zur Gejhichte der Toblenjchen Kirche. 1
derjelben aber mit der Stiftung des Herzogs Gotthard Kettler
wird dadurch bejtätigt, da das von Tffenberg geichenkte baare
Held (2000 A. Alb.) vom Herzog Friedrich Wilhelm in feine
Nentfanmer genommen wird und jtatt der Zinfen desielben an das
Armenhaus von da ab ein beftimmteo Deputat, ausreichend für 4
Terfonen nebft Brennholz von den berzoglichen Domänen geliefert
wird, mag aud in der herzoglichen Fundationsafte d. d. 2. Nanuar
1711 ef Schnurbuch des Dobl. Armenhaufes Ar. 3) feine Ber
Hebung auf ein früheres, nur ea zu ernenerndes Arnenhaus
genommen werden.
Dit Gottherd Kettler, mit feiner Neformation und feiner
Keuordnung des ganzen Nirchenwefens feten wir erft in die eigent-
liche Sefchichte der Doblenjchen Kirche ein. Bio dahin haben wir
nur ganz bruciiicartige Meine Notizen über das, wao in Doblen
vorgegangen, und wir mußten uns beichränfen, aus den bekannten
allgemeinen Zuftänden des Yandes einige Schlühe auf die Zuftände
in Doblen zu machen. Was nun in der evangelifchen Periode über
die (Sefchichte der Doblenjchen Kirche zu jagen wäre, Läht fich füglich
unter drei Sefichtepunfte jaffen.
1. Bauten, die an der Doblenfchen Kirche geichehen find.
>. Pajtoren, die an der Doblenichen Kirche gewirkt haben.
Momente aus der Gejchichte der Doblenjchen Gemeinde!)
1. Bauten, die an der Doblenihen Kirche geichehen
jind.
Wie Walther n. Mettenderg zu Ende bes 15. Nahrhunderts
das Toblenfche Hotteohaus aufgeführt hat. it unbekannt. Zacjfun:
dige Architekten, wie Dr. W. Neumann find der Anficht, dah die
erite Doblenfce Kirche nur aus dem jegigen Altarchor beitanden
babe. Diefer Altarchor Hat fteinerne Nreuzgewölbe, während die
Ülache Dedte deo bedeutend breiteren Schiffes einer fpäteren Zeit
angugebören feheint. für einen fpätern Anbau diejes Schiffes an
den Altarchor fpricht der oifenbar ausgebrochene, qroke Hundbogen,
der den Eingang von dem Schiff zum Altarchor bildet und die
*) Dieier dritte Abichwitt it wegen feiner hichtigteit unten nicht
behandelt.
12 Zur Gefchichte der Doblenfehen Rirche.
Stelle der weitlichen Portafwand der eriten Heinen fteinernen Nicche
einnimmt. Der fachkundige Architekt bemerkt jogar, dal bei diejer
namhaften Vergrößerung der Nirdhe die Fenfter des munmehrigen
Altarchers verändert zu fein jcheinen, und diejes namentlich da, wo
gerade damals gotifhe Spisbogen ausgehauen find, in weldem
Falle aljo wahriceinfich die Fenfter um den Altar Nundbögen
werden gehabt haben. Genauere Angaben über die Zeit, wann der
Anbau des großen Schiffes erfolgt jei, fehlen. Nad Plettenberg's
geit finden wir über diefen, offenbar großen Yau fein Zeugnih.
Folgerungen hierans zu ziehen, fund nicht leicht, namentlich in Yin-
fiht der Frage, ob unfer Altarchor als Kleine jteinerne Kirche vor
Mettenberg eriftirt und Plettenberg das große Schiff 1495 ange
baut, oder ob Plettenberg nur ben jegigen Aitarchor aufgeführt und
©. Ntettler den Altarchor und das Schiff vergrößert, oder ob endlich
vielleicht gar Plettenberg nur eine hölzerne Stirche hier gebaut und
6. Nettler exrft die fteinerne Kirche aufgeführt habe.
Nur das wage ic zu bemerken, dafi die Mittheilung in
Tetfch's Rirchengeichichte (I, p- 159) betreffs der von Vülau neben
den Ordensfchlöfiern im Lande gefundenen „Fleinen“, hölzernen
Kapellen wohl ivrthinnlich die Gotteshäufer von Bausfe, Mitau und
Doblen mit einichlicht, foren Nallmeyer (a. a. DO. p. 3) dieje
legten drei Gotteshäufer, offenbar nad) dem Vülau'fchen Bericht,
„größere Kirchen“ nennt. Sodann folgt aus dem Wortlaut des
Neceifes von 1567, da G. Kettler an der TDoblenjchen Kirche
etwas Wefentliches gebaut Haben muf, und diefes fan, wenn Altars
cher und Schiff aus verfchiedenen Zeiten ftammen, füglid nur das
geräumige SF der Kirche gewefen jein und dann mühte unfer
Altarchor das Ztüch fein, welches aus der Hand Plettenberg’s
hervorgegangen iit, ein Gotteshaus. welches für die Zeit vor Gott
Hard Ntettler nad das Prädicat eines „größeren“ verdienen fonnte.
Gleichzeitig mit dem Landtag von 1567 hat G. Nettler mit
den (ndeligen) Einfajien des Doblenjchen Nirchipielo eine Convention
über die fünftigen Neparatuven oder Neubauten an der Doblenfchen
Kirche und Widmen geichloffen, dahin, daf; der Chor, der Altar
und die Safriftei der Nirhe vom Yandesherrn, das Schiff, die
Nanzel, der Orgelchor und der Thum von den abeligen Cinge-
jeifenen gebaut werde. Vielleicht it eo von Vebeutung, daf der
Zur Gefchichte der Doblenjchen Kirche. 13
‚Herzog gerade den Altarchor zu bauen übernommen hat, vielleicht
jtcht das im Zufammenhang damit, daf; eben, wie wir annehmen,
Wettenberg, der Ordensmeifter, ein Vorgänger des Herzogs,
gerade dDiejen Theil der Kirche erbaut bat. Vielleicht it «8 von
Bedeutung, dab der Herzog gerade dem deutichen Raitor die Wide
zu bebauen und ihn zu falariven übernommen bat. Der deutiche
Yaltor war, wenn aud nicht Kofprediger, doc gewilfernafien
Schlopkaplan.
Nachdem Kettler durch jein Beifpiel bei vielen Herren im
Yande einen Eifer für Pflege des Kirchenwejens und geiftige Pflege
d°6 „undeuticen” Poltes geweckt Hatte, finden fi) nun in fürzeren
Abfränden Berveife werkthätiger Licbe auf diefem Gebiete.
Detlof v. Plate auf Heyden hat (nach einer mir von Dr. Otto
zugegangenen jehriftlihen Notiz) im I. 1593, 20 Jahr nad Gotthard
Kettfer’s Kirchenbau, in feinem Teftament d. d. Heyden, 16. April
des genannten Jahres 100 Mark zur Erhaltung der Doblenfchen
Kirche fegiert (Quelle: eine Notiz I MWoldemars im Kurt.
Nitterihaftsarhiv.) Derjelbe v. Plate hat fon Lange vorher in
der Zeit zwiichen den Bauten Plettenberg's und &. Ktettler's an
der Toblenfchen Kirche zu einer „neuen“ Kirche in Doblen 600
Mark geitiftet. Aus diefer Notiz (I. GH. Woldemar’s im Nitter-
ihaftsarhiv, Mappe 27) erhellt, daß der Plettenberg’iche Bau nad,
fein genügender für die Doblenfche Gemeinde gewejen und ein neuer
größerer, wie ©. Kettler ihm aufführt, notwendig war. Mann die
ertte Schenkung Plate's erfolgte, it nicht befannt. Dr. Dtto jept
fie (in einer jehriftl. Notiz) vor 1516. Tas jcheint, wenn ‘Plate
nicht ein auferorbentlid, hohes Alter von mehr als 100 Jahren er
reicht hat, nicht recht wahricheinlich.
Die durch G. Kettler erbaute Doblenjche Kirche un einen,
jedenfalls nur hölzernen Glocenthurm gehabt haben; denn im Jahre
1624 wurde an ihr ein neuer Thurm von Eichenbalten errichtet,
ein „neuer“, aljo muß vor 1624 jchon einer dagewejen fein.
War der erite hölzerne Thum von Balken jchwächerer Art, jo fan
er, von allen Seiten der Witterung ausgefegt, wohl in mehr als
50 Jahren morjdh geworden fein.
Bis zum Jahre 1694, in 70 Jahren, war aud fogar ber
Eichenhofgthurm verfault und wurde abgerifien, und 1696 durd) einen
4 Zur Gejchichte der Doblenfhen Kirche.
fteinernen erfept. Wir vermögen noch nachzveifen, aus welchen
Mitteln der jteinerne Turm erbaut it. Am Schnurbuch des
Doblenfcen Armenhaufes (Nr. 1) findet fich eine Gopie des jchon
oben erwähnten Teftaments des Majors Aler. ». Medem d. dl.
Ditau, 23. Juni 1663, laut welchem 500 loren den Armen und
500 Fl. der Kirche zu Doblen vermacht werden. CS hat Schwierig
feiten gemacht, diefe offenbar verlichenen Gelder aus der Hand „wo
fie hingediehen waren“ (6 war ein von Netielhorit aus Ahlen)
ausgezahlt zu erhalten. Der damalige Nirdhenvoritcher George
Griftopher Kieveln?) Hat Iaut Obligation d. d. Doblen nad Io
hannis 1696 (deren Eopie im Schnurbuch des Toblenfchen Armen-
haujes sub ir. 2 fi findet‘) die den Armen geichenkten 500 AL.
als ein dauerndes Darlehen zum Kircenvermögen genommen und
diefes gerade zu dem Bat des in demfelben Jahre errichteten ftei
nernen Thurmes verwendet umd zugleich die Kirchenlade verpflichtet,
jährlich die Zinfen den Doblenjchen Armen auszuzahfen, wie eo mım
feit 200 Jahren in der That noch geichieht (ef. oben).
Dei dem Thurmbau 1696 ward eine Urkunde in den Thum
fnopf eingelegt, welde jegt im furl. Prov.diufeum aufbewahrt
wird und gewiß; nicht früher aus dem Thurmtnopf herausgefommen
fein fann, als nad) dem Vrande des Thurmes 1758. Diefe Ur:
kunde ift in den Sipungsberichten der Gef. f. Litt. u. Nunft von
1884 als Beilage abgedrucdt und lautet folgendermahien:
em Geiste,
Ehre sey dem Dreyeinigen Gott, Gott Vater Sohn und He
men.
Nach Christi Unseres Heilandes gebuhr Vulgari Anno 1096
den 14 tagk monats Augusti, da die Doblensche Christliche Erangelische
Indterischen glanbens Kirche Diesen newon tn bekommen, nach dehm
der Vorige im monat Martio des Tötisten jahres gantz Baufällig abye-
‚den, haben diese Fürstentkümer Carland rn Semgalten gr-
it des interregui, nach glorwürdiegem ahleben Joamnis des
«ges in Pohlen, grossfürsten Zu Littawen, Beussen Preussen
m Schutz der Löblichen Republic des h
nommen wo
standen, zu
dritten Kön
ete. ete, enter d ichs. Pohten
end Lättaen, in Fürstlichen Regierung, des Durchlanchtigsten. Pürsten
nd Hervn, Heron Friedrich Caximir in. Liefftand zu Curlawt rad Sangallen
Hertzag. welcher Guürigster Fürst, Herr ent Landes Vater, jetzo rler
*; Ja der Ueberihift diejer Copie ift, wie es fcheint nicht das Jahr
1696, jondern das Jahr 19 geichrichen.
Zur Gefchicte der Doblenfchen Airche. 15
44 jahr seines alters sich befindet, rohr 5 jahr sich vermehlet hatt, mit
der Durchlanchtigsten Churfürstl. Brandenlurgschen Prinzess Frauen,
Frauen Elisaheth. Sophia, wodurch dass Tund Gott Lob mit Zueey Printzen
Beseeliget worden, der Eiteste Heissel Prine Friedrich Wilhelm seines
alters 4 jahr, der andre Prine Heisset Leopold Carl seines alters ins
Dritte jahr. Da der Durchlauchtigste Fürst end Herr Friedrich
Casimir mit seiner vohrigen Gemahlin Der in Gott Ruhenden gnü-
digsten Fürstin end Frauen. Frauen Sophia Amalia gehohrene Für-
Yin zu Nassau ee. el. zweohr Einen Printzen und Vier Pri
sinnen gezeuget gehabt, von welchen die Drey Princessinnen alleine nach
im leben. nemblich Tit: Maria Doroten, Eleonora, end Amelia, Die
Yarante Königliche Crone ersetze vnd bekleide der Höchste mit einen
glücklich end weisslich wegierenden gottgefälligen end dem gantzen
Vaterlande nulzenden Herrn nd König.
Fasern Gnädigsten Fürsten end Herrn erhalte Gott bey guter
gesundheit end allem Fürstl. wollergehm bis in späte Zeiten, ud
asse von seinem Stam end Hause nie mangeln einen Löblichen Stuhl
Erben. wodurch diese Fürstenthümer in ietsieger Form vrud regirung
Friedlich end Ruhig Diss ans ende der weltt erhalten bleiben mi
Vohrgedachter Fürstl. Durchl. Ober Hathe sind dieser Zeit die
nuchfolgende. die wollgebohrne Herrn H. Christof Heinrich Freyh
ron Puttkamer Tandthofimeister, Erbherr der Nerfflischen, Slokenhek-
schen, grehsischen, end Schidloffschen güter, H. Friedrich Brackel
Cantzler, Erbherr auff Kukschen vnd. Tanksehden, H. Heinrich. (
stian con den Brinken Oberburggraff, Erbh. der Sessilischen end Neu-
hoffschen gütter. Die Landtmarschall Ch Vaeiret nach ableben
H. Christoffer Firkss Erbhermn der Nurmusenschen gütter. _Ober-
haubtlente sind nachfolgende in Semgaln Die Wohlgehohne H. H.
Heinrich von Bistram zu Selburg. HM. Fromholt ron der Osten ge-
mund Sacken zu Mitau. In Crrland H. N. Manteuffel genand >
/dingen, H. Georg John von Bandemer zu Tuckum.
Haubtteute sind. nachfolgende Die wohlgebohrne H. H. Diedrich
von der Reck zu Bausk. Nicolaus von Butlar zu Dablen elcher
jetziger Zeit von Fürstt. seiten dieser Doblenschen Kirche Vorsteher
4, Heinrich Cristion von den Brinken zu Frauenburg, Magnus Gott,
hard Kurt zu Keyserling zu Durben, Nieolaus de Chwul-
koa Chacalkowski zu Schrunden, H. ron der Osten genand Sucken
zu Candan, Ernst von der Brüggen zu Windan.
Zu dieser Zeit wahr die Superintendentur nach Absterben Pit:
M. Georg Riemlingss, alss auch Vunsere Doblensche Praepositur end
teutsche Pfarre nach ableben Til. M. Johan Adolyhi Vacant, Der Vntent
schen gemeine zu Doblen Priester ist vohr Tit. Martinns Hückstein
In Doblenschen Kirchspiel wohnen würklich an Erbheren. zu
Dieser Zeit Die Wollgebohrne H. H. Georg Christoffer T.
mentsgeartirmeister Erbh. der Bersenschen Gitter, Hirsiger Kirchen
‚en
zu 6
16 Zur Sefchichte der Doblenfcen Kirche.
Vorsteher. seine Ehefrau heisset Maria Agnesa Taube, haben I Sohn
end 1 Tochter. — Reinhalt Lieven Erbh. auf Abgulden end Patkayssen,
seine Ehefrau Cristina Etisabet Pfeilitzer genand Frank, haben 14
Sohne 3 Tochter, — Caspar von Medem alt vnd enrerhewratet, —
Alerander von Medem, Erbh. auf Rumbenhofl, seine Ehefrau he
Margrelu von Vielinghof genand Scheel haben 2 Söhne ınd 2 Töchter.
Mattias Diedrich von Medem Lieutenant Erbh. auff Klein-Bersen,
enverheuratet, — Frau Anna Gerdrutt von Puttkamer, Seel. Otto Chri-
stopher ron Medem, Erbherr auf‘ Bersen nuchgelassene Wittiehe hatt
2 Söhne 2 Tächter. — Christoffer Firkss Captein Lieutnant Erbh.
der Heidtschen. gütter, enrerheuratet, — Christoffer Indwich von Butlar
Erbh, auf) Berscbek, seine Tiehste N. Holley haben 3 Söhme I Tochter.
- Heinrich Liere Erbh. auf Auf‘ Autzenburg, seine Ehefrau heist
Benigna von Nettelhorst haben 3 Sühne. --- Heinrich Wilhelm ron
Holley Kaptein Erbh. auf Doben, seine Ehefrau heisst N.') von
Tiesenhausen hahen eine Tochter. — Otto Wilhelm Hahnbohm Kap-
teinleut. Erbh. auf Abgulden, seine Ehefrau heisst N.°) Schrüderss
haben 2 Töchter, Noch gehören zu diesem Kirchspiell Woltar
Christof? von Drachenfelss Erbh. auf‘ Grausden, Otto Wilhehn von
Drachenfels, Erbh. auf Aschuppen, Johan Sigismund von Tahel,
Oberster, Erbh. auf Strutteln,
Priestern was enntribwiren.
Fürstl, Ambter Adminis jetzieger Zeit. die Wollgebohnen
Hrn. Christoffer Geory von Offenberg Lientnant, der Doblensche
@Gütter, seine Ehefrau heist Elisabet Beata von Budberg, haben 3
Töchter. -- Johan Wilhelm Koschkull, Rittmeister, Bersshofl, seine
Ehefrau heisst Jakobu Geltsak haben 2 Sühne 4 Töchter. — An
Fürstl. Pfandhaltere befinden sich Die wohlgebohrne H. H. Nicolaus
von Butlar Haublman, Pfandh. auf Auren®). seine Khefrau Anna
Behr, haben 2 Söhne. — Herman Christian von Vietinghoff genand
‚Scheel, Pfandherr auf Poenaw, Lirulnant, seine Ehefran N. Man-
teuffel genand Szüge, — Herman von Heringen, Lientnant, Pfandhah
von Weissenhoff, Wittiber, hat 3 Söhne I Tachter.
Fürstl. Tehn Besitzer Die walgebohrne Wilhelm Friedrich ran
Vietinghof' genand Scheel Auf Autzenbach, seine Ehefrau heist Cata-
vina Barbara Funk haben 5 Söhne 4 Tüchter. -- Otto Friedrich. von
BührenY, Oberstlieutnant anf alt Poenan, seine liebste heist Anna von
pelche weder der he noch den
en
*) Helene Yarbara.
*) Gertrude,
*) Wohl jept Auermünde, fett. Aıru-Wuifche,
4 Nach der (Mopmamicen) Stanmtajel im Mitanichen Wien war
er der Jeibliche Wetter vom Yater des Herzogs Ernft Jabanı. Er tödtete ine wei
fampje den Oberjügermeifter v. Nold fe fidh 1690 mit. einem salvnm
eonduetum verjehen. Weder Frau noch Ninder werden in der St ntalet
erwähnt.
Zur Gefcjichte der Doblenfchen Kirche. 17
Schlübhütten, haben 3 Söhne 1 Tochter. Das qult alt Bersen besitzet
Johan Reinholt ron Krähen. — Der jetziege Ambtschreiber zu Doblen
heist Lxdulff Ficke, Manfort seine Haussfrau, haben 2 Söhne 2 Tüchter.
An Kirchenbeamten sind folgende Der
bare Virich Lössner Or-
ginist St 8: The: Johan Beckman Küster, ein Vnteutscher Vohrsänger
nahmens Lipst, vnd ein Vnteutscher Klockenläuter nahmens Thomin.
An Diesem Rirchenturm haben gearbeitet die Erbare Johan Brohse,
Baumeister Bürger aus Tuckum vnd sein Camerath Peter Behm, haben
rber 500 fl. Alberts vohr ihre arbeit bekommen. Gotthard Johan Balk,
Ihurmieker hatt 55 Reichstalder bekommen, ein Vnteufsche mäurer Jakob
‚Peise hatt 50 Reichstalder bekommen, ein. Vnteutscher schmitt Heinrich
Krewain hatt 15 Reichstalder bekommen, eines gemeinen arbeiters Tohn ist
wochentlich 4 fl. rigischer schillinge gewesen, der Vnteutsche Zimmerleute
aber 5 A. schillinge. — An diesem Krchenthurm biss aufsetzung des
Kirchen Knopfs ist enter der auffsicht end anordnen des vohrgemelten
Adlichen Doblenschen Kirchen Vorstehers gearbeitet 2 jahr 5 Monaden,
Vnd ist zu wissen dass an der Maur dess Kirchenthurms nur ein schuss
hoher gemauret worden, die Zirgelsteine sind auss der Mitaw erkauffet
6 Reichstalder vohrs 1000, Kalk hatt man aus Littawenend auch aus Riga
gebracht, dass eisen end die nägel auss Riga vnd Mitan, enterschiedlichen
Preisses nachdehm die sorten gewesen, dass holtz ist aus H. Medemen
Busche erkaufft der Stam & ®is Reichstalder, die breiter sind auss Riga
‚gebracht ü schock 14 Rthr. die 41 Schiffund Bley sind auss Lübek ver-
schrieben, kosten in allem rber 300 Reichstalder, solche mittel alle sind
meist der Kirchen eigne gewesen, wozu vnterschiedliche Christliche
Hertzen auch Hülffe beygetragen, die Ihre nahmen allhier verschwiegen
uben wollen, jedoch von Gott dehme alles wollbekant reichlich Lohn werden
zugewarten haben.
Doctrinas falsas fugito [ugitogue Prophetas
Falsos, qei Christo semper adesse cupis!
Haec tradebanter, cum Dohlenense Coronis
Ornaret templum : qrod Deus ipse colit!
Murus erit Dominus veniunt ne forte rapaces
Ve Tamentur oves, dente nocente Tupi!
Doctores Templo-Divo dabit ipse fideles
Qei doceant Verbi pascwa pura Gregem!
Attendet Verbo, serrahit Dogmata Sacra
‚Perpetwöque eolet Caetus, honore Deum,
Propterenque Gregi, dabitir benedictio Summa
@ram Numen spondet, si eiget eins Honos,
») 3 Stobitten.
Battifge Monattfgeif. Sb. XII. geft 1. 2
18 Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirche.
Sit felix Verbum Dietum, nec inane recedat
Erigat hortetur vespuat aedificet.
Ex Verbo sincera fides veniet, gram Vita Seqretur
Quae Sanctam Triadem semper honore volet
Qeilibet et Videat quac sint vestigia vera
Qrae eueli qraerens Gandia qrisque premat
Sit felie Doctor, felix Auditor et Omnis
Limina qei Templi, calcat arente pede
Introitus felix, sit felix exitus. Adsit
Lumine perpetwö, Gratia Diva Pix.
Sit Templi custos, sit murus sitqne columma
Fortis, ne templum Divnat ipse Deus.
Hie habito, color hie precibus constanter aularor
Afflicto praesens lie erit auilium.
Huc dient Flamen Sanetum, qrod corda priorum
Tncolit, »! Satanae tela nefanda cadant,
Vos autem Qei nune hoc temıpore Vinitis, atqne
Viuetis posthac, Sacrificate Deo,
Snerificate Deo, gratesque, praccesque, filemque
Hue tristis fugias hne fugitote pi.
GreX beneDIEIVs ort ct vIte WIbVta TehoVar
AEDes Largltor qVaegVe beata De
An Studenten hatt man diesesmahl M. Johan Christof Ha
SS Theolz et Philos: Stel: Kolenkowij, SS Th. et Phil,
imidt I. I. Stud: Adams Güdde, SS. Th. Stud: Johan Friedrich Her-
mann, 8. 8. The: Shudiosus. Cristisu Gertner I. I. Stndiosus. N. Didriei
L. I. Stud:
Der lieben. Posteriti
mit: nochmaligem Hertslichem. anerwunsch
altes selbst Verlangtem wolseins zum wollmeinendem andenken Dieses anf:
et
gesetzet mit eigner Handt in Diesem Kuapf gele
Georg Christaffer Tiere jetzieger Zeit Dieser Doblenschen
Christl, Rirchen Vorsteher mppri
1.8
Cristoph Georg von Offenberg
hierbei mit anıwessendt, Mppria.
Zur Gejcichte der Doblenjcen Kirche. 19
Auf der Nüdfeite des Pergaments befindet fi) oben noch
folgender Zufap:
„Noch zum andenken aufgesetzet dass an Doblen Bürgerlichen
staudes Leute gewonet haben alss der Ehrbare Lndolff Filke, Friedrich
Sale schneider, Johann Graff gürtiniver, Johan Bekhusen. Inttmacher,
joftfried Weiss Balbire man schneider, Gerhard Smollian
en iter, Elhardt rd Meister, Ewerdt Muldau
Schuster, Anna Sophia Helwich Michel Kine Wittiche Balbiri
‚Andress Teiesen seine nachgelasene Wittiebe Polsthalterin, Saphin
lian Seel. Orginisten Horn seine Wittieb
cn Nr. 7 des Kurländiicen Provinzialblattes') vom Jahre
1510 auf Seite 37 it obige Urkunde bereits abgedrudt [aber
ziemtich mobernifirt| unter dem Titel „Anhalt einer Pergamentrolle
von 1696 aus dem Thurmfnopf der Doblenihen Kirche.“ Am
Abdruc it aber das Iateiniiche Gedicht wennelafien worden. Was
dus_Lriginal_betri fo_beiteht 05 aus einem Pergament-Vlatt_von
21°/, Zoll xhl. Höhe und 21° Zoll Breite. Wann _dajjelbe_an’s
Diufeum gefommen it, fonnte bis jegt noch nicht ermittelt werben,
jedenfalls fann es nicht vor 1518 und nicht mac 1856 ge
fchehen fein, denn im I. 1818 wurde das Wiujeum erjt gegründet
und im. 1856 ijt der Bibliothekar Löwenftein geftorben, der es
bereits in den Natalog der Urtundenfanmlung eingeihrieben hat,
worin es unter Nr. OT. Zac 32 fteht.)
*
Der im Nahre 1696 erbaute „schöne, pie“ fteinerne Thum
ward fait 100 Jahr fpäter (1788 den 15. Eeptember, 5 Uhr
Abends), wenigitens in feinen Holztheilen durd) einen Blig in Brand
aeftecht und zerjtört. Cine Notiz im großen Doblenjcen Kirchen
buch (p- 1) berichtet, da; damals nicht allein das Innere des
Thurmes ganz ausbrannte, fondern auch das Trael-Chor mit dem
Bofitiv; das Geftühl und die Bänke wurden durd unvernünftigen
Eifer zu retten ausgeriffen und zer Die Goden fürzten herab
efretür Di
3 (geb. 1
'
Kurt, Sonfitocinms und Infpeltor d
erauögegeben von I. ©. M. Fr. W. Gyarnen
Mianjchen Schul
20 Zur Gefcichte der Toblenfehen Kirche.
und zerteiimmerten. Im 2. Yahre danad) (1790) wurde unter
Keitung des Nirchenverftehers vd. Vietinghoff, Erbherr der Groß;
Berfenfchen Güter, ber Thurm wieder ausgebaut und erhielt die
jest mod) ftehende, ftumpfe Vedadhung; ebenfo wurde aud das _
Schiff der Kirche und die Kanzel wieder hergeftellt.
Bei diejer Gelegenheit wurde ein Schriftitüct in die Nanzel
hineingelegt, welches der Werferfiger der Kanzel Diedrich Andr.
Müller abgefaht Hatte und welches im Jahre 1864 gefunden much,
als man eine neue Kanzel baute: das beredte Zeugnih frommer,
ehrüftlicher Gefinnung lautet folgendermahen :
„Da ich Endesunterfchriebener, ein Tiihler und Tijchlers
Sohn aus Nojtod im Jahr 1790 das Glück gehabt, diefe Canzel
zu verferfigen und aufzufegen; jo halte ich e6 für meine erite Pflicht,
Gott für feinen gnädigen Beiftand, den er mir bey biefer Arbeit
geichenft Hat von ganzen Herzen zu danfen, md ihn demüthigft an-
zuflchn, dafj ex jein von biefer Ganzel gepredigtes Wort in den
Herzen der Zuhörer hundertfältige Früchte möge bringen lafen,
damit alle, die von diefem Lehrituhl des KHerren Etimme hören,
würbig werden mögen an der Eeligfeit Theilgunchmen. die uns
Jefus Chriftus unfer Hochgelobter Erlöfer, jo teuer ermorben Hat.
Der aebige adlide Kirchenvorjteher, ift der Hod MWohlgebohrene
Vietingboff, Erbherr von Grop-Berjen.
er gesige deutfche HE. Paltor bey diefem Haufe Gottes
nennt fih Chriftopher David Difton.
Der lettiiche HE. Paltor bei diefer Kirche ift der Herr Ma-
David Kflugradt.
Der gesige HE. Drganift nennt fi Grünert md her
dentjche er heißt Grünberg.
Die drey Witwen in dem Doblenjchen Wittwenhaufe, in
welchem id) diefe Ganzel verfertigt habe, heihen Frau Raven,
Frau Aten und Frau Henteln.
Und mm mein Gott, befehle ich in deine Hand mein Wobl-
feyn und mein Leben, Mein hoffend NAuge blidt auf Dich; Dir
will ich mich ergeben. Sen Du meyn Gott; und einft im Tod
mein Fels, auf den id) traue, bis ich Dein Antlig jchaue. Amen.
Doblen d. 29. Novembr.
1790. Diedrid Andreas Müller.
giite
Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche. 2
Das Original diejes Schriftftüds ift 1864 in die damals neu
erbaute Mangel nebit einem zweiten Dofument wieder Hincingelegt.
Der Erbherr der Potfaifenihen Güter, von Saden, jchenkte
1790 eine Kleine Glode und aus den zertrümmerten Gloden und
den metallenen Kronleuchtern wurden bis 1791 zwei neue Gloden
gegofien.
Nachgebolt muß; werben, baf; im Jahre 1745, wie after
David Pilugradt im fleinen alten Kirdenbuch berichtet, „vom hoch:
Gönner das Chor an der Kirchen repariert”. Der Bericht
fährt fort: „da dann zugleid) ein Gewölbe vor die deutfche Prediger
auf meine Bitte ift verfertigt worden. Die in der Stelle des Ge
wölbes verjenft gewefenen Gebeine meiner feel. Herren Antecefforen
habe fammeln und in einem dazu verfertigten Staften dafelbit ver:
jenfen laffen. Bei dem Eingang in das Gewölbe habe ein bejons
deres Vehältnis zu den Anedyen, unter dem Altar, machen laffen ;
wenn id) nad) Gottes Willen in Doblen fterben follte, jo bitte id)
mit herzliem Segenswunid, meine Herren Succejlores, wenn mein
Sarg vermodert ift, meine Gebeine in das Knochengewölbgen unter
dem Altar legen zu lafjen.“
In den Jahren nad) 1818 ijt Verichiedenes an der Kirche
gebeffert und verichänert (of. das große Kirdenbuch p. 1). Im
Jahre 1818 wurde durch den Nrons-Kirchen:Vorftcher Hauptmann
Baron Medem das Altar-Chor repariert, der Altar umgebaut und
mit Säulen verziert (devem Zwed vom fünftleriihen Standpunft
aus nicht zu erjehen it). Nach vollendeten YBau jchenkte der
Mitaujche Zeichenfehrer Coll..Sehr. Vinfelde eine von ihm gemalte
„Himmelfahrt Jen Chrifti”. Im Jahre 1824 veparierten die „Doch:
wohlgebornen Einfafien“ des Sirhfpiels den Thurm und das Dad)
der Kirche und liefen das Innere und Aeufere der Kirdhe weißen,
das Geftühl und die Kanzel mit Oelfarbe malen, die Orgel wieder
in Stand fegen. Den Bau leitete der adelige Sirchen-Vorjteher Kreis:
Marichall Jeannot von Medem auf GroßBerjen. Die Arbeiten
führte der Zimmermeifter Lichtenberger aus. m I. 1827 wurde
von der hohen Krone unter Leitung des Flecdenvorftchers zu Doblen
Ewald Kupffer für die Summe von 1200 Nbl. Banco Affign. und
bei freier Anfuhr der Materialien und bei Stellung der nöthigen
Sandlanger das Altar-Chor der Kirche gemweißt und gedielt, der
R
2 Zur Gefchichte dar Doblenjchen Kirche.
Altar neugemalt, die Sakriftei vepariert und mit einem neuen Ofen
verfehen, das Dad) des ganzen Krons-Antheils aber umngededit. Am
Jahre 1835 wurde die Trgel vom Drgelbauer und Organiften
Hermann repariert und mit einem Pedale und Polaunenzuge ver
gröfert. Im Jahre 1844 wurde die Kirche wiederum geweiht und
wurden die Gejtühle, die Kanzel und der Alter mit hellblau und
weißer Celfarbe gemalt und der Aftar mit einer neuen rolhen Be
Heidung mit goldnen Trefien verziert, unter Leitung des adeligen
Kirchen: Vorftehers Kapitain Karl von Fink von Finfenftein, Exbherr
der Heydenfchen Güter.
Wenn wir für die folgenden Jahre von Kleinigkeiten, die ja
Jahr für Jahr vorkommen, abiehen, fo wäre nur folgendes Wich
figere zu vermerfen.
Im Jahre 1864 wurde das Innere der Kirche neu geweiht
und das früher blaue Holzwert braun gemalt. Die fihtbaren Quer
halten an der Oberlage wurden durch eine Gypslage verhülft, die
Fenfter egalifict, die unebnen Seitenwände chen gemacht, eine neue
Orgel angejchafft und die Sakriftei dur ein zweites immer ver
gröfert; auch wurde die Kanzel durch den Tijchler Halbfaub neu
gebaut. Das alte Minfelde'ihe Altarbild wurde damals befeitigt
und durd ein meues auf meuem Altar erfeht, eine Copic des
Kandaufchen Altarbildes, die Areuyigung Chriti, die Figuren des
KHeilandes, der Maria, des Nüngers Nohannes, der Magdalena und
des römifchen Hauptmannes harftellend. Das Triginal iit von dem
Dialer Arnold in Berlin und die Copie von dem Maler und
Photographen Niepert in Mitau gemalt.
Die Reftauration der Kirche leitete damals Yaron Eduard
von Drachenfels, Arrendebefiger von Toben.
Dei diefer Nenovierung der Kirche wurde neben den Tifchler
Müllerichen Si ftüct von 1790 ein neues Dokument in die neue
Kanzel gelegt, welches die num gemachten Arbeiten beichreibt, warmen
Dank dem Leiter des Baucs E. v. Drachenfels für die VBeweifung
„großer Sachfenntnis” und für feine „unvergleichliche Thätigkeit“
ausfpricht und die damaligen Herren Nirchenvoritcher Th. v. Villen
and Hauptmann Yaron Aler. v. Stempel, die damaligen Paftoren,
TH. Lamıberg nebjt Adj. I. Sacranowicz (deutih), E. Vor (let),
die Nirchendiener, Küfter GC. Grünberg (deutich), L. Bergmann
Zur Sefchichte der Doblenfchen Kirche. 23
dlett.), Organiit N. Bähr, die Bauhandwerfer, Zimmermann EC. ©.
Draude, Daurer VBehm, Tifchler A. Halblaub und Rufe, Drechsler
Freimann und Kaufe, Maler Jsr. Arenfohn und Orgelbaner C.
Hermann aus Libau, namhaft macht. Der Schluf; des Dokumentes
lautet:
„Zo wolle denn der gnädige HErr und Gott Seinen reichen
gen zu diefem, zu Seiner Ehre und zu wahrem Fronmen der
Gemeinde ausgeführten Werte, verleihen, Er wolle guäbiglid) geben,
da; von der Kanzel nur Sein Wort lauter und rein gepredigt, auf
dem Altar Seine heiligen Saeranente unverfälfcht gefpendet werben,
und die ganze Gemeinde aus diefem heiligen Ort, ftets in rechtem
Glauben geitärkt, immerdar veiche Frucht heimbringe in die Häufer,
und in denjelben durch wahre Sottesfurcht beweife, daf; der Heilige
Geift nicht vergeblich arbeite und arbeiten fafie! Amen.“
Doblen im Auguft 1865.
Eben damals wurden die Gräber auf dem Plab um die
Kirche planiert und jo die Möglichkeit zu den Tpäter gemachten Hei
nen Anlagen geichafft. Cs blieben nur noch die Gräber der Difton-
ichen und Nichterfchen Prediger zu weiterer Bilege erhalten. Das
auf der Züboftede des Nirdenplages befindliche obelisfenartige
Privat: Grabgewölbe der Familie Wulf (im Naudittenichen Gefinde
Lemnkin fehhaft) wurde einige Jahre darnad) von den Befigern der
Kirche geichenft und wird feitdem für ben Flecten Doblen als Leichen:
bäuschen benugt.
Im Jahre 1874 mufte die ganze Diele des Altarchero er-
neuert werden, weil der Schwamm fi eingefunden hatte.
Im Jahr 1877 fehlug ein Falter Blip in den Turm, zer-
ihhmetterte einen Dadjiparren und fuhr amı Thum bis in die Erde
herab, nachdem er an der Thurmfante einige Dial durch die zufanmen-
toßenden Wände gefahren war, ohne einen nennenswerten Schaden
zu verurfachen.
Im Jahre 1891 wurden auf Anregung des adeligen Kirchen
voritehere Baron E. v. Hahn auf Berfemünde 2 eiferne Teen in
die Kirche gefeßt.
Im Jahre 1594 gab das herannahende +400jährige Jubiläum
der Kirche dem deutichen Pajter Dr. A. Vielenftein Anlaf die Frage
dem Kirdhenvorftande vorzulegen, ob nicht vielleicht dem Thum eine
21 Zur Gefhichte der Doblenjchen Kirche.
Spige wieber aufgejegt werden Fönnte, wie doch eine vor Zeiten
gewefen. Er legte zugleich zwei Pläne vor, welde der Stadt:
arhiteft Dr. W. Neumann zu Dinaburg, der Verfaffer der (iv:
ländifchen Kunftgefchichte, gefälliger Weife entworfen hatte. Der
eine Plan zeigte gotischen, der andre, Nenaiffance-Stil. Dr. Neu
mann empfahl bejonders den legtern und gab die eventuellen Bau:
often auf ehwa 2500 R6l. an. Diefe Summe fhien aber den
beutjchen Herren und aud) den lettijchen Genweindegliedern, fo weit
fondirt werben Fonnte, bei den, infolge bedeutend gefunfener Getreide:
greife, fehweren Zeiten zu groß, um augenblidfich aufgebracht werden
zu önnen. So mußte der Pan, den Schmud einer Thurmfpige
dem Gotteshaufe, dem Fledten Doblen und dem Kixchjpiel zu ichaffen,
auf beifere Jahre verjchoben werden und «8 ermwirkte im Sommer
1895 der adlige Kirchenvorftcher Baron Hahn mit dem Krons
Kirchenvorjteher, Kreis-Marichall Baron Hahı-Platon in dankens-
werther Weife wenigitens eine Nenovierung des Nicchen-Annern, vo
denn unter Nath-Einholung von Dr. W. Neumann, welder jett die
Nejtauration des Nigafchen Domes leitet, Wände und Oberlage
gelblich weiß getündht und die Geftühle, die Orgelempore nebit der
Orgel, das Altargeländer und die Fenfter u. f. w. in dunkler Eichenholz-
farbe gemalt wurden. Gleichzeitig veftaurierte Siegfried Vielenftein
aus der Kunftfchule zu Weimar, Sohn des deutichen Paltors, das
von Dradjenfels'iche Epitaphium neben der Sakrifteithür nad) den
urfprünglichen Farben und Vergoldungen, wie aud) das hölzerne
Taufbeenpoftament (4 Engel daritellend) und den neben dem Stüjter:
ftuhl an der Wand ftehenden (10° had und fait eben jo breit)
Grabftein der Frau Anna Dorothea von Noskull, verwittiveten von
Diebem, geb. von Tiefenhaufen, Exbfrau auf Heyden, Enfelin des
Detlof von Plate auf Heyden, welcher im 16. Nahch. vor und nad)
der Neformation anfehnliche Schenkungen zum Bau der Doblenfchen
Kirche gemacht hatte.
Diefer Grabftein war auf Anregung des Yaron Otto von
Alopmann auf Heyden (im Jahre 1891) aus der Thorhalle dahin
verfeßt worden, um ihn vor der Zeritörung dur die Näder des
Leichemwagens zu retten.
Das Dracpenfels’ihe Epitaphium verdient eine nähere Bes
Tchreibung. Es jtellt ein etwa 10 Fuß hohes arditeftonifches Gebilde
Zur Gejchichte ber Doblenfchen Nirche. 2»
dar, gemeifielt aus Bremer Sandftein, und hat drei Haupttheile :
a der Mitte befindet fi zwifchen zwei Säulen, über denen ein
Architrav ruht, die ichwarze Tafel mit der Hanptinfchrift in gofdnen
Ketten. Nechts und links von diefen Säulen ficht man je 4 Wappen
der Ahnen des Nhilipp von Drachenfels, fllanfiert von je einer
le, welche nebit den Fortiegungen des NArdhitravs hinter den
Nittelban etmas zurüchpringen und an dem obern Ende eine männ-
liche und eine weibliche Garyatide haben. Nechts und linfs von den
Stelen läuft das Gritaphium in Stein-Arabesfen aus. Die obere
Etage bejtcht aus einem etwas Ichmälern Aufbau; zwei iulen
ragen einen Giebel, in welchem Fructitüce, und über weldhem zwei
halb (iegende, halb figende Figuren angebracht find. Zifchen den
Säulen jtellt ein Nelief die Auferftchung Jen dar. Der Heiland
fteht mit dem Nrenz auf der Grabiteinpfatte; 4 vömiide Ariegs-
fnechte liegen oder ftehen umher. Rechts und linfo von ben
ficht man Arabesten mit Fruchtftücen. Das dritte, unterite
des Epitaphiums zeigt unter der von Gonfolen getragenen Schwelle
des ganzen Aufbaus zwei Fürzere Injchriften wieder in goldnen
Yuchtaben auf jehwarzem Grunde, die eine in dem Naum zwifchen
den Confolen, die andre ewas tiefer zwijchen den Verzierungen ber
Gonfolen. Arabesten ınngeben auch diefen unteriten Theil.
Die drei Jnfchriften lauten:
1. Philipprs a Drachenfels nobilis Livones, patre_nat.trs) Gealt
hero capitanco arcis Tarresteusis in Lironia scb Magistro Thertonici ordi-
nis Piettenhergio, matre nobili Auna ab Heringen, avo Henrico, qri ex
anligeissima eqrestri prosapia ab arce Dracl ad Rhenem Serirm
orirud.fo}, et deeta cr nobiti Polantorem familin conirge, inde in Ticoniamı
migrerit, proaco Engelbert eqte (d.1. eqrite) arrato, proneia Rennenber-
iaua, Hie Philippes in ierenili aetate aliqrot erpeditionib.fes) bellieis in
Germania interfeit, tum qroq.ire) adeers.fus) Moschrm fortiter pro patria
dimiverit, posten a marschaleo Livonine d,tomino) Schal a Bel capitane{us)
Ascheradensis fach(us) @ Christi MDEX, tandem ab ilustrissino prin
ac dd. Gothardo in Lironia, Crrlandiar et Semgalliae dnce primo arcis
Mitoriensis, deinde Doblinensix capitane.fus), desiguat.(us), magna cas lande
wunis aministrarit sesveplisq,fee) ca eoniege nobili Erphemia a
Rosen fiis V, fiiab.(es) III placide in Christo obdormivit a® MDC die NIT
Ietii actatis fere LNXX et sub hoc monemento a filis mnestissimis hono-
Fifiee erndit. (di. eomlitun) com exore. AP MDXC die XX ıb. pie
defonetu expeetat vesorrectionem morteorem et vitam eaelestem.
26 Zur Gejchichte der Toblenfchen Kirche.
24° MDC den XII Jelii starb der Eile Munhaft end Ehrnrost
‚Philip ron Drachenfels Ferstlicher Chorlendischer Harptmann af Doblin,
dem Got quedich sei.
3. 4° MDNC den NX Norembris starb die Eile viel EI
Tegentsame Fraw Erphenia von Rosen, Philip con Drachenfels
Havsfraw der Got gnedich sein wolle
Aus der lateinischen Anicrift ergiebt fi, dal; die vier Wappen
am Finfen ande derjelben die der Eltern, Großeltern und Urgroß;
eltern des Philip v. Dradhenfelo find. Sappen der drei
Dlönner jtcht natürlich nur einmal oben. Cs folgen der Neihe nad)
das der Mutter (v. Heringen), das der Groimutter (v. Palant),
das der Urgroimutter (v. Nennenberch). Die Kamiliennanen der
drei mütterlien Ahnfrauen find in der Infchrift nicht genannt,
Wir dürfen aus der linfen Wappenreihe jchliehen, da das zweite
Wappen vechts („Told“) der Mutter der Cuphemia v. Trachenfels,
das dritte („Donhof“) der Großmutter, das vierte („Brel“) der
Urgrofpmutter gehört. Das oberite Wappen vedts iit das Nofenfche
und gilt den drei Eheherren diefer drei Ahmfrauen. Nedeo der
add Wappen hat den betreffenden Familiennamen unter fich.
Die Infchrift des großen oben fen erwähnten anfrechtiichenden
Leichenfteines it eine doppelte. Zu Häupten des Frauenbildes jteht
der Spruch aus Pauli Philipperbrief 3, 20:
VNSER WANDEL IST IM HIMMEL VON
DANNEN WIR AVCH WARTEN DES HEIL
LANDES IESV CHRISTI, DES HERRN,
WELCHER VNSERN NICHTIGEN LEIB
VERKLEREN WIRD DASS ER EHNLICH
WERDE SEINEM VERKLERTEN LEIBE.
em Spruch jteht über dem Haupte der Tochter der
Name ELISBE KOSCHKELL. Yon der darauf folgenden
Altersangabe find nur noch 2 Yuchitaben zu jehen: eu... A.T,
zwifchen welchen das Ti ji h
Ueber dem Kopf des Ainaben fteht: LEVIN SICHMVMDT,
darunter eine verwiichte Ziffer und die Worte: JAR ALT.
Zur Gefchichte der Doblenfhen Nirche. 27
Dieje beiden Minder ftammen ficher von Gerhard v. Rookull,
obicon diejelben, wahrjcheinlic weil fie jung verjtorben, in den
Tonit vorhandenen Kosfull’ichen Familiennahrichten nicht verzeichnet
find ef. E. v. Nutenberg’s Vortrag über unjern in Nede ftchenden
Leichenitein, gehalten im Kurt. Mufeum den 5. September 189
Mitaujche Zeitung 1805 9
Um den Nond des Grabiteins läuft folgende Anfchrift:
ANNO 1648 DEN 22 MAI IST DIE
WOLEDL RENREICHE V. TVGENTSA-
ME FRAWE ANNA DOROTHEA VON
TIESENHAVSEN DES WEILAND WOLEDL
GESTREN NH. ALE JER VON
MEDEM 8. WITTWE, HERNACH DES
WOLEDL DES GESTRENGEN H, GER-
HARD KOSKYL K. M. IN POLEN
LEIBGWARDCORNE EHELICHE HVS-
FRAWE SELIG ENTSCHLAFEN, IHRER
SELE IST GOTT GNEDIG, IHR
CORPER WARTET DIE FROLICHE
AVFERSTEHVYNG ZVM EWIGEN LEBEN.
Aufer den Anfehriften finden fic über dem Haupte der
Mitteffiger Anna Dorothen, geb. Tiefenhaufen, das Tiefenhaufen
iche Wappen ımd in den 4 Gen des Steines innerhalb der in
ichriftsreiien 4 Wappenpanre, Allionzwappen, und zwar: unten
vets (vom Bejchaner) Pledem-Nosfull, womit unzweifelhaft die
beiden Chemänner der Anna Dorothea angedeutet find; von der
Urnfeheift ift mur noch zu fehen: Gerhard N. Unten finfo ftehen
die Wappen von Tiefenhaufen und Plate, das heit der Eltern der
Anna Dorothen, Georg von Tiefenhaufen auf Berfohn und Anna
von Pate; oben linfs die der Grofeltern väterlicherjeits, Tiefen:
28 Zur Gefchichte der Doblenfchen Nicche.
haufen ofen, Heinrich von Tiejenhaufen auf Berfohn und Dorothea
von Nofen (vom der Umfchrift fieht man nur ..... Tiefenhaufen
und Dorolhen ....); oben rechts die Wappen der Grofieltern
mütterlicherfeits, Plate-Berg. d. i. Detlof von Plate auf Senden
bei Doblen, den wir oben fchon öfters ermähnt haben, und Anna
v. d. Berge. Weitere Familien-Nofizen u. j. m. finden fid in
€. v. Rutenberg’s Mitteilungen, Mitaufcie Zeitung 1895, Nr. 77.
5
Shkuh; folgt.)
Buftav Wdolph und die Audbekihe Kirhenvifitation.
Mer 300 jährige Geburtstag Guftav Adolph’s, welden nicht nur
Schweden, jondern die evangeliiche Welt allenthalben als
einen bejonders fejtlihen Gedenktag zu begehen fich anfchicte,
gab dem LVerfaffer Veranlafjung. am 5. Oftober 1894 in der chit
ländijchen litterärifchen Gejellichaft in einem hier wiedergegebenen
Vortrage die befonderen Beziehungen zu berühren, welche der große
König zu Ehitland gehabt hat. Seine perjönlichen Unterhandlungen
mit den Vertretern des Landes und der Stadt Neval betrafen vor-
nehmlich die Aufbringung der Nriegsiteuern umd die Verbefferung
der Landesorganijation, insbefondere der Kirche und Schule. Die
dadurch entitandenen heimijchen Conflicte mit Guftav Adolph hat
W. Greiffenhagen vor Zeiten in den Beiträgen der litterärifchen
Gefellichaft (Wb. IID) einer Lichtvollen Daritellung unterzogen, wäh:
vend die bejonderen Bemühungen des Königs um eine Sirchenorga-
nifation und Mufbeilerung des Schulwejens, welde ih in der auf
feine jpecielfe Intruction vom Bifchof Joh. Nudbed vorgenommenen
Kirchenvifitation äußerten, in der Valtiihen Monatsichrift (1888)
durd T. Chrijtiani eine eingehende und anfprechende Behandlung
gefunden haben. Leßterer fdhöpfte den von ihm bearbeiteten Stoff
lediglich aus Archivalien in Schweden, da ihm die Protofolle der
ändijchen Nitterichaft nicht zu Gebote jtanden. Dur Einficht-
nahme in dieje Protokolle ijt dem Werfaffer mun die Möglicjfeit
30 Suftan Adolph und die Nudbediche Kirhenvilitation.
geworben, die Chriftiani’jche Arbeit in etwas zu ergänzen. Zur Er:
läuterung fei Folgendes noch in Kürze vorausgefcict. Gujtan
Adolph hatte, von Birfen unerwartet eingetroffen, jenen leisten
Aufenthalt in Neval vom Januar bis 24. Febrmar 1626 ge
nommen. Dieje Zeit füllten viele Verhandlungen mit der Nitter
idhaft und Stadt wegen der Ariegscontributionen und Yandesorgani
jation aus, die einen gereizten Charakter annahmen. Der König
wies der Nitterfchaft gegenüber darauf hin, dab duch die vielen
Stiege die Ordnung im Lande jerrüftet jei, dafı co einer Neorga
nifation des Nirchenregiments, der Erhebung des Nirdhenzehnten,
der Errichtung eines Landesconfiftoriums, einer Akademie und Schule
aus den Einfünften der toftergüter fowie einer Verbefferung der
Iuftizpflege und Erhöhung ver Gontributionen jeitens des Yandes
bedürfe. Zu fepterem Vehuf verlangte er jowohl von der Nitter
ihjaft als von der Stadt als Ausweg die Vewilligung des jog-
Kleinen Zoll6, d. h. einer Gonfumjteuer von den zum täglichen Leben
nöthigen Waaren und Lebensmitteln. Die Nitterichaft berief fi
auf ihre vom König bereits früher beftätigten Privilegien und den
dur) die Kriege bewirkten Ruin des Landes, fie verweigerte die
Bewilligung des Nirdhenzehnten, da derfelbe bereits vor alten Zeiten
abgelöjt worden jei, fie behauptete wegen der herrichenden Mittel
igfeit zumächft nichts zur Aufbeiferung dev Kirchen und öfonomi
ichen Lage der Raftoren thun zu Fönnen und ertlärte die vom König
beantragte Ju ion für unmöglich. Mit der Greichtung
einer Akademie und einer Schule aus dem Nloftervermögen war fic
einverftianden, beanfpruchte jede eine ausichliehlich adliche Schule.
Den fog. fleinen Zoll bewilligte die Nitterichaft einftweilen unter
Vorbehalt eines Widerrufs. Lepteres Zugeftändnih; Dat wohl den
König milder geitinmit, denn er zog der Nitterfchaft gegenüber für
diejes Mal mildere Seiten auf und lieh die Forderung des Mirchen
zehnten zunäcit fallen. Dagegen entbrannte fein „Zorn gegen die
Vertreter der Stadt, an welche nur die Forderung einer Bewilligung
des Meinen Zolls gelangt, aber als jdhädlich zurücgewiefen worden
war. Dund) mahloje Drohungen fuchte er fie einzufdlichtern.
Schlieilich drohte er gar, die Stadt in einen Steinbaufen zu ver
wandeln ımd die großen Häupter aus den großen Steinhäufern zu
enffernen. Das verfehlte feine Wirkung nicht, denn mit „häufigen
Suftao Moolph und die Audbedche Nirhenvifitation. 31
Trauern“ Gewilligte die Stadt endlich den Meinen Zoll unter der
Vebingung, da Neval vom ZSundzoll befreit bliebe. Damit jcheinen
die Gonflicte mit der Stadt erledigt geweien zu fein, während jie
ih mit der Nitterichaft in der Folge um jo jdärfer erneuten.
Der um das Wohl der Lutherichen Kirche jo eifrig bemühte
fürit Fomnte fh bei dem verwahrloften Zuftande der Kirde in
Ehjtland nicht beruhigen, jondern jdhicte, da die Sirhen: und
Shulirage unter Mnderm offen geblieben war, im folgenden Nahre
(1627) den Bifhof Johann Nubbek mit einer Cuite nad) Neval,
um zunächit in Chftland, dann aber in Liv und ngermannland
eine Lifitation und Neform der Kirche vorzunehmen. Der
Mönig Hatte zu biefem Zwed „den erften Mann der fehmedijcdhen
Kirche” erwählt und ihm eine lange jcriftlihe Initruction mit
gegeben. Laut derjelben jollte Nudbet die Nirhenverfaflung. die
wirthfehaftliche Lage der Kirchen und Pajteren, den Vildungsgrad
und die Sitten der fegteren und den Zuftand der Schulen erfunden,
die Abjtellung aller Vlängel erörtern und danad) jeine Wafsegeln
treffen. Insbejondere follte er nad) Uebereinkunft mit geiftlichen
und weltlichen Perjonen die Einnahmen der einzelnen Kirchen und
Schulen feitfegen und die Unterhaltsmittel beichaffen, die Wieder
einführung des Sirchenzehnten bewirken, den Bejtand md die Cb
fiegenhetten ber höhern Geiftlichfeit feititellen und die Errichtung
eines Eonfiltoriums zu Wege bringen, endlic) follte er banad) eine
der jehwedifchen entlehnte, den örtlichen Nerhäftnifien angepahite
Nirhenordnung abjafien und einführen, für geeignete Geiftliche
jorgen und firdlice Streitjaden entjcheiden. Cine Remedur der
gefaßten Bejchlüfie hatte fi der Nönig vorböhalten. Der Mit
wirkung der Sandesvertretung, der Yandräthe, geichah nur in einem
vom Unterhalt der höhern Geiftlichteit handelnden Punkte der In
ftruction Erwähnung. Die Machtvolltommenheit, die der Vichof
durch lettere erhalten Hatte, war mithin jehr groß. Da er, der
gelehrte, Hochbegabte Mann, der in Schweden als Kifitater und
Neformator der Kirche Großes geleiftet hatte, bier zumächft nenig
ausrichtete, lag einerfeits an jeinem hochmütbigen, jdroffen, ja
groben Wejen, dem jeves feinere politiiche Tadtgefühl abging,
andrerjeits an feiner Unfenntnif der örtlichen Verhältnife, die er
mandjmal übrigens aud nur als Dedmantel der Nüchjichtolofigfeit
32 Guftno Mpolph und die Rubbeehicie Kirchenvifitation.
zur Schau trug. Schien er doch nicht einmal zu willen, dafı in
Neval jehon feit langer Zeit ein Confiftorium und ein Superintendent
erüftieten. Ebenfo wenig war ihm befannt, daf; in Neval fen die
furländifche Kirchenordnung galt. Die ihm mitgetheilten firchlichen
Privilegien der Stadt cbenjo wie das Gonfiftorium ignorirte er,
jo dafı die Stabtgeiftlichfeit mit Ausnahme eines Mals die von
Nudbert ausgejchriebene große Provinzialfpnade gar nicht befuchte und
bie Lifitation nur zu einem erbitterten Schriftwecfel führte, für die
Stadtlichen aber ohne irgend welchen Belang. blieb.
Am 30. Juli 1627 Hatte der Vijchof jene große Spnode
ausgefchricben, zu welcher er ohne Autorifation auch die Rajtoren
des chjnifchen Livlands aufforderte. Die eitivten Pajtoren und
Lehrer jollten bei Vermeidung von Strafe ericeinen und erftere
aufer allerhand chriftlihen Ausfünften über Paftoratsfundationen,
Ordination, Lebenswandel u. j. w. auch mindejtens 4 Yauern aus
jedem Stirchfpiele zur Befragung mitnehmen. Während der Synode,
die bis zum 26. Auguft dauerte, wurden täglich in der Domtirche
Predigten und namentlich Probepredigten von Paitoren gehalten,
weldje dadurch ihre amtliche Betätigung vom Biichof erlangen
wollten. Seinem Willen gemäß beihloh die Synode unter Gon-
ftatirung verfchiebener Uebeljtände des Kirchenwejens, daß der Nirdhen-
sehnte wieder zur Zahlung gelangen jolle, da die Paftorate und
Küfterwibmen mit einem gewiljen Minimum an Land und Ein
fünften zu verfehen feien, dal; Kirdenräthe und ein Gonfiitorium
jowie 4 Pröpite einzufegen, alljährlich Synoden abzuhalten und nur
ftudierte Theologen als Paltoren anzuftellen fein und die Disciplin
unter den Gemeindegliedern gefchärft werden folle. Alles diefes
war vorbehältlich einer Nemedur jeitens des Königs feitgefegt worden
und fonnte fhon deshalb Fein allendlicher Bejgyluß fein, weil es fich
dabei um Bewilligung des Zchnten und anderer Firhlichen Funde:
tionen handelte, die nur die Nitterfchaft machen fonnte.
Bei Einziehung der Ausfünfte Hatte fich der Vifchof bis dahin
nur an die Angaben der einberufenen Pajtoren und Bauern gehalten,
er hatte auch zuwider dem Patronatsredht der Gutsbefiter von fidh
aus Sandpaftoren ab- und eingefegt, in Sadıen der Geldbewilli
gungen und Fundationen fonnte er aber in Feiner Weije die Mit-
Suftan Adolph und die Nudbediche Kirhenvifitation.
wirfung der Nitterichaft umgehen und veranlafte daher die Berufung
eines Yandlages auf den 18. September 1627.
Die Verfammlung fand auf der Landjtube im Michaclistlofter
ftatt. Am Tifche fah Viihof Nudber mit dem Gouverneur und
feinen Commitjären, die verfammelte Nitterihaft, aud) der Nitter
iaftshauptmann ftanden. Nachdem der Bifchof eine fchmebifche
Nede gehalten und feine „Propofition” auf jchwediich vorgelejen
worden war, bat die Nitterichaft fich Iehtere auf deutih aus, was
Kudbed verweigerte mit dem Bedeuten, dai; fie biefes wohl aud)
veritehen mühten, da jie die Donationsbriefe auf jAhwediich verjtehen
önnten. Nach einem höflichen Abichiede veriprad die Nitterfchaft
die biihöfliche Propofition, die ihr jehriftfich übergeben werden follte,
aud jhriftlich zu beantworten, was unterm 3. Oktober geichah.
Shritiani bedauert in feinem erwähnten Muflage, dat; Towohl
die Propofition des’Bifcofs als auch die Antwort der Nitterichaft
verloren gegangen und nur die darauf folgende Neplit des erjteren
und die Dupfif der Nitterfchaft erhalten jeien. Die Antwort der
Nitterfchaft, aus welcher fi) aud) die Propofitionen des Bifchofs
entnehmen faffen, enthalten num die vom Werfajfer eingefehenen
Nitterichaftsprotocolle"), welche überhaupt über die Verhandlungen
und Beichlüffe der von Nudbedt einberufenen Synode und die Ver-
bandlungen mit der Niterfchaft mande Details geben. Co erfährt
man aus ihnen, daf; bie Nitterichaft, nachdem der Bifhof die Aus:
fertigung einer deujchen Ueberfegung feiner Propofitionen verweigert?)
hatte, jelbit eine Ueberjegung anfertigen faffen wollte. Um nicht zu
viel Zeit damit zu verlieren, wurde indeijen fpäter dem Nitterfchafts
iceretair aufgetragen, beim Bifchof, welchem der deutfchen Sprache
fundige Leute zu Gebote ftanden, die Bitte zu wiederholen. Nub:
bed jehlug jedod) das Gefud) mit folgendem groben Beiheide ab:
„Unterthanen gebühre 65, ih nad) ihrem Herrn zu accomodiren und
nicht das Gegenfpiel zu tun; hätten Yandräthe und Nitterichaft in
die vom Landratd 3. v. Samfon zufanme
Protoeoltonszüge im Ntterfchaftsardhiv. Die Aufmerkiamteit des Verfafiers
jenfte onf Diefelben Mi vretair $. Yaron Toll,
3 Die Nitterfchaft Hatte fich Daranf berufen, dafı mm wenige dan ihren
Angehörigen jchtwediich vertänden und jowohl die Commifläre als aud) der
König feibit mit ihnen deutich verhandelten.
Dattifde Wonarsigrift. U. KL. Ya. 3
efteltten ausführlichen
34 Guftao Aolph und die Nubbeeffche Airchenvifitation.
der Jugend nichts gelernt, fo follten fie es im Alter noch thun, fie
wären nicht zu alt dazu; fie fuchten hierunter ihre jonderliche Hoheit,
refpechieten die fniglien Herren Gommifjäre nicht, fie wären unver-
ftändige Leute, bezeigten ih wie Tyrannen wider ihre Unterthanen,
fie Hielten ihre Hunde beifer als ihre Vauerfhaft, wollten nichts
zu Gottes Ehre geben, nähmen 9 Theile und liefen ihren Yauern
den zehnten und fünnten daher Fein Gedeihen haben.“ — Der
Nittericpaftsjeeretair erwiderte dagegen, daß dem Bijchof die Be
ichaffenheit des Landes unbefannt und er von übelgefinnten Leuten
faljch unterrichtet worden fei und daf; ev, der Zerretaiv, der Ritter:
ihaft die Cahımmnien, weldhe fie nicht auf fid figen laffen werde,
pflichtgemäß anzeigen müjfe.
In der erwähnten Antwort beichwert fi die Nitterfdhaft zur
nädjjt darüber, da der Vijchof nad) Zufammenberufung der Prieiter:
Ähaft, ohne die Landräthe zu Nathe zu ziehen,” allein die Berichte
der Prediger berüdjichtigt. Loptere hätten fih nicht an die Wahr:
heit gehalten und die Nitterichaft falich beichuldigt. Ferner habe
der Vifchof das Patronatsrecht der Nitteridaft verlegt, indem er
Sandpriefter eingefegt ohne deren vorgängige Präfentation vor den
Patronen. Gegen nachitehende, in den Propofitionen des Biidofs
erhobene Bejhuldigungen und Ausitellungen richtet fih die Antwort
der Nitterfhaft in Kürze folgendermafen:
1) Daf; wenig Gotteshäufer im Lande vorhanden, in welden
Gotteswort gepredigt werde, und daf die vorhandenen theils wülte
und öde, teils ganz verfallen feien: Wenn auch nicht wenig Nirchen
im Lande jeien, die nicht nach Nothdurjt verjorget, jo möge bad)
der Biichof bedenfen, wie ehr das Land durd Kriege vermwütet
worden und die dritcendjte Armuth herriche, weshalb es unmöglich
fei, Alles wieder in den vorigen Stand zu feen. Sobald das
Land bei dem nunmehr eingetretenen Frieden wieder emporfomme,
werde man aud) für die Kirche chvas tun Fönnen.
2) Dad die Kirchfpiele nicht überall mit tüchtigen und gelehrten
Prebigern verfehen, — daran fei mehr die angedeutete Lage des
Landes als die Mitterjchaft jehuld.
3) Dafı die Priefterihaft unterdrüdt und in Ermangelung
eines Hauptes unter die Fühe getreten werde, — diefe Vejhuldigung
jei unbegründet, denn die Prediger würden, — obgleich mehr ihres
Suftan Adolph und hie Audbediche Nirchenvifitation. 35
tragenden hohen Amts als QTüchtigfeit ihrer Perfonen wegen, —
in allem billigen Nejpect und Ehren gehalten.
4) Daf; die Priejter nicht gehörig verforgt, — fei gleichfalls
unbegründet, denn ihre Einkünfte könnten nicht als fchlechte Almojen
angefchen werden, wenn mancher Prediger 3 bis 8 Lat Storn und
mehr verführe, was mander Junker nicht vermöge.
5) „Da; die Landeseingefeffenen ein foldh grob, unvernünftig
Leben mit Verachtung Gottes Worts und der heil. Sacramente,
mit Abgötterei und Gögendienfte, mit Hurerei und Leichtfertigfeit,
wie in der Propofition gejegt, führen jollen,” — das zögen fi)
die Landräthe und Aitterfcaft, — obgleih fie feine Götter und
Engel jeien und manche Fehle und Gebrechen hätten, — „nicht allein
hoc zu Semüthe, fondern halten e8 für einen revel, daß biefer
weitberühimten Provinz Kinder und Gingejeffene für folde gottlofe,
heidniihe und leichtfertige Leute und Maleficianten durch böfen und
umvahrhaften Bericht bei I. K. Maj. als ihrer chriftlichen Hohen
Tbrigfeit oder aud) fonft in der Melt jollten ausgejegt und gehalten
werden.” Die Schuldigen mühten genannt und die verläumberifchen
Berichte nicht Hinausgetragen werden.
6) Daß feine beftimmte Kirchenordnung befolgt werde, dagegen
fei zu erwidern, daf; die Landesfirchenordnung nad) der Nevaljchen
abgefaft jei, an welder die Nitterichaft nichts auszufegen habe.
Bor Einjegung der Priefter müßten diefelben fd fdriftlich rever-
firen, fich nad) diefer Ordnung zu halten.
Weiter heiftt 6 mit Veziehung auf eine unterm 1. Oftober
1627 vom Biichof erlafjene bejondere Propofition, durch welche er
bei der Nitterfchaft antrug, die Yauern an Feittagen mit Arbeit
zu verfchonen und ihnen die Freizügigkeit zu geben:
7) „Da; aber diefe Vauerfehaft dienftbar und eplicher mafen
leibeigen, ift nicht unfere Schuld oder derer, die diejes Vaterland
vor jo viel 100 Jahren mit dem Schwerte (erobert) und von der
Heidenfchaft zum Ghriftentjum gebracht, befonder ihrer jelbft eigenen
böfen Untreu und Natur, in welcher von Anfang ihre Vorväter und
nod) fie anigo fteden, beizumefjen, wie joldes nicht allein die
vien, fondern auch das gefährliche Werk, welches wir nad) zu unferen
‚Zeiten erfebet, verurjachet. Wundert aud den Herren Landrätben
und der Nitterfchaft nicht, dafı der Herr Wifchof als ein Fremder,
36 Gufteo Noolph und die Rubbedfche Kirdhenvifitation.
dem diefe Nation unbekannt, einer folden Opinion fein mag, weiten
fait die Vornehmften des Neiches Schweden, jo allhier im Lande
begütert, gänzlich folder Meinung gewejen, nachdem fie aber der
Leute Natur innen worden, haben fie müflen befennen, da die
Nation durch feinen andern Weg zu regieren, derowegen auch ihren
Verwaltern Hinterlajfen, daf fie nicht anders als nad) alter Gewohn:
heit fie halten und regieren follen,“ — zu gefdhweigen des denk:
würdigen Umftandes, da als König Johann und der Polen stönig
Stephan nad) Eroberung des Landes von den Moskowitern, —
„mit der Bauernchaft in diefen Landen eine andere Ordnung faffen
und publiciren wollten, fie jelber (die Vauern) aus allen Landes:
orten an G. K. Maj. nad) Neval und Niga die Ihrigen abgefertigt
und mit gewijien rationibus fie bei altem Braud) gnädigit zu er-
halten fowohl fhrift: als mündlich durch unterjchiebliche Fuhfälle
unterthänigit angehalten und gebeten haben.“ — Der Vorwurf, dak
die Nitterichaft die Yauern durch Arbeit von dem Kircenbeiud) ab
halte, jei faljch, da fie im Gegentheil biefelben zum Gotteswort
anhielte.
8) Dah man untüchtige Prediger anitelle, Feine gelehrten
Schulen im Lande Habe und der chjtnijhen Spradıe unfundige
‘Perfonen zu Predigern verordne, feien Uebeljtände, deren Abichaffung
man jehnlichft wünfche. Die langwierigen Kriege hätten viel ge-
ichadet; man Habe fh in Ermangelung einheimifcher mit Fremden
behelfen müflen, doch ftände zu hoffen, daf; jest mehrere Landsleute
aus Deutjchland zurückkehren, die tauglich zum Sredigtamt jeien.
„Es wünjchen audı die Yandräthe und gemeine Nitterichait. dah
diejenigen, fo der Herr Viihof an die Stelle gefegt, mehr denn
die vorigen zum Miniiterio dienlich fein möchten; «8 ift aber nicht
unbefannt, daß vielleicht egliche ordinivet, die man an die Land:
ficchen zu vociren vielleicht Bedenken Haben möchte.“
9) Endfid) wendet fh die Nitterichaft gegen den Vorwurf,
dah; die Unjadhe alles Verderbs des Mirchenregiments die fei, dal
„man den Zehnten, auch andere geiitliche Güter, welche zum Aufent
halt des Priefteramts, der Kirchen und Ecjulen vormalen ge
ftiftet, aus unmähigem Geiz und zur Anveizung Gottes gerechten
gorns zu fh gezogen,” — wogegen von den Gommiljairen als
beites Mittel zur Beflerung des Nirchenwejens und Erhaltung eines
Suftao Avolph und die Nudhedjche Nirhenvifitation. 37
Confiftoriums und der Schulen die Wiedereinführung des Kirchen:
zehnten, der jchon in der Bibel angeordnet und immer und überall
zu Nirchengweden beftimmt jei, vorgeichlagen worden. Die Nitter-
ichoft ermidere dagegen, fie fähe nichts lieber, alo ba Kirchen und
Echulen, jene vornehme Säulen der menjchlichen Wohlfahrt, in
gutem Stande fein, man möge aber ihre Unvermögenheit und
Armuth berüdjihtigen. Die Noftergüter (Nuimep und Nappel) feien
zwar durd) des Rönigs Gnade zum Unterhalt der Schulen beftimmt,
fie jeien aber durch die Kriege jo heruntergefommen, daf; fie augen:
Hlicfich nicht dazu hinreichten, außerdem mühten die Moitergebäude
teparirterden und bie Stlofterjungfrauen ihren jährtichenUInterhalt daraus
empfangen. Gegen Wiedereinführung des Nirchenzehnten, den fchon
das neue Tejtament aufgehoben, proteftire die Nitterfceft. Wenn
augenblidlid) einige Prediger Mangel litten, fo feien die Ariegs-
zeiten daran fchuld und die Seiftlichen könnten es nicht bejler haben
als der Adel jelbit, außerdem wolle man dem abzuhelfen fuchen
durch andere zwemäßige Vettel. Ihre Vorfahren hätten fi und
ihre Nachfommen von dem Zehnten rehtmähig befreit") umd fönnten
fie jegt nicht darin willigen. Zu katholiicher Zeit Hätten die Kirchen
ihr beftimmtes Patrimonium und ftattliche Landgüter gehabt, wovon
Sicher und Confiitorialen veichliden Unterhalt geneffen, bei der
Unterwerfung unter Schweden feien aber diefe Güter von dem Nö-
mige verdienten Perjonen gejchenft worden und fönne man jegt in
Ermanglung diefer Güter den Zehnten nicht wieder einf
Uebrigens fei der Zuftand des Landes fo, dab die Durchführung
diefer Mafregel den gänzlichen Nuin des Adels und der Bauerichaft
verurjachen würde, Denn wenn der Bauer aufer dem Zchnien,
welchen er „als Hecht und Gebühr, wie in aller Welt gebräuchlich,
zuwörberit feiner Herrichaft entrichte, noch dem Priefter den Zehnten
geben und mit der Seinigen zur Peibesfleidung und Nothburft der
Wirthähaft fh unterhalten und daneben die Saat des Fünftigen
Jahres bewahren folle, jo mühe er untergehen und verderben oder
das ganze and verlaufen.” Wolle man aber die Cinnahme des
Zehnten zum Theil dem Abel entziehen, der in den Nriegsgeiten
>)CL. Archiv für die Gerchichte Ehft-, Civ- ud Kurtands 1. Folge.
31. 11. ©. 275 (Cendlorn und Kirchenzehnte).
38 Guftan Avolph und die Nudbeefjche Ritchenvifitation.
fhhon jo fehr gelitten, fo da das Yand gröftenigeils verpfändet und
die Leute (Bauern), von denen vormals alle Büjche voll gewejen,
bis auf die Hälfte gejchwunden feien, jo werde der Adel ganz zer-
rütel werben und der Nönig wenig Nugen fowohl vom Kohpienit
als aud; von andern Dienjten haben.
Die darauf folgende Neplif des Bifchofs vom 4. Oftober und
die Dupfit der Nitterichaft vom 9. Oftober, welche auch in den
Nitterichaftsprotofollen vorhanden find, giebt Ghriftiani in feinem
erwähnten Auffate inhaltlich nach den fchweiichen Archivatien wieber.
Des AZufammenhanges wegen feien fie hier furz veferirt. Der
Bifhof proponirte der Nitterihaft, daf; die Mdlichen behufs Cr-
mittelung der Wahrheit ihre Paitoren mit je 4 6 Vauern aus
jedem Kirchipiel binnen 6—7 Tagen nad) Neval zur Befragung
fordern und schriftliche Beweife ihrer Patronatsrechte und Befigrechte
wegen ehemaliger Nirchenfiegenfchaften beibringen follten. Da die
Nitterfchaft Feine Mittel vorzuichlagen wihie und den Zehnten und
die Vefreiung der Bauern verweigere, jo proponire er zum Peften
der Nürche den I1. ober 9. Theil der Ginfünfte der Bauern zu
erheben, fo dafı dem Edelmann der zehnte und dem Yauern S oder
9 Theile verblieben. Die Ehiten jeien von Natur nicht ärger als
andere Völfer, jondern nur durch die Sclaverei verderben. Im
ebrigen erbot fid) der Bifchof zu weiteren Yerhandlungen. In
ihrer Duplif erklärte die Nitterfhaft die nochmalige Einberufung
der Prediger für ein Unding. Die Edelleute feien fehon lange in
der Stabt aufgehalten worden und mühten wegen der drohenden
Kriegsgefahr die Stadt verlajjen. Hätte der Bifhof die Nitterichaft
gleich hinzugejogen und die Nirdhfpielsjunfer mit den Prieftern con:
frontirt oder aber im Beifein der erjteren die Kirdhipielsvifitationen
vorgenommen, wie folches früher geidhehen, fo wäre etwas Nützliches
berausgefommen. Dann hätte € aud) nicht geichehen fönnen, dal;
der Vifhof einen öffentlich infanirten Priefter aus Unfenntnih zum
Propft eingefebt. -— Gegen den Zehnten proteitirte die Nitterichaft,
ebenfo gegen Antaftung des Patronatsrechts, das fie zu begründen
fuchte, und behielt fid) endlich die weiteren Schritte wegen der ihr
vom Vifchof zugefügten Beleidigungen vor. — Nach) einer jchrift
lichen Schlufwerdandlung, die zu nichts führte, verliehen die Glieder
der Nitterfchaft wegen der von Polen drohenden Striegegefaht eilig
Guten Adolph und die Aubbediche Nirhenvifitation. 39
die Stadt und auch der Biichof fhiffte fid) bereits am 15. Oftober
mit feinem Gefolge nadı Schweden ein. Das unmittelbare Nefultat
diefer mit jo vielem Geräufc) infeenirten Xifitation war ein fehr
geringes. Cs beichränfte fi) für das Land auf die Erjepung
mancher untauglichen Prediger dureh beffere, auf zeitweilige Einführung
der fehwediichen Stirchenordnung. auf Erlaf einer Zynodal- und
Kijitationsordnung und eine neue Didcejaneintheilung in 6 Propiteien.
Für die Stadt Neval war fie ganz rejultatlos.
Ein Nacipiel hatte die Audbek'ihe Kirchenvifitation im Jahre
1629, wovon die vitterichaftlichen Protofolle berichten. Jın Februar
des Jahres fertigte die chitländifce Nitterfhaft eine Deputation
an den Mönig nach Stodholm ab, welche folgende Aufträge in
irchenangelegeneiten erhielt: 1) Dem Nönige für die Anordung
der Wifitation zu danfen, 2) ihm Hagend die Eingriffe des Biichofs
Nudbeet vorzulegen, welder die Lifitation ohne Mitwirkung der
Nitterfchaft bewerkitelligt, mit Verlegung des Patronatsrechts Priefter
ab: und eingefegt und die Nitterfchaft in Wort und Schrift jhimpflic)
behandelt, 3) um Ernennung eines von der Nitterichaft vorzuichla-
genden und zu befoldenden Superintendenten alo Oberhaupt der
Triefterihaft und Errichtung eines Confiltorimms nachzufuchen, be:
ftehend unter Vorfit des Gouverneurs aus dem Superintendenten,
aus 2 ober 3 Landräthen und den Pröpiten und vornehmiten Theo:
fogen, 4) dem Nönige anzuzeigen, daf die Nitterichaft bereits zwei
qute Lehrer für eine zu gründende adliche Particularihule engagirt,
und 5) die Anjprüce der Stadt Neval auf die Schule und die
Moitergüter der Enticheidung des Königs anheimguftellen.
Die Deputieten erhielten zunächit eine Audienz am 24. März
1629, bei der jie vom König hart angefahren wurden. Sie hatten
außer ihrem Anliegen in Nicchenfachen audı die VBeichwerde bes
Adels über zu große Beiteuerung des Landes vorgebradht und an-
gezeigt, da die Nitterichaft jtatt des bewilligten Eleinen Zolls eine
Jahresfteuer von 20,000 Thlr. zu Nriegsgweden zahlen wolle.
Diejes fowie die Verweigerung des Kirhenzehnten und das prote-
firende und negivende Verhalten der Nitterfchaft erregte den Zorn
des Königs auf's Acuferite. Er nahm den Biichof anfangs in Schub,
lie ihn jedadh zur Verantwortung eitiven. Die Deputirten reichten
ihre Mage icriftlich am 14. April bei den Neichsräthen ein und
40 Guftan Abolph und die Nudbeetiche Airdhenvifitation.
5 Fam dabei zu mündlichen Verhandlungen zwifchen Leßteren, den
Ehitländern und Nudbed. Diefer war vorher vom König in einer
Audienz unfanft angefahren und beauftragt werden, was er chedem
verfehuldet, jegt beifer zu machen. Er erflärte nunmehr, daher
keineswegs die Abficht gehabt habe zu beleidigen, Fondern im AL
gemeinen bie Lalter habe charafterifiven wollen, die im Lande im
Schwange fein. Das Nefultat der erhandlung war folgender
Pafjus einer am 24. April 1629 ausgefertigten föniglichen Nefo-
Intion: „Da 3. Kön. Maj. aus der Erklärung der Nitterichaft habe
abnehmen mögen, da diefelbe nicht allein an Zerichlagung der
Gommifjion nicht fhuldig. fondern vielmehr ale chrift- und polizei
Liebende Unterthanen geneigt wären, ihrem Tberhaupt und fo bill
mäfigem Begehren gebührend an die Hand zu gehen und die
fowohl in Kirchen, Schul: und Juftizzwed eingerifienen Mängel mit
Anftellung allerjeits beftändiger Ordre zu ihrer und ihrer P
felbfteigenen Scligfeit und MWohljtand zu verbeifern, — nad) dem
mahl aber die Herren Abgeordneten fich weiteres nicht entdeefen
wollen, als da; fie zwar den mürben und ganz gefährlichen Uebel:
ftand ihres Vaterlandes erkennen, die angetragene curam aber als
impertinent und diefer Zeit nicht practicabel fo wei vet, da
fic weder zu Beftellung eines gewiifen Gonfiiterii und Schulen,
mod) Formirung eines beitändigen und ehrlichen Unterhalts ihr
Kirchen und dero Diener verfichen oder anftatt des von den Kirchen
entwendeten Zehnten einig Acanivalent verwilligen wollen, -— als
stellen 65 I. 8. M. zwar vor dies Mal dahin, verfehen fi) auch,
€. €. Nitter- und Yandichaft werde fd) inmittelit eines beifern be
denfen, die hohe Villigfeit der Neftauration ihrer Nirdhen chvas
tieferes beherzigen und fidh des Zchuten halber, alo des einpigen
bequemlichten und bei der ganzen Ghriitenheit üblichen Mittels
hierzu oder an deijen jtatt eineo beftändigen Neawivalents halber
beffer erklären.”
Auf der zweiten Aubienz am 25. April 1629 ging co beifl
ber. Der Nönig überfchüttete in größten Zorn die Depufirten
mit Schmähungen, Schimpfwörtern und Drohungen, ja drohte fogar
mit Enthauptungen. Zum Schluß; der Audienz wurde cr jedoch,
ohne ein Zugeitändnif; erhalten zu haben, milder und entfich die
Deputirten fehlieflich, indem er der Nitterfchaft feinen gnüdigen
Guften Aoolph und die Audberijche Nircenvifitation. +41
Gruf vermeldete, die Teputirten vielmals fegnete und ihnen auftrug,
Alles wohl zu verrichten und ihn nicht mehr zum Zorn zu reizen.
Wie diefe fo war aud) die Lehte Abdelegirung ber Nittericaft an
den König in Nirchenfaden refultatlos. Die Deputirten wırden von
ihm im Sommer 1630 empfangen am Vorabend feiner Abfahrt
nach Deutfchlaud zum Siege, der ihm ewigen Auhm und den
Tod brachte.
Zu Lebzeiten Guftav Adolph's trugen feine Yemühungen ded)
in fofern Früchte, als abgefehen von der Gründung der Univerfität
TVorpat, die Ehitland auch zu gut kommen sollte, auf Anregung des
Königs ein von ihm beitätigter Vergleich zwijchen der Nitterichaft
und der Stadt wegen der Noftergüter und des zu gründenden Gym:
fiums am 16. Februar 1631 zu Stande fam. Das Gymnafium!),
welches die Ehre hat, ihn als Gründer zu nennen, ijt ja befanntlich
mehr als 250 Jahre eine Leuchte der Heimath und eine Bildungs:
ftätte gewejen, aus der viele ausgezeichnete, dem Gemeinwohf nügliche
Männer hervorgegangen find.
Eine weitere Folge der ifitntion war die Einrichtung eines
Laneonfiftoriums unter Guftav Adolph’ Nachfolgern und die all-
mäßliche weitere Ausbildung ber Kirchenorganifation, denn ohne die
vom König ergriffene Initiative wäre dem darnieberliegenden Kirchen
wejen Ehitlands jo bald nicht Abhülfe geichehen.
In Nudbed hatte Guftav Adolph einen Mann ausgefucht,
der fo zu jagen das Kind mit dem Bade ausfchüttete. Als Haupt der
hierorchiichen Parthei in Schweden, die auf Trennung von siche
und Staat, auf Veichränkung der Adelsprivilegien und Aufhebung
des Patromateredhts losging, fennzeichnete der Vifchof fein Wer:
fahren hierdurchdie ihm cigene Nüchfichtslofigkeit, die ihn nach dem
Tode des MHönigs 1636 au mit der jehwedijchen Negierung in
argen Conflict brachte. Wenn er fich Schon in Schweden als Be
khüger des dort freien Yandvolks gegen angebliche Bedrücung aufe
fpiefte, jo nimmt cs nicht Wider, daßer mit Ucberfchreitung feiner
Snftruftion jeinen eignen Antentionen gemäß in Ghitland die Agrar:
frage in die Sache der Kirchenvifitation hineinmifchte und auf Be
Freiung der ezehkenäifgen Bauern drang, deren Leibeigenfchaft, wie
) Neuerdings Ricolai-Oymnafium benannt.
42 Guftan Adolph und die Nudbediche Airchenvifitation.
er wohl white, dem an die Freiheit feines Schwedenvolfs gemöhnten
Nönige fehr unfympatijch war. Ebenfo z0g er ficherlich ohne Ab
fihht des leßtern, zumal in jo jdhroffer Weile, die Spracdenfrage
hinein"), indem er fi mündlich und ichriftlich des Schwediichen be-
diente. Guftav Adolph, von einer deutihen Mutter geboren und
mit einer deuten Prinzeffin verheirathet, beherrichte das Deutiche
und ftand dem modernen Nationalitätsprincip fremd gegenüber, wie
er denn auch in den mündlichen Verhandlungen mit den Vertretern
des Yandes und der Stadt fich tete der deutichen Sprache bediente.
Das hier erwähnte harte Auftreten des Nönigs gegen die Ver:
treter von Stadt und Land dürfte in Nachftchenden eine Ertlärung
finden. Als Anhänger des Staatsmannes Hugo Grotius und des
jog. aufgeflärten Despotiomus lag ihm daran, feine Abfichten für
das Wohl des Staats oder deifen einzelne Theile durchaus zu
verwirklichen und Hinderniffe, die fid) ihm dabei entgegenftellten,
zu befeitigen. Gin großer Herricher, nicht nur als Politifer und
Feldhere nad) Aufen, fondern aud) als Organifator nad) Innen,
mußte der anerkannt elende Zuftand des Kirchen: und Schulweiens
in Ehitland feine ganze Aufmerfjamkeit und Fürforge in Anfpruch
nehmen. Ebenjo war ihm bie Zahlung der Contribulionen von
höchter Wichtigkeit, da die vielen Nriege die Auftreibung arofer
Mittel verlangten. Bei den Vertretern des Landes und audı bei
denen der Stadt begegnete er ftets Proteften, Widerfprucd und Ber
rufung auf ihre Privilegien. Zwar ftand einerjeits der Umitand,
daß das Land durd die Verwültungen Jwan's des Schredlichen
und die nachfolgenden Nriege mit Nufsland und Polen unendlich
gelitten hatte und nicht zur Nuhe gekommen war, ihnen entichuldis
aend zur Seite und andererfeits, dah ihnen als „Srenzern“, als
Bewohnern eines allen möglichen Derupationen ausgefegten Grenz:
Landes, ihre Privilegien befonders alo Anker ihrer ten; ericheinen
muften, — der König aber, der an patriotiiche Cpfer feines Schweden:
dernöinud 1800,
im
id. 5. om 31), was
liebe des Vifchofs gegeuftandstos fein
) Nadı
&. 19, Ann.
tation i Estland.
nen Angabe foldı
itfing, Rudbecks v
ot Nudbed Inıtt
Guftan Adolph und die Rudbeefche Nirchenvifitation. E
volfes amöhnt war und nicht berücfichtigte, daf der Neichotag, in
dem Ehjtland umd Neval nicht vertreten waren, diejelben bewilligte,
mutbete leteren Ähnliche Opferwilligkeit zu und ah in der Xer
weigerung von Gontributionen Mangel an Patriotismus, wie er
jolches auch ausgeiprocen hat.
Die neneite Gefdichtoforichung will in Guftav Adolph nur
den Politiker und nicht den Glaubensheld gelten Laien. Wer die
Aufjaifung feiner Perfon und Thätigfeit Fonnen lernt, wie fie fidh
in Briefen feiner nächiten Umgebung gleich nad) feinem Tode äußert,
wird dem widerjprechen müen. Ein Gleiches lehren auch die münd-
lichen Verhandlungen mit den Deputirten der Nitterfchaft. Ueberall
vertrat der Mönig das Intereffe der Kirche und nennt fie vor dem
taat, wo von beiden die Nede üft. Diefes tiefgläu zu den
bödhiten Opfern bereite Gemüth. mußte in den Weigerungen ber
Nitterichaft, in ihren Proteften und Verufungen auf ihre Privilegien
in Sachen der Nicchenvifitation eine verrottete Engberzigfeit feben,
welche feine, der chitländifchen Kirche zugebacdhte Hilfe paralyfirte
und ebenfo wie die Verweigerung der Gontribution fein leicht erreg
bares Blut in Aufwallung brachte. Dabei lag den Ausfchreitungen
des Königs offenbar auch eine Berechnung zu Grunde, der Zwed
der Einfchüchterung. Er Hatte die Privilegien von Land und Stadt
fchon früher confirmirt, wollte alfo nicht durch itrieten Befehl, d.h.
durch offenen Hechtsbruch dagegen handeln, fondern fuchte, da Zu:
reden nicht half, durch Drohung und Ungebehrdigfeit Bewilli
zu erlangen, was er ja auch gegenüber der Stadt bei Vewi
des Kleinen Zolls erreichte. Cs braudyt wohl Faun hinzugefügt zu
werden, dah er feine feiner Drohungen erfüllte, fondern
das Wohl von dt und Land bejorgt geweien üft. Verföhnend
wirft und Zeugnii; giebt für fein edles Gemüth der Schluh der
ftürmiichen Audienz; am 25. April, alo der Nönig, ohne fe
MWüniche in chwas befriedigt zu fchen, feinen gnädigen Grufi
der Nitterichaft übermittelt und die fortgehenden Deputirten viel:
mals fegnet.
Wo wiel Licht, da ft viel Schatten, jagt das Sprüchwert,
do groß; ift hier in diefem Fall der jatten nicht im Verhältnis
zum Yicht. Der große Nriegoheld polternd in mahlofem Yühzorn
4 Ouftao Aoolph und die Mubbedfche Rirchenvifitation.
ift zwar fein erhabenes, aber auch Fein wiberliches Bild. Dem
anne, ber Kirde und Schule hier im Lande gebaut, wäre
joldhes fchon lange nadhzufehen, vollends aber dem Helden, der
durch Nampf und Tod unfere Nirhe vor dem Untergange ber
wahrt hat.
€. v. Nottbed.
Alerander Baron von der Nahlen F.
12
IA m 24. Oftober des verflffenen Jahres vollendeten fih 25
SE y Iahre, feit Ehjtland durd) die Eröffnung der Baltifchen
° Eifenbahn in das Nep des europäifchen Weltverfehrs hinein-
gezogen und damit zugleich auch der Nacbarprovinz Livland Gele:
genheit geboten wurde, durch den Anjchluh an die Etrede Ct. Peters:
burg-Reval nad und nad) eine längit erwünfchte Erweiterung und
Ausdehnung ihrer damals Faum minder befchränkten Kommunications-
linien zu finden. Als in den Tagesblättern auf jenen bebeutfamen
Gchenktag hingewiefen wurde, weilte der Mann, dem diefer wichtige
Fortichritt in dem Verfehrslehen unferer Provinzen in erjter Neihe
zu danfen war, nicht mehr unter den Lebenden. Kein volles Viertel:
jahr vorher war der Kammerherr Alerander Baron von der
Fahlen, der Begründer der Valtifchen Eifenbahn, feinem jchweren
Xeiden erlegen, tas ihn, den bamals 72jährigen, drei Jahre fi
auf das Stranfenlager niedergeworfen und zu hoffnungsfofem
thum verurtheilt hatte. Um jo Iebhafter aber lenkte die wieder friich
gewordene Erinnerung an feine hervorragenden Verbienfte den Wick
auf den Faum gejchloffenen Grabhügel, um ihm mit dem Ehrenkranze
danfbaren Gedäcjtniffes zu fehmücen.
Auch dieje Zeilen Haben nur den Zweck, ein jchlichtes Gedent-
blatt auf feine Gruft zu legen und als Ergänzung zu dem Auf
lichen Bilde des Hingefchiedenen, mit welchem diejes Heft gefchmückt i
in flüchtigen Strichen ein Bild feines Wirfens und Seins zu jfigjiren.
46 Alerander Baron von der Pahlen.
Alerander Baron von der Pahlen war am 29. December 1819
auf feinem Erbgute Wait in Ehitland geboren, ein Sohn des che
maligen Curators des Dörptichen Kehrbeziuts und fpäteren General:
Gouverneurs der baltijchen Provinzen, nachmaligen Neichsraths:
mitgliedes Baron Pahlen. Seine erte Jugendbildung hatte er im
elterlichen Haufe genofien und fodann die Junferichule in St. Peters
burg befucht, um fich dem Militärdienit zu widmen. Im September
836 trat der mod) nicht 17jährige als Unteroffizier in das Leib
garde-Negiment zu Pferde ein und winde hier im Jahre 1838 zum
Gornet, 1841 zum Lieutenant und drei Jahre jpäter zum Stabs
rittmeifter befördert. Jm Jahre 1845 wurde er Adjutant bei den
General:Adjutanten von Knorring, nahm aber trog jeiner guten Aus
füohten in der militärifchen Carri®re jdhon im Jahre darauf als Kitt
meifter feinen Abfchied, um fih zur Bewirthichaftung feiner wäter-
lichen Güter nad) Ehitland zurüczuichen.
Hier jehen wir ihm, nachdem er inzwijden einige Heinere
Kandespojten bekleidet, bereits zwei Jahre Darauf durd) das Vertrauen
feiner Standesgenofien anf den Poten eines Kreisdeputivten von
Sarrien berufen, den er bis zum Jahre 1862 ununterbrodyen inne
Hatte. In dieje Zeit fällt aud) feine am 30. September 1
folgte Ernennung zum Stanmerjunfer des Allerhöhiten Hofes und
die Verleifung des St. Stanislausordens 2. N. (am 9. December
1859), während ihm die Bronze Medaille zum Andenken an den
a 18: 56 bereits früher zuertheilt worden war.
Mit dem 11. Dec. 1862 begann diejenige Periode feiner
jamfeit im Sandesdienit, die jeinen Namen nicht nur auf das Engit
mit der Gefhichte der ehjtländif—hen Nitterihaft vernüpfte, fondern
ihm auch in den weiteren Kreifen feines Veimathlandes ein dank
bares Gedähtniß von bleibender Dauer fichert.
An dem genannten Tage zum Nitterichaftshauptmann von
Ehftland erwählt, hat er während zweier Triennien, nachdem er am
7. December 1865 auf weitere 3 Jahre mit der Führung des
jülbernen Stabes beirant worden, feine ungewöhnlicien geijtigen
jigfeiten, fein willensräftiges, Iebenfprühendes Temperament und
? N
feinen durch eine umviderftehliche gefellichaftliche Liebensmürdigteit
nachhaltig unterjtügten perfönlichen Einfluß, dem fi Niemand, Hod)
oder Gering, zu entziehen vermochte, mit voller Hingabe zum allge:
Alssander Baron von der Pahlen. 47
meinen Nug und Frommen in den Dienjt feines SHeimathlandes
geftellt. Wie ehr man aud an Allerhöchiter Stelle feine Perjön:
lichkeit zu fchäken wußte, ergiebt fid) aus feiner am 4. April 1865
erfolgten Ernennung zum Kammerheren des Allerhöchiten Hofes.
Die Zeit, in welche diefe feine IThätigfeit als führender Ne
präfentant der ehjtländijchen Nitterichaft fiel, war eine bejonders
bewegte und folgenjchwere.
Die polnische Infurrection hatte die Wogen der nationalen
Erregung in Aufland zu ftürmifcem Branden gebracht und gerade
an den erponirten Grenzitrichen der baltijhen Provinzen machte fich
die Cinwirfung diefer leidenfchaftlichen Strömung in befonders
empfindlicher Weife geltend. Dieje Strömungen, die bis in die
böchften Streife hinein drangen und das Vertrauen, welches von oben
ber trog alledem in die unverbrüchliche Zuverläifigkeit unferer Pro-
vinzen gefegt wurde, fünjtlidh zu unterwühlen juchten, galt 6 um-
ihädfich zu machen und ihnen einen wirfjamen Damm entgegenzu:
ftemmen. Alle noch fo aufrichtig gefühlten Koyalitätserklärungen, an
denen es in jener Zeit von Seiten der baltischen Nitterfchaften nicht
iehfte, hätten allein dod) nicht vermodht, die Stimmung zu unferen
Gunften zu wenden, wenn nicht bie ritterichaftlihen ertreter auch
perfönfich das Chr des Monarchen befeifen hätten. Und gerade in
diefer Hinficht hatte Ehitland in dem damaligen Nitterfchaftshanptmann
Baron Pahlen einen Nepräfentanten, wie es fih ihn nur wünschen
fonnte. Baron Pahlen fand nicht nur Fraft feines Aintes, fondern
aud Fraft feiner Perfönlichkeit, deren fascinirender Eindrud aud
bier nicht verjagte, bei Naifer Alerander II. jtets ein geneigtes und
vertrauensvolles Gehör und wußte von diefem feltenen Vorzuge in
ebenfo lopaler, wie gejdhieter Weife zum Bejten feiner Heimat) Ge
brauch; zu machen.
Neben joldhen Fragen, die alle drei baltischen Provinzen gleich
!ebhaft tangirten, gab «6 im Schoofe der chitkändifdhen Nitterfchaft
nicht wenig andere Fragen, die Pahlen’s Anterefie und Arbeitskraft
in vollem Mae in Anfprud nahmen. Als befonders bedeutfam
für die innere Entwidlung des baltischen Verfafiungsfebens verdienen
namentlich zwei interne Vejchlüffe der chitländiichen Nitterfchaft aus
jener Zeit Hervorgehoben zu werden, die unter eifriger Mit
wirfung, ja zum Theil auf die direfte Initiative ihres damaligen
48 Alerander Baron von der Pahlen.
Leiters zu Stande famen: einerjeits die Abolition der Frohne in
Ehjtland und anderfeits die Freigebung des Güterbefigrechts und die
damit im Zufammenhange jtehende Ausdehnung des Steuer
bewilligungsrechte ud auf die nichtimmatricufirten Gute
befier Ehftlands.
Nicht unerwähnt bleibe aud) das erfolgreiche Vejtreben Rablen’s,
das nur allzu oft geloderte Band der Intereffengemeinfchaft zwiicen
Stadt und Land immer fejter zu Enüpfen, ein Veltveben, weldes
durch) die gewinnende Liebenswürdigfeit feiner ganzen Kerjon nicht
wenig unterjtügt und gefördert wurde. Won diefem erfolgreichen
Streben legte noch bis in die legte Zeit, wo Pahlen don Lange
ganz nad) St. Petersburg übergejiedelt war, der Umitand vedendes
Zeugnißi ab, da Faum irgend welche bebeutenderen aemeinnübigen
Gejellichaften oder Vereine in Neval en, an deren Spige nicht
der Name Baron Pahlen’s als Chrenpräfident oder als Ehren
mitglied ftand. Aud) die Stadt Neval als foldie hatte Pahlen zu
ihrem Ghrenbürger ernannt, eine Auszeichnung, die ihm freilich
nicht für feine vorftehend furz | amfeit, jondern für
feine Verdienfte um die Gründung der Valtifhen Yahn zu
Theil wurde.
Daf fi Pahlen aud) als Gutsherr bei feiner Bauerichaft
jtets ebenfo großer Hodachtung, wie Sumpathie erfreute, fann bei
feiner ganzen Perfönfichfeit, die den cdhten ur md
den durd) und durch Human denfenden Menfcen in glüclichiter Ver
fehmelzung zeigte, nur natürlid) ericheinen. Die Nachrufe, die ihm
bei feinem Dinfceiden in der ehjtwifchen Preife gewidmet wurben,
zeichneten fih denn aud) durch) bejondere Wärme aus und chenjo
bewies die überaus zahlreiche und herzliche Belheiligung der Yauer-
schaft bei feiner Veftattung, dab es fid) hier nicht um die blofje
Erfüllung einer conventionellen Pilicht, fondern um die Befriedigung
eines wirklichen Herzensbedürfnifjes handelte.
Aber ad weit über den reis derjenigen, zu denen ihn feine
Lebensitellung und feine amtliche Thätigfeit als Nitterichaftshaupt
mann in nähere Beziehung gebracht hatten, reichte die Popularität
jeines Namens hinaus. Was ihm diefe weitgehende Popularität
verichaffte und ihm für alle Zeit in eriter Yinie das dankbarite (je
dächtnif; fihert, das it fein fchen im Gingang diefes Artitclo er
Alerander Baron von der Yahlen. 49
wähntes hervorragendes Verdienft um die Erweiterung der wirt;
schaftlichen Erwerbsquellen Ehjtlands durd) die Hereinziehung diejes
abgelegenen Erdenwinfels in das europäiihe Eifenbahnnes. Mit
der Begründung der Baltiihen Eifenbahn, die redht eigentlich,
fein Wert war, begann ein ungenhnter wirthichaftlicher Auffcnung
diefer Eleinften und ärmiten der baltiichen Provinzen und wenn aud,
manche verhängnifvollen Nücichläge nicht ausblichen, jo fann dadurd)
doch das Verdienft Baron Pahlen’s um die Hebung der wirtbichaft
lichen Produftionsfräfte des Yandes nicht geichmälert werden und die
Schienengeleife, welde gegenwärtig ganz Ehjtland der Länge nad)
ducchziehen, find zugleich erzene Spuren feiner eifernen Thatkraft und
Energie bei der Durchführung diefer weitgreifenden Neuihöpfung.
ap Bahlen bei diefem Hauptwerf feines Lebens nicht allein
jtand, fondern von verjchiebenen Zeiten, fo namentlich von feinen
Hauptmitarbeiter Here von Aurfell, dejien Verdienjte nicht ver
geffen werden dürfen, die wirfjamite Unterftügung erfuhr, verfteht
fih von jelbft. Aber der Löwenantheil bei der Ueberwindung aller
der zahllojen Schwierigkeiten, die fih der Durchführung feines Pro
jefts in den Weg thürmten, fiel dod) ihm zu und erit, als es ihm
gelungen war, Se. Majeität den Kaifer perfönlid für die Sache
zu intereffiven und den Vefehl zu einer ernjten Prüfung des Planes
auszuwirfen, fonnte Pahlen fd) jagen, dafı feinen Wemühungen die
erite Ausficht auf Erfolg winfte. Aber auch, als endlich im Mai
1865 vom Finanzminifter die vorläufige Gonceffion zum Yau der
Bahn erteilt war, galt 6 noch die Hauptfchwierigfeit, die Beichaf
fung des nöthigen Napitals, zu überwinden und erit, als diefes nicht
ohne fehwere Prühe jchliehlich in London gefunden war, jah Pahlen
fih am Ziele, er hatte Chftland die erite Eifenbahn gegeben.
Der Valtiichen Cijenbahn und ihrer Lerwaltung hat Baron
Lahlen denn auc) bis zu feiner legten unheilbaren Erkranlung den
Reit feines Lebens gewidmet, nahdem er im Jahre 1868 den Pojten
des Nitterfchaftshauptmanns niedergelegt und fi von einer direkten
Theilnahme an der vitterihaftliden Landespolitit, zu welcher ihm
anfänglich die abermalige Uebernahme des Poftens eines reis
deputirten Harrien no) in etwas näherer Beziehung erhielt,
allmählich ganz zurüdgezogen hatte.
Baltiice Wonassjgeift. KL, geit 1
50 Aerander Baron von der Pahlen.
In der Gejchichte der politiichen, focialen und wirthichaftlichen
Entwidelung Chitlands vor 25 Jahren aber wird fein Name als
der eines Diannes von feltener Willens: und Geiftesfraft und un-
gewöhnlichen Gaben des Herzens und der Perjönlichfeit noch lange
in ehrenvollem Gedächtniß fortleben. M.
Kolitiihe Korreiponden;.
10. December 1895.
EN Den
t meinem lepten Briefe hat fc endlich der Winter ein-
2 geftellt, nicht blos manden Candwirth, fondern auch manden
Staatsmann zum Troft, der fid vergeblich nad Mitteln um-
gefehen hatte, um diefe leidigen Orientwirren aus der Melt zu fhaffen.
Aus der Melt find fie nun durd Froft umd Schnee zwar nicht ge-
fchafft worden, aber dod; fo ftarf aedämpft, da wenn nicht ein in der
Türkei freilich, einfeimifcher „untoward event“ die Necnung ftört,
wir für die Winterzeit hoffen dürfen, von einer „Löjung“ diejer Frage
verfhont zu bleiben. Ich will diefe Paufe num benugen, um die aus
wärtigen Streifereien chvas zu unterbrechen und Jhnen von dem zu
ergühlen, was ich ganz in der Nähe zu beoßadhten Gelegenheit fatte.
An Fragen und Nrifen und Kämpfen fehlt 5 ja aud daheim
nicht; vielmehr befindet fich das innere Volfsleben in einer Gährung,
wie fie feit der Nonflichsgeit in Preufen nicht ftärfer geweien üt.
Damals hatte der Staat den Anfturm ftaatlicher Anfprüche der ®
vertretung auszuhalten, heute fchaut der Staat in verhältni
Ruhe dem Kampje der Intereffen zu, der im Rolfe entbrannt
ift jeher, fih) ein überfictliches Wild diefer Nampfgruppen in ihrer
Bewegung zufanmen zu ftellen. Die wüfte Leidenfchaft, mit der die
Dxgane der Parteipreffe — und wer fteht auferhalb der Partei
Bisher einander befehdeten, trübt jeden Haren Bid auf die Dinge und
leider auch mur zu oft auf die Menjchen. Der Nail Sammerjtein
bietet feit Monaten den Anlafı und Stoff zu einer Verhefung, bei
welcher nicht blos die froplecenden liberalen Gegner, fondern chen jo
jehr die angegriffenen Aonfervativen durch die Maflofigleit ihrer Sprache
mitwirften. Cs war von grofem Unheil, daß der Wiberftreit. der
realen Antereffen nod) vergiftet wurde durch den jAmacwollen Sturz
3
52 Politiiche Korrefpondenz.
eines Mannes, der bisher Feind wie Aremd mit verblüffender Aunft
zu fäujchen gewußt hatte. Es war doppelt unheilvoll für die fonfervative
Battei, in einer Zeit, wo ihre materiellen Jutereffen jo gefährdet
waren wie nie zuvor, plöglid nicht nur in ver Perfon eines Führers
blojgejtellt, jundern jo führerlos zu werden, wie fie heute Tenn
die Namen Manteuffel, Nanig, Stöder, Vlrbacdh haben das Gewicht
nicht, weldyes der fonjervativen Wartet durch den Werth der in ihr
verförperten Intereffen zutommt. Die bedeutenderen unter ihnen, Graf
Nanit und Stöder, vertreten der eine das Agrarierthum, der andere
feine focinle Chriftengemeinde, aber feiner hat das Zeug bisher gezeigt,
um eine grofe foniervative Politit zu leiten. Stöder, der ja nicht
einmal einen Sig im Neihstage hat, erfahrungsmäfig nicht, Graf
Nanig, jo allgemein er als ruhiger und gebildeter Denker anerkannt
wird, it bisher ned nicht als Kührer auf allgemeinerem politifchen
Boden hervorgetreten. Und fowohl Stöder wie Nanik find gegen
wörtig mehr dafür thätig, die alte fonfervative Partei aufulöfen, als
fie zu jtärfen. Stöder mit jeinem Kirchenthum, feinem Antifemitismus,
feinem Sociafismus gehört in die Gefolgjchaft der Noniervativen, feine
Interefien fönnen aber nicht das Programm einer politischen grofen
fonjevativen Partei bilden. Nanit mit jeinem Antrag eben jo wenig
denn neben den Kornpreijen giebt es nody mande andere Dinge, Die
ihre Vertretung bei den Nonfervativen fucen. Diejer Mangel an
tüchtigen Kührern ift leicht erfläclich. Die fonjervativen Mafien des
Wolfen entbehren gewiß; nicht der Männer, welche durch hervorragende
Gaben des Charakters und Geiftes zur Rührung berufen wären. Aber
Dieje Männer wenden fidh wur felten dem politiihen Karteileben, da
Dagegen mit Vorliebe dem Dienft in der Verwaltung und befonders
im Serre zu, welches eben Durch die Aülte folder Nräfte in feinem
Tffieiertorps zu Dem geworden it, was es lt. Stände die Hälfte der
Tffieiere der Partei zur Berfügung, fo wide cs an fonfervativen
Rühren nicht mangeln. Auch mag deider manche füchtige Araft dem
Parteileben fern gehalten werden durch die zunehmende Werrohung de
politijchen Treibens. Es bleibt aber bödit unbeitvoll, daj; die fonfer
vative Partei in den bevorftchenden Ningen auf dem focial-wirth
iaftlihen Boven nicht mit dem Gewicht, der Nüftung auftreten wird,
welche ihr zukonmen.
Ih babe in einem früheren Briefe das Wadhjen des allgemeinen
RN Voltsvermögens, betont. Diele Vermehrung dr
Napitals entipricht nun aber nicht einer zunehmenden Glüdjeligkeit der
Bevölkerung. Bielmehr wäht die Kluth der Unzufriedenheit von Tag
zu Tage. Schreitet man die endloje Ariedrichitraße in Berlin ent
fang, betrachtet man rechts und linfs die glängenden Yäden, jo Könnte
man meinen, diefe Händler und Handwerker müften fänmtlich reiche
Leute jein. ragt man näher nad, jo hört man, daf; die alten
grofien Gefhüfte qut ftehen, die meiften leineren fih nur eben über
Politische Korrefpondenz. 53
Waffe halten. Dasjelbe Lid fingt der Handwerker: einzelne alte oder
große Sejchäfte blühen, Die Menge fommt mur jchwer vorwärts. Und
acht man auf's Sand, jo heifst es umgefehrt, es nedeiht im Durd-
icmitt der Yauer, welcher mit eigener Araft arbeitet, der Grofbejger
und Pächter nur ausnahmsweife. Wer vorläufig nicht jammert, das ift
die Vörfe und ein Theil der Induftrie. Die Urfade der Unzufrieden:
heit liegt nicht in don Mangel an Arbeit, an Abjas im Gewerbe, an
Unfab im Handel, fondern in der ungleihmäfigen Wertheilung des
Gewinnes. Tas Veld zeigt die Neigung, dem Arbeiter und dem
ten zujuftrömen, die Mitteltlaffen erhalten einen zu ger
n Mntheil und drängen ne gefepliche Abhilfe. Eine Folge der
wirtbfcpaftlichen Mipftände ift, nicht blos bei den Sonfervativen,
jondern bei allen “Parteien die tft Interefien mehr als
Tonft fih vordrängen, und dah; bejonders die alten Freihandelsparteien
zerfallen. Die chemalige Fortfchrittspartei ift in einen Saufen Eleiner
fitter zerplagt und ihr Daupttheil Hält fih nur mod durd die
debattifche Begabung Nichter's aufrecht. Die Nationalliberalen fehen
ihre alten Prineipien: reihandel und Goldwährung täglich an Gewicht
verlieren; fie müfjen es erleben, da 4 Mitglieder ven Antrag Kanit
non und find bereits dahin gelangt, va fie diefen Schritt
unvereinbar mit den Parteiprogramm halten, da jogar in
ührem Kölner Organ jet bedauert wird, nicht höhere Getreidezölle an
die Zelle des drohenden Cinfuhrmonopols jegen zu Fönnen. Das
Nararierthun hat feit Monaten durch) ganz Deutjehland eine in fepter
zeit ftille, energiihe Agitation getrieben und ihre Werbungen find weit
in das Zentrum hinein, aud im Süden erfolgreich gemejen.
ginnt aus wirthfehaftlichen Motiven eine Neuformung der Partei
der man eine Vefferung unjerer Parteiverhältniffe, fei cs aud nur in
dem Sinne, erhofften darf, daf es jchlechter faum mehr werden Fan.
Und treibende Araft ijt wejentlic diefer Antrag Nanig, ven man
vor einem Jahre als Tollheit verlahte.
Der am 17. Dezember vertagte, am 9. Januar wieder fd)
öffnende Neichstag ftcht vor der Berathung des größten Wertes der
neuen deutjhen Gejehachung, allein das bürgerliche Gejeybuch ift völlig
aus dem öffentlichen ntereffe Durch die wirthiehaftlichen ragen ver:
drängt worden. Gteich die Ctatsdebatte wurde dazu benußt, mit
Nebergehung des Etats jelbit fait nur wirthjchaftlide Ding
örtern. Leider folgte als erte wichtigere Worlage das Wötticher‘
Wrojeft zur Errichtung von Sandwwertstanmern, weldes in Di
heutigen orm für unannehmbar gilt; man will mehr, als die Namımern,
man will eine Nnnungs:Crganifation nit Zwangsredht, man mill vie
fech gerade in den befferen Streifen des Sandwerfs ven Be
nadweis, Kurz man will eine firaffe Trganifation des $
Sandet hat be Sandelsfammern, Die heute für unentbchtlidh
gelten. Die Sandwirthihaft findet in Preufen ihre provinzielle ers
54 Volitifche Norrefpondenz.
tretung in den neugefcheffenen Sandwirthichaftstommern. Das neue
Börfengefeb will dom Napitalfchwindel an den Leib, Die Lorlage geacn
den unlanteren Wettberverb joll dem Naarenfchwindel Schranten aufer
legen, und mande andere Pläne noch reifen heran, die den in jänmt
lichen Crmerbsgmeigen, troß des großen Aufichwunges der Volls
wirthihaft und durd fie fid zeigenden den entgegenmirten
offen. Was auch der Erfolg all diefer Pläne fein man, die eine
rüchoiefende Nraft zeinen fie bereits jeßt, da; Diele allgemeine wirth
ichaftliche Gährunn von großer und wohlthuender Bedeutung für die
heute unfeibliche Parteiung werden dürfte, Wenn Die erwerblicen
Nntereffen weiter wie bisher im Wordergrunde bleiben, jo wird die
Zerfeung der Parteien nicht bei dem Abfall der vier Nationalliberalen
ftille halten. Vor Allem wird das Manceiterthum noch weiter zurüd-
gedrängt werden und vielleicht erftchen dann grofe neue Cxgenifationen,
die, von wirthfchaftlichen ntereffen getragen, auch den allgemein
politifchen Aufgaben cher gerecht werden, als Die heutigen verlnöcherten
Parteien.
ie in allen Verufszweinen auftretende Unzufriedenheit mit den
heutigen Verhältnif; von Arbeit und Lohn Hat zu einer Bewegung
geführt, Die fi bisher nicht wohl unter allgemeine Gefichtspunkte zu
fammenfaffen läft. ndeffen it doch ein Fiel jehr deutlich erkennbar:
die Vefeitigung des Zwifchenhandels ywiichen Producenten und Aonfı
menten. Diefes ziel haben die vielen wirtbichafttichen Lereine und
Senoffeniesaften im Auge, und darauf feucn zchllofe Zeitungs
artifel und zahlreiche Schriften hin, angefangen von jenem Samburger
Kaufmann (pfeuden. Uhlenhorft), der den gefammten Handel verftaat-
licyen will, Dis zu den Arbeiten des Lereins für Sociahvifienichaft,
welche wohl einiges Material, aber feinen Worfchlag zur Abhilfe ge:
bracht haben. Diefes Ziel verfolgen aud) die ländlichen Genofen:
ihaften, welche gerade in dem jeht ablanfenden Nahre mit feinen
miedrigften Getreidepreifen in fräftiger 2 um. fi) qegriffen. haben.
or etwa zwölf Jahren wurden die wenigen damals bejtchenden land:
wirthichaftlihen Oenofienfhaften in den „Allgemeinen Verbande der
deutfchen landwirthjchaftlichen Genofienfchaften“ vereiniat. Zu diefem
Verbande gehören bereits 2000 Genoffenichaften, im laufenden Jahre
find bis zum Degember 608 Oemefienichaften binzugetteten. Der
Yerband hat feine Trgane („TDeutjche landwirthjchaftliche Pıefie”),
in den Provinzen jicht, meift eine „Sentalgenofienfchaft” an der
Zpige; unter diefer die einzelnen Spar und Tarlehenstaffen, Molterei
genoffenfhaften, Butter- Verkaufs Senoflenfchaften, Nonfumpereine u.
Tie privaten Jentralgenofienihaften find im Veariff, in die neuen
provingiellen Nörperfchaften der Yendwirtbichaftsfammern aufzugeben,
welche dann dem landiwirthicheftlichen Senoflenichaftfmelen volle jtant
liche Vertretung Fihern werden. Tiefer Auficwung ver Zclbithilfe in
der Sandwirthicaft it immerhin als eine nügliche rudht an dem
Tolitiiche Korrefpondenz.
Baume der Noth anzuerkennen, unter deifen unliehfamem Schatten ein
fehr großer Theil des Volkes heute fteht. Und diefes Nereinswejen
hat an vielen Cxten bereits fehe wohlthätig gewirkt, wie z.B. die
Winziger und Ourauer VBücerei-Oenoffenfchaften, auf welche in diefem
Briefe einzugehen mir fcider der Nam verbietet. Der Drud, der auf
der Sandwirtbichaft in Deutjchland Iaftet, wird ja auch in den Oftfee:
provinzen jehmer empfunden. Während tig unter. günftigen
Ausfuhr: Conjunkturen die deutjche Anduft onen vervient, macht
fh das Einfen des Wohljtandes im platten Lande immer ftärfer
fühlber. Die Meihnahtsläden in der Leipziger Strafe find dafür ein
eben jo guter Gradmefjer als Scheuber und Mengendorff in Niga für
baltifche Terbältniffe. Die Genoffenjhaften ud der Bund der Land
wirthe haben, von diefer Roth in's T. , in Furzer Seit eine
Bedeutung gewonnen, die übe fchen Partei hinaus
tagt. Wenn der Bund der Candwvirthe mit feinem Antrag Nanit in
der gegenwärtigen Neichstagsfitung aud) nicht Ausficht auf Annahme
hat, jo hat diefer Antrag doch jeit dem legten Frühling im Lolt eine
icht bedeutende Zahl von Anhängern gewonnen, fo da; er von den
Gegnern feineswegs mehr mit Lachen abgethan werden fann. Cs
giebt ja auch jegt mod Wiele, die von einer Nothlage ver Land:
wirthe fd micht haben überzeugen laffen, oder die da jagen: wenn der
Gropbefig Diefe Preife für feine Erzeugnifle nicht ertragen Tann
der Bauer fann es, und alfo zerichlage man den Grofibefit. Aber
die Strömung nad einem ftantlichen Schub aller Gewerbe, und fo
audy der Yandwwirthfchaft üt, fon zu ftart, um das Getreides
monopol als Princip von Haufe aus ite zu werfen. Wäre die
praktiüche Ausführbarkeit wahrjcheinfich, jo ftänden wir einem foldhen
Werjud) nicht mehr fern. Aber wenn die Negierung das Monopol
zurücweilt, fo wird fie doc; Alles daranfegen müffen, um auf andere
Weife den Forderungen der Aderbauer gerecht zu werden, denn nach:
dem in Tefterreich, Italien, Frankreich, felbit in England die Ne-
gierungen offen Die Nothwendigfeit ancrfannt haben, dem Yandbau
itaatliche Silfe zu leiften, Tann die deutiche Negierung nicht mehr vor
den im extrem liberalen Lager noch immer nicht verftummenden Aus
brüchen gegen Die „Begehrlichteit oftelbifcher unter“ zurüd weichen.
Wenn die monopoliftiihe Detrefirung der Getreidepreife fd wird als
wausführber erwiefen haben, wird cs fidh darum handeln, den Zrifche
handel und die jhädliche Sonfurrenz einzufchränfen, dur) welde
FProdufte der Sanpwirthjchaft auf einen ungebührlich tiefen Preis
herabgedrüctt, die Produkte von Gewerbe und Anduftrie oft ungebühr:
ich vertheuert werden. Und auf diefem Yoden wird man bei der
Regierung ohne Zweifel alles gewünfchte Entgegenfommen finden. Leider
«aber hat der Bund der Landwirthe fo jehr alle Kraft in die Propa-
girung des Antrages Nanig gelegt, dal; andere im Lande aufgetauchte
Lorfapläge zu fehr vernadjläffigt worden find, um jept on gleid in
56 Rolitifche Korrefpondenz.
teifer Form zur Werhandlung und Crledigung zu gelangen. Day
gehören die ftaatlichen Neichsfpeicher des Pure von Oraf-Alanin (X.
von Graf-Nlanin, Nornhaus contra Nanih, Berlin, 1895. Laul
Yaray) und die vielfach empfohlene Sclbithilje der Sandwirthe Durd)
genoffenfchaftliche agerhäufer. Amerhin werden dieje Wläne nach
Ablehnung des Antrages Sanig und wohl fehon in der Tebatte über
denfelben zur Sprache im Neichstage Tommen und damit hren balti-
ichen Lefern einen intereffanteren Stoff bieten als die meiften hoc)
politijcien Debatten oder parteilichen Bullenbeifereien.
Notizen.
SO
om Johannes Lenz, dem jüngft jo frühe aus ineter Wirtjamteit
287° abgernfenen Pajtor in Neval, find vor Kurzem zwei Vorträge im
° Prud erichienen'), die von allgemeinem nterefie find. Der erfte:
Epener und der Pietism ns, würdigt in gerechter und unbefangener
Reife die Bedeutung Epener’s für die Mutberiiche Kirche wie feine Verdienite
um die Wiederwedung des religiöfen Lebens und carafterifi dann dei
Vietismus mad) fei Vorzügen und Echattenfeiten. Weber die Richtung A.
». Frande's urtHeilt Lenz bei aller Anertennung der großartigen praftifch-
hriftlihenn Thätigfeit diefed Mannes ungünftiger als Über Spener. Schade,
dafı ibm das neuefte Werk über Spener von Grünberg nnbefannt geblieben ift,
@ würbe ihm dann Manches in anderem Lichte erichienen fein. Der zweite
Vortrag feht mit dem eriten in naher Beziehung. er behandelt die Lehre
von der Belehrung und Wiedergeburt mit beionderer Berüd:
Ächtigung des Pietismns und Methodisnus. Es wird uns darin eine bibtiich-
theologifche Unterfuchung der Rrage geboten, ob die Belehrung und Wieder:
geburt, wie der Pietiemus und Merhodismus fehrt und behauptet, ein ein
seiner, zeitlich genau zu firirender Vorgang oder inneres Erlebwih it, der bei
allen wahren Chrijten in gleicher Weile den Anfang eines neuen Lebens bildet,
oder ob darumter ein fortdanernder Zuftand, ein immer wieder fid) ernenerndes
Erleben zu verjtehen jei. Lenz erflärt fich auf Grund der von ihm angeführten
Ausfagen der heil. Schrift mit Entfdhiedenheit für die zweite Auffaffung; "eine
Ausführungen find Mar, bejonnen und im Weientlichen überzeugend, wenn
auch gegen Einzelheiten fihh Manches eimwenden läht. Beide Schriften find
au für Laien vollfommen verftändlid, und können allen Lejern, die fic für
ernite veligiöie Fragen intereffiren, warm empfohlen werden. ah
*3 Beide im Verlage don Franz Auge in Neval,
Notizen.
Dscar von LÜWis hat focben ein Bud)
gDögel*) herausgegeben, das daranf Anfpruch machen fan weit
den Kreis der Fachgelehrten hinaus in unferem Lande gelamnt und gelefen zu
werden. Der Lerfaffer hat jchon vor act Jahren einen Verfuc, über dasielbe
Toema in der Balt. Monatsicheift veröffentlicht, dem er jet die vorliegende
umfaende Arbeit folgen fäht. &s wird viele Sejer überrafchen, dah bei uns
76 verfcjiedene Arten don Singvögeln vortommen; der Terfafier giebt zuerjt
eine genaue Bejcpreibung der einzelnen und behandelt dann bei jedem das
Vortommen, den Gejang und das beleben. Dem Banzen wird eine Ein
feitung über den Gefang, die Een der Kügel und ihre Feinde vorausgeichidt,
die böchft anziehend und wie da® ganze Wert reich it an feinen amd icharfen
Beobachtungen. CS üt ein icbentwirdiges Buch, wonit Löwis uns beichentt,
voll Naturfiun und Naturenpfindung, erfüllt von warmer Liebe zur Yogel
weit; es weht ums daran wie jriiche Waldesiuft entgegen md reine Natur
daute dringen aus ihm in die roddene Amoiphäre des der freien Hatır abge
febrten Stadtlebens. Mögen auch einzelne Züge im Leben der Vögel von
ihren begeifterten Freunde envas wermenfchficht fein, was thut das! Zu dem
Inhalt pafıt auch vortreiflich die zwangloie Iebendige Tarjieltug und der
frühe Stil. Die Sprache des Berfaffers weih; nichts von comventionellen
Sormen, fie bewegt fich munter im Gonverjationston und braucht jehesmal
dei begeichnendften Ausdrud, gleichviel ob er in der Schriftiprache gewöhnlich
ft oder nicht, frz, ein Natwjtil im bejten Sinne des Wortes. Wir
ichreiben unfere furze Anzeige mr als einer aus der Zahl der aien, die an
dem Buche ihre herzliche Freude Haben, eine wiifenichaftliche Würdigung wird
ihm Hoffentlich bald nach Werdienit von einem Ornithologen zu Theil werde,
Wir wünfhen zum Schluh, dafı Lwis’ Buch ih auf recht vielen Weihnachts-
tüchen finden und in allen wo man Naterfiun und Naturfreude
tennt, Eingang finden möge. _c—
Einem jet fait vergeffenen verdienten battifchen Nünftler hat Dr. Wit:
Gem Neumann in feiner Schrift: Narl Huguil Senif, ein balti
imer Nupferfiecher”), cin biographiides Tenfmal gejept. Der Lerfafler
Hat das Material zu feinem Büchlein fleihin überatiher qanmelt und ein
Forgfältiges Berzeihnuih der fünitferichen Arbeiten Senf’s hinzugefügt. Meber
das Augendfeben des Nünftler® liegen mehr Nachrichten vor als über feine
ipätere Wirfiamfeit als Lebrer und nacıher als Proieiior der Feichenkunit in
Vorpatı Jurjeif)von IN03—18) war eine file jchtichte Mnftlernatur ohne
tart herwortretende individuelle Züge. Briefe und Xufzeidmungen von ihm
aus feiner Dorpater Periode haben fidh Leider micht erhalten; was hätte cr
altes über die mannigiadjen Entwicelungsphafen dar Mniverfität und des afa-
demichen Lebens Überhaupt während ieiner langen Amtsihätigteit mitiheilen
fönnen ! Leider erfahren wir auch über jein Verhältwih; zu dem Profeior Johann
') Reval, Verlag von franz Auge.
2) Reval, Verlag von Franz Auge Mit dem Pitdniffe Senfis,
6 Neproduetionen nad) jeinen Werfen in Cicndrud,
Notizen. 59
Wilrem stranfe, der felbit Zeichner und Maler war, michts. Puch die
Biederanifriichung des Gedächtniffes eines verdienten Mannes hat fid Neu
mann Aniprnch auf den Dant aller Nunftfreunde erworben. Bei diejer Diele
genbeit drängt es uns dem lebhaften Wunjch Ausdrud zu geben, es möge doch
endlich einmal unferem bodbegabten, früh veritorbenen Ludwig von Mandel
die gebührende biographifche Darftellung und verdiente fnftleriiche Windigung
iu Teil werden.
Im Anichlah an die vorftehende Schrift ei noch mit ein paar Worten
einer Ueberficht über den Entwichungsgang der Kunft aus baftlicher Feder
gedacht, wir meinen die fuchen in zweiter verbefferter Auflage erfchienene
Kunftarihichte im Grundrih von Mn. Brocder). Das
Büchlein wendet fich an Munitlicbende Laien, be'unders an Frauen und jung
dien amd ift mit IL bbildungen ausgeflattet. Die Anlage der Schrift
üt geichidt, die Hauptmemente der hifteriichen Entwichung werden gebührend
bervorgeboben und die großen Nünftler meift anfprechend und zutreffend charat-
Die griehiiche Kunft erfheint uns aber evas zu hurz und dürftig
behandelt zu fein: hier wäre ein näheres Eingehen aud) bei den engbegrenzteu
Raume des Büchleins doch am Pla gewvefen. Ueber die neuefte Enttwictlungs
phase der deutichen Kunft, namentlich die fünftlerifche Bedeutung don €. Geh
bardt und rip won Mbde scheint uns bier ftart optimiftifch geurtheift zu fein.
auch bier und da eine Züde zu bemerfen ift unb von fireng
Äheftfichen Stondpuntte ans im Ginzelmen die'e und jene Anstellung zu
machen wäre, jo Tommt das für die Erreichung des Zieles, welches fid dieler
Srundrifs geitett Hat, wenig in Betracht. Wir wünfden dem anipruchstofen
Büchlein weite Verbreitung, möge 8 zur Exivedung md Förderung des
nes bei der Tugend auch) in unseren Provinzen beitragen —i
Iahrbud jür Genealogie, Heraldil und Sphra-
aiitit 1804. Mitan, 1395.
iet fpäter erit als e$ meine Abficht war, Tome ich dazu, den zweiten
Fabrgang des Iahrbuches für Genenfogie anzuzeigen. Wenn auch die darin
enthaltenen Arbeiten naturgemäh; nicht alle von gleichen Werthe find, jo entbält
doch aud) dieier Band des Lehrreihen und Beachtenswerten geı und ficht
in feiner Weite hinter feinem Vorgänger zurid. Zunäcjt fi der Schluß des
Aufages vom Areiheru Edmard von Firds „Die Bühren in
Rurtand“ hervorgehoben, der die Benenlogie der Familie Bhren bis auf
Eraft Johann und feine Gefchwifter berabführt Durch dieie wertvolle und
Ängattreicpe” Unteriuchung it die Trage nach der Abftammung der
Herzogsfamifie Biron endgültig erledigt und es werden darin der Zufammen
bang und die Lebensichidiafe der ei auglicder durch beinahe
Fubre verfolgt. eh. don Firds’ Arbeit it ein Mater genenlogüicher Foridnung
durch die Anwendung freug itlicher Methode, völiger Beherrfhung des weit
gereuten ungedrudten urhmdfihen Materials und die Aülle weiter und
*, Hörtingen, Yandenhoed & Ruprecht. 2 M. 60 Bi.
L} Notizen.
tehrreicher Sefiptspintte; fie fan allen Ähnlichen Unteriuchungen zu Vor
Bild dienen und jedem genenlagüichen Foricher zum Zundium empiohlen werden.
Manchmal fönnte man den ortgaug der Unterfudneng wohl chvas ftrafier
und geichlofienee und weniger auf Rebenjragen eingehend wünfchen, aber mar
äh fich ehtieiich dieie Aidnveifungen gern geiallen, da fie beachtenswerthe
Ausführungen Über andere hrrifche Namilien enthalten. Ter Streit der Bü)
tens um die Mufnahme in das Murifche Jndigenat, der den Mittelpunkt der
Firds’fchen Abhandlung bildet, ift eim böchft beachtenswerther und wichtiger
Veitrag zur inmern Gefchichte Kurlamds wie des uriichen Adels im VI.
Jahrhundert. Mag man and) in einzehten Fragen anderer Meinung fein als
der Lerfaffer und in der Yeurtbeilung mancher Vorgänge von ibn abweichen,
wie da8 bei dew Unterzeichneten der Fall ift, darüber, dah des ib. Ed. v.
Firds Aufiap eine Pierde des Iabrbudhes und eine Bereicherung der Willen:
ihaft Äft, wird unter allen Sachtundigen völlige Uebereinftinmung herrichen.
Schtiehtich möchten wir dem Perfaffer mod) zwei Wüniche ausipreden. Erftens,
gr möge, wenn auch nur iu aller Münze, die männliche und weibliche Deicen-
denz Ernft Jodann Biron’s bis zur Gegenwart fortführen und dazu an)
wenigjtens die männliche Nadyfommenfhait jeiner Brüder hinzufügen, damit
man danır eine vollitändige Ueberficht und Gejchlechtstaiet der Familie Vühren
oder Biron von ibrem erjten Vorfommen in Nurland bis auf were Zeit bat
and der bisherigen unvollftändigen und mangelhaiten Verfuche diefer Art ent
yarhen fan. Aweitens wäre e& fehr wünfdhenswertb, dafı er felbit oder, wenn
08 Ähm dazu an Zeit und Neigung gebrechen folkte, mit feiner Auftiumung
eine andere berufene Hand eine zuianmenfafiende Meberficht der von ihm q
wonnenen Foridhungsrefutate für den weitern gebildeten Leferfreis zufammen-
tele. Nur dadunh würde 8 gefingen die noch immer Ferumipudende Vor-
Hteltung von dem Stalitnecht Biron, dem Later des Herzogs, und der niedrigen
Bertunft der Familie aus den Aöpien und Büchern zu verdrängen: das Kahr
Such Tommt doc) mr iu wenige Hände und bfeißt dm grohen Pubtitum un
zugänglich. An die Abhandlung von Cd. von Firds fchlicht fidh die Stamm
tafel der Kamilie Biron in Rufflich-Bolen, deren Aufantmenhang mit dem
furifchen Hawptitaum nach wicht ermit wen zweiten Beitrag zum
Iahrbudr hat rh. Ed. von Firds durch die Heransgabe des Hausbuches
aeliefert, das Reinhold von Nostnfl und jeine Nachlommen von
180: 9 geführt haben. Die Aufzeichmgen beziehen fich meift mr anf
Ramitiengefchichte, ar don Peter Nushrll fürden fich auch Eintragungen von
atlgemeinerem Diitorifchen Anterefe, fie bieten aber auch manchen hultır
ebichtlichen Stoff und ziehen durd) ib naiven Ansdrud an:
geber bat eine belehrende Einteitung über den Urfprimg der Familie Nostull
verausgeiciet. Won allgemeinem Nntereffe it weiter die Abbandung von
Leonid Arbufow: Die Bildniiie der derzoge und Her
soginwen von Kurland aus dem Kettler’ihen Yauic,
orin der Berfaffer mit der ihm eigenen Genawinteit, Eadhtenntmif und Be
Vefenheit alle ihm befammt geivordenen Bilder und Aupferfliche zuiantmenftellt
und erläutert, Cine wichtige Ergänzung zu dielem uflap giebt die von
Notizen, 6
Baron 9. dv. Bruiningt in einer Cipuag der Nigaer Altertbumsgeiettichaft
gemachte Mittbeilung über die Bilder Herzog Jafobt und feiner Familie im
Zieh zu Gripsyomm. Zu Arbujows Adandlung gehört ein Lichrdrucbild,
welds die im Surländiichen Brovinzialnmufenm aufbewahrte Stammtajet des
Herzogshaufes Kettler darftellt. Den größten Raum nehmen im Jahrbud)
die Genealogiihen Eollettaneen, weihe Frh. Alerander von
Rabden aus der Mitaufhen Zeitung von 1608 bis 1508 und aus dem
Witanfhen Intelligenzblatt von 183 bi 183 gejammelt uud mach den (ja
mitten alpbabetiich zufammengefteilt hat. Diefe mühjame und jorgfäftige
Arbeit fiefert für die genenlogiiche Forihung und die adelige Ramilienfunde
ein unchägbares, abjolut fiheres Material; viel zeitraubendes Nadpjuchen und
Racicyfagen wird den Benupern durch dieje Zujammenftellung exipart, fehwer
zu beihjaffender Stoff zu bequemer Bemupung wohlgeordnet dargeboten,
Stammtafeln der yamilie Qüdinghaufen gem Wolff,
dis zu ihrem Ertöichen in ihrer Stanımheimath hat May von Spiehen
in Minfter beigefteiert. Daran jchlieht fih die von Edmund Fr. von
Lüdingbanien gen. Wolff migetheilte Berteihungsurfunde von
Stadtrediten an die Ortiheft Lüdinghaufen ans dem
Jahre 1308. MW. von Rummel giebt die Stammtajelder And
int Gouvernement Witebst und zwar in dem Polnifch-Cioland genanmten
Teil desfelben, die als präfumptiver Zweig der Familie von der Nede in
Nurland bezeihmer werden. Zwei merhviirdige genenlogifche Denkmäler werden
in dem Aufap von Fih. Ed. von Firds: „Schrank mit Ahnen:
wappen der Elijabeth von Rappe geb. von Korii“ aus
dem NVTL. Yahrbumdert und „Botiviafel des Johann v. Plater
in der Kirche von Würze“ aus der orten Hüffte des NVIT. Jahrhunderts
von Erb. Alexander von Nahden bebandeit; beiden Aufläpen find
vorzügliche Lichtdruchafehn beigefügt. Mit den aufgeführten Artifeln md Ab
bandtungen it der Znhalt des Jahrbudes noch teineswegs erichöpi
Berichte über die einzelnen Singen der Seetion enthalten viele gröi
Hleinere inftruenive Mittheilungen, namentlih aus den Gebiete der Herafdit
cr das merfwirdige Siegel des Comtur
über Driginaffiegel hırländiicher Vürgergefchlechter 1579-1791, ferner die be
werfenswerthe Urtunde Bücher Heinrichs von Nurland aus dem Jahr Ipln,
ieien die Ausführungen über Ateroaialten in Liv- und Nurland, die Vener-
fungen über die Familie Slaferapp, Towie die Negeiten des Furlindiichen
iwciges diefer Familie, endlich die Werichtigungen zu dem im eriten Jabıbuch
herausgegebenen Stammbud Ehriitopbs von Saden hervorgehoben, namentlich
aber auf den jehr intereffanten Nurlap von Baron Av. Nabden über die
Einführung der Nittecichaftsunitorm in Aurland bingewiefen, au den fich cin
Berzeichaift der 1786 im preuhüfchen Hreve dienenden Surländer shlicht. Wei
Gelegenheit mühfen wir an die Nedoction des Jabrbudes die Bitte
tihten, in Juhanft den Sigungsberichten ein Inhaltsverzeidwiß über die in
denfeiben enthaftenen Artitet hinzuzufligen. Dpme ein foldes wird es, wen
62 Notizen,
wie wir hoffen, noch eine flattfiche Reihe von Jabrgängen dem zweiten falat,
immer fhwerer werben einen darin. enthaktenen Yuflafs aufzufinden umd manche
wertvolle Arbeit wird fo feidht in Wergeffenheit gerathen und unbenut
beiten
Die bei der Aurländifchen Gefetichait für Eitteratur und Kumit gearlin
dete Section für Genealogie, Heraldit und Sohragiftit bat durch die wei von
ihr Sißher veröffentlichten Jahrbücher ihre Lebensfähigteit und ibre miflen
ipaftliche Berechtigung in unwiderfprechlicher und wahrhaft erreulicher %
erwiefen. Au) da® Lebendigfte Interefie und Die gröhte Mitgliederzahl gewäl
feiften einer Gefelfichaft nicht das redjte Gebeihen. &S gehört viel Arbeitfam-
feit, zähe Ausdauer, nicht ermattender Feih und volle Hingabe an die Sadıe
dazu, um einer woiffenfchajtlichen Vereinigung über die Zeit des erjten Iebhaften
Iutereffes und Cifers hinaus die Lebensdauer zu fichern. 9 jolden arbeits-
jübigen uud arbeitsfreudigen Mitgliedern jehlt es der Section, wie ihre Ber:
Öffenttichungen dartbun, nicht und die Energie, Arbeitstraft und Sachtenntnit
ihres Präfidenten bürgt für den gedeihfichen Yortgang ihrer Arbeiten. Wir
jenen dem dritten Jahrbud) mit Spannung entgegen.
S. Diederihs.
Zwei Gpifoden ans der Zeit Haijer Baul’s.
Aus den Aufeinungen A. M. Turgeniejis.r)
I
Sg: Fürften Wlerander md Alegei Kurafin lebten
während der legten Beit der Regierung ber Raiferin Katharina II.
in ber Verbannung und c3 war ihnen anbefohlen worden, jid) auf
ihren Gütern aufzuhalten. Nachdem Kaifer Paul I. den Thron
beftiegen Hatte, war allein jchon der Umftand, daß die Kurafins
6i8 zu feiner Thronbefteigung verbannt gewefen waren, Hinreichend,
am ihnen Verzeifung zu bringen. Naifer Paul gefegneten An«
deufens Hegte gegen feine Mutter Groff uud bemühte fid) auf
jede Weife zu beweifen, daß alfe ihre Regierungsmaßnahmen
jehädfid, und fehlerhaft gewefen und den Saunen ihrer Günftlinge
entfprungen feien, und beshalb werjieh er allen, bie zu
ihrer Beit in der Verbannung und unter Gericht gewejen,
jeibft wenn fie anf gefeplicher Grundlage verurtheilt und beftraft
warın, falls fie mr Jemanden in ©t. Petersburg Hatten, der an
fie erinnerte; er rief fie aus der Verbannung zurüc, ftellte fie an,
befchenfte fie mit Würden und Orden.
Der Erfte von ihnen war der wegen Ausplünderung des
Rafanfdjen Gouvernement3 verurteilte frühere dortige Gouverneur,
der wirfl. Gtaatsratd PB. Scheltuhin, er avancirte zum
Geheimrath, und Senateur und erhielt den Annen-Orden I. Maffe.
*) Rufifaja Starina 1895 Mai, ©. 45--51.
Baltfge Ronatsfäift. BL. SLIV. Heft 2. ı
64 Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’s.
Die Fürften Kuratin zähften bald nach ihrer Rüdtehr von
ihren Gütern zu ben höchften Stant3beamten, Alezander war Vice-
Kanzler, Ulegei General-Procureur.
Ein oder zwei Jahre vor dem Tode der RKaiferin Katharina
Hatte der befannte Millionär Beketomw vor feinem Tobe ein
Teftament abgefaßt, in welchem cr, den damaligen bezüglichen Ges
fegen zuwider, fein Stammgut, mit Ausschluß der directen Ge»
ichlecht3-Erben, an entfernte Verwandte und fremde SPerfonen
vermachte.
Selbftverftändlid) ta e8 zum Procei. Das Gut Beletoms
war viele Millionen werth, aud) Hatte er viel Geld Binterlaffen,
über das bei den Gerichten Proceffe geführt wurden; endlich fam
die Sadhe an den Senat, und man muß annehmen, daf man
bamal3 im Senat den lieben Gott fürchtete: Furz, die Sadje wurde
ganz gerecht und auf Grundlage de8 Wortlauts de Gefeges ent-
fhieben, d. 5. das Teftament Beletows wurde vernichtet und ber
Befehl erteilt, daf das Stammgut nad) dem Recht der Erbfolge den
näcjften Verwandten und directen Erben Befetonws übergeben werbe.
Die Senatdentfcheidung war, Tann man fagen, in den legten
Tagen des Lebens Katharinas erfolgt und nod nicht zur Yuss
führung gefommen.
Seit dem Jahre 1797 Hatte fich Ulfes verändert und bie
Schreligkeit der Erfüllung der befonderen Befehle, die in den
Zahren 1797-1800 oft, vielleicht immer in ber Eile, nad
dem erften Blik auf die Sache, ohne fie völig zu erfafien, ohne
fie zu beurteilen und zu erwägen, ohne Erkundigungen einzuzichen,
gegeben wurden, bewirkte in Allem eine joldhe Verwirrung, ein
folches Dunkel, wie zu Zeiten des Chaos. MUlle beeilten fid, Alle
Hafteten fi) ab, Alle waren, wie e8 jdhien, in beftändiger Bewegung,
Alle bemühten fi, Alle arbeiteten, uud nichts ging, Niemand
wußte, wa er that, wie er e8 that, weshalb und zu weldem
Zwed er fo that. Der Trommel-Lärm betäubte das ganze Kaifer-
reih! Wenn man an die Jahre 17971800 denft, muß man
fi} entfegen, e&8 war eine fürdhterliche Beit.
Die Perfonen, die durd) die Genatsentfheidung das ihnen
teftamentarifch vermachte große WBefetomfche Wermögen verloren
Hatten, benupten da3 Chaos, das jeht Herrfchte, fie eiften in die
Bivei Epifoden aus der Zeit Kaifer Pauls. 65
Stabt des Hl. Peter und vermochten in Turzer Beit durch einen
ftraff mit Gold gefüllten Sad oder durch; Affignationen fid) überall
Thür und Thor zu öffnen.
Alerei Kurakin, damals General-Procureur, der Perfon
des Zaren nahe ftehend, da3 volle Vertrauen desfelben genichend,
mit Gnaben und Würden überhäuft, in Ueppigfeit und Wolluft
verfinfend, gierig, Habfüchtig und unerfättlid), zögerte nicht, bie
Bittfteller gnädig anzuhören und richtete e&8 durch Betrug fo ein,
daß ein Ufas an den Senat erging, in welchem jehr Tatoniich
gejagt war: „Das Teftament Betetorws ift in feiner vollen Kraft
zu beftätigen.“
Der Bevollmächtigte der directen Erben Beletows, Maikom,
ein Leibeigener Beletows, ein Mann von großem Verftande und
ungewöhnlicher Kühnheit, eilte, nachdem er von bem Befehle, feine
Vollmachtgeber ihrer Erbichaft zu berauben, erfahren Hatte, nad)
Petersburg, berieth fi mit GR. Derifawin und befchloß, beim
Baren eine lage einzureichen — gegen den Zaren felbft. Nur
Benige wuhten von ber Mbficht Maikows, wahrfceinlic nur
Derigarin allein.
Lange Zeit ging Maitow auf die Wachtparade: biefer Play
hatte damals große Bedeutung, auf ihm entjchied fich das Schidfal
vieler Dinge. Dort, beim Trommelfclag, wurde Krieg erklärt
und Friede geichloffen, wurben Werträge bictirt, graufame und
gnädige Befehle erlafjen; Haufenweife führte man von der Wacht:
Parade die Leute zur Deportation ab, zur Einfperrung auf Lebens
zeit in eine Feftung, in ein Sfofter, oder bejcjentte fie mit Würden
und Orden, theilte Güter und Bauern aus, wenn man einen
glüdlihen Augenblid erhafchte, wo Paul Petrowitich Heiter war,
zufrieden mit den Uebungen auf der Wadht-Parade, wenn das
Bataillon rottenmweife in gerader Linie einhermarjhirte; Taut und
gebehnt riefen bie Offiziere ihr: Steht, richtet Euch! Paul
Petrowoitfch verkündete dam: Leben Manne ein Glas Brannt-
wein, ein Pfund Fleiß, einen Rubel! md begann fein Lieblings»
liedchen zu fingen:
Tannenwald, mein Tannenwald,
Mein dichtgewachjener Virfenmwald,
Trallali-Tralla.
1
66 Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’.
Diefen Augenblid mußte man wahrnehmen, damı war Paul
Vetrowitich gutherzig und zugänglich, hörte Jeden gebuldig an,
handelte milde und gerecht. Maitow erhaichte diefen Augenblid.
Us Paul Petrowitih fi gerade bereit machte, fein Schlahtrof
Fripon zu befteigen, fiel Maitorw auf die Kuiee, Iegte die Klage:
ichrift auf feinen Kopf ımd erwartete zitternd fein Schidjal.
Der Heitergeftimmte Zar nahm gnädig das Papier von feinem
Kopf und fragte Maikom: gegen wen?
Gegen Dich, Herr, meine Buverficht!
Gut, wir werden fehen, md fich auf? Pferd jegend rief er
Maitow zu: folge mir.
Maitow lief vom Ererzierhaufe bis zur Treppe des Palais
und al3 der Kaifer vom Pferde ftieg, erfühnte Maikorw fidh, ihm
an fich zu erinnern: id) bin hier, Herr, wohin befiehtft Du? Cs
erfolgte die Antwort: mir nad). Der Kaifer wollte die Treppe
Hinauffteigen, Maitor hielt Paul auf und fagte:
Herr, meine Zuverficht! man wird mic) fortbrängen, nicht
aulaffen.
Wer? fragte der Kaifer.
Maitow überfhaute die den Kaifer umgebende Suite und
gab ihm fo zu verftehen, daß fich Viele finden dürften, die ihn
fortdrängen und ihm nicht geftatten würden, ihm zu folgen.
Der Kaifer fah auf Maitow und auf die ihm Umgebenden
und jpradj: Sie werden e& wicht wagen; mir nad), bleibe nicht
zurüd.
Ermuthigt did) den gnädigen Musipruch des Zaren, folgte
Maifow fejten Schrittes dem unumfchränkten Gebieter über 50 MN.
Menfhen. Maitow blieb beim Zaren im Cabinet jtehen. Der
Zar mahın die Magefehrift aus feiner Tafche, Ins fie zweimal
durd), dachte nach, ging im Zimmer auf und nieder und fragte,
fih zu Mailorw wendend:
Schreibft Du wahr? Lügft Du nicht?
‚Herr, meine Buverfiht! erwiderte Maifow, Dein ift das
Schwert, mein Kopf fliege von den Eejuftern. Die Iautere Wahrheit!
Wir werden fehen, fagte ber Kaifer und jcheltte.
Bu dem auf den Ruf Hereintretenden Flügel-Abjutanten:
Den Ober Procurene der allgemeinen Verjammlung zu mir,
Zwei Epifoden aus der Zeit Raifer Paul’s, 67
Nach einer viertel Stunde ftand jchen der Ober-Procureur
vor dem Baren und zitterte wie ein abrifarbeiter nad) über«
mäßigem Zrinfen.
Der Kaifer fragte den Ober-Procureur: Welchen Ufas habe
id in der VVeletonfchen Teftaments-Angelegenheit unterfehrieben?
Der Ober-Procureur zitterte nod) ftärfer als früher und
mußte eingeftehen, da er fich diefes Ufafes nicht erinnere,
Der Kaifer geruhte ihm zornig zu enwidern: Woran dentft Dir
denn, wenn Du Did) meiner namentlichen Befehle nicht erinmerft ?
30 an der Sttingelfchum und fpradh zur Hereintretenden Orbonang:
Den Dber-Seeretär der allgemeinen Verfanmfung zu mit.
E3 erfdien der DOber-Ceeretär ebenfo bebend, er zitterte
ebenfo wie der Procureur und mußte cbenfo befennen, daß er fid)
de3 Ufafes nicht erinnere, Der Kaifer fah den Ober-Secretär
an und geruhte zu jagen:
Und Du bift eben fold) ein Nindvich, wie der Ober-Procureur,
elle Dich, jet, neben ihn. Und abermals zog er an der Schnur:
dem Hereintretenden Abjutanten geruhte er zu befehfen: den Tid)-
vorfteher aus dem Senat herbeizuführen (dem Herr, bei dem die
Acte über das Beletowiche Teftament fid) befand).
Bald wurde auch) der Tifcvorfteher vorgeführt, mit Fett-
fleden bejäet, unrafirt, mit einer rothen Perüde, bucdelig und mit
einer Warze auf der Stirn, aber nüchtern und feine Sad)e verftehend.
Nun, was wirft Du mir fagen, Du Schurke? fragte ihn
der Kaifer.
Worüber ift c8 Er. Majeftät gefällig, mich zu befragen?
wenn ich «8 weiß, allergnädigfter Herr, werbe ic Ew. Majeftät
darüber berichten.
Vernünftig! fagte der Kaifer und fragte den Tifhvorftcher:
Weld’ einen Ulas, mein Herr, Habe ich Hinfichtlicd des
Befetorofchen Teftaments unterfchrieben ?
Der Tifchvorfteher räufperte fich, machte eine Verbeugung
md berichtete:
Ar dem und dem Monat und Datum haben Sie allerhöchft
gerußt, alfergnädigfter Herr, einen Ulas Em. Kaiferl. Majeftät
an den Dirigirenden Senat über die Veftätigung des Befetowichen
Teftaments ergehen zu Taffen,
68 Zwei Epijoden aus der Beit Kaijer Paul’s.
Gut, fagte der Kaifer; aber ftand nicht diefer Ufas in
Widerfpruch mit dem Grundgejeg?
Allergnäbigfter Herr, erwiderte ber Tifchvorfteher, ich zuerit
ränfpernd und verbeugend, die Allerhöchite Willensänßerung Erw.
Majeftät erfolgte den beftehenben Gefepen zuwider.
Sprichft Du die Wahrheit? fragte der Zar den Tifcivorfteher,
lügft Du nicht?
Wie follte ih es wagen, Erw. Raiferl. Majeftät, meinem
allergnäbigften Herrn, einen Tügenhaften Bericht abzuftatten!
Bei dem legten Wort zog der Zar wieber an ber Gloden-
{mu und gerußte dem Eintretenden zu Befehlen:
Augenblidlih den General-Procureur hierher!
Nicht viel Zeit verfloß vom Befehl 6iß zu feiner Ausführung.
Der Kaifer geruhte allergnädigft fi) auf den Empfang feines
Würbenträgers, der ben Namen „Auge des Baren" führt, vorzit-
bereiten. Ce. Majeftät gerufte auf fein Haupt einen mächtigen
goldsgalonirten Hut zu fegen, z0g Handjduhe mit fehr großen
Stulpen an, nahm einen Mohrftod, ftügte fi auf einen Schreib-
tif oder ein fog. Bureau und erwartete daB Erfcheinen des
Fürften Rurafin.
Kaum zur Hälfte öffnete fich die Thür des Ratferlichen
Gemad3 und der wohlbeleibte Fürft, vielleicht eben aus dem Bett
geriffen, rafch belfeidet, aber mit allen Attributen feiner Würde,
mit gepubertem Qoupet und die Haare an den Schläfen zu Loden
aufgedreht, trat langfam mit zitternden Füßen ein, da fam Paul
Petrowitfch dem Alerei Kurakin mit dem brüßfen Vormurf zuvor:
Rindvieh, was für einen Ufas Haft Du mir zur Unterfchrift
untergefdjoben? Schuft, antworte, wie Tonnteft Du mich mit
Maikow auf dasfelbe Vrett bringen, md in Wirklichleit ift ja
Maikorw im Redt!
Der ürft begann: Em. Majeftät, — doc) er Fonnte nicht
einmal biefe Worte beenden, und Niemand hat je erfahren, wie
er fid) vor Paul Petrotwitfch zu teditfertigen gebachte, weil er nur
Hervorbringen Tomte „Daje“, doc) das „flät“ blich im fürftlichen
Munde fteden, denn Paul Petrowitich ließ ihm eine Ermahmung
zufommen, ähnlich wie e3 Peter I. mit feinen Günftlingen that,
wen er fie de3 Vetruges überführt Hatte,
Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Paul’s. 69
Danfe Ihnen, mein Herr, fagte der Kaifer zum Tifchvorfteger,
Sie verftchen Ihre Sache, id bin mit Ihnen zufrieben. (Zu
Maitow): Du Haft gefehen, gehe nach Haufe, ic) werde Alles
nad) dem Gefege thun,
Maitow: Ich werde nicht fortgehen, Herr.
Vie? Du wirft nicht fortgehen? Id) befehle e8 Dir.
‚Herr, meine Buverfiht! Ich werde nicht Bis zum Hofe
tommen.
AH fo! Ich verftehe, fprad) der Kaifer, zog an der Schnur
und gerubte dem Hereintretenben zu befehlen:
Sage dem auf der Hauptvache wachehabenben Capitän, er
folfe einen Offizier, einen Unteroffizier und zwei Reihen Grenadiere
zu mir abcommandiren.
Der Befehl wurde augenbliclid) erfüllt und Paul Petrorvitfch
befahl dem mit feiner Mbtheilung Hereintretenden Offizier, Maitor
an ber Hand nehmend:
Belieben Sie, mein Herr, diefen Mann, wohin e3 ihm
gefällig fein wirb, Hinzugefeiten, aber fehen Sie zu, baf nicht ein
Haar von feinem Haupte verloren geht, Sie jelbft werden mir mit
Ihrem Kopfe dafür Haften. (Bu Maifow): Gehe und fürchte
Niemanden, ich werde Alles nad) dem Gefege thun.
Mit Heiterem Geficht, mit frohem Herzen entfernte fic,
Maitow aus ben Kaiferlichen Gemädjern, bod) war er nicht ohne
Furt. Er fürdptete, daß, wenn der Born de3 Zaren nachließe,
ber dur den Mohrftod gefnidte Große fid) wieder aufeihten,
von Neuem berichten, vom Gegentheil überzeugen könnte, und bann
die unparteiifche Amute des Henters auf feinen, Maikorws Rücken
niederfaufen würde. Er bat den Offizier, ihn zum Haufe des
Gabriel Romanowitfch Derfhamwin zu geleiten, ber
bei Kaijer Paul Vortrag zu Ealten Hatte und den diefer genau
farmte. Man führte den blaffen, verftörten, zitternben Maitor
ind Cabinet Derjawins. Derfhawin felbft war erfKredt über
den Zuftand Maikors, glaubte, daß e3 ihm beftimmt gemwelen, zu
leiden, und fragte ihn:
Bas ift mit Dir, Mailow, was war da?
Em. Egeellenz, anttwortete Maitow, geben Sie mir Beit,
mid) von meinem Schref und von meiner Zreude zu erholen,
70 ‚Zwei Epifoden aus der Zeit Kaifer Panl's,
mein Gerz feplägt heftig, and fan id) in meinem Kopf nicht
die gehörige Ordnung twiederherftellen, ich fage nur, Egeelfenz,
man toird fie bald zum Saifer rufen, Sie werden General»
Procnreur werben,
Derfpawin glaubte, Maitow Habe vor Schret den Verfland
verloren; folche Fälle waren zu jener Beit nicht felten, daß man
in Folge der bamaligen fehr harten Schidfatsfchläge wahnfinnig wurde.
Noch) jah Derjpawin voll Zweifel auf Mailow, noc) Happerten
Veaitows Zähne und er vermochte nicht fie zufammenzubeißen, da
öffnete fi die Ihre, ein Feldjäger trat herein und berichtete
Derfjawin:
Ew. Epeellenz, belieben Sie zum Kaifer, Se. Majeftät
erwartet Sie.
Kurakin reifte auf fein Gut Kurafino ab. Derfharin wurde
General-Procureur.
I.
Neledinski war feit Beginn der Negierung Kaifer Pants
deffen Staat3-Gerretär. Bon Natur mit einem scharfen, durd)-
dringenden Verftande begabt, gut gebildet, im Vefige umfafjender
Kenntniffe, war er in jeder Beziehung würdig, dem Selbjtherricher
Nulands nahe zu ftehen. Nicht fEwer war c8 für Neledinsti,
die Choraftereigenfehaften feines Gebieters Tennen zu fernen, feine
Liebe und fein Vertrauen zu gewinnen. Mit ganz befonderer
Kunft verftand er «8, dem aufbraufenden, ftörrifchen, fchredhaften
und im erften Ausbrucd) des Borns änferjt harten Kaifer Vortrag
zu halten,
An einem jehr heißen Iulitage in Parwlorwst beliebte c3 dem
Kaifer, den Vortrag auf dem Balkon anzuhören. MRafch wurde
Alles in Vereitfehaft gejeßt, d. h. auf dem Valfon wurden eit
Tild) und zwei Seffel Hingeftellt und der Vortrag begann. Die
Vorträge gefchahen in Sachen von Criminat: Verbrechen, die ihre
Betätigung erhalten muften.
Schon waren je Urtheile im gnädigen Siume confirmirt
md dag Schicjal der Verbrecher erleichtert worden. Da erfdeint
Zwei Epifoden au3 der Zeit Kaifer Paul’s. 21
eine Fliege, — fie fummt, fie umfreift den Baren, bafd jticht fie
ihm in die Nafe, bald beißt fie ihn auf der Glahe. Wohl wird
fie mit der Hand verjagt, doch die verwünfehte Fliege fäht fi
nidht einfchüchtern! Sie fliegt fort, aber gleich ift fie wieder da!
Pant Petrowitfc) befand fid) im Zuftande ftarter Aufregung mıd
al3 Antwort auf die Vorträge wurden die Urtheite inımer härter.
Vom Wunfche geleitet, Viele von zu ftrenger Veftrafung zu retten,
beichloß Nelebinsti den Vortrag abzufürzen, umd berichtete bem
erzürnten Kaifer:
Em. Majeftät, ic bin zu Ende; weiter Habe id) Em. Mas
jeftät nichts vorzutragen.
Paul athmete auf, fagte: „Gut, mein Herr“, ftand vom Seffel
auf und ging fort.
ES vergingen drei Wochen, vielleicht and mehr wie ein
Monat, da erhajchte Nefedinsf einen Angenblict, wo Paul Petro-
witfh gut aufgelegt war amd brachte Sr. Majeftät einen ganzen
Stoß von Meten zur Beftätigung. Die Arbeit begamm. Nachdem
Neledinzti über zehn ober mehr Urteile referirt hatte, begann er
aufs Neue über diejenigen zu berichten, die fehon beftätigt waren,
damals als der Kaifer gereist war.
Paul hörte den Vortrag a uud fagte, ohne zu entjcheiden,
zu Neledinsti:
Wollen Sie die Ucte bei Seite legen, mein Her; jpäter
werde ich Ihnen meine Entjcheidvung jagen.
One zu verzagen las Neledinsfi nochmals eine zweite Arte
vor, die fehon beftätigt worden war. Der Kaifer jah rafch auf
Neledinsti wud befahl idm and) diefe Aete bei Seite zu legen.
Neledinski begann in Verwirrung zu geraten md war vielleicht
bereit, über andere Sachen vorzutragen, aber mehrere von den
Acten, die im böjen Augenblick beftätigt waren, befanden fid) der
Reihe nad) auf einander gejdjichtet. Anszufuchen und unter den
Augen Pauls in den Papieren zu wühlen, war unmöglich; nicht
ohne Furt und in Erwartung der Deportation nad Sibirien
oder der Einperrung in eine Feftung begann Neledinski über eine
Sadje vorzutragen, die ebenfalls in dem unglücichen Augenblide,
al8 die Fliege ftadh, beftätigt worden war.
72 Zwei Epifoben aus der Zeit Kaifer Pauls.
Aufmerkfam jah der Bar den Vortragenden an, drehte fich
im Seffel Hin und her, an ihm war eine große Unruhe bemerkbar,
und faum hatte Nelebinski den Vortrag zur Hälfte beendet, da
fprang der Zar von feinem Seffel auf, erfafte Nefebinsti an beiden
Händen und fpradj:
Zuri Aegandrowitih, id) fee &, Sie verftchen das Herz
ihres Kaifers, id danfe Ihnen dafür, mein Herr.
Und alle Artheife wurden mit ungewöhnficher Mitte beftätigt.
er
Gin piendonymer Brief
des Gtantsrathö Chanylom an den fürften Gumorom
vom Jahre 1848,
garen ‚Beitgenoffen werben fid) der einft viel genammten Chanyfow-
Stadelbergfcjen Commiffion feyr wohl erinnern, da8 jüngere
Geflecht dagegen wird Höchftens eine dunkle Vorftellung von ihr
haben, zumal durch eine Fülle von fpäteren tief in das baftifche
Leben eingreifenden Creigniffen die Vorgänge der vierziger Jahre
in den Hintergrund gedrängt worden find. Zum Verftändniß des
folgenden Briefes, forwie zur Würdigung feines Verfaffers ift e8
erforderlich, fich die Hauptmomente der Thätigkeit und bes Zwedes
jener Commiffion zu vergegenwärtigen. Der Minifter des Innern,
Peroweti, hatte 1842 eine Commiffion zur Nevifion der Kivländifchen
Städte angeordnet, die, aus dem Baron Adolph von Stadelberg
und dem Titulärcath Beklemyfcher beftchend, aucd) bald darauf ihre
Thätigfeit begann. Eine erhöhte Bereutung erhielt die Commiffion
unter dem eneralgouverneur Golowin, als im Juni 1845 ber
Staotsrath Chanytom als Präfident an ihre Spipe trat und fie
durch nee Mitglieder, darunter au Juri Samarin, erweitert
wurde. Die Commiffion concentrirte jeht ihre ganze Thätigkeit auf
die Revifion der Stadtverwaltung von Riga und befchlof zufegt
die Ausarbeitung einer neuen WVerfafjung für die Metropole der
14 Ein pfeubonymer Brief
baltifchen Provinzen. Baron Stadelberg, ber 1865 al8 Geheimrath
geftorben ift, that fich bei dem BVeftreben ver Commiffion, alle nur
möglichen Mifbrändhe, Ungefeplichleiten und Uebergriffe des Riga
Sehen Nathes aufzudeden und feitzuftellen, befonders Hervor, er ging
namentlich daranf aus nachzuweifen, wie wenig die alten Privifegien,
auf bie ji) der Rath und bie Gilden beriefen, von den Ständen
feloft, von den ftädtifchen Behörden und Corporationen und au)
von Privatperfonen eingehalten ımd geachtet würden. ME Hifto-
rifer und Statiftifer ftamd ihm Juri Samarin treulic, zur Seite,
während Etaatsrath Chanyfow das Ganze birigierte. Der Rath
mußte auf alle Anfragen der Gonmiffion fchfenigft Antworten
und Grtlärungen abgeben und war in fehwieriger Lage, da at
feiner Spihe al wortführender Vürgermeifter ein Mann ftand,
der mit der Commiffion Hand in Hand ging. So häuften fich in
den Jahren 1845 bi8 1847 Stöfe von Mcten bei der Commiffion anf.
Die Commiffion gewann die Weberzengung, daf mır durd) eine völlige
Befeitigung der alten Ordnungen und eine neue der ftädtifcdhen
Verwaltung im Immern des Meiches angenäherte, dem Eingreifen
und der Gontrofe ber Negierungsgemalt vollen Spielraum Lafjende
BVerfafung der bisherige Zuftand von Grund aus geändert werden
könne. An die Abfaffung einer folchen machte fd) mın Staatsrath
Chanpfom mit großem Eifer. So fagen die Dinge, als ein
Wedjfel in der Leitung des Generalgouvernements eintrat, indem
Fürft Suworow 1848 an die Stelle Golowins trat. Fürft Sur
worow fand bald nad) feiner Ankunft in Riga am 18. März, daf
die Commiffion in fehr einfeitiger Weife ihrer Aufgabe nad;gefommen
war und fegte ihre Abberufung durh. Schon am Anfang Iuni
ah fi) Staatsrath Chanykorw veranlaft, Riga zu verlaffen, viel
Teicht mit in Folge des Hier zum Abdrud gelangenden Briefes,
defien Verfaffer dem Fürften Sumworow wohl nicht fange unbefannt
geblieben it. In Petersburg arbeitete Chanyfow ben Entwurf für
die nene Verfafjung Rigas völlig aus, den der Minifter Perowafi
dann beim Neichsrath einbrachte. Fürft Suworow fah dadurd) feine
Autorität beeinträchtigt und jeßte e8 durd), daß der Chanykoriche
Entwurf zuerft zur Prüfung dem Djtjeecomite übergeben wurde.
Pratifche Bedeutung hat das Chanykowfche Project nicht erhalten,
obgleich e8 noch mehrfach zu Verhandlungen darüber gekommen ift,
des Staatsraths Chanylorv an den Fürften Suworom. 75
Stadelberg Hat aud) von Petersburg aus feine Angriffe auf bie
Stadtverwaltung von Riga fortgefegt, allerdings ofne Erfolg.
Der hier im deutjcher Neberfepung mitgetHeitte Brief, eigentlich,
eine umfaffende Deuffcrift, ift in mehr al8 einer Beziehung von
nicht geringem Üntereffe.
Su wie weit der Fürft Suworow den ihm Hier unerbeten
etheiften Rathfchlägen Gehör gefehentt Hat und nachgefommen it,
Ichet die Gefchichte feiner Verwaltung, wie fie Gefeimrath Arnold
von ZTidebögl CF 1883) in feinen, Teider nur al8 Mamufeript
gedrudten, Buch über die Verwaltung des Fürften actenmäig und
fachfundig geichilbert hat.
76 Ein pfeudonymer Brief
Durdfaughtigfter Fürft
Alerander Arfadjewitid.
Wir fennen uns nicht perjönlih. Ich Habe Sie zum erften
Male auf Ihrer Sendung nad) Koftroma fennen gelernt, und Sie
werben mic) niemals fennen lernen. Das hindert mich aber nicht, an
Sie zu jchreiben. Der vortrefflihe Name, den Sie tragen, ber
Name des ebenjo fehr durd) feine Großthaten als durch feine
Voltsthünifichteit berühmten Helden md das Ant, weldes Sie
gegenwärtig beHfeiden, veranlafjen mich, meine Unfichten offen gegen
Sie auszufpreden.
Das Land, welches durch das Allerhöcjite Vertrauen Seiner
Kaiferlichen Majeftät Ihrer Verwaltung übergeben worden ift,
verdient ein genaues Ctudiun. Seit anderthalb Iahrhunderten
Rußland angehörend, bleibt e$ demjelben fremd uud wenn das
Neich nad dem Beijpiel feiner gefrönten Herrfcher fi daran ges
wöhnt Hat, 8 zu feinen integrirenden Theilen zu zählen, e8 nicht
mr al3 einen Blutsverwandten zu betrachten, fondern c3 aud) aufe
richtig zu lieben, fo erwiedert jenes Land in feiner Weife dies
heifige Gefühl des Staates, der «8 in feinen Verband aufnahm.
Um uns von diefer Wahrheit zu überzeugen, wollen wir die
Stellung desfelben ausführlich betraditen und durch Beifpiele zu
erläutern nen. Zwei Gefühle, zwei Ideen, innig mit einander
verbunden, bilden die Macht der Staaten und der WVölfer: das
Gefühl der Liebe und die Begriffe von Kaifer und Vaterland.
Wir wollen einmal betrachten, wie fich diefe Ideen in den Ditjeer
fändern und wie in dem übrigen Theile Ruflands verhalten. Der
Begriff Kaifer entHäft für den Auffen chung Göttfiches, die Idee
eine8 Heiligthums, in welchem Leben, Madjt und Sclbftftändigfeit
des Volfes ruhen. Das Sprichwort: der Zar ift der irdifche Gott,
ertlärt beffer al8 alles Webrige die Idee, weld)e das ruffifche Volt
mit dem Haupte des Neiches verbindet und macht, mächtiger als
jede Charte, die Perfon des Herrfhers zur einer geheifigten und
und unantaftbaren. Soffte e8 nöthig fein, hieraus nod) Folgerungen
zu zieh? Die Gefchichte des Wultes und die Begebenheiten der
‚Beiten Alcganderd 1. jtehen noch Jedem vor Yugen md müffen
beredter al3 jedes Naifonnement von diejer Wahrheit überzeugen.
Hat nun der Kaifer in dem von Ihnen verwalteten Lande etiva
des Staatsrath3 CHanykorw an den Fürften Sumworow. 77
diefelbe Bebeutung ? Dort repräfentirt er nur die Idee der Gewalt,
der politijchen umd ftaatlichen Macht, deren Willen zu gehorchen
ohne eigenen Nachtheil nicht nur nothwendig, fondern fogar vor:
theifgaft it. Zur Unterftüßung biefer Auficht dienen biefelben
Zeugen, die fon vorher aufgeführt worden, nämlich die Geichichte
des Landes und bie Epoche des vaterländiihen Krieges. Die erftere
wird Sie überzeugen, daß die von diefer Jdee eines Monarchen
durdjdrungenen Bervohner der Dftfeeländer ftets aflen Regierungen
treu gewejen find, Die bei ihnen geherrjcht haben, was fie jedod)
nicht behindert, von Hand in Hand zu gehen, und der polniichen,
dänifchen und ruffiichen Herrichaft anzugehören. Wenn fie aber
treu bei diejer Iepteren Herrichaft verblieben find, fo läßt fid) ohne
Vorwurf für fie der Grund Hiervon weit cher im der Macht diejes
Reiches, das feit der Eroberung diefer Länder bei fteter Erwerbung
neuer Provinzen nod) keine. Spanne feines Bodens verloren hat,
als in ihrer Anhärglichleit fuchen. Die zweite aber wird Ihnen
zeigen, daß während der jchweren Prüfung des Vaterlandes im
Sabre 1812 Kurlanıd feine Bedenken trug, die franzöfiche Herrs
ichaft al3 eine gejegmäßige anzuerkennen; daß dagegen aber, um
die Worte einer Flugfchrift zu gebrauchen, Liv» und Gjtland, wo
nur ruffische Heere jtanden, Rußland umerfchütterlic tren blieben.
&3 ift befannt, wie die Bewohner jener Gegenden als einen Beweis
ihrer Treue und ihrer Anhänglichkeit für Kaifer und Vaterland
gewöhnlich ihre Dienfte im Militaie und die Errichtung von Frei-
corps im Jahre 1812 anzuführen pflegen. Allein wir wollen uns
erinnern, dab, befeelt dom allgemeinen Haf gegen die Gewaltherr-
fhaft, auch, Hamburg und Lübet cbenfolche Freifhaaren bei fid)
errichteten. Was aber die Militairdienfte betrifft, jo werden Sie
einverftanden fein, daß diefer Beweis der Auhänglichkeit fürs Va-
terland vermittelit de Dienftes ein äuferft fÄinanfender it, weil
Sie im entgegengefepten Falle zugeben würden, da die Schweizer:
garden, welche den Bourbon jo treu gedient, Frankreich mehr
geliebt Haben müfjen, als ihr helvetiiches Vaterland.
Auszeichnungen im Dienfte Lönnen ala perfönliche Eigeufchaften
ganzen Ständen weder Ehre nod Schande bringen und beweifen
nichts für die Mafien. Gegen einen Barcday ftelle ich ihnen
jwei auf: Biron und Pahlen.
78 Ein pfeubonymer Brief
DOfme Vaterland giebt e3 fein Volt, ohne Liebe zu demfelben
fein dauerndes Band für feine Theile. Das baktiiche Küftenland,
von Gnadenbezengungen der Herrfcher überjchüttet, Tebte is jebt
ein ioliertes Dafein umd während c3 alle Vortheile der Verbindung
nit einem großen Staate und einem mächtigen und guten Volke
genoß, nahın e3 an feinem feiner Leiden Theil. Ju biefen Falle
wird die Sadje beffer durch ein Beifpiel erläutert als durd) Worte.
Am Anfang des gegemvärtigen Jahrhunderts nahm ganz Rußland
den innigften Antheil au dem Gejchide Nevals, das durch eine
fürchterliche Fewuersbrunft, die ein Blig verurfachte, jehr gelitten
hatte. Bur Wiederherftellung der Dlais-Sirche flofjen Unterftügungen
aus ben entjernteften Gegenden der inneren Gouvernements des
Reiches ein und follten diefe Unterftügungen aud) den Gebädhtniß
Nevals entchwunden fein, fo bürften fid) wahrfeheinfich in ben
Ranzlei-Urdjiven der Stadt noc) Notizen darüber vorfinden. Würde
68 nicht Em. Durchlaucht gefallen, darüber Auskunft einziehn zu
wollen, ob mit Ausnahme der ruffichen Einmwohnerfchaft jener
Gegenden dort aud) mur ein Kopefen zum Bellen eingeäfcherter
ruffifcher Städte, wie 5. B. Tulas, Kafans oder Ardangels, einr
gefloffen fei? Zugleich werden Sie fic) überzeugen fönnen, daß «8
in dem ganzen Lande fein Städtchen giebt, die winzigften nicht
ausgenommen, welche nicht Einfammlungen zum Velten Hamburgs*)
veranftaltet Hätte. Wo ift mın das Vaterland ?
Weil ih in zwar nur flüchtigen — da id) einen Brief und
kein Bud) fhreibe — aber doch in charakteriftifchen Zügen ein Bild
der freiwilligen Entfremdung ber Bewohner ber Oftfeeländer von
Rußland entworfen habe, fcreite id) zu der Iogiichen Fols
gerung: ohne Liebe zum Vaterlande -- id) bitte Sie, dies Wort
nicht mit Heimath; zu verwechjeln -- giebt e8 aud) feine wahre
und unerfhütterliche Ergebenheit gegen Thron und Fürften. Des»
Halb ift «8 dem Bewohner ber Oftfeeliifte völlig gleichgültig, wo
*) Ms Hamburg durch den furchtbaren Brand im Jahre 1842 größten:
teils eingeäfdpert war, wurden Sammlungen zum Beften der unglücklichen
Gintwohner überall in Europa veranftaltet und reiche Spenden fleffen aus de
verfchietenften Gegenden ein, wicht nur aus den Oftferprovingen, fenbern aud)
aus Petersburg und Moslau uud anderen Städten der Reicher.
Der Heranägeber.
des Staatsrath Chanyfow an den Fürften Sumorow. 79
der Mittelpunkt der Regierung fic) befindet, ob in Moskau oder
Stodholm, ob in Petersburg oder Warfdau, wenn nur feine
Privilegien und Handelsrechte unangetaftet bleiben. Wiederum
rufe ich das Zeugnif der Gefdjichte für Diefe Wahrheit auf.
Empfinden Sie jegt den Unterfehieb zwifchen ihm und einem Nuffen?
Ich Habe auf das Verhältnig der VBervohner des Ihnen
amvertranten Gebiet? zu Kaifer und Vaterland Hingewiefen und
muß jegt, wenn aud) mr obenhin, ihre Gefühle für alles Ruffiiche
überhaupt berühren.
In den Städten und befonderd in Riga ift die ruffiiche Bes
völferung fehr zahlreich. Dieje zur örtlichen Vürgerfchaft verzeich-
nete Bevölkerung entbehrt aller wefentlichen Rechte eines ftäbtijchen
Standes und muß, wiewohl durd; Sprache, Herkunft und Religion
dem Waterlande angehörenb, welches bdiefe Provinzen mit feinen
Blute erwarb, deunod bie fehimpflichfte fittliche Erniedrigung
erdulden. Des Rechts beraubt an der ftädtifchen Verwaltung theil-
zunehmen, von deu Vorrechten der Ziünfte und Inmungen dort
ansgejchloffen, two Alles gewifjermaßen ein Zunftleben atymet — ift
diefe Bevöfferung, in gleicher Kategorie mit den Juden, nur auf die
Handelsinduftrie eingefchränft und dazu verurtheilt, ihre Kinder in
eviger Unwiffenheit zu jehen, weil fie feinen Einfluß auf die Ver-
waltung, fein Mittel bejigt, die öffentliche Erziehung zu befebei.
€3 ijt befamut, wie man ihre Ausfchliegung aus ber fogenannten
Bruderfchaft, ohne welche ber volftändige Befig der bürgerlichen
Rechte nicht erlangt werben kann, durd, zwei Momente rechtfertigt:
1) daß die Mblehnung ihrer Wufnahme nah demfelben Princip
gefehehe, mad) welchem bie Mitterfhaft dem zuffifchen Abel bie
Aufnahme in ifre Matrifel verfagt, und 2) daf die Ruffen nicht
gepungen wären, fid) in biefen Gegenden niederzufaffen, wenn bie
Bedingungen folder Niederlaffung für fie unvortHeilgaft feien.
Allein tas erfte Moment, wierogl feinem Wefen nach abfolut
wahr, weil aud) der Mel in feinen Veziegungen zu Rußland von
denfelben feindfeligen Gefühlen geleitet wird, ift doch unvichtig in
feiner Amvendung. Der in die Matrifel nicht aufgenommene Edel-
mann bewahrt feine Rechte im Umfange des ganzen Kaiferthums,
mit Ausnahme von nur 3 Provinzen, und ift er in die Datrifel
eingetragen, jo tritt er damit nur in den Genuß aller Necjte der
Waltifpe Monatöferift. Wb. NLIV. Seft 2. 2
80 Ein pfeubonymer Brief
örtlichen Nitterfchaften ein. Das Mitglied ber ftädtiihen Gemeinde
befindet fi) dagegen in einer ganz anderen Stellung. Mit Ans
nahme feiner Stadt genießt er nirgend mehr ba8 Bürgerrecht und
ift er zu einer ftädtifchen Gemeinde der Oftfeeprovinzen angefchrieben,
fo entbehrt er biefeg Mechtes aud) noch inmitten feiner Mitbürger.
Müffen Sie nicht jelbft zugeftehen, daß Privilegien einer Stadt
und nicht einer Rage oder einer Confeffion ober einer Sprache
verliehen worden find? Man wird Ihnen fagen, wie gegenwärtig
die Rigafche Bruderichaft zur Aufnahme von Ruffen gern bereit fei.
Allein wen follte «8 entgehn, daß fie dadurd) mur ein für alfe
Mal fid) von allem Antheil der Ruffen befreien will, indem e8 zur
ihrer Kunde gelangt ift, daß die Aufmerkjamfeit der Regierung
bereit3 auf fie gerichtet fei. Durch Aufnahme von ein paar ruffiichen
Mitgliedern gewinnt fie bie fertige Antwort, daf fie auch ruffiiche
Mitglieder in ihrer Mitte zählt und fo gelänge «8, beufelben für
immer den ferneren Eintritt in biefen Werein zu berfperren, wie «8
die Bünfte gethan haben, nachdem fie ein paar rufjifche Handwerfer
in ihren Kreis aufgenommen hatten.
Das zweite Moment in der angeblid) freiwilligen Weberfie-
delung der Auffen nach Niga ift mod) weniger begründet. Dit
Ausnahme ber umteren Vollsjcichten, welche bem Rasfol angehören,
etwa 9000 Eeelen betragen und fic dafelöft infolge des Schuges
niedergelaffen haben, den man bort MWeberläufern gewährt, find
die übrigen und befonbereß die Rauffeute, d. 9. alfo alle diejenigen,
welche zum vollen Genuß des Vürgerredit3 hinzugelaffen werden
müßten, zum größten Theil aus Plesfau, Smolenst und andern
Gouvernements infolge der von der Kaiferin Catharina II. angeorb>
neten Einführung ber allgemeinen Stäbteorbnung hier in Riga ein»
gewandert. Bon dem Vortheil einer Hafenftadt angezogen, fiedels
ten fie fi) dort im feften Vertrauen auf die Gefetgebung an und
Tebten dort ruhig und aller ftädtiiden Medjte tyeithaftig Bis zur
Ihronbefteigung des Kaijers Paul.
Damals gelang «8 der Intrigue einzehter Würger, in St.
Petersburg den Befehl zur Einführung der frühern Munieipal-
Verfafjung auszuivirten, jedoch nur unter ber Bedingung, dah zu-
vor bie Zuftimmung der Corporationen eingeholt würde. Dei bem
inbeffen voflzogenen Ballotement entfehieb fid) zwar die Mehrheit
des Staatsratha Chanyfoww an den Fürften Suworom. 81
für die Veibehaltung der ruffifchen Verfafjung, allein nicht8beftor
weniger erfolgte der Befehl"), diefe Verfaffung aufzuheben und zur
frühen Ordnung der Dinge zurüczufehren. Seit jener geit befteht
in Riga jene furdhtbare Dligarchie, über welche die Einwohner
der untern Clafjen ohne Unterfcied der Rage nicht ohne Gefahr
zu reden wagen.
Dies ift die gefchichtliche Entftehung der ruffiigen Bevölfer
rung de3 Dfteegebiets. Es fragt fi) nun, wodurd der edle ruffi-
ie Vollsftanım die Erniebrigung verfchulbet habe, öffentlich, und
offiziell der vollftändigen Theilnahme an allen Rechten derfelben
Gorporationen, die felbft ihn in ihre Mitte aufgenommen, al8 un-
wiidig anerlannt zu werden. Cima baducch nur, dab er, auß
Meberzeugung der Regierung gehorchend, fi) durch unerfdütterliche
Ergebenheit und golgfamkeit in einem jolcden Grabe außzeid«
met, daß jelöft bie große Catharina eingeftand: wie unfer Natio-
nalcjarakter in einem fcharffinnigen und fehnellen Begreifen alles Dar-
gebotenen, in einem mufterhaften Gehorfam und in der Unlage zu
allen vom Schöpfer dem Menfchengefchlechte verliehenen Tugenden
beftehe. E3 wäre wohl nicht möglich, in diefer Angelegenheit Cathar
rina nicht al8 competente Richterin anerkennen zu wollen.
Ev. Durchlaucht eigner Blid muß entfcheiden, ob dies alles
in derfelben Lage bleiben Lönne und bleiben müffe.
Nachdem die Beziehungen jenes Gebiets zu dem Gtante flüch-
tig berührt worden, erachte ic) «8 für mothiwendig, auch) einen
Bid auf die eigentliche innere Organifation desfelben zu werfen.
Seine innere Adminiftration, die Organifation feiner Behörden, feiner
Eivil: und Griminalrechtspflege, feine Corporationen, feine Handels: und
Gewerbeeinrichtungen — alles dies gewährt einen intereffanten An
blit ımerfchütterlicher Aufrechterhaltung mittelafterliher Iuftitutioe
nen. Dies alles hat, wenn aud) nicht im der Gefammtheit und
Fülle feines mißgeftalteten Compleres, fo doc wenigftens tHeiltweife
auch in dem übrigen Europa eimmal beftanden, ift aber Tängft ges
funfen und fiegt unter feinen eignen Trümmern begraben. Nur
in den Ditfeeprovinzen hat «8 fi) erhalten, aber aud) nur als
Mumie, ohne Leben, ohne Vewegung, wie Herculanım und
N) Ramentlicher Mas Raifer Pauls I. vom 28. November 1796.
Der Herausgeber.
2
82 Ein pfeudonymer Brief
Pompeji unter ber [hügenden Lavarinde und wie dag Leben unferer
Shismatiter im Wuchftaben und nicht im Geifte.
Bebarf «3 defjen noch Bier ausjufprechen, wie diefe ganze
Organifation in der Gegenwart nicht befriedigen könne ?
Man braucht fein erfahrener Adminiftrator zu fein, um fid) da-
von zu überzeugen, twie Verjchiedenheiten und fogar Collifionen der
einzefnen Inftitutionen nicht nur im Umfange bes ganzen Oftjeegebietes,
fondern in einer und berjelben Stadt, 5. B. in Reval, teine befon-
dere Bequemlichkeit für die Bufammenfegung der Abminiftrations-
maschine darzubieten vermögen. &8 bedarf nur eines einfachen,
gefunden und von Parteilihteit und örtlichen Borurtheilen geläu-
terten Sinnes, um einzufehn, wie Corporations-Inftitute, die fi
gegenfeitig ausjchließen, weder zu einer politiichen noch aud) zu
einer ntoralifhen Einheit führen Lönnen, bie zu einer dauerhaften Or-
ganifation einer Verwaltung doc, abfolut nothivenbig ijt. Selbft
bie erften Clementarbegriffe vom Mechte reichen zu der Weberzeu-
gung ans, daß eine Wermiihung der Criminal: und Givifrechts-
pflege ebenfo entfernt von Wolltommenheit ift, a3 ihre praftifche
Anwendung nur noch in ber Türkei und in den Oftfeeprovinzen
anzutreffen fein möchte.
Dem einmal von mir angenommenen Grundjage treu, gehe
ich aud) Hier von theoretifchen Säpen zu Beilpielen über.
Dant der ureigenthümlichen Organifation der örtlichen Mechtss
pflege fchreitet die Verhandlung der Nechtsfadhen in den Ihnen
anvertrauten Gonvernement3 mit bewwundrungswürbiger Langfamkeit
fort und die kräftigften und energifchften Anregungen von Seiten
der Eentralverwaltung müffen, durch das verwirrte Neth der Tocalen
Gefege, Iuftitutionen und Gewohnheiten fi durcharbeitend, fo an
Kraft verlieren, daß fie ihr Beil niemals erreichen. Sollten etwa
Beifpiele erforberlic) fein? Fragen Sie nad) der Sadje des Poft-
meiftere Mewves wider die Tivlänbifche Nitterfchaft, bie nicht wenie
ger al3 30 Jahre bei den Behörden Liv, und Eftlands in Vers
handlung geftanden Hat. Oder mac) der Verhandlung in Betreff
der Aurhebung der Hebräiichen Kahald-Aemter in Kurland, oder
aber 3. B. nad) den Verhandlungen hinfichtlich der von einem
Rathöheren des Hapfalfchen Magiftrats verjchuldeten Verumntreu«
ung jtädtifcher Gelder. Sie werden fid) nun felbft überzeugen,
de3 Stantsraths CHanyfow an den Fürften Suworow. 83
zu welchen Mefultaten bie fo vielfältig gepriefenen örtlichen Inftitu-
tionen führen. Ich Hätte noch) viel fehlagendere Veifpiefe anführen
Tönnen, allein da ich jene Länder fchon feit langer Seit verlaffen
Habe, mag ich meinem Gedächtniß nicht mehr trauen.
Man wird vieleicht einwenden wollen, die angeführten Beiz
fpiele wären nur Wusnahmen von der Regel und mich auf bie
Moralität und Neblichteit der Behörden Hinmeifen. Man wird
fragen, warum bier nichts von den Mifbräuchen verlautet, die
man im Allgemeinen ben Beamten im SJunern des Meiches zum
Vorwurf macht. Darauf ertidere ich: die öffentliche Moralität
im Reiche jtcht den Dftfeeprovingen gegenüber wahrlid; auf feiner
niedrigeren Stufe. Die Unhänglichkeit der Ruffen für den Glauben
ihrer Väter, ihre Liebe und mufterhafte Ergebenpeit für ihren Raifer,
ihre Treue gegen das Vaterland — alle diefe Quellen ber
öffentlichen Moralität zeugen Hinfänglich für diefe Wahrheit. Folg-
ih muß man, um biejen Vergleic, anftelfen zu Tönen, nicht bie
Gefelfchaft, nicht da3 Volt, fondern nur einen Heinen Theil diefer
Gejellfchaft, die Beamten Hervorziehen. Diefe Leute ftehen dort
wie hier ohne Biveifel auf berfelben Stufe der Moralität, fofern
fie ihrer erclufiven Lage, fo zu fagen ihrem Gewerbe angehören,
das fie ebenfo wie alle übrigen Gewerbetreibenden !) darauf
Himgeift, auß ihrer Lage den möglichit größten Wortheil zu
ziehn. Der Unterfchied liegt mur in den Mitteln. Bei uns find
die Beamten darauf bedadjt, diefen Gewinn von den Privaten zu
‚ziehn, die ihrer bedürfen, und das ift die Quelle der Veftechungen.
In den Dftfeeprovinzen, two bergfeichen Gefchenke den gejeglichen
Namen der Sporteln tragen, begnügen fi} die Beamten nicht mit bies
fer Einnahme, fondern Iaften mit ihrer ganzen Maffe auf ber Krone
oder den Corporationen, benen fie dienen. Die Krone zu beftch:
fen, wird nicht mar für feine Schandthat gehalten, fondern gilt
für eine Pflicht (1) jedes Dienenden. 3 ift notorifd, daß feit
Errihtung der Gouvernement? im Umfange des ganzen Reiches
nur der einzige Kameralhof in Niffnie-Norwgorob beftohlen worden
ift, während in den Oftfeeprovinzen zwei Rameralhöfe nad) einan-
der beftohlen wurden. in ftaunenswerthes Qerhäftni! Die
1) Die bier ouSgefprodhene Anficht, dak die Beamten eine Mlaffe von
Gerwerbetreibenben feien, ift Außerft originell, Der Herauägeber.
84 Ein pfeubonymer Brief
Unterfuchungsfadhe wider das Tivfändifche Hofgericht wegen Verun-
treuung von Geldern, die in den Dftfeeprovinzen unter dem Na-
men ber Lenzfchen Sadje befamt ift, obgleich am derjelben aud)
einige Landräthe theilgenommen Haben, dient zum Beweife, daB
nicht die Krone allein, fondern and; Corporationsgelder zum Ger
genftand der amtlichen freibsuterei gemacht werben. Im biefer
Beziehung gebührt, Beiläufig gejagt, dem Odenpähfchen Landgericht
eine befondere Aufmerkjamfeit. Dbzwar bis jeht einer gericht»
lien Unterfuchung nicht unterzogen, verdiente e8 wohl eine
firenge Revifion. Endlich) Hat die Mevifion des NRigafchen
Magiftrat? und des Collegium: Allgemeiner Fürforge mehr
als alle vereingelten Thatfahen die Unvolltommenheit der Tocalen
Inftitutionen und Genoffenfchaften dargethan.
Indem ich von der deutjhen Moralität jpreche, faun ich nicht
umbin, mit Kummer auf einen die Menfchheit und die Civilifation
unferer Zeit gleichermaßen beleidigenden Gebraud) Hinzuweifen, der
nod) in einigen Küftengegenden de3 Dftfeegebiet3 herricht. Ich
fpreje von dem fogenannten Strandrechte. Diejes Recht ift nicht
mehr nod; minder al3 Seeräuberei, unter dem Schein der Rettung
Geftrandeter ausgeibt. Und der Gewinn, ben die von bewafine-
ten Gefchtwadern angeführten Netter empfangen, hat die Sitten der
Strandbewohuer in einem folhen Grade durhdrungen, daß fie bei
anhaltend gutem Wetter mit Seufzen ber ftürmifchen Seefahrten
gebenfen, wie ein Landmann im Hungerjaht der reichen Ernte ger
denkt. Im Arensburg aber, auf der Infel Defel, werben in der
Stadtkirche öffentliche Gebete für einen gejegneten Strand, d. h.
für zahfreije Strandungen an der Defelfcyen Küfte gethan 1).
Die ebenfo erelnfiven als fchädlihen Bunfteinrichtungen be
ftehen in dem Stäbten der Oftfeeprovingen in ihrer höchftmöglicen
Eutwictelung. Ihren Nachtgeit und ihre Vejehwerlichfeit für die
Einwohner zu bemeifen, würde überflüffig fein, weil bei ber gegen»
wärtigen Stufe der Bildung etwa nur diejenigen daran zweifelt
1) Diefe Mneldote ift ebenfo begründet und zuverläffig, wie die in
den Lehrbücher der Geographie 6iB auf die neuefte Zeit fich fortfcgleppende
Angabe: in -Jacobftadt Gefiehe eine Zanzbärenafademie oder ber im XVIL
und fogar mod) im XVII. Jahsundert allgemein verbreitete Glaube, e8 wins
mele in Sivland und Rurland von Wärwölfen, Der Herausgeber,
des Staatsraths CHanyfow an den Fürften Sumorow. 85
fönnen, die in Diefen Einrichtungen ihren perfönfichen Vortheil fin-
den. Ich Habe ihrer and nur deshalb erwähnt, um bei der Ger
fegengeit augzujprechen, wie ic; einigen Grund Habe, an der
Gefeglichkeit ihres Dafeins zu zweifeln und wie ihre Privilegien
und Schragen wohl einer ftrengen Tritiihen Prüfung bedürfen. Zum
Mindeften ift c3 mir gelungen in Erfahrung zu bringen, wie das
durch ein päpftliches Privifegium geftiftete Fifcheramt eine deutjche
Ueberfegung der päpftlichen Bulle, in welder die Fijchereibereghtiz
gung in ber Diüna den fidelibus eivibus Rigensibus zuge»
ftanden wird, in feine Schragen aufgenommen, jedoch in ber
Ueberjegung diefem Sate das Wort „Fildheramt“ fubftituirt hat.
Die aus der Epgelufivität ihrer Inftitutionen entfpringenben
Gegenfäge der Corporationen zu einander, die in allen gebildeten
Staaten längft ihre Zeit überlebt Haben, erzeugen einerfeit3 den
Haß der Kaufmannjchaft und des Mittelftandes gegen ben Adel,
anbererjeit3 aber auch bie Unbufdfamfeit des Woels den Stadtbe-
wohnerm gegenüber. Vereint mit dem Adel laftet die Geiftlichteit
auf dem Landmann und der Bauer ift zu jedem Opfer bereit, nur
um von all den Bebrüdungen befreit zu werben. Und zugleich
Hammern fi alle diefe privaten Gorporationen mit aller Gewalt
an ihre halbvermoderten Urkunden und Pergamente an und wähnen
durch biefelben jene Tebendigen Kräfte und jene heilige Liebe zu
Kaifer und Vaterland erfegen zu können, bie erft dad Leben eines
Bolfes ausmachen. Urtheilen Sie nun felbft — welde Bufunft
tan in folhen Elementen Liegen! Und fo haben Em. Turchlaucht
dreierlei Aufgaben zu löfen:
1) Die Begründung und Gonfolidirung einer gejegmäßigen
integrirenbden Beziehung der Dftjeeländer zu bem Staate vermitteljt
richtiger Begriffe von der Unhänglichfeit gegen Kaifer und Vaterland.
2) Die Vereinbarung der örtlichen Gejeßgebung und der Ioca-
ien SInftitutionen mit der gegenwärtigen Civilifation und mit den
wirklichen Bebürfniffen diefer Provinzen.
3) Die Aufrehterhaltung der Unantaftbarkeit der Rechte un
ferer ortHodogen Kirche, welcher nach dem Wortlaut de Bandes
XIV de8 Swod der Gefche allein die Berechtigung zuftcht, An-
dersyläubige zur Unnahme ihrer Lehren zu befehren, und die in
der gegenwärtigen Zeit jelbft derjenigen Vorredhte beraubt ift, welcher
86 Ein pfeubonymer Brief
fi) die im Staate bloß gedulbeten Eonfeffionen zu erfreuen haben ;
denn der Uebertritt aus einer biefer Confejfionen in bie andere ift
durch feinerlei Formen gefefjelt, während die Aufnahme in den Schooß
der Herrjchenden Kirche auf Anordnung der örtlichen Obrigkeit in Liv-
Iand einen’Gegenftand bejondrer polizeilicher Beauffichtigung ausmadjt.
Die Löfung diefer Aufgabe eröffnet Ihrer Thätigfeit eine
ihöne Arena und“ bietet dem Gufel da8 Mittel dar, einen neuen
Shrentitel dem Ruhme Hinzuzufügen, den fein Ahnherr fi erwarb.
Ohne auf die Pfade einzugehn, die zu diefem Biele führen,
muß id), doch mit derfelben Offenheit, mit der id) diefen ganzen
Briefgefchrieben Habe, hier ausfpreden, wie an Ihrer perfönlichen
Stellung zwei Parteien Antheil nehmen: bie örtlichen Bewohner
der Provinzen uud das übrige Rußland.
Die Erfteren, verblendet durch) jahrhundertelange Vorurtheife
und durd Anhänglichkeit an ihre erchufiven Nechte, ftreben darnad)
um jeden Preis ihre Stellung in stätu quo zu erhalten und vers
chenden in diefer Mbficht vor Yhnen die glänzenden Zeichen der
Gaftfreundfaft und der öffentlichen NAeclamaticnen. Allein Eiv.
Durdlaucht eigner gefunder Bid wird Sie überzeugen, wie das
wahre Wohl der Dflfeeländer eben in einer engen Verbindung
mit dem Staate, in der Bedeutung des Qaterlandes, dergeftalt
ruhe, daß die Bewohner jener Gegend, bei ihrer deutjchen Abftam-
mung und Religion befaffen, fich dennoch als Auffen, al3 Söhne
eines und besfelben Vaterlandes und nur deshalb als Unterthanen
desfelben Fürften betrachten müfjen.
Was den Ihnen bereiteten Empfang und die Ausbrücdje der
Öffentlichen Vegeifterung anlangt, jo fage id) nur, das Ihre
Vorgänger ebenfo empfangen worben find, daß von YFadelzügen
6i8 zum Vewerfen mit Strafenfoth, mur ein Schritt ift! Co viel
bleibt aber unbezweifelt, daß dort, wo Manifeftationen öffentlicher
Billigung zugelaffen werden, aud) der Ausbruch öffentlicher Miß-
bifligung ertragen werben muß.
Die Iegtere, d. 5. Rußland, erwartet von Ihnen die Wieder-
herftellung des ruffifchen Namens in dem von ihr mit Wohlthaten
überfchütteten und in feinem Undant fie verachtenden Lande; erwartet
nur die Gelegenheit, dasjelbe in die Zahl feiner aufrichtig treuen
Kinder aufzunehmen und mit gleicher Liebe zu empfangen.
de3 Staatsraths Chanylow an den Fürften Sumorom. 87
Sie fennen beffer al3 ich den Umfang Ihrer Pflichten gegen
die erftere und gegen die Ießtere, deshalb füge ich mur noch Hinzu:
daß Sie für die Deutfchen nichts mehr find als nur der Fürft
Suworow, beffen Berühmtheit, erft auf die dritte Generation ver
erbt, die ariftofratifchen Anforderungen der örtlichen Ritterfchaften
no bei Weiten nicht befriedigt. Für den Ruffen aber find Sie
der Gnfel des Helden, der nicht mur feinen perfönlichen Ruhm
niemal3 von dem Nuhme feines Vnterlandes trennte, fondern aud)
iu den Namen eines Auffen feinen Höchften Stolz fehte. Soll id)
Sie etwa an jene Worte erinnern: „Du bift kein Rufje! behüte
Gott, Du bift fein Rufe!" Geheiligt ift für den Muffen der
Name des Helden, der burd; das Wort feines Naifers berufen
mar, Stönige zu retten, md der Rußland wie eine Mutter in
ihrem ganzen Dafein mit allen ihren Sitten liebte; dem Kaifer
auf bem Schlachtfelbe mit feinem Schwerte diente, aber aud) bie
gebeiligten Gebräuche der Vorzeit beobachtete und, auf dem Chor
fingend, Gott danfend pries! Dafiir nemmt ihn Rußland mit
Stolz feinen Helden uud erwartet von dem Enfel, er werbe auf
derjelben Bahn fortfchreiten.
Nachdem ic; mit Offenherzigfeit und mit vollem Vertrauen
zu Ew. Durdjlaucht alles dargelegt Habe, vwad mir bekannt gewvor-
den, erachte id) e3 für nothiwendig noch hinzuzufügen, daß bie
Kunde von allen Ihren Handlungen fich feel dur NAußland
verbreitet und unjer Moskau bald erreicht. Die hiefigen Deutfchen
verfünden Hier den Zriumph ihrer dortigen Mitbrüder; bie
ruffifche Handelswelt erwartet unterbeffen fChrveigend bie ferneren Mit-
tHeilungen ihrer Rigafchen Correfpondenten und bie vechtgläubige
Geiftlichfeit im ganzen Umfange Nuflands, fo innig miteinander
verbunden, beobachtet finnend, weld;es Verdienft die Kirche in dem
Gufel ihres eifrigen Sohnes und Vertheidigers anerkennen werde ;
noch traut fie deutfchen Erzählungen nicht, al verhöhne der Enfel
dasjenige, was ber Ruhm des Ahnheren war,
Mit tieffter Hodadtung und unbegrenzter Ergebenheit Habe
id) die Ehre zu fein
Ew. Durdlaudt gehorfamfter Diener
Moslwa, 8. Mai 1848. Ywan Snamensiy.
2
ESETSSESSSELSHESSSSTESSSESESSESTSESSSSTSEN
REFFFERFEFE
Ginige zur Beihiäte der Doblenihen Kirde.
Bon Dr. X. Bielenfteim.
(Schtub).
U. Baftoren, die an ber Doblenfden Kirde
gewirkt haben.
‘on den Baftoren einer Gemeinde willen wir in der Megel
mehr, al3 von den einzelnen Gliedern der Gemeinde. Die
Paftoren find doc) die geiftlichen Väter und Führer und durch fie,
dur) ihre Tüchtigfeit umd ihren Charakter, dur) das Maf der
Treue, womit fie ihre Amtes gewartet, ift zu einem großen Theil
das Leben der Gemeinde und das Maß ihres Fortfchrittes in velis
giöfer und fittlicher Hinficht bedingt,
Wenn wir ung jet zu der Neihe der Toblenfchen Paftoren
wenden, fo finden wir eine gewifje Schwierigkeit, wie der Stoff zu
behandeln, darin, daß wir e8 mit 2 Gemeinden zu Doblen, einer
deutfchen und einer Tettifchen, alfo mit einer doppelten Reihe von
Paftoren zu thum Haben. Mleiben wir erft bei der einen, dann bei
der andern Gemeinde, fo trennen wir die Männer von einander,
melde al3 Beitgenoffen unter bdenfelben gefchichtlichen Verhältniffen,
meift doch in demfelben kirchlichen Geifte, wie er eben in ber Beit
berrjchte, gewvirft haben. Fafjen wir aber bie Zeitgenofjen zufammen,
jo ließe fic) cher ein Wild der Hiftorifchen Entwidelung vielleicht
geben, aber die Eontinuität defjen, was zu ber einen Gemeinde
gehört, wird zerriffen. Werfen wir in die Wangfchale, daß von den
meiften Paftoren, mögen auch Paftor Kallmeyer und Dr. Otto von
Alen eine ziemlich große Menge biographif—er Notizen in ihrem
trefflicen Wert (die ev. Kirchen und Predd. Kurl.) zufammenges
bracht haben, doc) immer nur jehr Wenige bekannt ift, was und
wie fie hier amtlich) gewirkt, welde befondern Einflüffe fie geübt
haben, fo bleibt und am Ende nicht? Underes übrig, al einiges
Zur Gefdjichte der Doblenfejen Kirche. 89
Allgemeine über bie mit dem Umte betrauten Männer im Großen
und Ganzen zu fagen md banıı nur einige von ihnen hervorzuheben,
deren Firchliche oder litterarifche Bedeutung bie Andern überragt.
Wir befehränfen und dabei billig auf die evangelifche Zeit,
denn aus der fatholifhen ift und ur der Name eines einzigen
Doblenfchen Priefters aufbewahrt, Joadim Pinnow. Diefer war
1545 „Kertherr“ (fett. bafniz’ fungs) zu Doblen, ald der Ordens:
meifter Hermann von Vrüggeney ihm am Wugiihen See ein Ge
finde, Stirne Jahn, nebft andern Ländereien (das jehige But Stirnen,
defien Letten bis Heute im Volfamunde Pinmauneefi genannt werden)
verlehnte (cf. Kallın.-Dito p. 417). Noc) vor den Tagen Pinnow’s
wurde (1516) nad) 3. H. Woldemar (Ritterfchaftsarchiv Mappe 27)
in ber Kirchfpielstiche zu Dobfen ber heil. Jungfrau Maria eine
Bicarie fundiert, welde auf Veranlaffung de3 damaligen Komthurs
zu Doblen, Gerth v. Brüggen, den Eiugefeffenen des Doblenfchen
Gebietes al3 eine ewige DVicarie verlehnt wurde. Werm ic) biefe
Notiz recht verftche, fo ift damals nicht etwa blos ein Priefter-
vicar angeftellt (defjen Name ungenannt bleibt), fondern e3 fcheint
eine Priefterwidme (Grund und Boden fundus) geftiftet zu fein
und e3 wäre bie Frage, ob biefes nicht bie Widme des nacjmaligen
Tettifchen Paftor gewefen, ba gerade fie von ben Tagen Kettlers
biß Hente durch die adfigen Eingefeffenen bebaut wird und da bie
deutiche PaftoratSwidme von &. Kettler für feinen quasi Schloß-
paftor geftiftet und von ihm und den folgenden Landesherren immer
bebaut, d. 5. baulid, verforgt worben ift.
Die Zahl der evangeliichen Paftoren zu Doblen von Einführung
der Reformation an bis heute beträgt mit Einfluß der mod)
lebenden Paftoren und mit Uusfchluß der Mbjunkten, welche zeit-
weilig Hier mitgewirkt Haben für jede der beiden Gemeinden fiebzehn.
Für die feither verflofjenen 330 Jahre würde alfo die Amtsdauer
des Einzefnen 20 Jahre fein. Schen wir nun von den nod) lebenden
Baftoren ab, jo find die bei weitem Meiften — Kinder der Baltic
ichen Heimat. Nachweisbar wenigftens ijt e3 nur für fünf (2
deutfche, 3 Iett.), da fie aus Deutfchland Hierher eingewwandert
waren. erner ift c3 nicht unintereffant zu bemerken, daß von ben
32 Paftoren faft die Hälfte (15, d. H. 9 deutihe und 6 Lett.)
paftorale Uemter (jogar öfter mehr als eines) an andern Orten
90 Zur Gefchichte der Dobfenfhen Kirche.
beffeidet hatten, ehe fie nad) Doblen berufen tuurden. Nach Dobfen
zu fommen, fdeint alfo gewiffermaßen ein Avancement gewefen zu
fein und das ift in der Größe ber Iett, Gemeinde und in den nahen
Beziehungen bes beutfchen Pajtors zum Herzog wohl begründet.
Allerdings Haben 17 Paftoren ihre erfte Berufung nad) Doblen
erhalten, bod) Hatten fic) biefe zum Theil im Schulfad; al Reftoren
von Stadtjufen oder and, al3 Univerfitätsbocenten tüchtig eriiefen.
Weggegangen aus Doblen find nur wenige Geiftlihe und wenn, jo
find fie in der Negel nad) Mitan al Superintendenten ober feit
1831. 018 Generalfuperintendenten von Kurland verfeßt unb befördert
worden. Neun Doblenfche Paftoren (8 deutfche und 1 Lett.) haben
Titel und Amt eines Doblenfchen Propftes geführt, 2 find Supers
intendenten und 3 Generaffuperintendenten (Theodor Lamberg,
Ioh. Georg Lebreht v. Richter in Kurland, Auf. v, Richter in
Petersburg) gemefen.
Bon den 32 Doblenfchen Paftoren find, foviel wir willen, 23
(11 deutjche und 12 lett.) hier geftorben und begraben, alfo über
2% der Gefammtzahl. Die fterblichen Hühlen rufen zum größten
Theil unter dem Altar unferer Kirche, wie Paftor Pflugradt in
der Kirchenchronit berichtet, nur fehr wenige unter dem Rafen,
Kein Erinnerungszeichen, Teine Infchrift veranlaßt die Iebende Ger
neration jener heimgegangenen Gemeindehirten dankbar zu gedenken,
wer weiß e8, wer ahnt e8, wie treulich jene Männer ihres Amtes
gewartet? Taufende und Taufende von Seelen find in den 315
Jahrhunderten beim Eintritt ins irdifche Leben mit dem Segen
göttlicher Gnade von ihnen begrüßt worden. Taufende und Tau-
jende von Seelen Haben während ihrer irbifchen Wallfahrt an
diefer Stätte von Kanzel und Altar und in ihren Behaufungen
ernfte Mahnung und freundlichen Troft erfahren. Taufende und
ZTaufende von Seelen find mit Gotteswort und Fürbitte Hier
oder am Grabe in den jenfeitigen Frieden Gottes hinübergeleitet
worden. Und das Mlles unter viel Mühfal und Sorge, unter
viel Kampf mit widerftrebenden Elementen, unter Dank und Undant,
aber immer unter Gottes Segen.
AS einen ganz befondern Segen Gottes muß id) Hervorheben,
daß feit Menfchengedenken und foviel wir aus den Aufzeichnungen
der Vergangenheit entnehmen fönnen, die Doblenfcen Paftoren mit
Zur Gejchichte der Doblenfchen Kirche. 9
einander ftet3 in brüderliem Einvernefmen und in freunblichem
Frieden gelebt und gewirkt haben. Zu einem Theil Hat der Grund
dazu in der Haren Ordnung ber Gemeindeverhältnifje gelegen, fo
daß amtliche Grenzftreitigkeiten füglich nicht gut möglich waren, aber
außerdem muß ein Geift des Friedens die Herzen der Männer
bejeelt haben. Im einem Fall wird berichtet, daf ein Mitanfcher
Stadtdiafonn® (Brunnengräber) von Mitau nad) Doblen verjegt
worden it, um Firdhlichen Unfrieden in Mitau zu bejeitigen. In
Doblen fand der Mann Frieden.
Gottes Wort ruft ung hier durd) den Apoftel zu (Ebr. 13,7 f.):
„Gebenfet an Eure Lehrer, die euch) das Wort Gottes gejagt Haben,
welder Ende fehauet an, und folget ihrem Glauben nad“. Der
Mund der Boten Gottes verftummt gar bald und der Eine nad)
dem Andern finft rafch) ins Grab; aber der, in defien Namen fie
reden und ber fie fenbet, bleibt der Tebendige: „Jejus Ehriftus
geitern und Heute umd derfelbe aud) in Ewigfeit”.
Die Reihe ev. fammtlicher Doblenfder Prediger an der deuts
igen (I) und an ber Iettifchen Gemeinde (IT), ift nad) SKallmeyer-
Dito’3 Merk nebft ihren Abjunkten folgende:
L
Hermann Tegetmeger. ...1583.
Johann Rivius um 1586.
Gotthard Lemfen....1602— 20...
Nitofaus Frande 1624—57.
Melchior Bilterling 1. 1658 —91.
Mag. Sohann Mdolphi IL.
1692— 96.
Joachim Nerefius11.1696-1708.
Mag. Zul. Friedr. Hartmann
1705 — 10,
Shriftian Dietrid) Briesforn
1711-24.
Carl Chriftoph Willemfen 1725
bie 36.
David Pflugrabt 1737-66.
Abjunft: Mag. Daniel Chriftian
Pflugradt 1765-66
Mag. Daniel Chriftian Pflugradt
1766--76.
Chriftoph David Difton 1777
bis 1811.
Adjunkt: David Theodor
Difton 1805-11.
David Theodor Dijton 1811
bis 49,
} Theodor Emil Lanıberg 1850
bis 66,
Myjunkt: Feiedrid) Chriftopg
Berndt 1862-63.
Johann Wilgeln
Sakranowicz 1864
bis 66,
Dr. Auguft Johannes Gottfried
| Bielenftein feit 1867.
92 Bur Gefhichte der Doblenfchen Kirche.
IL
Georg Lange....1602—19. | Zul. With. Theophil v. Richter
Friedrich) Mancelius 1620—2 1835-50.
Eberhard Meyer... .1633—50. Ajunkt.: Hermann Sammel
Heinrich Abolphi I. 1650-61. | Rupfier 1846 47.
Vidyael Musman 1661-84. | Theodor Antonin Neans
Eornelius Heinrich Schuud 1685 der 1847—48,
bis 86. Hermamı Konr. Wild.
Martin Hieftein 1687-1718... | Ruft 1849-50,
Adjunft: Mag. Chriftoph Wilh. bis 1851 Bicar.
Sieffens 1717—... u a Syivefter
i il Steitens | od 1851 — 82.
TE Be | Abjunkt.: Friedr. Chr. Berndt
Mn 1863 — 64.
rege Brumnengräber , Georg Lgeodor Seeberg
Mag. Johann Intob Macyenaty | 1000:
an ine" ® Fedor Yohann Ernit
en | Schmidt 1866-67.
Mag. Daniel Ehriftian Pflugradt Theodor Joh. Rachle
1Te ZIEDL: | Brandt 1867-69.
Gotthard Wilh. Wolter 1801 - 8. griedr. Baul Ioahim
Dr. Joh. Georg Lehr. v. Richter eh 1869-70.
1003-0. Wil. Auguft Tiling
Adjunkt: Lebr. Friedrich von März biß Juli 1871.
Rigiter 1824—25. Carl Friedr. Herm. Bod
Dr. Lebr. Friede. von Richter 1872—82,
1825—34. Georg Theodor Seebergfeit 1882.
Aus der Gefammtzahl der Doblenfhen Paftoren wollen wir
nur einige wenige hervorheben und von ihnen furz berichten, wodurch)
fie vor den andern fich ausgezeichnet Haben. Wir beginnen mit
den deutfchen Paftoren.
Herm Tegetmeger eröffnet die Neihe der deutjchen
Prediger, wahriheinlih ein Sohn des Rigafchen Reformators
Syloefter Tegetmeyer, muß den Fahren feiner Amtsführung nad)
in Doblen die Reformation eingeführt haben.
Ioh. Rivius, fein Nachfolger Hat in fehr kurzen Unts:
jahren Großes für Doblen und ganz Kurland geleijtet. Gr ift der
Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirdje. 93
Schöpfer der Iettifchen Literatur, genauer gefagt, ber geiftlichen, mit
welder bei ung, wie bei allen Völkern die Literatur überhaupt
begonnen hat. Er it e3, der wohl im Muftrag des Herzogs
Gottgard die erjte und wichtigfte Arbeit an Ueberfegung des
Iutperifchen Meinen Katechismus, der Sonntags3-Perifopen und der
erften evangelifchen Kirchenlieder ing Lettifche gemacht und damit den
Grund gelegt hat für die ganze fpätere Tettifche evangeliiche Litter
ratur, die bem Gottesdienft in der Kirche, dem Unterricht in ber
Schule und der Erbauung im Haufe bis Heute dient. ALS er vor
Vollendung des Werkes geftorben, fegen die 4 Männer, welde
feine Arbeit zu Ende geführt und 1586 veröffentlicht haben, die
Poftoren Dlide, Lembred, Reimers und Wegmann in der Wid-
mung der sondewdjchen Pfalmen an die Söhne des Herzogs Gott-
hard (cf. Unsgabe der Bndeubichen PSalmen 1886 durd) Projefjor
Dr. U. Bezzenberger ımd Dr. U. Bielenftein Einleitung p. XI
und XIX.), ihm ein Denkmal mit folgenden Worten: „Solcher
„mühe und arbeit, ob fidh wohl unfer in Gott ruhender Mitbruber
„am wort Gottes, Herr Johan Rivius feliger, damals Paftor zu
„DobleHn, Hiebeuorn vnterfangen, vnd an die verdofmetjchung des
„Catedjismi, des Hocherleuchten Mannes Gottes D. Martini
„Lutheri jeliger gedechtnis, fo wol ber Sontags vd andern dor»
„nembften Fefte Epiftel und Enangelien, als auch der gewöhnlichen
„Ehriftlichen Palmen und Gefenge in den Kirchen nicht wenig ober
„geringen fleiß gewandt, So hat doc) fold, fein trewer Fleiß vnd
arbeit, wegen feines vnnermntlichen und plöglichen abjcheides auf
„Diefem efenden FJammerthal, nicht können voltömlichen ins Wert
„gerichtet, oder in druc: verfertiget werden, biß numehr unferer de3
„Saerofancti Miniftery etliche einheimische und der Sprachen fündig,
„auff vorerlangten Fürftlichen befehlich, fold;e arbeit wider auffs
„neiwe vor die hand genommen und verfertigt”.
&o Hat unfer Doblen bedeutfanen Antheil an der fulturger
fhighttichen und kirchlichen Epoche, welde erft 300 Iahı nach der
Eroberung Semgallens und 100 Jahr nad) der Erfindung der
Buchdruderfunft für die evangelifche Kirche beim ganzen lettifchen
Rolf an den Namen Rivius fid) nüpft.
Beiläufig wäre zu bemerken, daß unfer Rivius 1570 mit
dem Gute Pönau befehnt worden ift und daß eine feiner Defcen«
94 Zur Gefghichte ber Doblenfchen Kirche.
bentinnen da8 Gut dur ihre Werheirathung mit Carl IIT. von
Vühren in den Vefig diefer Familie gebracht hat, aus welcher bie
beiben legten Herzöge Kurlands entftammten.
Ar Rivius Lönmen wir zwei Männer anfchliegen, die fich
große Verdienfte um die allgemein kulturelle und befonders firchliche
Hebung des Tettifchen Wolfe erworben haben. Der eine ift Heinr.
Wdolphi, Iett. Paftor zu Doblen, in der Blüthezeit Kurländifcher
Gefchichte, unter der Regierung Yakvbs, des hervorragenditen unfrer
Herzöge. H. Abolphi wurde mad) I1jähriger Wirhjamfeit in
Doblen al? Landesfuperintendent an die Trinitatisficche nad) Mitar
berufen und gab im zwei Auflagen die befte lettifhe Grammatik
heraus, die e8 biß zu den Tagen Stenders gegeben hat. Diefelbe
diente nicht blos der Spradjforfhung, fondern gerade aud) weient-
{ic dem Tirchlichen Leben, fofern die Landgeiftlichen, die eben nicht
lettijcjer Nationalität waren, aus ihr die Spradje des Bolfes
fernen fonnten und Ternten. Wdolphi benußte zu feinem Werke die
Vorarbeiten eines andern, mit Doblen in DVerbindung ftehenden
Mannes, von dem c3 nicht nachweisbar ift, daß er je ein geiftliches
Amt geführt Hätte, der aber ala Candidat der Theologie genannt
wird. €3 ift Chriftoph Füreder, von beffen Leben man gar nicht?
weiter weiß, al3 daß er eine Lettin und zwar, wie die Sage geht,
ans Gr. Hehden im Doblenfchen Kiccjfpiel, geheirathet habe, der
aber außerordentlich viel auf das geiftliche Leben des fett. Volkes
Einfluß geübt Hat durd) die Weberfehung zahfreicher utherifdjer
Kernlieder, welche unferm Wolf feit 24e Jahrhunderten lieb ges
blieben find, durd) die Wärme und Kraft ihrer Worte,
Dir fehren zu dem mutmaßlichen Nachfolger des Soh.
Rioius, Gotth. Lemfen zurüc, beffen Amtsantritt unbelannt ift,
weldjer aber jetenfals vor 1602 im Amt zu Doblen geftanden
hat. So muf; er e3 gemwejen fein, welcher in ber noch) fichtbaren
Burgliche zu Doblen predigte, al3 die zu Schloß Dobfen, als auf
ihrem Witwenfig rfidirende Anna, Tochter des Herzogs Albert
von Medlenburg, weiland Gemahlin Gotthard Kettler, am Abend
ihres Lebens (+ 2 Iuli 1602) nicht mehr im Stande war, aus
ihren Gemädern im obern Stod, heraus auf den Altan im Junern
der Kirche zum Gottesbienft fid) zu begeben, jondern in ihrem, an
die Kirche ftoßenden Zimmer auf dem Ruhebett liegend, wie berichtet
Bur Gefichte der Doblenihen Kirche. 9%
wird, der Prebigt zuhörte. An der innern Sübwand der Schloß
fire neben der Altarftelle find mod Heute die deutlichen Spuren
jenes Altans und die Thürlucht von diefem in bie Gemäcer der
Herzogin-Wittwe wahrzunehmen.
Kehren wir zu der Reihe der deutfchen Paftoren zurüd, fo
zeiäuet fh N. Srande im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts
dadurd) aus, daß er in der langen Amtsmirkjamteit don 33 Jahren
an unferm Ort, erfter Dobfenfcher Propft und aud) furl. Superin-
tendent geworden und gewejen und zwar Iehteres, vielleicht wegen
vorgerücten Alters, ohne nad) Mitau überzufiedeln, was eben gegen
den Ufus war. Sein Verbleiben in Doblen ald Superintendent
hatte die Folge, dai er nicht zugleich die Gejchäfte des Mitaufchen
Propftes Führen Lonnte und daß deshalb der Mitaufche Frühprediger
Joh. Adolphi 1. diefe Sunktionen übernaym. Weder vor diefem, noch
nad) diefem Hat e3 je einen befondern Mitaufchen Probjt gegeben.
Beide, Grande und Joh. Adolphi führten ihre hohen Aemter nur
ein einziges Jahr, da fie 1657 beide von der Veit Hingerafft wurden.
Von Frande rühren treffliche Vorjcläge Her (die aber damals
nicht zur Ausführung famen) über Synoden, Candidaten- Prüfungen,
Verwaltung der Kirchenangelegenheiten.
Frandes Nachfolger war Meldhior Bilterling, einge
wandert aus dem Anhaltefhen, Stammvater der ganzen Bilterling-
ihen Familie, die fi feitden in Kurland ausgebreitet und unfrem
Lande im ganzen 7 Geiftlihe guten Namens und unter diefen 5
Pröpfte gegeben hat (Melchior Vilterling in Doblen ift aud) Propft
gewejen). Meldior Vitterling, aus der Schule der Tutheriihen
Orthodegie des 17. Jahrhunderts ift einer ber wenigen Doblenjdien
Baftoren gewejen, die neben ihrer Amtsarbeit fid) mit theofogifch
wiffenfcaftlicher Schriftftellerei Haben abgeben Lönnen. Er ift der
Verfaffer einer gedrudten dogmatifchen Streiti—hrift *) gegen den
>) „Redpte Glaubensregel von ber mahren Religion, in welder ein
Shrift geroiß fanrı jefig werden, aus dem Göttlichen, Heiligen und allein jelig
macenben Worte Lürlich, deutlich und orbentlich, nad; dem Willen Gottes,
zum offenbaren Zeugnis meined zedjtfejaffenen Herzens fürgeftellet.* Die dem
Buche vorgefehte originelle Deditation lautet folgendermahen : „Gott dem Water, ber
mich erfehaffen Hat, Gott dem Sohn, ber mid) erlöfet Hat, Gott dem heit.
Geifte, der mich geheiliget Hat, der Hochgelobten, Heiligen Dreieinigleit, zur
Baltfge Monatsfgril. Db. XLIV. deft 2. 3
96 Bur Gefdhichte ber Dobfenjchen Kirche.
Superintendenten Paul Einhorn. Viele andre Streitfehriften,
werden erwähnt, deren Titel mir aber nicht zur Hand find. Iene
Zeit war ja die Beit der dogmatifchen, zum Theil fcholaftifchen
Kämpfe. Ir denfelben fheint Hier P. Einhorn, wie e8 aus feiner
Tätigfeit auf dem Xhorner Religionsgefpräh (1645) bekannt ift
den mehr ftrengen, M. Bilterling dagegen ben minder ftrengen
Standpunkt eingenommen zu haben.
Im der böfen Zeit des nordifhen SKrieges war I. Ir.
Hartmann bdeutiher Paftor und Propft in Doblen. Er wurbe
im Jahre 1710 ein Opfer der Peft, die Doblen, wie ganz Kurland
heimfucghte. E8 war bdiefelbe Peft, in weldyer der im Schloffe
Doblen refidierende Hauptmann Ehriftoph Georg v. Dffenberg mit
feiner großen Familie durch Gottes Gnade am Leben erhalten
blieb und infolge defjen aus daufbarem Herzen 2000 FI. Ab. zur
Stiftung eines Doblenfchen Armenhaufes, welches nod) jegt bei ung
befteht, fehenkte. Herzog Friedrich Wilhelm freute fi diefer
Stiftung, „wobur der grundgütige Gott in feinen liemaßen
geehret würde“, nahm die Geldfumme in feine Rentlammer und
erjegte die Binfen derjelben reichlich und zwedmähig durch jährliche
Naturallieferungen aus feinen Domänen bei Doblen, zum Unterhalt
für zunächft vier Arme. Er ließ für bdiefe durch den Hauptmann
„ein Häuschen in Dobfen am gelegenen Orte auffegen“ (d. H.
bauen), ober eine der bei der Weit „ausgeftorbenen" Häufer
„aptieren“ *).
gebührenden Ghre und zur fepuldigen Dantbarleit bebieiere und fepreibe id) zu
diefes zeept geiflihe Vüchlein;* und am Schluß derjelben unterzeichnet fi,
der Verfaffer: „Deiner göttlichen Majeflät treuer Diener, fo Lange id} Lebe“.
*) Die interefante Stiftungsurlunde Tautet folgendermaße.:
„Wir Feiedrig)- Wilhelm von Gottes Gnaden. in Liefland zur Churland
und Semgallen Herhog
Upetunden und befennen Hiemit von Unf uud Anfern Fürftl, Succefe
foren, wahgeftalt Uni der Wohlgeboßene Unfer Hauptnann auf Doblehn
und lieber gefrener Ghriftof Georg bon Offenberg muterthänigft zu vernehmen
gegeben, welergeftalt Ex enticlohen wäre, aub Herpliier Dantbarleit
gegen Gott, weil Ex ihm auf fo dielen Drangfahlen, die ihn gleich
andern, die Jahre Her Häufig betroffen, fo munberbarlich errettet und
anc) mitten in denen Gterbensläuften, da fonft die Candverbecbliche große
Zur Gefchichte der Doblenfcjen Kirche. 9
Des Namens Pflugradt hat die beutfche Doblenfce Ger
meinde zwei Paftoren gehabt. Der zweite ift ber einzige gewefen,
weldjer von der deutfchen Gemeinde zur Iettifchen übergeführt ift.
Umg.fehrt, von der Iettijchen zur bdeutfchen Gemeinde ift feiner
jemal& berufen.
Pflugradt, der Vater, ift dadurd) bemerfenswerth, dab er
vom Sommer 1737 als Erfter angefangen Hat, ein Dobleniches,
deutfches Kirhhenbud) zu führen; auf dem Titel diejes Buches ftcht
von Pflugradt3 Hand gefchrieben:
Weil die Dobleniche Kirch, ein Kirhenbuc) nicht Hat,
So Hab’ id} jelbige hiedurd; damit verfehen.
Gott fei derfelben Schug, Hort, Hütff und treuer Rath,
Die in demfelben nun und fünftig ftehen!"
Die erjten Jahrgänge diefes Kirchenbuches weifen in Durd-
imitt 11 Getaufte und 4 Paar Proclamierter auf, Ziffern, welche
nicht allzufehr von der Gegenwart abweichen, während vor einigen
Sahrzehnten die Zahlen Höher zu fteigen pflegten. Confirmirte hat
man erft jeit 1795, Verftorbene feit 1799 und Communicanten erft jeit
1820 aufzuzeichnen angefangen. Der Sohn diejes Pflugradt, lettifcher
Raftor zu Doblen, hat das ältefte Tettifche Kirchenbud erft mit dem Jahre
1799, wie er felbft fchreibt, auf Befehl eines „Reichzjuftit3collegit
der Lief., EHläudif—en und Finnländif—hen Sachen", de dato
©t. Petersburg, 23. Dezember 1798, sub A 2112, umd des Kurz
löndifchen Confiftorii an fämmtliche Prediger Kurlands und des
Beil, andere Meniehen bey Taufenben, ihm zur feiten weggerifen, ihn dennoch,
fampt denen Seinigen, auß Väterlicjer Gnade jeifeh und gefund echalten Hat,
dufelft zur elle ein Armen-pauß zu fiten mb ein Capital don Zivep
Zaujend Floren Albertus, von deffen Iutereffen und Zufcub anbrer Leute,
die Armen ihren unterfalt Haben möchten, wohlmeinend einzufepen. Wenn
Bir Uns dann eine folde Stiftung, wodurd) der Grunbgütige Gott, in feinen
Gliedmahen geehret wird, gnädigft gefallen Laffen, Er, Hauptman Offenberg
aud) die befagten Zwey Zanfend Floren Alb. an Sehshundert Seh und
Sechbig auch awey Drittel guten Holländifchen und Greußethalern in Unfere
Rent»-Gammer, Taut Unfers Cammer» und Renthey Verwalter: Chriftof Rommels
Quitance vom 6 Augufti AO 1710 Bereits würdf. abgeliefert Hat; So Haben
Bir nicht allein darin gnäbigft condefeendiret, fondern beloben umd verfprechen
aud, hiemit vor Unh und Unfern Ractommen, je und alfen jet und beftändig
darüber zu Halten: und foll demnach:
g*
98 Zur Gefchichte der Doblenfchen Kirche.
Viltenfchen Kreifes, d. d. Mitau, 3. Januar 1799, beforgen „müfjen“
und giebt bie Koften von Papier und Einbaud genau auf 8 Gulden
an. — Eine ftatiftijche Bemerkung über die Zahl der Geburten u. j. w.
von 1799 und 1894 ift interefjant. Bor aljo ca. einem Jahrhundert
waren in ber lettichen Gemeinde 451 Täuflinge eines Jahres ver-
zeichnet, jet 368, aljo ein reichliches Fünftel weniger. Das ift
auffallend, weil doc) die Vevöfterung feitdem gerachfen fein muß
und 1799 vom Anfang de3 Jahres mod) nicht verzeichnet find.
Gonfirmirte gab e8 1799 mur 179, 1894 viel mehr, nämlich, 235;
das deutet auf eine große Sterblichkeit der Kinder in jener früheren
Seit; die Conmmunicantenzahl Hat zugenommen, damals 11,637,
jegt 13,177. Die Zahl der Trawungen bifferirt nicht wejentfich,
damals 88, jegt 102 Paare, dagegen die Zahl der Verftorbenen
außerordentlich, damals 425, jept 282, was wir wohl mır aus
den heutigen befjeren Sanitätsverhältiffen erklären Fönmen. Die
Angaben der Iettifchen Kirchenbücher für die Jahre nad 1799
variiren natürlich, fehlen auc) zuweilen für ein ganzes Jahr,
ändern aber die von mir gemachten Berertungen im Wejentlichen
nicht. Im dasfelbe Kirchenbuch Hat Pflugradt I cine Kirdendronit
zu führen begonnen und mehr dafür gethan, als feine Nachfolger.
Er ift ein Freund der Miffion gewejen und Arbeiter anf diefem
Gebiet, denn er Hat 4 Juden, 2 Türfen getauft. Ich finde nicht,
woher er die Türken befommen Hat. Seine vieljeitige Tüchtigfeit
machte 8, daß er zum Propft erwählt wurde.
1) 2er Hauptmann Offenberg ein Häufchen am gelegnen Orte in
Doblehn auffepen, oder von denen außgefterbnen äußern, eines
aptiren, dahı anfänglich Bier Perfonen ihre Commoditet darin Haben
Tönnen.
Soll derfelbe ala Fundator folange Gr Lebe die direction darüber
Haben und nach feinem Gefallen, zivey teutfche und unteutjche Arınen
von Unfern Untertanen außen Doblehnfchen Sircfipiel, darin
einfepen,
3) Sollen Diefe Armen von denen Intereffen auf Unferm Anpte
Doblehn, wie nachfelgends zu erfehen, dan and au wohlthätiger
Vepfteuer andeer Leute, ihr Unterhalt Haben. Deötwegen dann
Auf Hohen Feft:Zagen, dreymal im Jahr, nehmlidh den erften
Feyer-Zag auf Oftern, Pfingften und Wepnachten vor den Kirch“
Thüxen zu Doblepn eine Gollecte zur Bephülfe gehalten werden fol.
9
E
Zur Gefchichte der Doblenjchen Kirche, 99
Mit Difton, Vater und Sohn, treten vwir in da8 gegen«
wärtige Jahrhundert und in die Erinnerung der nod; Lebenden
(der Enkel Difton wirft nod, als Sıhaulenfcher Kreisprediger, num
fchon feit über 50 Jahren). Difton I war ber erfte, welder
deutfehe Gottesdienfte und zwar jährlich, zwei in ber jungen Behrä«
höfichen Kirche zu haften begann.
Difton II war wiederum ein Doblenjcher Propft. In meiner
NAnabenzeit erinnere ich mich, den freundlichen, zahmfojen Alten
mit der Tangen Pfeife, in feinem Paftorat befucht zu Haben. Das
Voraus mit feinem Fußboden von gebrannten liefen fiel mir
damal8 auf, aber dergleichen fam ja in ber Zeit bei der Einfachheit
der Bauten öfters vor.
Ein regeres Firchliches Leben ward in Doblen dur, Paftor
Th. Lamberg umd feine geiftlich tiefen Predigten gemwedt. Ihn
haben noch viele unter uns gefannt und verehrt. In die leßte
‚Zeit jeiner Hiefigen Amtswirtjamkeit fiel die große Renovation der
Kirche (1864). Th. Lamberg war nod) in Dobfen erjt Eonfiftorial-
afieffor, dann Generaffuperintendent. Um des fegtern Amtes willen
fiedelte er 1867 nad) Mitan über und fcied aus diefem Leben
endlich a3 Emeritus zu Anfang diejes Jahres, bei feinem Sohn,
dem Paftor zu Linden-Birsgaln.
Bon den 16 Paftoren der Tettifchen Gemeinde ift uns
geringere Kunde aufbewahrt, ala von deren deutjchen Amtsbrübern.
Damit ift nicht gejagt, daß diefe Männer von geringerer Beben
5) Sollten dep Befieen Jahren, die Einkünfte Höher ammachfen, al
zum unterhalt der Bier Armen nöthig, oder auch Ghriftmilde Herpen
biefes Armen-Gauß mit Regaten bebenten, fo foll fotwohl die Wohne
ung, alb auch die Anzahl ber Armen vergröhert, nicht aber aufe
mwärtige, fondern nur aub dem Doblehnfehen Rirhfpiel, bie Helfte
teutcje und die anbre Helfte unteutfche barin eingenommen werben.
6) Die Armen, fobiel deren find, fellen täglich deep Behtftunden halten
und Unfer Präpositus zu Doblehn barüher die Infpeftion Haben.
Sollen die Doblehnfche Priefter mit benen Aicchenvorflehern Fücfl.
und Abel, Seiten conjuneim, wann Hauptmann Dffenberg mit
Tode abgegangen jeyn wird, über diefes Armen-Hauf disponiren
und die bafanten Stellen bereptermaßien wieder befehen.
Da mn die Interehen ea von Hauptmann Offenberg eingeichloffenen
Eapitals jähel, vierzig Rihel, albertus Betragen; Go wollen und
6
8
100 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche.
tung geivefen wären. Aber e3 fcheint, daß bie tägliche Arbeitälaft
in der grofien Gemeinde fie mehr gehindert Hat, in die weiter
Kreife de3 Landes hinaus zu wirfen und im öffentlichen kirchlichen
‚ober litterarifchen Leben befonders hervorzutreten. Ju diefer Hinficht
waren die Doblenjchen deutjchen Paftoren anders geftellt. Nur
ein einziger Doblenfdher Iettifher Paftor ift zum Propft ernannt
worden: 3. 3. Maczewsly (im britten Viertel d«3 vorigen Jahre
Hundert); don dem deutfchen Doblenfchen Paftoren Haben acjt
diefe Würde erlangt. Dagegen find drei lettijche Paftoren jo Her-
vorragenb gewefen, daß fie zum Höchften Firchlichen Amt eines
Superintendenten refp. Generalfuperintendenten berufen worden find
(9. Aolphi, I. ©. 2. v. Richter und Zul. dv. Richter).
MS erfter Iettifcher Paftor wird 1602 genannt:
Georg Lange. Wann er ins nt getreten, ift nicht
befannt uud ebenfo wenig ift nicht befannt, ob von Anfang der
Tutherifchen Zeit gleich 2 Paftoren zu Doblen eingefept find, oder
ob vielleicht 3. B. Tegetmeyer und Rivius beide Gemeinden ver-
forgt haben.
Am Anfang Hat die ganze Doblenfche Tettiihe Gemeinde fid)
mit ber einen geräumigen Kirchfpielskirche begnügen müffen, bis
3 Meilen von hier „die Verfenfche Kirche auf dem Gute Lieven-
Behrfen erbaut wwnrde; wann biefe erbaut, ift unbefannt. Erwähnt
wird fie zuerft 1718, doc) ftammt fie fiher aus dem 17. Jahre
Hundert; fie Hat aber nie befondere utherifche Pafteren gehabt und ein
verordnen Wir hiemit, daß Umfere Beambien, oder wer diefelbe
tünftig jepn möchten, fo die Gefälle Unferes Ambts Doblehn ein:
mehmen werden, anflalt defien, zu ewigen Zeiten jähel. ganpig
of Roggen, zwanbig of Mal, zwey Lof Grüße, zwei Lof Erbfen,
awo SKüße, ziwey Schafe, ziwey Halbwehfel, Eine Dierlel Zone
Butter, zwanpig Z4. Cal und anderthalb ZA. Hopfen, ins
Armen-Hauß dafelbft richtig abliefern au) daß nöthige Hely zur
Küchen und Wärmde, vor folde Armen, dahin anführen Laffen
foffen. Hiernad; Diefelbe, ohnerwarlend ferner Befehle, fih zu
richten haben, Mpekundl. gegeben Doblehn ben 2eten Janırey
Anno 1711.
@. 8) Heineieh Chriftien €. v. Soden, Ganzler
von d. Deinten, Lanthofmeifler, 9. Reyferling, Landtmarfchall.
Zur Gefhhichte der Doblenfchen Kirche. 101
Befiger, Georg Chriftoph v. Lieven(F 1721), warnt in feinem Tefta:
ment vor WUnftellung eines foldhen. Die Kirche muß alfo von
Doblen aus bedient worden jein. Nachdem fie 1729 ben Katholiten
eingeräumt twar*), wurde dem mörbfichen Theil des Rirdjfpiels ein
Erjag nothrendig. So kam e8 zu dem Bau der Behräpöffchen
Kirche im Jahr 1748—1744. PBaftor Brunnengräber war der
exfte, welcher dort Gotteädienfte hielt. Hundert Jahre fpäter famen
die beiden Bethäufer im Südweten und im Siübdoften des Firch-
fpiels Hinzu.
Da Namen und Jahreszahlen allein Hier aufzuführen, nicht
am Plat ift, fo befchräufen wir ung, nachdem oben von Heinrich,
Moolphi fon die Nebe getvefen, auf folgende MittHeilungen aus
diefem Jahrhundert.
3. ©. 2. Richter (jpäter in ben ruffiichen Mdelsftand
erhoben) wurde nad; 22 jähriger Wirkfamfeit in Doblen au die
ZTrinitatisfiche nad) Mitau und zugleid, zum furl. Superintendenten
berufen, erhielt al3 Erfter den Titel Generaffuperintendent auf
Grund der neuen Kicchenordnung von 1831, an deren Ausarbeitung
er 2 Jahre lang in Petersburg theilgenommen. Verfaffer biefer
‚eifen erinnert fih, al3 Heiner Knabe im Haufe des müden Greifes
zu Mitau gewelen zu fein und einen freundlichen Segen desfelben
mit Handauflegung empfangen zu haben. Das Segenswort ift
nicht unerfüllt geblieben.
=) Obfepon wir e8 Bier Hauptfäßhlic) mie mit der Gefeichte ber
Dobtenfegen Kirche zu Ham Haben, fo tan ich doch nicht umhin, hier eine
im Munde der Lieven-Berfenfcen Leute Lebende Sage aufzuzeichnen, bucdh
welche die Hiftorifehe Kathalifierung jenes Gebietes illuftriert wird. Obfejen der
Tutherifche Exbhere von LieveneBerfen, Georg Cfriftoph, feine Kirche und
feine Leute bei der Augaburgifcien Religion erhalten toiffen wollte, warb fein
Sohn burd) feine tatholifche Gemahlin, Gräfin Martha Pfilippine v. Rasch,
zur Tatholifcjen Kirche hinübergezogen. Die Unterthanen folgten ber Herr
igaft und ein fatholifches Paftorat ward gegründet. Die Sage nun Laute:
Ein geftrenger Here d. Sieven Hatte fi in ein Lathofiidies Fräulein verliebt;
iefelbe wollte aber einen Sutheraner nicht Heirathen. Da wedfelte cr feine
Gonfeffion, aber ohne dadurch fein Ziel zu erreichen. Die Dame erklärte, wer
feinem Glauben unten werbe, Anne auch; fein Weib verlaffen und derbiene
fein Vertrauen. Der abgewiefene Mann tathelifierte darauf fein Gebiet im
Unvillen und Zorn und ber Dame zum Trop (pa fpihti) und übergab die
Tutgerifche Kirche den Ratfoliten,
102 Zur Gefhichte der Doblenfchen Kirche.
Dem Vater folgten in dem Amt zu Doblen zwei feiner
Söhne nad) einander. Der eine, Lebreht Fr. dv. Richter, lebte
mer Furze Jahre. Sein Bruder Julius v. Richter erreichte
ein Hohes After, Tebt nod im Andenken der hiefigen Gemeinde dur
feine Medegabe und fein eifriges Wirken für das Wohl der ihm anbes
fohlenen Heerde; Hat er ihr doch großentheils a8 eigenen Mitteln
in ben vierziger Jahren die beiden Bethäufer, zu Neu-Seffau und
zu NeusfFriedrihshof (Gluhde) erbaut, Teßteres freilich immerhin
nügfid) al8 eine Stätte ber Gottesverehrung, aber zu fehr an der
Grenge bes Kirchfpield und die Kraft eines Prediger betrefjs ber
Sahrten dahin und betreffs der dort wünfchenswerthen Gottesbienfte
zu fehr befaftend. Julius dv. Richters Perfönlichleit und Arbeits-
traft fuchte größeren Wirkungsfreis und ein noch breiteres Feld.
So ging er 1850 nad) Petersburg an die Iefusfirche und wurde
1861 das geiftliche Haupt ber ganzen Tutherijchen Kirche im ruffi-
fen Reiche, ala Generalfuperintendent umd Wice-Präfident des
General:Confiftoriums, feit 1870 noch mit dem feltenen Titel eines
Iutherifchen Bifchofs gefchmüdt.
Seine Nachfolger in Doblen war Karl Sylvejter Bod, mit
welchem Verfaffer nod faft 15 Jahre in brüderlicher Eintracht und
herzlicher Freundfchaft hier zufammen gewirkt Hat, ein Mann, fehr
praftifchen Geiftes, von populärer echt Tettifcher Berebfamfeit, großer
Arbeitskraft und [Haren Charakters. Er hat in Doblen die große
Wandlung unferer Landezverhältuiffe erlebt und an ihr mitgearbeitet.
3 war der Uebergang der Bauernfrohne zur Gefindespadht und
zum Gefindelauf; e3 war die politifche Reformation burd) Eins
führung der neuen Gemeindeordnung, e3 war die Reformation de
gjammten Voltsfhulwejens. Während der Amtsführung Bods
wurden 11 Schulen im Kichjpiel gegründ t, zu denen nachher noch
mehrere neue Tamen; c3 tar die Zeit de& nationalen Auffchrwungs
bei den Letten, welche aud) den G.iftlichen mande Schwierigkeit
bereitete und neue Aufgaben ftellte. Seine Treue und fein Eifer
Hat fich im Amt au) dadurch bewiefen, daß er, um die wachfende
Arbeit zu bewältigen, mehr ald je ein anderer Paftor zu Doblen,
AdjunktenHitfe md zwar aus eigenen Mitteln fich geihafft Hat.
Nicht weniger, al3 7 Adjunkten Haben ihm, bis er als Emeritus
das Amt aufgab, 19 Jahre Tang Helfend zur Seite gejtanden, fo
Zur Gefejichte der Doblenfchen Kirche. 103
daß in diefer Zeit oft an einem Sonntag in 2 Kirchen zugleich
Gottesdienjt gehalten werben konnte.
Wir fchliegen Hiermit unfere Stigze der Doblenfcen Kirchen»
geihichte, in Hinficht dir Bauten umd der Paftoren. Mag in der
Zufunft ein Anderer ic) finden, der Genaueres über die Geihhichte
der eingepfarrten Güter und deren Befier und über die Kultur»
gefhichte der Gemeinde, insbefonbere der Bauerfcyaft, Hinzufügt.
ll
Bolitifhe Korreiponden;.
8 nee Jahr Hat für Berlin mit vielbewegten Tagen begonnen.
Boran der Grinnerungstag an bie Wiedergeburt des Deutichen
Reiches, die Kaiferproffamation von Verfailles, in weldem bie jeit
Monaten fortlaufenden Gebenftage von Schlachten und Siegen ihre
Kulmination fanden. ben bieje Iange Reihe von Feiertagen macht
8 erflärlic, wenn der 18. Januar nicht mehr bie vollfrüche Be+
geifterung vorfand, welche ihm eigentlich gebührte. Verglichen etima
mit dem 80. Geburtstage des alten Bismard, fah biefer nebelige
Januartag denn doc; etwas graucoffiziell aus, froh aller Sllumina-
tionen und Sefteffen, Reden und gefticriften. Man Tann eben von
einem gewöhnlichen Menfejen nicht verlangen, dafı er 6 Monate
Hinduch begeiftert fei, weshalb ich nur mit Mitleid an die Vielen
denfen fonnte, die am 17. an einer pflichtmäßigen geftrede arbeiteten,
deren Zuhalt fie und Andere jhon hundertmal vorher genoffen hatten.
Immerhin aber ift dad; in ganz Deutichland das Vewußtfein von
dem Segen und ber Größe jenes Vorganges in bem Spiegelfaal zu
Verfailles ftart und allgemein genug, um in biefen Feiertagen fowohl
heilfam auf bie hie und ba noch erhaltenen partikulariftifcpen Neigungen
einzuwirfen, als auc) ben Dlihmuth zu jänftigen, der, aus mancerlei
Suelfen fliehend, fid) gerade in diefem Jahre des Jußels mehr denn
früher Gemerfbar gemacht Hat.
Ich werde Ihre Seler natürlich mit einem Seftartifel auf die
Wieberherftellung des Deutichen Reiches verihonen. Imdeffen möchte
ich gerade heute nicht unterlaffen, bie Richtung zu betonen, in ber fich
die gewaltige Entwwidelung Deutichlands feit 25 Jahren vorwiegend
Gerwegt hat. Cs war bie Richtung auf inneren Ausbau, nicht äußere
Bolitifche Korrejpondenz. 105
Unternehmungen. Bon Haufe ans war äußerer Friebe der dringenbfle
aller MWünfce einer deutfchen Stantsleitung, und ihm war man
große Opfer zu Bringen unter Vismard fo gut wie unter Gapribi
bereit. Oft genug hat man im Auslande den Unmuth nicht verbergen
tönnen, der die allerorten verftreuten Deutichen erfaßte, wenn fie
bemertten, dab man in Berlin durdaus nicht gefonnen fei, ihre oft
überfpannten Erwartungen zu erfülen, ihren Anfprüchen an bie Ber
teitchaft zu materieller Hilfe gerecht zu iwerben. Zehnmal lieh
Deutihland fid) in Afrifa von Engländern und Franzofen auf ben
Fuß treten ohne Gegenwehr, und hat große Opfer gebracht, um einen
ernfieren Nonflift zu vermeiden; e8 hat ungeredhte Behandlung feiner
Angehörigen ruhig hingenommen, e& hat Verlehung völferrechtlicher
Verträge, 3. ®. am Niger, fi} gefallen Taffen, es ift felbft vor
Spanien zurücgewicen in der Angelegenheit der Karolinen. E8 war
eben oberftes Prinzip, vor Allem die inneren Dinge zu ordnen und
fi) hierin nicht durch auswärtigen Kraftverbrauch ftören zu Laffen.
Und wie richtig und jegensreich diefes Prinzip war, fehen wir Heute
nady Ablauf der erften 25 Jahre. Welch’ gewaltige Entwidelung
der von den alten ieffeln befreiten inneren Kräfte! Welcher Grjolg
in der Arbeit innerer Gefepgebung und Verwaltung! Das ftärtfte
Kandheer der Welt; eine wenn aud) nod; fleine, jo bod) kräftige und
machiende Kriegsflotte; eine Verwaltung, bie, wenn aud) nicht fehler:
os, bod; noch die bejte ift, deren fid) ein Grofftaat unferer Zeit
rühmen fann; die befte Poftverwaltung der Welt; ein vollendetes
Schienennep; gute Finanzen in allen Eingelftaaten und im Reich;
eine Handelöflotte, bie bald die zweite ber Welt fein wird; eine
Induftrie, die im Sturme fid) überall fefte Stellungen erworben hat
und die Konkurrenz jeder fremden Jnduftrie auszuhalten vermag —
das find die Früchte der 25-jährigen Arbeit, Man hat beredinet,
daß das Volfsvermögen von Deutichland feit 20 Jahren burdh-
ihnittlih um eine Milliarde im Jahr gewachlen ift; und es ift in
biefer Periode in fleigendem Maße, d. h. mit jebem Jahre jehneller
gewachien, von einzelnen Rüdfchlägen abgefehen; «8 wird heute auf
200 Milliarden geijägt. Die nationale Berichmelzung ift trop aller
teligiöfen und ftammlicen SFehden ftetig fortgelchritten, und ein
äußerer Konflikt würde Deutichland eben fo einig finden, wie e8 1870
war, nur beffer organifirt als damals.
Das fchnelle Wachstgum der materiellen sträfte ift freilich von
Gridieinungen begleitet, bie als Manfhaft bezeichnet werden bürjen;
Griheinungen, die fi überall zeigen, wo die moberne inbuftrielfe
Arbeit fich in dem Voltöleben ausbreitet. Das mobile Kapital gewinnt
immer größere Bedeutung gegenüber Grundbefih und Arbeit, es ballt
fid in den Banken, im Vörfenverfehr zufanmen und reißt den Fleinen
Befih gewaltfam an fid. Cs ift bie Zeit, wo Millionäre teifen und
106 Volitifche Korrefpondenz.
umb mittlere Vermögen leicht bahinwelten, befonders wenn biefe Früchte
an dem Giftbaum wachlen, an welden man foeben im Reichstage
mit feharfem Gartenmeffer bie Hand anlegte. Andrerfeits der toloffal
vermehrte Frrachtenverfeht, der Curopa mit dem Korn und Rohpro-
duften ber ganzen Welt überfluthet und dadurch den Landbau in eine
hart bebrängte Lage gebracht bat, ans der er fih auf dem Wege
gefeßlichen Schjußes zu vetten bisher vergeblich verfucht hat. Enblid)
die Sozialdemokratie mit ihrer wachjenden Wählerzapl und rüdfichte«
Tofen Agitation. Das find drei Wunden am Voltsförper, die ihm
viel Kraft entziehen und an benen von hundert berufenen und toeit
mehr unberufenen erzten herumgepflaftert wird, Bisher Leider zum
großen Theil vergeblich, aber doch auch nicht ganz ausfichtslos.
Diefe Franken Stellen Yindern indeffen bisher das Wachstgum und
die Arbeit mur wenig, und fo mag man in Deutfchland hopben
mit Befriedigung auf das erfte Viertelhundert Jahre des Meiches
zurüdbliden, in fo weit bie inneren Zuftände in räge kommen,
Minder befriedigend hatte fi bie äußere Stellung bes Reiches
befonbers feit dem Sturze Bismards geftaltet. 68 war, als wäre
nicht ein Maun, fondern eine Armee in ben ARuheftand getreten.
Die äufere Poitit verlor von Jahr zu Jahr an Einfluß, wenigftens
verlor fie bie Ceitung in Europa, welde fie vorher bejeffen batte.
&3 idhien, als follten fid) wichtige Dinge in Europa, in Alien fat
ohne bie Mitwirkung Deutichlands abfpielen, als wären wir hier fo
fatt getworden, daß wir ung ein wenig zur Ruhe legen wollten. Das
wurde im Sande felbft, mehr aber gerade im Auslande peinlich eme
pfunden, bis mit bem Abgang Gaprivv3 im Reichstanzlerpalaft wieder
— ober vielleicht zum erften Mal — ber Wille einzog, eine aktivere
Rolle in der folonialen Intereffenwelt als bisher zu Ipielen. Frürft
Hohenlohe verfprad) fofort, für die Solonien mehr zu thun, und
jorgte für. bie Befehaffung größerer Staatsmittel. Aber trofdem war
man unbefeiedigt von ber Haltung des Reiches auch gerade in ben
jüngften Wirren im Often. Da wurde man don einem plöblichen
Eingriff des Kaifers überrafcht.
Am 2. Januar, einem Donnerstage, war eine Verfammlung
der beuffchen sTolonialgefellichaft angejeht worden, auf welcher
Dr. Peters über allgemeine dentiche Loloniale Iutereffen einen Vortrag
halten follte. An Morgen bieles Tages brachten die Zeitungen die
Melbung, ein Dr. Jamejon von der britifc - fübafrifaniichen Gejell-
Schaft fei in Transvaal eingebrochen. Als Abends Herr Peters in
ber Berfammlung das Wort erhielt, erklärte er, er werde von Zrans«
vaal und dem Ginbrud; der Engländer reden. Nady Turzer Ein:
Teitung forberte er die Verammmlung auf, erftens in einer Depeche
an Präfident Krüger auszubrüden, baf das bdeutiche Volt zu ihm
ftehe (was fofort geihah); dann eine große Verfammlung zu ver«
Bolitifche Korrefpondenz. 107
anftalten umd zur Sammlung von Geld, Waffen, Mannfdaft anfe
zurufen: eine Gegen-Erpedition müffe jofort ausgerüftet werden und
Transvaal zu Hilfe eilen. 300,000 ME. jeien ihm chen zuges
fidhert, da8 Uebrige werde id) leicht beichaffen Iaffen. Der Vorichlag
wurde gern angenommen. Rod) während Peters Trac, famen neue
Meldungen: Die Bauern jeien ausgerüdt, ein Treffen finde wohl
jept jhon ftatt, es handele fi um einen vorbereiteten Streich gegen
Iranzvaal. Am Freitag wußte man, daß Jamelon geihlagen und
gefangen jei, und man Las die beglüdwünfchende Depelche des Ktaifers
an ihn — in 24 Stunden war die Komödie abgeipielt, die foldhe
Aufregung auch in Berlin hervorgerufen hatte. Man erfuhr, daß
der Bevollmächtigte von Transvaal im Haag Beelaerts von Blodland
fofort, am 1. Januar, nad; Berlin gereift fei. Die Depeiche des
KRaijers war alfo wohl nad) Verftändigung mit diefem Seren und
dem hier weilenden Transvaaler Minifter Leyds abgefaßt, und fie ent-
hielt im Weientlichen die Erklärung, daf Dentichland das Transvaal
für unabhängig halte und nöthigenfalls diele Unabhängigteit vers
theibigen werde. Das fiel herab wie ein erquidender Regen im Juni.
Altes athmete auf, und als num die immer frecher werdenden enge
lüchen Blätter „hands off“ wieber ertönen Liehen, wurde hier die
Stimmung fajt friegeriih. Dann fam das Säbelraffeln in England,
die Ausrüftung eines fliegenden Geihwaders, Meldung von Nüftungen
aller Art. E& bedurfte wenig Befinnens, um fich zu jagen, daß von
einem Kriege mit England nicht die Rede fein könne, aber bald
flüfterte man, ber Kater Habe in einem Briefe an die Königin von
England bemüthig MAbbitte gethan. Nun ift das thatläcjlic) nicht
geichehen, wem auch Briefe zwilden Großmutter und Enfel mögen
gewechjelt worden fein. Vielmehr hat der Kaifer in ber Tijchrede
am 18. Januar den Sinn feiner Depeche an Präfident Srüger vom
2. Januar deutlicher fundgethan. „Deutichland“, fagte er, „ift ein
Weltreich geworden. leberall in fernen Theilen der Erde wohnen
Zaufende unjerer Landsleute. Deutiche Güter, deutiches Willen,
deutiche Betriebjamfeit gehen über den Ozean. Nady Taufenden
von Millionen beziffern fi) die Werthe, die Deuticland auf der
Sce jahren hat. An Sie, meine Herren, tritt die erufte Pflicht
heran, Mir zu helfen, diejes größere Deutfche Reid) aud) feil an
unfer heimifches zu gliedern.“ Der Staifer prad) weiter von feiner
P licht den Landsleuten im Yuslande gegenüber, fie zu fügen, zu
deren Erfüllung ev die Hilfe der Anweienden forderte. Nun, diefe
Worte zeigen, daß der Kaifer die Zeit für gefommen hält, wo fic)
Deutichland nicht mehr wie feither won England braucht alles ge:
fallen zu laffen, und daß er den pr. Jamejon mit jehnellem Gute
ihluß benupt hat, Diele Meinung den Engländern fund zu tun.
Die nächfte praftiiche Zolge wird freilid) wohl nur bie jein, daß
108 Politische Korrefpondenz.
einige neue Millionen werben gefordert werden, um Schiffe zu bauen.
Und in der That ift die elende Heine beutfche Areuzerflotte Tängft
nicht außreichend für den gewaltigen deutichen Handelöverfehr und
die überall wachjenden deutichen Nieberlaffungen. Aber weiter tut
fid) dem doc) eine bebeutendere Peripeftive für Denjenigen auf, der
dem englif_en Nebermuth, tie er in Transvaal und Venezuela,
dem cüdfichtslofen englifchen Eigennub, wie er in den ganzen Ichten
Orientteirren fich gezeigt hat, fetere Schranken gezogen ficht. Die
Acillesferie Englands it heute Aegypten und von dort fucht es
Alles fernzuhalten, was zu einer Aufwerfung der Occupationsfrage
führen tönnte. Cine Annäherung Deuticlands an üranfreic und
Rupland bedeutet auch eine Anmäherung am bie ägyptifche Frage,
und daher bie Nerofität, mit der England überall in der Welt
ragen aufteirft, aber tobt, fohalb auf eine derfelßen von deuticher
Seite eine unfreunbliche Antwort ertheilt wird. Unlängft wollte
Lord Mojeberen fieh Rufland in die Arme ftürzen, heute wäre Lord
Saligbury bereit, diefe Scene mit Frankreich aufzuführen; und das
immer in ber Angft, biefe beiben Mächte Fönnten eines Tages auf
den Gebanten fommen, fi) mit Deutfchland zu einigen umd gemein«
fam England aus der Gellung am Suezfanal zu vertreiben.
Diefer Gedante fände in Deutichland gegenwärtig ein offenes Ohr.
Frankreich, Rufland, jelbft Stalien haben ein farfes Interefje daran,
England aus der Sphäre der Iontinentalen Politit hinauszubrängen,
die England augichlieflich dazu zu beruhen pflegt, feine aufereuro«
päifchen Interejfen zu fördern. England und Guropa find verichiedene
MWelttgeile an politiichem Intereffe. Wie gro der Gegenfap ift, das
Haben die von England angezettelten armenifch-türkifcen Wirren
noch eben gezeigt, bie won Lord Galisbury und der englifchen Flotte
fofort verlafjen wurden, fobald fich zeigte, baf; die Cinigleit ber
europäifchen Mächte 8 zu feiner Erplofion fommen lieh, die dauernd
Europa von außereuropäifchen Aktionen hätte ablenfen müffen. Ich
glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, dafı all die neuen eng«
Üfchen Rüftungen fein anderes Siel haben, als den Staaten des
Mittelmeeres und des Pontus den Zugang zum Nillande zu verlegen.
65 fällt England nicht ein, mit irgend einer enropäifchen Macht
einen Strieg zu wollen, und ebenfowenig wird e$ mit der Union an«
binden; aber am Nil wirb es Kämpfen, tvenm e& fein muß, d. h.
wenn e& des Sanales nicht anders ficher bleiben fann. Und es
icheint, daß man in Frankreich beginnt, mit folchen Möglichteiten zu
tedjnen, und dah biefe Erwägungen zurücwirlen auf die fontinentale
frangöftiche Politit und auch auf das Verhältnif zu Deutichland.
Kleine, bebeutjame Hinweile darauf fann man nicht blos in
der franzöftichen Preffe, der franzöfifchen Regierung, fondern au) in
diejen und jenen Griheinungen am hiefigen Hofe bemerten. Umwill
BVolitifche Korrefpondenz. 109
türlic, fällt in diefer Beleuchtung 3. ®. auf, dafı geftern zum üblichen
Voticjaftermahl im königlichen Schloffe bie englifche Botfchaft — wegen
der Trauer um den Pringen von Battenberg — nicht vertreten war,
die franzöfiiche aber recht beutlic vom Kaifer ausgezeichnet wurde.
&s find Sleinigkeiten, aber wer bie gegenwärtige deutiche politiiche
Seitung verftehen will, wird gut tum, nicht große Bismardidhe
Aktionen zu erwarten, fondern auf die Heinen, Teilen Schritte zu
achten, -— die ja zulept aud) zu großen Zielen zu führen vermögen.
Berlin, 24. Januar. 1896.
En
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$ranz Kluge in Reval.
Beziehungen Nurlands und Livlands zum
Rhilanthropin in defan.
Von O. Franfe in Zerbit.
Tief in das Mittelalter hinein reicht die Geichichte ber
Affanier. Defjau, die Hauptjtadt der Herzöge von Anhalt, in
denen das erlauchte Gejchlecht nod) heute blüht, gewann in ber
weiten Welt erjt im vorigen Jahrhundert eineu Namen. Die
Kriegsthaten des Fürten Leopold, des alten Deffauers, und feine
Verdienfte um die preußiiche Infanterie jtrahlten auf jeine Heimat)
zurüc, und im Zeitalter der Aufklärung verlich jein Enfel, Fürit
Leopold Friedrih Franz — Vater Franz heilt er im Volke:
munde — der Stadt und ihrer Umgebung felbjt Anziehungskraft.
Schloß und Park Wörlis, der große Landfig, an dem er Jahr-
zehnte Iang fchuf, fanden bei den Zeitgenofien Venunderung und
Nahahmung. Seine landesväterlihe Fürforge für die Bolfs-
bildung führte im Jahre 1771 zu der Berufung Joh. Bernd.
Bajedom’s, des Vorkimpfers für eine allgemeine Verbeflerung
des Schul: und Erziejungsweiens, — ein Entfchluß, der Deflau
zum Schauplag einer der interejlantejten Epiioden in ber Ge-
ihichte der Pädagogit machte.
Vom Zeitgeifte getragen und vielverheiend umfahte Bajedon’s
Reformprogramm Principien und Forderungen größter Tragweite.
Er verjprady ja nicht nur für die alten zeitraubenden, fujttödtenden
Kehrmethoben neue — die intuitive, welche die Vorftellung aus
der finnlichen Anjchauumg des Gegenftandes oder jeines Bildes
zu erzeugen fucht, fehrreiche Spiele und Unterhaltungen, das Er:
lernen der fremden Sprachen durd) mündlichen Gebraud) gleid)
1
112 Baltifhe Beziehungen zum Philanthropin.
der Dlutterfprache, — er wollte nicht nur im Unterridte Real:
fenntniffe vor der Spradfenntniß, Denfübungen vor ben Ges
dächtnihübungen, Schärfung des Verftandes vor der Befruchtung
der Phantafie bevorzugt wien. VBafebow’s Schule wollte in
höherem Grade Erziehungs: als Unterrictsanitalt fein, und
die Erziehung follte, um glüdlihe und nüßlidhe Mitglieder ber
Gefellicjaft heranzubilden, planmäßig betrieben werden, der menjch:
lichen Natur entipreden und fi) nad den Erforbernilfen des
wieflichen Lebens richten; daher er unter die Erziehungsaufgaben
aud) die Oymnaftit des Körpers aufnahm, ja felbit eine Xor-
bereitung auf die Entbehrungen des Lebens und die Anleitung zu
Handarbeiten und den gejelligen Formen und Künften für nöthig
hielt. In Bezug auf die Stellung der Schule zu Staat und
Kirche aber vertrat er mit Naddrud den Gedanken, dah fie ein
weltliches JInftitut unter jtaatliher Oberauffiht fein müfle, con
feifionslos, nicht refigionslos, eine Pflegetätte der Vaterlandsliebe
und einer allgemeinen natürlichen Religion.
Kein Wurder, wenn diefem Programm gegenüber bie fird)-
liche Orthodorie und einfeitige Verehrer der Schultradition fi)
ablehnend verhielten und aud) mancher freier benfende Kopf Ber
denken hatte. In wie weiten Kreifen aber das Vedürfniß der
Neform empfunden wurde und Vajedow Vertrauen genof, das
beweift das Entgegenfommen des Publifums, als er es um Kath
und Geld zur Herftellung des erjten der großen Mittel bat, die
feinen Theorien den Weg in die Praris bahnen follten. Das
geiftige Yauptrüftzeug für die neue Erziehungs- und Unterrichts-
funft fein Elementarmwerf, das den ganzen für den Zögling
nöthigen elementaren Wiffensftoff enthielt, fam zu Stande unter
den wohlwollenden Nathihlägen angejehener Männer und mit
Hilfe freiwilliger Geldbeiträge aus den verfciedenften Ständen
und Ländern.
Einen durdichlagenden Erfolg erhoffte Bajedow erjt von der
Gründung eines Mufterfeminars, in melden er die Aus:
fügrlichfeit und die Vorzüge feines neuen Spftems deutlid) vor
Augen führen und durd) Ausbildung geeigneter Lehrer für das-
jelbe Schule machen fönnte. An liebjten hätte der ungebuldige
Dann diefes jdhwerere Werk mit einem Zauberichlage in’s Leben
Baltifche Begiehungen zum Philanthropin. 118
gerufen. Wber wer die feltfamen Entwürfe zu diefem Seminare
im Anhang der Schrift Agathotrator und in anderen Publifationen
kieft, wird begreifen, warum NKosmopoliten und Mlenichenfreunde
das geforderte Anfagefapital von 22,000 Thalern ihm nicht zur
Verfügung ftellten. Er mußte fi zu feinen Anfängen ent:
fließen. Nad) der befannten Rheinreife, auf der Goethe und
Lavater fein Bild feitgehalten haben, am 27. Decembar 1774 er:
öffnete er unter dem Namen Philanthropin und als ein
„Sbeicommiß ber zerftreuten Menfcenfreunde” zu Deflau ein
Erziehungsinftitut für Söhne aus vornegmeren Ständen, bas zu:
glei) Lehrerfeminar und eine Bildungsftätte für Famulanten,
d. h. für Hausbediente fein follte; denn da in vornehmen Familien
die Erziehung oft unter der Umvernunft der Diener litt, wollte er
aud in diefem Punkte Wandel ihaffen.
Die Geihichte und Einrichtungen des Deifauer Pyilanthropins,
das fon im Jahre 1793 einging, feine Kämpfe ums Dafein, die
Veränderungen in ber Direktion, dem Lehrplan und der Organi:
fation, die Lehrart und Erziehungsmittel, die Tagesordnung der
Zöglinge, ihre Gottesverehrungen, Feitlichkeiten, gemeinfamen
Reifen, ihre Turnübungen, Gartenarbeit, Tichler- uud Dredjfler-
fünfte aud) nur flüchtig zu betrachten ift hier nicht der Ort. Ein
lebendiges Bild der Anftalt nnd der von ihr angeregten ftarten
Bewegung des Philanthropinismus giebt A. Pinlocde in jeinem
vortrefflicen, wenngleih in der Quellendenugung nicht überall
vorfichtigen Werke, La reforme de l’education en Allemagne
au dix-huitieme siecle. Basedow et le philanthropinisme,
Paris 1890. ; wie, viel Gutes die Folgezeit der ganzen Strömung
verbanft, wie viel Jrrthum und Verfehrteit fie verworfen hat,
lehrt die Geihichte der Pädagogif.
Die Mutteranftalt zu Deffau blühte auf, nachdem fie vor
mehr als hundert auswärtigen Gäften in einem großen öffent»
lien Eramen (im Diai 1786) Zeugniß ihres Geijtes und der
Leiftungsfähigfeit ihrer Methoden abgelegt hatte und aufier
Bajedows Berichte (im 2. Stüd des Philanthropiihen Ardivs.
Defjau. 1776) neben einzelnen Stimmen des Mihtrauens ehr
günftige Urtheile vertrauenswerther Männer, wie z.B. des Dom-
herein von Nodomw in die Deffentlichfeit gelangt waren. Zeitbem
114 Baltische Beziehungen zum Philanthropin.
richteten fich, es ift nicht zu viel gejagt, Jahre hindurd) die Augen
der Gebildeten in Guropa, joweit jie für die Erziehungsfrage
Sinn und Verftändnih hatten, auf die Entwicelung der Anftalt,
welche fort und fort höhere Leitungen auf fürgerem und leichterem
Wege und ein glüdlicheres Sugendleben verhieh. Um des Whilan-
thropins willen wurde Defjau ein vielbefuchter Ort; wieder liefen
reiche Geldgefchenfe an Bajedow ein, und bald war an Zöglingen
aud) aus dem Auslande fein Mangel.
Cs famen Philanthropiften — jo wurden die Penjionäre
genannt — aus Dänemark, Holland, Franfreid, Portugal; ver:
gleihsweile die ftärkjten Sympathien für die Anftalt waren aber
im Djten, in den baltiichen Yändern vorhanden. Das ergiebt fid)
idon aus den in den periodiichen Drudieriften des Philanthropins
veröffentlichten Namensverzeichniffen der Pränumeranten auf dieje,
der großmüthigen Beförderer und der Zöglinge. Ergänzend tritt
diefen Liten md anderen gelegentlichen Nachrichten der jet im
Herzogl. Friedrichs. Gymnafium zu Deffan aufbewahrte hand:
ihriftligeNadlapdes Philanthropins al Quelle
zur Seite, infofern die Nechnungsbüher mande genauere An-
gabe und der Juhalt der von den Eltern oder ihren Vertretern
an die Direktion gerichteten Briefe für das Bild der Bewegung
einige vervollitändigende Züge und Anhaltspunkte bietet. Sehr
reich ift freilid) die Ausbente nicht, und obme eine Anregung aus
Ditan!) würde mir die Zufammenftellung von Auszügen zu den
folgenden Mittheilungen ferngelegen haben. Möchte das Material
zur Musfüllung diefer oder jener Lde und als Grinnerung an
die Vorfahren wenigitens hie und da nicht ganz umwilltonmen fein!
In der Unterftügung des Philanthropins ging Kurland
voran. Der Herzog?) ipendete bald nad) dem erwähnten
Eramen, im Juli 1776 das anjehnliche Gejchent von 600 Thlen.,
dazu bewogen vielleicht au) dur perjönlide Befanntichaft mit
dem Deifauer Fürftenhaufe. Seinem Beilpiele folgte mit einer
GSeldgabe ein Herr von Dörper, „secretaire de sa Muj. le
Roi de Pologne. Seigneur her 'e des terres Memelhofen
& Mitan®. Vegeiftert jhreibt er (d. 30. Jan. 1777): „So wie
Baltische Beziehungen zum Philanthropin. 115
vor meiner Abreife nah St. Petersburg das Rhilanthropinum
meine Licblingsmaterie in Mitan gewelen, jo mie es in allen
Geellihaften in St. Petersburg derjelbe mir an’s Herz
machlene Gegenftand blieb, jo hat «8 auch) bei meiner zufri
Zurückunft in mein Vaterland «8 zu fen nicht aufgehört.” . . .
„Da ih in meinem Girfel ebenfo enthufiaftiich auf die Au
führung großer und guter Thaten fürs allgemeine bin und auf
fein privat-intereffe Rüdfidht nehme, fo erlauben Sie, meine
Herren, die Sie an dem großen Werke zu Defjau arbeiten, mir
diefen Stolz meiner Seele mit der Jhrigen für etwas verwandt
zu halten... .“. Wurde nun auch der Anmeldung zweier Söhne
des Herrn von Nolde, Gurländiih Hocfürftlihen Landes
hauptmanns, die den Brief veranlaßt hatte, feine Folge gegeben,
fo brachte doc) im März der Nammerherr von Thülen auf
Riemahlen perfönlic zwei Söhne nad) Dejjau. Seine Zufricden-
heit mit ihrer Erziehung zu bezeugen, lieh er der Anftalt ein
Jahr fpäter aus dem Xergleiche eines Prozeffes 600 Thfr. Albert
übermachen — freilich nur faut Obligation, da „wegen des grohen
Geldmangels in Curland das Geld nod) nicht haar hat beigebracht
werden können“)
Diefen Hoffnungswecdenden Anfängen entiprachen die weiteren
Erfolge in Curland nicht. Zwar bewies in Mitau eine dauernde
Theilmahme Frau Charlotta von der Nede, bie päter
als Elifa von der Rede jo bekannt gewordene Tochter des Kanımer:
heren von Medem, der gleich dem Herzoge öfter am Defjauer
Hofe war; fie jelbjt icheint durch Ehrmann, den Freund Chriftoph
Raufmanns, des Straftapoftels, intereffirt worden zu fein.
Vandte regelmi Beiträge ein und jammelte Subifribenten auf
die pädagogifchen Unterhandfungen, die Zeitichrift, die das Philan-
thropin herausgab. Wohl öffneten fich auch fonit Hände zu Geld:
gaben und wohlthätigen Prämumerationen, und die Sympathie famı
gelegentlich zu überjchwänglihem Ausdrud; 3. B. fpridt ein
KBaftor Saunisk zu Grobin (d. 6. December 1781) die Hoffnung
aus, ba das Philanthropin aud) fein Kind würdigen werde, „da
& das Glück unferes Säcufi an der Quelle genießen möge”,
Aber ber weitentfernten fojtipieligen Anftalt Kinder zu übergeben,
entichloffen fi) nur nod) der Hofrath Stegmann in Libau,
116 Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin.
welder den Sohn felbft nad) Deffau führte, und ein Herr D. 9.
v. d. Homen auf Neu-Bergfried, der von Mitau her fein Mündel
dem Philanthropin überwies.
Auf die übrigen inzwiiden mit Nufland vereinigten Landes:
theile des Königreichs Polen, in denen die deutfche Nationalität
nur fchwadh vertreten war, übte das Inftitut geringe Anziehungs:
fraft aus. Von den Zöglingen, die dorther famen*), trägt einer,
von Mobdiz lewsfi, einen polnischen Namen; von Aid
und von Schroeder, beide beutiher Abjtammung, traten
erft im Jahre 1787 ein, zu einer Zeit, da in den Oftfeeprovinzen
das Jnterefje an dem Philanthropin fait erftorben war.
1.
Der lebendigften Theilmahme erfreute fih unfere Anftalt
feitens ber deutihen Fivländer: die Gefammtfumme ihrer
Beiträge blieb nur hinter dem großen Zuichuß bes Fürjten Franz,
des Landes: und Schupheren, zurüd, und die Philanthropiften aus
Livfand machten mehr als ein Schstel der Gefammtzahl aus.
Vermuthlicd Hat dort, wo Unterricht und Erziehung wie in anderen
Staaten der Neform bedurfte), zuerit der Buchhändler Hart
Enod in Riga — VBafedow nennt ihn einmal eine Seltenheit
des Buchhandels — die Schriften und Aufrufe des Pädagogen
verbreitet und die Nufmerffamkeit auf feine Stiftung gelenkt.
Als erfter Zögling aus Riga traf — furz nad) den eriten Kur:
ländern — ein junger Baron von Saden in Defjau ein,
Neffe des gleichnamigen Kaiferl. ruffiihen Minifters zu Kopenhagen,
ber aud) jtatt der Eltern für ihn mit der Direktion des Philan-
thropins forrefpondirte. Die Scele der Agitation für bdajielbe
aber wurde der Kaufmann Heinrid Schilder in Riga;
wie e8 fcheint, hatte ihn Joh. Lebrecht Runge mit Begeifterung
erfüllt, ein Privatgelehrter und SHofmeifter junger Herren von
Abel, der von Berlin aus öfter nad) Riga fam.
Schilder übergab im März 1778 feinen Sohn Dichael dem
Philanthropin. Das weltbürgerliche Inftitut machte den günftigiten
Eindrud, fo daß er jhon auf der Nüdreife ihm wieberholt feine
Zufriedenheit und die Abficht zu erfennen gab, feinen Ruf zu
verbreiten, mo und wie es nur möglich) fei; und von Niga fchrieb
Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 117
er an Prof. Molke, den Vicefurator und baldigen Nachfolger
Baedow's in der Direktion, am 14./: April: „Auf meiner
Neife habe ich hie und da manden Ungläubigen an dem Guten
Ihres Injtitutes glüdliherweife befehrt ..... Mit reuben be
merfe ich, bafi in meinem Vaterlande das Vertrauen täglich zu:
nimmt; vielleiht jehen Sie bald davon die guten Würkungen.
Das Befragen und Erkundigen nad diefem und jenem hat fait
fein Ende, fo daß id) in Antworten zuweilen verftumme, benn id)
bin wahrhaftig nicht geiciet die Vortrefflichteit des Inftitutes im
rechten Lichte vorzutragen. Demohngeadjtet aber finde ich dad)
beym unparteyifchen und vernünftigen Theile Glauben. — Mas
mir am mehreften verlegen macht, find die Fragen, wie weit die
älteren Philanthropiften in Wiffenfhaften und höheren Kenntniffen
wären: fraichement muß id) hierauf geftehen, daß id) davon
nicht urtheilen fann, einerjeits weil ich es nicht verftche, anderen:
theils weil id hauptfähfid; auf die moralifde Erziehung ber
Jugend mein Augenmerk gerichtet hatte und endlid die Zeit
meines Aufenthaltes zu furz gewefen, um von erfteren recht genau
Kenntniffe zu erhalten. — Aus der Beylage werden Sie erfehen,
wie philanthropiih man Hier denft: man hat aus meinem
Briefe an meine Frau einen Auszug gemacht und ihn dem
Fublico mitgetheilt.”
Schilder war fein hochgebildeter Mann, aber der rührigite
und glüdlichfte Agent. Cr befämpfte bie gegen dasfelbe be:
ftehenden Vorurtheile, er warb in feinem Verwandten: und Be:
tanntenfreife wie durch die Nigaer Preffe, durd) die er Artikel
Wolle’s ober einheimifcher Freunde veröffentlichte, um Zöglinge,
Subifribenten, Geldbeiträge und Gefchenfe anderer Art. Wenn
im Jahre 1778 außer feinem Sohne jehs junge Livländer, im
nädjten wieder jede, im Jahre 1780 gar neun in das Philan:
thropin eintraten, fo war dies ein fchöner Erfolg und das Lob
Schilder’s im 3. Jahrgang des Tädagogiihen Journals wohl:
verdient. Natürlich gebührte der Dank nicht ihm ausichlichlic,
und den Ruhm, feinen Landsleuten den Weg nad) Dean gezeigt
zu haben, beanipruchte er für fi, ohne fih zu verhehlen, wie
wirffam bas Beifpiel hochgeftellter Männer wie des Grafen von
Manteuffel beim Landesadel war. Diefer jtellte ein größeres
118 Baltiiche Beziehungen zum Philanthropin.
Kontingent als ber wohlhabende Bürgerftand. Bon Adel famen
außer von Saden md zwei Grafen Mantenffel zwei
von NRönne, cin Baron von Mengbden, von
Zimmermann, von Helmerien, von Meiners,
von Eeumern, zwei freiherren von Igelftrohm, ein
Graf Sievers, drei von Schwengelm, zwei von
Korff, aus dem Vürgerftande drei Söhne Schilder's, zwei
Berens, zwei Dahl, je ein Zuderbeder, Grave und
Thiringk®
Als Vertreter des Injtituts für Livfand und bie Nachbar:
ichaft bevollmächtigt, die Anmeldung von Zöglingen anzunehmen
und, falls Pläge frei waren ober frei zu werden veripraden, fie
oder die Anwartichaft zu vergeben, bildete fid Schilder die Praris
aus, die Eltern der fünftigen Philanthropiften bei Aushändigung
des Garantiefheines um ein Geldgeichent für das Jnjtitut anzu:
gehen, ihnen „eine Gontribution aufzuerfegen“. Diefe Spenden
betiefen fich oft ziemlich hoch, nicht nur, da das vorschriftmäßige
Eintrittsgeld von 20 Thalern doppelt gezahlt wirde, und einzelne
Väter wiederholten fie Jahre hindurch. '*
Aud) feitens der Freimaurer in Niga wünfgte Schilder
eine Vethätigung zum Velten des Philanthropins. „Eine Reife
Stoevers [des Stadtjecretärs]*, jchreibt er im November 1779,
wäre jehr vortheilhaft und würde ben Willen zum Geben wieder
werden, bejonders in der hiefigen Freimaurerloge Apollo, Hier
giebt cs zwei Xogen von verjdiedenen Secten. Die authenticitö,
welde die echte, fann ich hier nicht betailliren, nod) felbjt be:
ftimmen. Dieje hier ift von der Zinnendorfihen Secte, und ber
anderen Zum Schwert ijt der Prinz Ferdinand Großmeijter.
Beide haben für das Philanthropin nod) nichts gethan. Könnten
Sie nicht veranlajen, da eine mit der Zum Schwert verfchwifterte
Loge an diefe jchriebe und zu ähnlicher Wohlthätigfeit als die
Logen in Hamburg aufforderte? Dann würde bie andere aus
Ehrtrieb nacjfolgen! Ich bin neutral, obgleich) alter Ordens:
bruder”. Es blich bei dem guten Willen der Zogen, einmal an-
fegnlich zu ichenfen (Br. vom 18. Jan. 1780.)
Außer Geldgeichenten gingen dem Jnftitute durd) Schilder
aud) andere Gaben zu: vom General von Nönne, als er jur
Valtiiche Beziehungen zum Philanthropin. 119
Armee nah Polen ging, eine beim legten türfiichen Frieden ge-
Ichlagene goldene DViedaille (von 20—25 Ducaten an Gewicht),
Oft. 17785 vom eand. Heermwagen, Hofmeifter auf Alt
Pebalg, zwei Pädlein Naturalien; vom Kanfıann Eberhard
Wewel?) in Niga eine reichhaltige Sammlung von Zinn:
abdrüden der jeit Peter d. Gr. in Rußland geichlagenen Medaillen,
„vortrefflich geeignet, die jungen Liejländer geiprächsweile mit den
merkwürdigen Begebenheiten Auflands und ihres Vaterlands be-
fannt zu machen“; hebräifche Bücher und Naturalien vom Cand.
Heerwagen [identiich mit dem obigen?], Hofmeifter des Oberften
Boltho von Hohenbah auf Muremoiie im MWolmarfchen Kirch:
ipiel, defjen Söhnlein aus eigenem Antriebe zwei Thaler für das
Philanthropin opferte; von Schilder jelbit „les vies den
hommes illustres par Plutarque* und andere Werke, von denen
eingefnes in die Bibliothek des Herzogl. Gpmnafiums zu Deflan
übergegangen ift; von Grave Abbildungen aller ruffiichen
Nationen.
An der Subjtription auf die Pädagogiihen Unterhandlungen‘),
das Journal für die Erzieher und das Lejebud; für die Jugend,
dann auf die Jugendzeitung betheiligte man ich jehr rege. Von
den Unterhandlungen verlangte Schilder 100 Eremplare des Jahr:
gangs 1779, freilich mit dem VBemerfen, für das Eremplar nur
nod) einen oder einen halben Ducaten fordern zu fönnen, während
ihm für den eriten Jahrgang ein oder zwei Ducaten, ein Louis'or,
ja 10 bis 15 Nubel gezahlt wären. Dabei münjchte er bie
mwohlthätigen Käufer des erjten Jahrgangs im zweiten nachträglich
erwähnt zu fehen, da dies der Cigenlicbe jo mancher Perjon
ihmeichle. Die Lieferung der Unterhandlungen ging durd) Schilder
auch an Pater Schroeder in Fellin und Palter Grot nad,
St. Petersburg. (Den Vertrieb der „Zeitungen aus der alten
Welt“ gab er bald auf, weil „Hartknocd damit im Wege“).
Schilder lieh Lejemajdinen ommen, beitellte zum Verjtändniß
des Schaufpiels der Welt im Lejebuch für die Jugend ein
Planetarium, bezog Crome's Productenkarte von Europa, für deren
Anfertigung er jelbjt Crome Dienfte geleitet hatte, in 100 Eremplaren,
Wolfe’s Beichreibung der zum Glementarwerf gehörigen Kupfer in
50 Eremplaren, Wolte's Lieder fröhficher Gejellihaft und einfamer
120 Baltifchhe Beziehungen zum Philanthropin.
Fröhlichteit, Salzmann's Gottverehrungen, Auft's Clavierjtüde,
die ihm bei feinem zweiten Befuche Deffaus, als er im Oftober
1780 dem Inftitute au) die beiden jüngeren Söhne übergab, ber
Komponift felbjt vorgeipielt Hatte. Won ber Schrift Ueber ben
Nationalharakter, die von Nochow, der Verfaher, dem Philan-
thropin zum Verkauf übereignet hatte, gingen ihm 20 Eremplare
durd den Hofrath Stegmann in Libau zu.
So war Schilder's Haus der Mittelpunkt für den Verfehr
mit dem Philanthropin, Schriftennieberlage, Anmelde und Aus:
funftsftelle, dazu Speditionsgeihäft für die Sendungen, Haupt:
fafje für die Zahlungen nad Deijau. Aud) die Korrefpondenz mit
der Direktion überließen ihm die Eltern, ein Umftand, der ben
fonjt auffallenden Mangel an Briefen biefer erklärt und melcher
die Schilder’schen Schreiben zur Hauptquelle meiner Mittheilungen
gemadıt hat.
Gelbzahfungen wurben durch Anweifungen auf das Berliner
Bankhaus Hagen und Kefler, dann einem Wunfce des Inititutes
gemäß auf den Yanfier Frege in Leipzig vermittelt. Die An:
weifung erfolgte in Louisd’or, in Ducaten, Sähfiihem Courant,
Albertusthalern, Nubeln. Der Padettransport ging über Königs:
berg und Berlin, oft zur See bis Lübel. Gern wurbe für Geld:
und Padetfendungen Gelegenheit benußt und diefe oft geboten,
wenn Gejchäftsleute zur Frühjahrs: oder Herbftmefie nach Leipzig
gingen, Hofmeifter oder Studirende eine beutiche Univerfität aufz
fuchten, Zöglinge vom Vater oder eigenen Hofmeifter dem Philan-
thropin zugeführt wurden u. f. w. Jahrelang beitand ein Ieb-
hafter Verkehr mit Defjau, und die mündlichen Berichte der
Augenzeugen über das, was fie hier gefehen, über die huldvolle
und licbenswürdige Aufnahme, deren fid viele von ihnen aud
feitens des Fürftenpaares zu erfreuen hatten, erhöhten das Inter-
effe an der Anftalt?).
Mit welher Aufmerffamteit man in ber Ferne ihre Ent-
mwidelung verfolgte und um ihr Gedeihen bemüht war, lehren
viele Stellen der Echilder’ichen Briefe, die nit nur feine
Stimmungen und Anfichten wieberfpiegeln. In der Aufregung
ichreibt er (den 23. Jan./3. Febr. 1779): „Muß denn Trapp
dem Rufe des Nönigs!") ummiberftehlich folgen? Wenns aber
Baltifhe Beziehungen zum Phifanthropin. 121
Trappen’s eigener Mille ift, das Inftitut wegen Verbeilerung
äußeren Vermögens zu verlaffen, fo muß feine Liebe für bas
Inftitut fehr Talt fein. Wie fehr wünfdhen wir, da Trapp bei
dem Injtitute bleibe! Mander jagt: wie? wenn bie guten Lehrer
fo bald davon gehen, wie kann die Sade lange bejtehen; daraus
entfteht allmählich; Kaltfinn und Gleichgültigfeit für die Erhaltung
des Inftituts.“ Gegen Ende des Jahres meldet er: „Das VBuc
Spisbart!) circuliert hier, eine feine Satyre u. |. w. Mir
Freunde bes Jnjtitutes wünfden, daß es fi im Journal äußere
— aber nit in einer ernithaften Rechtfertigung, böfe darf es
nicht werben; eine behutfame Vertheibigung — aber fein Still-
ihmweigen!" ;
Als um diefelbe Zeit die Stelle eines franzöfifchen Lehrers
neu zu befegen war, bemühte fih Schilder um die Berufung
Ferdinand Oliviers, bes Hofmeifters bei einem Herrn
von Dettingen,!?) eines jungen Mannes „von vortrefflichem
Charakter“, und auf feine Empfehlung hin wurde er, trogdem in
der Zwischenzeit feiner Verhandlungen jhon ein anderer Erjag ge:
funden war, zum SHerbft 1780 vom Injtitut angeftellt. Weniger
glüdlih war feine Bemühung um einen neuen Liturgen, ben
daffelbe dann in der Perfon des Theologen Salzmann gewann,
der fpäter die noch jegt blühende Anftalt Schnepfenthal gründete.
Freudig begrüßte Schilder die Ausfiht, ben “Fürften Franz
in Riga zu fehen: „Wenn Jr Fürft nad) Rufland reift, haben
wir uns alfo bas Dergnügen zu verfpreden ihn aud) hier zu
fehen. Die Liefländer, die jegt mit Deutfhland verbunden find,
freuen fi) herzlich auf ihr Gfüd“ . Juni 1780). „Wir er:
warten Ihren lieben Fürten täglih; der Vater von Grave
behäft fich das Vergnügen vor, ihn hier zu fogiren“ (22. Juli
1780).13
Im November empfiehlt Schilder einen jungen Engländer,
beifen Vater Chef des angefehenften englifchen Haufes in Riga
war, Her Wale: „Maden Sie ifn mit dem Inftitute genau
befannt; er geht nad) England zu feinem Vater und fann dort
nüglich werden.“
Im December flöht ifm die Nachricht von einem größeren
Gefchenfe des Grafen Sievers Bebenfen ein, ob es ferner no)
122 Balfiihe Beziehungen zum Philanthropin.
rathjam jei, die Beiträge der Livländer mit dem Namen ber
Geber umd ihres MWohnortes in den Unterhandlungen anzuzeigen.
„Die Schrift des Herrn Mori’) fönnte hie und da Beifall
finden und in der Folge die Negierung darauf aufmertiam werden“,
Die Beforgniß erwies fi als übertrieben. „Morig,“ fhreibt er
den 3. Februar 1781, „icheint feine Profelyten zu machen.”
Zur Zeit des offenen Vruches zwiichen Yafedow und Wolfe!)
und da die Inftitutsausgaben durch die Einnahme nicht gededt
waren, juchte Schilder -—- infolge eines Nagebriefes von Wolke,
für den er nicht mit Unrecht Partei nimmt — nad) Kräften zu
heffen. „Zuvörderit kann ich nicht umhin Ihnen meine Empfind:
jamfeit anszudrücen über das Leid, jo Sie tragen müllen, indem
ich eife der Noth des Inftitutes zum Theil abzuhelfen durch bei-
gehende remessa von 2285 Thalern Penfionen und Neben:
ausgaben (zumTheil mein Vorihuß).” Im nicht völlig begründeter
Entrüftung fährt ev dann fort: „Qerlaffe did) nicht auf den Fürften
und große Herren — das erfährt das Inftitut. Aber wie hat der
Fürft feine Gefinnungen jo mit einem Male geändert? Da
feine Einfünfte durd) den Tod des alten Eugen (feines Oheims)
fo anjehnlid zugenommen, erwartete ich immer die Fortfegung der
Woptthätigteit des Fürften gegen das Inftitut. Der Markgraf
von Baden bezeigt fi auc) nicht noble.!") It das der fo ge:
rühmte edle Weltbürger und Menfchenfreund? Mir wird ganz
bange ums Herze, wenn ic) in die Zufunft jche.“ (30. März 1782).
Verfrügt war die Freude, die er Wolfe im Juli bezeugt: „Es
freut mich fehr, daf; Ihr Zwift mit Vafedow im Stillen beigelegt
wird; es ijt die befte partie, die Sie genommen, dem Nathe des
würdigen Zolfifofer'?) gefolgt zu haben“. Der Streit erneuerte
fi) mit verftärkter Veftigfeit; die Livländer ftanden auf Wolte's
Seite. „Herm Duvriers!*) relation“, schreibt Schilder den
29. März 1783, „habe id) mit Freuden gelejen, weil Ihre Necht-
schaffenheit darin in Helles Licht gelegt wird, aber gegen Bajedow
konnte id) meinen Verdruß nicht bergen, jo daß ich auf der Stelle
fein Porträt, das in meinem Zimmer obenan in [hönvergoldetem
Nahmen hing, abnahm und für immer in einen entfernten Winkel
relegirte. Der böje Mann wird mun wohl feine Rolle aus:
geipielt Haben umd feinen Lohn erhalten. Mindeftens jollte er
Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 123
vom Fürften aus Dejjau relegirt werden -— zur Ehre des Fürjten
und um des Nufes des Jnititutes willen. Neiches relation!?) hat
uns herzlich divertirt in ihrem Auftigen Tone. Ueber die Längit-
verdienten Schläge, die Bajedomw erhalten, find wir fehr erfreut,
aber es teht zu beiorgen, da der Erfah dem Inititute nachtheilig
werde: Bajedow muß fort, Ihre Unfchuld öffentlich dargethan
werden“. Damit nit genug; im Namen der Livländer richtet
er an die Lehrer die Erklärung: „WVerehrte Freunde, Wir Lief-
länder insgefammt nehmen herzlichen Antheil an dem Nummer,
den der gute 9. Director Wolfe von Bajedows Verfahren, des
nunmehr entlaroten Heuchlers, gelitten nnd auch nod) leidet. Wir
jehen zum voraus, dal Wolfe triumphiren wird, aber wir wünjden
fchnlicjit, zur Erhaltung des guten Nufes des Inftitutes, 1) dak
Bajedows Urtheil mit der Nelegation von Deffau verbunden fein
möge und 2) da unter autorit& Ihres hohen Proteftors bes
durchlaudtigiten Fürften das Urtheil zur Satisfactio des guten
Wolfe öffentlich möge gedruckt werden.“
Dit foldyen Zeichen des wärmjten Juterejfes und der Hilfe:
bereitichaft verbinden fid in Schilders Briefen Vorihläge, Wünjdhe
und aud Beichwerden. Defters legt er dem Injtitute nahe, über
die Zahl von „50 Penfioniften“ hinauszugehen; noch im Februar
1781 glaubt er in der Heimat) Hofinung machen zu fönnen, dai;
es fich auf 70—75 erweitern werde, „wozu, wie 9. Nunge mir
vor einiger Zeit meldete, Herr von Nodom fepr animirt hätte.“
Gelegentlich weijt ev auf die Nothwendigfeit einer größeren An-
zahl von Lehrern Hin, aud auf die Antellung eines rufii:
iden Spradlehrers: „Beider Zunahme der fiefländiichen
Zöglinge des Inftituts in Anbetracht der Neputation deifelben in
Viefland wie des Nupens für die jungen Liefländer, ob fie dem
Nilitair oder dem Kaufmannsitande bejtimmt find, eridheint eo
nöthig, daf das Injtitut einen ruffiihen Sprachmeifter anichafit.
Belonders iit dies ein Wunidh Er. Ere. des Gen. von Hönne.
Ju einem befonderen Ufaje wird verlangt, dal; alle Canzellijten
und Nichter in den deuticen Provinzen Rußlands die ruffiihe, in
den rufjiichen die deutiche Sprache willen follen. Wie leicht könnte
defe Mufinerffamfeit zu den Chren der Monardin fommen,
vieleidgt würdigte fie das „Jnititut einer neueren Unterfudung
124 Baltifhe Beziehungen zum Philanthropin.
und dann ihrer gnäbigften Protection. — Die Koften wären zu
deden durch Erhöhung der Penfion für jeben, der ruffifch lernen
will, um 80 Thlr.; Gehalt 100 Duc. nebft Koft und freier
Wohnung! Werde mich eventuell befonders an den Etatsrath von
Kroof wenden“. (April 1779).
Mit gejundem Gefühl rieth Schilder von ber Einführung
der neuen Orthographie ab. „Ich muß Ihnen aufrichtig geftehen“,
erlärt er Wolfe im Februar 1779, „daß mir diefe Reformation
nicht gefällt, und follten Sie felbige im Inftitut einführen wollen,
fo glaube ich, wird diefe Neuerung ihm mehr fhaden als nügen.
So gegründete Urfahen Kopftod und andere feines Gleichen aud
haben mögen, die jegige Orthographie zu verdammen, jo glaube
ich, ift es zu viel gewagt, die einmal eingeführte Schreibart einer
Nation umfhaffen zu wollen. Jd bin fein Gelehrter, um er
hebliche Einwürfe dawider mahen zu fünnen, allein mir wider
fteht diefe Neuerung, und id) halte 8 dem Inftitute für fehr zur
träglid, der alten Gewohnheit zu folgen. Es wird darüber ge-
fhrieen werden, wie man geihrieen hat, man wolle im Jnjtitute
eine neue Neligionsfecte gründen“. Mit Genugthuung bes
grüßte es Schilder daher, als Wolfe zur alten Rechticreibung
gurüdtehrte.
Aber aud Verfäummiffe in dem Unterricht und der Er-
siehung ber Kinder und Gleichgiltigfeit gegenüber gerechten An-
fprüchen der Eltern Hatte Schilder zu rügen. Im December 1779
fordert er eine häufigere Mittheifung der Senatsurtheife über die
Zöglinge an bie Eltern. Ciner Klage über die Inforreftheiten in
den Briefen eines Philanthropiften läßt er (im Juni 1779)
allgemeiner gehaltene Vorwürfe folgen: „Die Lehrer müfen auf
Neinlichkeit, Ordnung und Einhalten der Briefe mehr Aufmert-
famfeit haben. Vom fleinen v. 3. fam ein beichmierter Brief;
der Heine v. ©. jdreibt feinen Eltern die Lehrftunden: „von 8—9
Xefen, von 9--10 franzöfüd, 11—12 gymnaftiihe Webungen;
Donn. und Freit. Tangen, 12—1 Uhr Effen, 1-2 frei, 2-83
ihreiben, 3— 51/2 frangöfiich, —5 Vesperbrob, 5-—-6 frei, 7 Ejien.”
Ein Feind des Injtituts würde daraufhin fagen: „die Kinder
lernen hödjitens etwas fchreiben, lefen und franzöfiih, und den
größten Theil des Tages gehen fie pazieren, wie hier aud
Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin. 125
mandjer feichte Kopf urtheilt. Die meiten Briefe find überhin
geihrieben; aud) erhebt man Klage, daf Sander [einer der Lehrer]
nicht pünktlich antwortet.“ Dringend mahnt er zu pünftficherer
Veobahtung der Brieftermine (2. Nov. 1779): „. . . ic) bitte
es wohl zu Herzen zu nehmen, weil im entgegengefegten Falle
die Folge dem Inftitute jehr nachtheilig werden fönnte. Bes
denken Sie einmal, wie jhädlid) es demfelben hier zu Lande fein
würde, wenn ein Liefländer vor vollendeten Erziehungsjahren von
feinen Eltern zurüdgeholt werden würde. Lieber Freund, ich
habe Sie jo jorgfältig gebeten, dab die Liefländer alle Monat
doc einmal gewiß fchreiben möchten. Sie haben mir es aud)
verjprochen, aber . . . Abieu, leben Sie wohl, mein Eifer für
Sie und das Inftitut wird nur mit meinem Leben aufhören“.
Nichtsdejtomeniger muß er bald darauf im Namen fdmachtender
Mütter und ungebuldiger Väter feine Vlahnung wiederholen, im
December anzeigen, da die Gräfin von Manteuffel in drei
Monaten von ihren Kindern feine Silbe gefehen ober gehört, im
Juni 1780, dab Verens’ Sohn wohl feit 6-8 Monaten nicht
geichrieben Habe! Ueber Form und Inhalt der Briefe Magte bei
Schilder bejonders der General von Nönne: feine Söhne hätten
nad) langem Aufenthalte nod) nicht einmal einen Brief fhreiben
gelernt und leifteten weder im Schreiben nod) in der Orthographie
od im Franzöfifchen etwas, jo daß er an die Ecole militaire
in Stuttgart benfen müfle. In einem von Schilder an das
Inftitut gefandten Briefe (Juli 1732) daratterifiert er die Briefe
der Söhne als leer, jhal, gebanfenlos, ohne Eingehen auf feine
Materie geigrieben; alle jeien nad) derfelben Schablone gearbeitet
und vermuthlid) im Unterrichte jelbjt entftanden.
Dah die Fortfdritte im Franzöfiihen nicht allgemein be-
friedigten, erhellt auch aus einer Anfündigung Schilder’s, daf der
Buchhändler Hartknod) bei dem bevorjtehenden Bejuhe Deflaus
befonders wegen ber Pflege diefer Sprache mit Wolfe zu iprechen
gedenfe (März 1780).
Anftoh erregten ferner die auf Meine Verfehen ber Kinder
gefegten Geldjtrafen. „Was 9. Inipector Dahl darüber jchreibt,
it begründet. Sie finden wohl andere Strafen” (December 1780).
Ebenjo mußte zuweilen eine jtrengere Ueberwadhung der Sauber:
126 Baltiihe Beziehungen zum Philanthropin.
feit und Ordentlichfeit gefordert werden. „HS. Landrat) von
Gampenhaufen, der das Injtitut im vorigen Jahre bejucht
bat, war mit dem Unterricht vollfommen zufrieden, nicht in An-
fehung der Ordnung; es ift ihm aufgefallen, dah die Ninder mit
zerriifenen Strümpfen gegangen find“ (März 1780). Aehnliche
Beobachtungen machte Scjilder felbft bei jeinem zweiten Vejuche:
„Meines Michels Unreinlicfeit war mir dort jehr auffallend:
zwei Tage fam er mir mit ungewajchenem Geficht entgegen, mit
denjelden Fleden im Gefiht. Auch in Berlin. führten die philan-
thropiichen Eltern darüber Klage“.
Turd) foldhe Unvollfommenheiten lich er fid) bis zum Früh:
jahr 1783 den Glauben an die Vortrefflichfeit der Anftalt nicht
rauben; das geht nicht nur daraus hervor, daß er in der Hoffnung
auf ihre Befeitigung die Mängel, die er erkannte oder erfuhr,
der Direktion offen mittheilte,?") auch unzweidentige Neuerungen
und Vethätigungen dev Zufriedenheit beweifen es. Auf die An
frage nad) einer in Kivland gegründeten philanthropiichen Anftalt,
von welcher ein 9. VBellermann (der P. v. Schmwengelm aus dem
Nevaliden nad Defjau gebradt) berichtet hatte, erwiderte er
(Mai 1782): „Won einem liefländiichen philanthropiicen Injtitute
weiß; ich nur foviel: in Wolmar hat ein verheiratheter Gelehrter
Heydemann eine Penfionsanjtalt mit zwei Lehrern (diefe wird
Vellermann gemeint haben); vor einem Jahre hat er eins darüber
in Drud gegeben. Ic habe fie noch nicht geichen ımd Habe
fein Sntereffe für fie” Deutliher nod) jpridt ein
Brief vom 5. November 1782: „Id Habe 9. Dr. Schlegeln
jeit feiner retour gejprochen, er ijt mit dem Inftitute jehr zu:
frieden; die Viethoden mären die einzigen und beiten, bejonders
in Spradjerlernung, die mit Sachfenntniffen zugleich verbunden
wäre. Aber die Erziehung fei etwas zu frei, nicht Subordination
genug; Vülhing?!) hätte es aud) bemerft an den dorthin ge-
fommenen Philanthropiften. Diefe Bemerkungen follen uns hier
nicht irre machen; 12 zu Diefem Geichäfte fid) fait gänglid) ge-
widmete Viänner würden dem Mangel fon abhelfen, wenn fie
einft für die ihnen anvertraute Jugend aus der freien Erziehung
unglücjelige Folgen abzählen. Dies letere beforgte Schlegel.
[Darauf jolgt eine Bemerkung über Grave’s Nüdkehr|, Welche
DValtifche Beziehungen zum Philantrhopin. 127
Freude ih Habe nihts als Veftätigungen des
Rühmliden joihvom Jnftitut hier verbreitet
babe, zu vernehmen, fann id Ihnen nidt
ihreiben. Mein Herz hüpfte für Freude, be
fonders das Urtheil des erjteren, das für competent genommen
wird. 9. Schlegel rühmte jehr die Förperliche Erziehung.“
Mit diefer Stimmung ftand es im Einklang, wenn Schilder
im nädhiten Vlonate dem Fürften felbjt eine Freude zu bereiten
fucht: „Ich fandte an Ihren Fürften ein Fählein Caviar und eine
Kifte Hafeljühner und wünide, da; Sr. Durdjlaueht diefer Tribut
von unferen ruffiichen Yedferbifien gnädig aufnehmen möchten.
Meine drei Zähne follen en eorps mit der Verficherung meiner
Ehrerbietung jelbige überbringen, dah Sr. Durcylaucht dieje ge
ringen Opfer als einen Beweis von Danfbarfeit für das Glüc
der guten Erziehung, jo meine finder in feinem Yande in feiner
Nefidenz geniehen, von mir guädig anzunehmen geruhen. Der
ältejte joll das Wort führen —— lehren ie ihm das Kompliment.
Caviar und das Wild müjen allmählic) aufgetyaut werden, wenn
© feinen Wohlgeichmad behalten fol.“ Die Stimmung hielt
nod) länger an: am 29. März 1783, an dem Tage da er Yajedows
Relegation forderte, fhidte er einen Wedel von 650 Thalern
ab, „um aus der Not zu helfen.“
Im Herbjte des Jahres aber fahte Schilder den Entihlun,
feine drei Söhne in der Heimath durd einen Hauslehrer unter:
tihten zu lafen. Eine Sinnesänderung verrät Ichon ein Brief
vom 14. Oft; er wirft bie Frage auf, ob die Fortfegung dev
Pädagog. Unterhandkungen jehr glüclich fein werde, md bemerft
dagegen: „Die Sadye ift jhon zu alt, und wird man der collection
für ein und diefelbe Sade überdrüffig, wenigitens die Geber.”
Um diefe Zeit erwartet er den 9. von Zimmermann, den er
gebeten in Dean auc jeinen ältejten Sohn zu prüfen, mit
Ungeduld zurück. Nach deifen Nüdfehr zeigt er (ipäteitens
zu Anfang des December) dem njtitute jenen Entihluß an
und tritt in Unterhandlung wegen Berufung eines Hofmeifters.
Die Anftalt erblidte in dem Püctritt ihres eifrigen Agenten
einen empfindlichen Verluft, alle Anftrengung jedoch, ihn zu
halten, blieb erfolglos; auh auf ein Schreiben des Prof.
128 Valtifche Beziehungen zum Philanthropin.
Neuendorf im Auftrage des Fürften antwortete er ablchnend
„unter Mittheitung der wahren Urjade feines feiten Ent
ichluffes und des Planes, den cr mit feinen Nindern verfolgte”.
Leider befindet ich diefe Nechtfertigung nicht in unferem Nadı-
taffe,??) jo dah fi über feine Beweggründe feine volle Gewih:
heit gewinnen läßt. So viel jteht feit, daß der Bericht von
Bimmermanns über den älteften Sohn ungünftig lautete, dies [ehren
mehrere an Wolfe gerichtete Beichwerden über Vernachläffigung
desjelben bezüglich des geographüchen und franzöfiichen Unterrichts.
Ob aber die Unzufriedenheit mit dem Inftitute, der Umwille über
einzelne Lehrer ausichlaggebend war, ericeint doc) fraglid. Der:
jenige, der ihm Ungünftiges berichtet hatte, lieh; den eigenen Sohn
noch ein Jahr dort, und Schilder unterhielt den inzwiihen ge
wonnenen Hauslehrer (einen 9. Mafjon aus dem Eljah), bevor
er ihn im Mai mit den Söhnen nad) Riga fommen lieh, mehrere
Monate in dem njtitute, um fih mit dejfen Grundfägen und
Diethoden befannt zu machen. Denfbar it, daß bie Zurüdnahme
der Stinder, mad) denen ev fich fehnte, mit feiner zweiten Ver-
beiratdung??) zufammenhing, denkbar auch, daß die Erziehung der
Kinder im Inftitute ihm zu theuer zu ftehen kam.)
As Schilder zu Anfang des Mai die Verbindung mit ihm
Löfte, dankte er dem Fürften und veriprad) der Direktion immer
für daffelbe thätig fein zu wollen, (ehmte es aber ab, den Vertrich
der Zeitungen — wegen des entjeglich hohen Portos und der
GErome’fchen Produttentarte, weil fie feinen Veifall fände, fortyu-
fegen. Im Nachlajfe des Philanthropins findet fid) von Schilder’
Hand fein Schreiben ipäteren Datums.
Wolfe, der wenige Monate darauf mit dem jungen Grafen
von Manteuffel nad) Livland fan, hat Schilder zwar noch ge
fproden, eine Auseinanderfegung mit ihn fcheint ihm aber nicht
geglüctt zu fein, da er kurz nach feinem Gintreffen ver
So freundlich die Aufnahme war, welde Wolfe, dev verdienjt-
volle und befichte Leiter der Anftalt, in Livland fand, and er
hatte mit jeinen Werbungen, wenn er fie während feines Furzen
Aufenthaltes überhaupt verfucht hat, fein Glüd mehr: nur drei
Livländer wurden dem Xnititute in den legten neun Jahren feines
Veitehens nod) zugeführt. Dah aber feine Yehrer nicht allen Nuf
Battifche Beziehungen zum Philanthropin. 129
einbüßten, dafür zeugt nicht nur die Wahl einiger von ihnen zu
Führen der Söhne auf der Univerjität — Matthifon be
gleitete den Grafen Gotth. Manteuffel, Spazier den Baron
von Diengden —, fondern auch die Anftellung eines derjelben in
Kiga. As der Mag. Fr. Wild. Göge?") mit einem anderen
Sohne des Grafen Manteuffel nad Yivland gefommen war, wurde
er im Jahre 1759 Neftor der Domjdule, drei Jahre jpäter Nettor
des Lyceums.
1m.
In St. Petersburg und dem inneren Nufland verhallten
Bajedow’s Aufrufe zu Guniten feines Philanthropins zwar nicht
ungehört, aber ohne die Wirkung einer jtärferen Vethätigung.
Kaiferl. Aadenie der Witfenicaften hatte ihm auf die Ueber
jendung feines Elementarwerfes und anderer Schriften ein an
erfennendes Yeugniß ausgejtellt (vom 9. Tftober 1775; ab
gedruct im 2. Stüd des Philanthropüchen Archivs). Kaiferin
Katharina aber, die anhaltiihe Fürftentochter, deren Namen er
taum in einem Worworte vergah, der zu Ehren er ein Katharinenm,
ein Philantgropin für Töchter höherer Stände, ftiften wollte,
wirde nicht gewonnen. Der Pajtor Grot an der Natharinen
fiche in St. Petersburg fand für die Pädagogiichen Unter
bandhungen nur einen Heinen reis von Zubjfribenten, und der
Ztaatsvath) beim Neihscolligio der auswärtigen Angelegenheiten,
Ereellen; von Nroof, auf den die Anjtitutsfreumde grofie
Hoffnung fegten, fieh durch Grot wohl Beiträge einichieen, fogar
feinen achtjährigen Sohn anmelden, jo dal; Grot auf die Wichtige
teit diejes Vorhabens für die Anftatt wie Rufzland befonders
aufmerfiam machte?) und die Direktion in ihrer Vorfreude den
Inhalt des Briefes no am Empfangstage dem Fürfien fund
gab, aber mit der Anmeldung hatte es jein Benenden, diejer
junge Rufje ericien nicht.
Die Ankunft eines anderen bereitete Schilder folgendermahen
vor ( Jan. Febr. 1779): „Mit Dahl md Helmerjen, die
geitern abgereift, Fommt ein junger ruffüicher Edelmann, Waffiley
von Marfoff, Neven des rufliihen Generals von yorig
(Favoriten, der mit Velopnung von mehr als einer Million feinen
Ablay erhielt, vielleicht bald wieder die vorige Stelle erhält) und
130 Baltifche Beziehungen zum Philanthropin.
zum Erben bejfelben beftimmt. Der junge Viann foll zum ver:
gen Vienfchen gebildet werden . . . Er ift bereits Officier;
fein Intel hat ihm die Uniform abnehmen laffen, cs joll ihm
nichts zu Gute gehalten werden. Vor allem mache man ihm den
Aufenthalt annehmlidh und bringe ihm den Gedanfen an den
Nugen bei. Zunädit find zwei Jahre Aufenthalt in Ausficht ge:
nommen. Die glüdliche Ausbildung eines jungen Nuffen (dev
dazu einer jo angefehenen Perfon angehört) muß ohnfehlbar die
rin aufmerfiam aufs Jnftitut machen, und dann wird ihre
mächtige Unterftügung and) nicht auobleiben. Wie vortheilhaft,
wenn die ruffiichen Herricaften dem Beiipiele des Gen. von Zorit
folgen! Für jegt von ihm ein Geichenf von 100 Ducaten! u. j. 1."
Allein Waffiley von Markoff jegte den Abfihten des Cheims ben
Widerftond eigener Neigungen entgegen und fügte fi ichlecht in
den Zwang des vorgezeichneten Unterrichts umd geihmälerten
Mediels. Schon im Herbit des nädjiten Jahres nahm ihn Schilder
mit fi bis nad) Niga zurüd.”)
Das Inftitut verlor darum Auhland nicht aus dem Auge.
Gewih; war cs feiner Anregung zu verdanfen, wenn in den Deflauer
Kirchen zum Bejten eines in St. Petersburg zu errichtenden
Schulgebäudes - der Natharinenfchule — eine Sammlung
veranjtaltet wurde, welde die Summe von 230 Thalern ergab.
Scjilder bemerkt dazu (16. Dee. 1780): „Warum laffen Sie in
Petersburg nicht einmal fürs Philanthropin fammeln?“
Vier Jahre päter fand Wolke in der Stadt Peters des
Großen, als er fie von Livland er mit der Gräfin von Manteuffel
befuchte, die günftigite Aufnahme und fein Lehrgeihid eine joldhe
Bewunderung, dal; er unter Verzicht auf die ihm durch mande
bittere Erfahrung verleidete Stelhing am Dejaner Inftitute
Petersburg zur Stätte feines Wirfens wählte, eine befannte in
jeder Gedichte der Pädagogik verzeichnete Thatfache.?”)
Raltiiche Beziehungen zum Philanthropin. 131
Einige genanere Angaben über die Bhilanthropiften ans den
jest rufftichen Ländern bietet das folgende chronologiich geordnete
Verzeichnif; derfelben:
# Ramen. Abgang. | Herkunft. | Stand d. Latersu. [.w.
Avon Thülen. €.| 1777 Riemahlen | Kannerherr.
€ 12. März i. Aurland.
Niemahten | Kammerherr.
v. Thülen, Heine.
. i. Aurland.
3 von Saden ige. Winiiters
1 April. Varon v. Kopend.
N Schilder, Midacl| 177 7 | ai Kaufmann Yeinr. Sch,
[ee Fra en ige. |feir 178 au Stadt,
\ en “ saften-Notarins.
5 Verens, Johann | 1778 | 17m ge. | Rathsherr Sopamı
Heinrich”) 4. Juli. | Ottober. Chriftovh
66raf o. Manteuffel| 17 1785 Kiga. |Yandrath Graf Kudw,
Kiun.), Gotthard) 4. Juli | Juti Schloi | Wild. d. M., verm. m“
| Hingen. | Julie, geb. Gräfin von
| Münnid.
716raf v. Manteuffell 1778 1786 Ri Yanbdrath) Graf Yudın.
verim. mn.
{sen.) Ernit 1. Rovemb.| 17. April. Schloh | With. v. M.
N Hingen. | Qutie, geb. 6
MRünnich.
| von Nönne (sen).| 1778 1784 Kg |
! Auguit. | Ende Mai major, Mitter dis St.
| Seorgorden
9] von Nonne (jun.| do. do. do.
10». Dengden, Karl| 1778
Suitav®) 1. Sftober.) 1.
Mereo in [Marl Yawig Taron
Fioland. |von M., Erbberr auf
Werro,
1lon gi 17 1785 Riga. | Ober-Eoniiiterialai
€. Bernhard. | 1. März, | 1. Aprit.
I. Helmerien, Bene| 1779 1786 | Yioland. |Eyemat. Raifert, zufl.
dien6 Andreas. 1. März | 1. Inli. Obröt, Yandr. i.Engels
hardshoft, Exbhere zu
___ Zeitaman. _ _
13] Tahı, Karl (sen.) 1785 ige. | Neffe des Nail, ruf.
Herbit. _|Kicent:{ufpstt. Dapt“')
14] Bagt,Kriebr. (jun. do. do. BE
5 von Martofi, Wa 0 | Neffe des
I fieg.
16] Zuderbeder, At.
®.
1. Rov. | Generals d
Diga |sanfmanı.
Namen.
Gras, Lat
Friedrich
in
big 1781 Stadt-Naften
Notarius.
18] Steqmann, Gottl.| 1779 Yibau. |Ariedr. St, Fonigl.
Arien. 20. Anguit voln. Hofrath und der
b berzogl, furländ. Stadt
yiban Seereiär, gilt
1782.
19| von Meines, | 1780 1786 Kiga. | Napitän.
I__Arietr. | Aprit, _H. Novemb.) «Yanıdon 24
20| von Sackitrog, | _ 1780 1785| Tignit im Sarl Suftav Arhr. d.
Harald. 7. April, | 1. April. devant N
de Sa
1j.’Imperatrico dex
21|von Geumern, Karl)
Mündet ‚
Magnus. Yientenant Hagemeifter
„Lauf Droftengorf.
Schilder, \oadim
_ Eberhard.
Sayilrer, Dans
ige. | Naumann Anton Zt.
3] Toieingt, Arig 02)
Kondon?
Leonhard.
5|Öraf Sievers, Paul
| Hopfen bei | Naileruf). Chrift, verm.
| Torpat. | mit einer Gräfin Man:
36]von Scawengelm,| do. do.
Jfob Eberhard. ae
27|von Schwengelm,| do do. vo.
Gotthard Ouftan)
Sorge.
2sjvon Modszelewsy,| 1781 | Warfpau | Rath; der Obeim cin
Jofepb. 1. Sept. | 1. Julio. } oder | Chevalier de Malte zu
| Jarostan. | Warichan.
20| von Schwengelm, | 178: dal.
Peter. R Nr. 1
30) von Dorimond, 1 Warfchan ? | Mündel d. Tat. pain.
Antonius. Auguit. | 15. Cr. |Nammerb. ©. ©. v. d.
} Haweni. Mitan, Nitters
v. St. Stanislausord.,
furl.
Herm auf Neu-Berg:
rich.
31] Verens, Arend vgl.
Abraham. Auguit. ir. 5.
inteitt. | Abgang.
1785 Ende
Birz.
a9 von Aid, George.| 1787
| 1. Juli,
Warfchau. | "oe Gefandter.
von Schröder, 1787 Warfcheu | Neffe und Mändel des
Andrens. ui, 10. |[Aurländers ©. von
Rönigsfelb i. Warfihau.
von Korff, Yeter. | 1792 Xnf. Firland.
Auguit.
36] von Korff, ers do.
do.
dinand 3,
Anmerkungen.
%) Her 2. Diederihs in Mitau verdanft Diele Arbeit auch) einzelne
Berichtigungen und Zufäß:
2) „Das Bajedowice Elementamwert d. Bb, 2. Aufl. 25. 1787
S. 140) rügmt aud von Herzog Petrus, dah von ihm „Europa wei,
wie weit er Iamdeswäterlich und als ein fürftlicer Weltbürger zur Erleuchtung
der Zeiten aufiwenbet.“ — Der Herzog befudhte 1771 die Serbitjagden des
Bringen Eugen, des in dhurfächfiicen Dienften ftehenden Sohnes des alten
Deffauers, zu Heinrigswalde bei Wittenberg und von dort auch, den Fürften
Franz an feinem Hofe zu Deflau, an dem er aud) im Jahre 1777 wieder ers
iien. f. v. Verenhorfts Tages-Vemerkungen in den Mitteilungen des Vereins
für Anhalt. Gefhichte und Altertfumstunde T. ©. 193 1. 202.
®) Die Lage des Herrn v. TG. wurde fo jänvierig, dahı er im 3. 1770
iogar für den Unterhalt feiner Söhne um Kredit bat, Schilder fahricb nach einem
Vejuche in Mitau (15. Juni 1779): „©. ©. TG. it un 4000 Thle. betrogen,
die er einem Edelmanne in Yitthauen auf jein Out vorgefcpoffen, wofür cr den
Befig in feinem Gute erhalten follte. Kaum hatte er das Gald ausgezahlt und
angefangen fi auf dem Gute einzurichten, fo famen 8 polnifche Edelfeute ins
Gut eingeritten (Einreiten in ein Gut ift eine Gerechtfame nach polnifcen Ges
fegen und heit durch gerichtliche Deerete Vefit, nehmen), die mehe zu fordern
haben als das Gut werth it, und da die barbarifchen Gejepe der Polen einem
Einheimifchen ein unmiderjtehlicies Vorredht über den Ausländer geben, fo iit
9. 0. TG. um fein ganges Capital von 4000 Tpfen. betrogen und hat feine
andere Hoffnung, fie zu retten, al$ wenn er durch banres Geld und Accord
glütich fein follte diejenigen zu bienden (2), die den Pafit} im Gute erhalten
werden. Nun it das Geld in Aurland jehr var, bei Dielen wohlfeilen Korn
greifen und doch zunehmendem Yurus und Verjcvendung des Adels aufierhatb
des Landes, fo dafs es Herrn dv. Ti. fehwer wird eine Hinlänglihe Summe (ca.
134 Baltiiche Beziehungen zum Rhilanthropin.
29 Mille Toten. haben die Polen mit Anterefien und Unfoten zu fordern) bar
aufammenzubsingen, daher die Profongirung der GM Thfr. und der gewünidhte
Auffchub für die Noften feiner Minder." Ju der That dauerte es lange, bis er
einen Verpflichtungen gegen die Anitalı nachlam.
4: den Jahren TTS6 und ITO famen aus Lublin, veip. Warchau
wegen Aufnahme eines Sohnes des Grafen Konifier, „Grand Erhanson du
Grand Duche de Littlinanie, ehevalier de Vordre de Vaigle blane,” die Ichte
von einem I. de Ponret, aneien garde de corps de Monsieur. geichriche
und abrejfiert „A Monseigmeur Menseigneur le erteur de 1° Universite
Desaw.”
5) Schilder Äufert fi darüber nur im allgemeinen. „Die Verlegenbeit
der Eltern hier im Yande in Anfchung der Erziehung roh." Er mag den
zweiten Sohn der öffentlichen Schule in Nige nicht übergeben, „wo er an Leib
und Geift unter einem Haufen größtentheils unartiger Knaben verderben würde”,
9 An Ausficht geftelle wurden dem’ Philantfropin, ohne dafs die Eltern
die Abficht verwirtlichten, durch Schilder 1779-1781) ein Sohn des Gch.Haths
Exe. v. Vietinghoff („wenn er nicht in der Erole militaire zu Stutte
gart Anfnahme findet”), zwei ältere Söhne des Naufmanns Zuderbeder, zwei
des Herrn von Tunten auf „ocgenhoff, dic, bereits in ruffiichen Tienften, auf
vier Jahre Urlaub erhalten Batten und, wie der Vater Hoifte, in Deffau wter
Vermeidung der Gefahren der Univerfitäten eine entiprechende Bildung erhalten
würden. „Wir Yiefländer erfahren nur zu häufig“, bemerkt ilder, „daß die
Kinder auf der Univerfiiät das Geld verzehren, nichts weientliches Iernen und
verderbtes Herz umd neue Moden mitbring cin von Liphard, ein Sohn
des Nigaer Stadtfecreiärs Stocver, Söhne des Majors Berens in Mosfan,
des Cbrift Yaron von Pahlen („jeht mit feinem Negimente in NeusHtufsland,"
März 1780), ein Sohn des Generals Drewitz nnd ei de9 Parons von
Wolff, chemaligen Kitterihaftsieeretärs.
einem Schwager Schilders, von dm bieler gelegentlich) der Anzeige
eines Geichentes desfelben von 100 Subeln ichreibt, dafı er das Napital einer
Erbjeraft von 20,000 Thalern durch Nhederei in den Lepten Jahren, da die Aracht
der neutralen Schiffe enorm hoch, verdoppelt Habe (Dec. 1782
% Don den Pränumerantenliften Schilders find einige handicriftlic, er
Halten. Wom Juni 1778: Ober»Confiftorialafiefior v. Zimmermann, Yandı
tat Baron v. Schouls, die Vürgermeifter von Wicdan, v. Sci, die Natfs:
herren Gottfried und I €. Berens, die Seretäre d. F- 0. Wieden, 4. ©.
Schwarz. Sam. Holit, ©. ©. Stocver, ferner Names Pierfon, Carl Be:
rens, Eberhard Wrede, Yudıw. Berens v. Nautenfeld, Yicensvermalter Ber
gerom, Arab. Nolofi, Thom. Zuderbeder, Dan. Voctefuer, I. D. Te
tenhoi. Jofun Stegmann, Ernit Heidevogel, Hofrarh X. Truhart, FR.
Martens, X. 9. Herich, Notar Holit, Blumenthal, ©. &. Vencten, Ma:
jor v. Hagemeiiter, Hein. Krocger, Bar. v. Wolff, cand. theol. Heerwar
gen, Yandrath v. Helmerfen, Serretin Mord. - Yom Car. General:
major v. Nönne, Yandraıh Öraf von Wanteuffel, Heinrich Straud, ruf.
Baltifche Beziehungen zum Philanthropin. 135
fait. Major von Siphard, Paltor Poorten, Nathshere von Irichen, Meier
». Wrichen, 2 junge Freunde des Iuftituts in Petersburg, €. 6. Scheumann,
Sber-Notär Jankicwit, Doctor Heinhold Berens, Kammerrath Gufta Be«
rens, Sandrath v. Helmerfrn auf Engelhardtshof, Cherit-Lcutenant v. Dage:
meifter, Afeffor Carl v. Nautenfeld; vom Jan. 1779: Licenz-Inipector Da HI,
Kaufmann Herm. Frommhold; vom Mai: Geheimrath v. Wietinghoff, Paul
Aroeger, Gorge Remy, d. d. Hardt, M. v. Nautenfeld; vom Der.: Herr
d. Sieren auf Tünhoff in Kurland; vom Febr. 1780: Hofgerichtsaffefier v.
Tauffler, Wadame Collins, and. Zimmermann, Xob. Ariedr. Schroc,
der. — Im Arübjage 1780 meldete Schilder, dafı während des Kandtags um
Johanni auch General und Graf Manteuffel eine Subieription zum Beften des
Inftituts eröffnen wollten; von der Ausführung der Abficht aber creibt cr nichts.
®) Richt unerwähnt möge bleiben, daß; Schilder mehrmals and, Aurifel
und Fichtenfammen aus Deffau bezog, andererjeits Apfelbäume für den Fi
dorthin fchickte, die jedoch nicht vecht gedichen.
’°) zum Lehrer der Pacdagogif an der IUniver]
4) Sceift von Schummel. Yeipzig 1770.
2) Für den jungen v. Oettingen wurde der Vefuch der unter Nefemit
fichenden Schule zu Alofter Bergen in Magdeburg in Erwügung gejogen.
Ueber Olivier |. Hofäus, Tlivier und Tilfic in den Mitheilwugen des Anh.
de. f. Geid. VL &. 101.
) Des Fürften Keile Fam wohl nicht zur Ausführung. Vichleicht bing
die Nachridgt mit einer Neite des Prinzen von Preuhen zulanmen, der gegen Ende
95 Muguit Riga poffierie „Bin dur bie Anfunft des Prinzen von reufen
aufgehalten, denn ich Fonnte mit Grund befürchten, feine Poftpferde vor feiner
sage zu befommen" (Schilder 15/26 Aug. 1780).
12) Bermutplich dielelbe „patriotifche Schrift“ von Karl Phil. Norit,
von der Schilder den 28, Nov. I780 dem Anftitut ein Eremplar zugeiciet mit
Halle.
dem Hathe fie im nähiten Quartale mit aller Gelaffenpeit zu widerlegen. „Ein
; eine Erziehungsanftalt, feine Schule,
beiiger Eifer darin, aber falfches Uri
Wir haben einem offenen Stopf von einer Ermiderung im i
abgerathen."
>) Ausführlich erzählt von dem Streite Nichold, Wolfe als Lehrer
am Philanthropin zu Defiau. Leipzig. I800.
*°) Die Aeuherung geht auf die Vorenthaltung eines vom Markgrafen
seriprodjenen Sapitals von 5000 Gulden, von dem das nftitut die Zinfen
bereits von Micaeli 1771 bis Jan. 1TS1 gemoffen Hatte.
1%) reformicten Predigers in Leipzig.
’) Ouorier, Baledow’s Verfahren gegen Herrn Wolfe, and) ein Vi;
frag zur Vafcdowicen Yebensbeihreibung. Deflau. 1783.
79) Reiche, Getrene Vefreibung der Umftände, unter welden Kerr
oh. Baledom . . . . . Schläge befommen u. |. w. Teffau und Leipzig. 17
>) Schilder hielt mit feinem Urteil aud über die Yehrer nicht zurüd.
Radı feinem zweiten Aufenthalte in Deffau drang er auf Entlajiung ds Dr,
m Wocenblatte
136 Baltische Beziehungen zum Philanthropin.
med. Samfon, der den Zeichenunterricht ertheilte. „Rum haben Sie den Charakter
ds Juden &. in feinem vechten Lichte gefehen, wollen Sie einen fo
Ächlecpten Meniepen mod) länger bealten? Entledigen Sie fich dieies elenden Menichen
und Zeichenmeifters, er madt dem Juflitnt Schande. Die Kinder profi
nichts bei ihm." — Cine Jeremiade über Die Wirtungen des Turnens, die der
Scpreiblehrer Duot — aus welchem Anlaf, weil id nicht — an ihn q
hatte. Ci. leceifen- Maus, R. Jahrbt. f Phil. u. Pad. II. Abu. 1809.
631) lieh er der Direction zugehen (Juni 17SD).
=) 9. 3. Bifhing, Ober:Confitorialrath; uod Direetor an Grauen Alofter
in Berlin.
So wenig als jeine Briefe an
er bei feinem zweiten Yelude näher trat.
=) Schilder hatte feine erfte Frau zu Anfang des Jahres 1780 nad,
der Entbindung vom fiebenten Ninde verloren. Im San. 1784 verlobte cu fich
mit. einer Predigerwittwwentochter aus Marienburg, einer Frau Nofe, geb. Prigbur,
der Proteltor der Familie war der Vefiher der Marienburgicen Güter, Gch.:Hatb,
von Vieringhoff. Die Hochzeit fand im Aprif ftatt.
2) Gelegentltch giebt Schilder Einblide in feine Verhältnifie und fauf-
männifcjen Unternehmungen. Im Jahre 1779 Hlogt er über jclechte Zeiten und
Kerkufte, die er durd) den Yanferott eines Nuffen in Wensuna, dem cr für einen
Hanftontraft 1500 bl. vorgeicoften, und durch die Flucht eines Fuhrmanns:
fnedhis mit 2500 igm aus Petersburg in einem Fählein zugefchidten Rubeln
erlitten Hatte. Günftiger „geftalteren figy die nächiten Jahre: er wurde im Mai
1781 als Nachfolger Grave's, der „wegen erweiterten Handels nud gefegneter
AUmftände demüfionirte‘, zum Stadt StaftenRotarius, „Oensral: Einnchmer und
Nentmeilter der Stadtedntraden und Ausgaben“, gewählt — „gegen einen von
der Vürgeriehaft aufgeiteiften, ftart verichwägerten und Tonft anderweitig alfiirten
aus der jogen. Yant der Nektejten (aber einen reapten Tropf!)". „Wohl bin ich
nun gegen alle Roth geficert, habe 750 Thl. Alb. Gehalt und 200-300 Thlr.
Mebenvorteile.“ Und [con vorher (d. 3. Zebr.) Hatte er eine andere freudige Nach:
richt mitgeteilt: „Der Himmel war mir günftig bei einer Tobadentreprife von
Kiga auf Amfterdam, die id von Deffau aus ordomnirte, und bie vermuthlic,
wegen de Krieges zoifchen Holland und England nod) günftiger werden wird;
ich Habe einen großen Worrath zu wieheigen Preifen angefauft u. |. wu Zür
die Jahre 1783 und 1784 Hiegen feine direkten Beweife eines Müdganges in
Schilders Vermögensverhälniffen vor, beun da; fein Hauslchrer Mafjon über
Hamburg reifen follte, um bier eine fatale Schuldfordeiung einzutreibn, will nicht
viel fagen; man Fönnte e8 aber aus dem Umftande folgern, dat cr fidh, wie der
Vanfier Frege in Leipzig dem Juftitut im Juni 1786 anzeigte, zwei Jahre fpäter
für infolvent ertlärte,
2) Vergl, den Brief Wolte’s bei Sledeifen-Maftus a. a. D. 0
>) Meber Göge |. Schmidts anfalt. Schrifiteller-Leriton. ISO. „Rede
und Papiersty, Schriftit.- und GelLer der Prov. Livfand, Ehftland u. Kur:
Hand 2, 79," Cinige Sehrberichte Götzes find abgedrudt im den Mittbeihungen
ofrath; Herrmann in Defau, dem
Valtiiche Beziehungen zum Philanthropin. 137
Erziegungs: und Sculgefdichte. Yerlin 1892 IT.
> Zugfeich mit dem Iriefe vom 31. Tee. 1778 überfandte Grot fi
dic Anftaltshibliothef feine drei erften Aangelreden für die Eininpfung und den
Man einer von ihm geitificen Sterbefaffe,
>) Füngere zei veritrich, bis Schilder vom General, der in Sztlon
gelebt und finanzielle Schwierigfeiten gehabt zu haben fcheint, feine Nustagen
und die gefäligen Deffauer Juden die an von Marfom gelichenen Summen gurüce
eritottet. befommen.
=) Rad) Teffau farm, jo viel ich finde, von Peteräburg nad) einmal eine
Anfrage (Jan. 17891: ein Mr. d. U. de Creuth, Major du Corps de Genie
de Sa Maj. Imp., der Deffan im Jahre 1787 befucht hatte, wollte in der
Erwartung, nach der Nüctehr aus dem Ariege zwifchen dem Nleiche und der
Türkei bald wieder zu einer Campagne abberufen zu werden, den in Holland
uutergebrachten Sohn dem Pbilanthropin übergeben.
>, Schilder, ein Schwager des Nathaheren, nahm biejen Reifen mit ic)
urüd, der, zucrft im Compteir bei Verens und Zimmermann in Ciba, chen
TS2 in Königsberg an eimem Hiyigen Fieber ftarb, naddem er die Lehre vers
laffen.
#4) Er kam nad) Teffan mit feinem Hofmeifter Stüder.
=) vd. Mengden jtubirte unter Führung des Mag. Carl Spazier, der
fc) jpäter als Schriftiteller beionders durch das Bud) „Carl Pilger, Noman feines
gebens“ (Berlin 1792 und 1793) befannt machte, das Staatsrcht und die
Kamsrahviffenigeften. Ein Brief von im an feinen Mufiflehrer Muft it ab
gedrudt in den Mittheikungen f. Anhalt. Gefc. ILL,
©) Der Infpeftor Dahl zog fid im Frühjahr 1782, „nachdem er in
der Bolderan, ogbleidh auf fan Voden feine Schafe gut gemäftet, aufs Land
es. zwei Meilen von der Stadt (auf Vellendoff) zurüd.” Bei feinem Abichied
«ts Rail. ruf. Kollegicnaffchior harakterifirt ftarb er im Dex. 1792.
3%) Die fctstgenammten vier Ppilnnthropiiten befuchten nad) der Aufifung
ds Zuftitws die Danptfchule zu Defjan,
Gin noch ungedeudter Brief mmanuel Kants
am Chrition Heinrich Wolfe.
Woldemar von Titmars Nachlah, aus welchem ich bereits
in diefer Zeitichrift die Jugendbriefe feines Freundes Garl Exnjt
von Baer veröffentlicht habe, enthält unter Anderem eine ganze
Neihe von Briefen hervorragender Dichter, Gelehrten, Schrift:
fteller, Staatsmänner, Feldherren und anderer Perfonen von
biftorifcher Bedeutung, welche der unermüdliche Sammler haupt
fächlich wohl während feines mehrjährigen Aufenthaltes in Deutic)
land (1815 —1818) zufammengebracht hat. Ich nenne nur die
Namen Schiller, lopjtod, Gleim, Fr. v. Stolberg, Novalis,
La Motte Fongud, Boron, Madame de Stael, Jcan Jacques
Roufjeaun, Mojes Mendelsiohn, Gauf, Arel Orenitierna, Canning,
General York u. a. n. Auch ein Schreiben Friedrichs des Großen
liegt vor, gerichtet an feinen Lieutenant von Anrep vom Negiment
Schorlemer*). Den Schillerbrief habe ich Seren Dr. Frig Jonas
*) Diefer Brief, auf iehr einfachen, grobem Papier geichricen, trägt die
rejfe: a mon Lieutenant d’Anrep ment de Schorlemer, im Ganı
tonnirungsquartier bey Wehlau. Der Juhalt deffelben lautet:
Ich habe Euer Schreiben vom 6. diejes Monaths, worin Kür, wegen der
von Eu) ang inde, abermahls umb Eure Dimiffion bittet, erhalten,
und wird Euch darauf hierdurch in Andtwort; daii Ihr Geduld haben foltt bis
Id nach Preufien fomme, aljdann ur End, darumb wieder bey Dir melden
Tönnt. Ich bin Euer affertionirter Nönig. Norsvanı, den 13. Mä
«Tarımner der Namensgug Des grofen Königs und die Bemerfung an den
Lieutenant v. Aurep Schorlemerjigen Regiments).
Ein nod) ungedrudter Brief Kants. 139
für feine große Ausgabe der Schillerichen Briefe überlafen‘).
Der umfängliche Brief Arel Oxenftiernas wurde von mir nad)
Stodholm gejandt, wo eine Gefanmtausgabe der Briefe diejes
großen Staatsmannes veranfialtet wird. Den für die Geidichte
der mathematischen Wifienichaft nicht umwichtigen Brief von Gau
hat mein College Wirtinger, Profeffor der Mathematit an der
Univerfität Iunsbrud, für eine in Göttingen vorbereitete Ausgabe
der Briefe des großen Mathematifers copirt.
Es hat fi) unter diefen Papieren nun aud) ein nicht
unintereffanter Brief von Immanuel Kant gefunden,
gerichtet an Chriftian Heinrid Wolfe, den damals
ich befannten Pädagogen und Schriftfteller auf dem Gebiete der
Vödagogie, mit welden W. dv. Ditmar während feines Aufent:
haltes in Berlin i. I. 1815 in freundichaftlihe Beziehungen trat.
Wolfe wurde i. 3. 1741 zu Jever geboren, jtubirte in Göttingen
und Leipzig nnd entwarf i. 2. 1770 den Plan zu einer Erziehungs:
anjtalt nad) einem naturgemähen Stufengange. Hierdurd) trat
er mit dem befannten Yaledow in nähere Beziehung und wurde,
als diefer einige Jahre jpäter das Philanthropin in Deljau gründete,
deifen Hauptiächlichiter Mitarbeiter. Später, nachdem das Philan-
thropin trog aller Bemühungen eingegangen war, ging er nad)
=. Petersburg, fehrte dann wieder nad) Deutidjland zurücd und
*) Derfelbe ift nad, Dr. Jonas“ ft
Seinrich Voß (den Sohn) gerichtet und bet
lautet;
wahrfcheinticher Vermuthung an
it deffen Cihelloüberfefung. Er
Weimar, 20. Dec. 1804.
Nur zwei Zeiten befter Freumd für Ahren lieben Vricf, deifen Inhalt
mir jeher viel Freude machte. Der Monolog it rund md nett ausgedrüdt
md bis auf ein paar eigentlidher Ausdrüde, die wir zufammen wohl nod)
finden wollen, ganz wie er it zu brauden. Taffelbe gift aud) von dem Anfang
der Ueberfetung, die Sie mir hier zurücgelaffen, und worüber wir mündlich ein
weiteres conferiren wollen.
Mögen Sie mit den rigen cin recht beiteres neues Jahr antreten.
Der Gatarrly Herrfcht noch bei mir und diefer verwünfchte Saturuıs wird mid)
wohl auch in das neue Jahr begleiten.
ir grüßen Dater, Mutter, Brüder, Haus und Hof und auch den Bopel
mieingeredgnet alferfeits herzlich und id) bin im neuen wie im alten Jahr
Ihr treuer Zreund
Stiller.
140 Ein noch ungebrudter Brief Kants.
febte feit d. 3. 1801 als Privatgelehrter in Leipzig, Dresden und
zulegt in Berlin, wo er i. 9. 1825 farb"). Als Ditmar ihm
fennen lernte, war er jomit ein Greis von ca. 75 Jahren. Ditmar
fam ihm mit dem ganzen Kiebenswürdigen Enthufinsmus jeines
Wefens und jener fhönen, echten Pietät entgegen, welche ihn aud)
in feinen Beziehungen zu Elife von der Nede, Tiedge, Johann
Heinrich Vol, Jean Paul u. a. auszeichnet. Cr j—eint Woltes
Herz vafdh gewonnen zu haben, wie er ja überhaupt die Gabe,
Herzen zu gewinnen, in ganz hervorragendem Maafe bejaf. Oft
berichtet er in jeinen Briefen an die geliebten Eltern in der
Heimath voll Begeifterung über den verehrungswirdigen Greis
Wolte, dejfen edle Eigenjchaften, deijen Güte und Freundlichkeit
er nicht genug rühmen fann. Weniger nadempfinden fönnen wir
«5 Ditmar, wenn er fid) aud für Woltes Gedichte erwärmt, die
mit zum Wımberlichjten gehören, was die deutiche Pocfie bervor-
gebracht Hat. Wolke war, wie fon der Titel feines Hauptwerfes
„Anleit“ 2. zeigt”), mit Leidenichaft Spradhreiniger ımd machte
fih in dem Veftweben, die beutiche Sprade von ihren vielen
Fehlern zu veinigen, ein eigenes Jargon zurecht, welches die ver-
beiferte und geläuterte deutjce Zprade darfiellen follte, in
MWirflichfeit aber als ein geradezu abentenerlihes Product jeines
zweifellos ehrlichen puriftiichen Bemühens bezeichnet werden muß,
das Heutzutage zum Glück ganz vergeffen it. In diefem Zargen
find num au Wolfes Gedichte verfaßt, von denen Ditmar in
nen Briefen an die Eltern einige mittheilt. Der alte Wolfe,
deffen Vefcpeidenheit Ditmar nicht genug rühmen fan, beanspruchte
*) Woltes Hauptwerf trägt den Titel
ipradje oder zur baldigen Erfenmung wıd Perichtigung einiger (zumenigät
20 taniend) Sprachfäler in der hochdeutfchen Mundart” u. |. w. (1812, 2
mit verändertem Titel 1816). Außerdem gab er heraus: „Erite Kenutniffe für
Ninder“ (Xeipgig 178315 „Beidpreibung der hundert von Chodomicdi zum
Sicmentarwert gegeineten Kupferiofeln“ (ITSI 87); „uweifung wie inder
und Stumme zum Veritehen und Sprechen zu bringen find“
Ichre“ (IS Wirtheilungen der allererften Spracfenntn
A805); „Düdspe or fahfiide Sinngedichte USIL; 2. Aufl.
teisrere Sammlung wollte er auf das Wohfflingende der nied.
aufmertjam maden. Vgl. $ sgefchichte Wolle
>%) ef. die Lefte Anmerkung.
nleit zur deutichen Gefammte
Ein nod) ungedrudter Brief Hants. 1
nicht ein Dichter zu fein, er wollte nur feiner Meinung nad)
iprachlih correcte Mufter bieten, zur Nahadtung für andere
Dichter. Was wäre wohl aus der deutiden Pocfie geworden,
wenn fie fich mac diefen Muftern gerichtet hätte?! Sie fünnen
heutzutage wohl nur dazu dienen, ein Lächeln oder nod) befier ein
beiteres Zachen hervorzurufen. Um zu zeigen, dab ich damit nicht
zuviel jage, teile ich eine Probe der Wolkejchen Pocfie aus einem
Titmarihen Briefe vom 11. Nov. 1815 (aus Verlin) mit,
ein Gedicht, das an cine in ihrem Wefen nicht gerade fehr Klar
hervortvetende Göttin gerichtet if. Cs lautet:
Wer fan doc) von allen Weilen
Dich, Gottine! wärdlic”) preit
Tich, die Gott uns hat gefandt!
Werde, Schentin hoher Gaben,
Di di Himmelsgeifter laben,
Alten Erdnern bod) befant!
Tu, deS Yenfeitwegs Veblumin,
Du, des Selpeits Eigentumin,
Bit di Menfchverengelin;
Den Verzagten Geifterhebin,
Den Halbtodten Neubelebin,
Allen Erdnern Hohsgewin.
Dir wil id} mich ganıs ergeben,
Gants nad) deiner Vorfcprit eben,
Hier amd in der Ewigfe
Varnin, Trojtin, Yuld und Yibe,
Du Berebelin der Tribe,
Di der rohe Menic, entweibt.
Sit des Sehens Kraft verzeret,
Mir der Ietöte Wundht gewäret,
Yift mein Gcift ins Heimatland
Dan erjeinft du mir zur Freude,
Macht ein Ende jedem Leide,
Neichft mir Kebreich deine Hand.
Ein anderes, fehr deutichpatriotiiches Gedicht athmet Hal
und Verachtung gegen die „Sranslinge“ (d. d. Anhänger der
Frangofen unter den Deutfchen) und Vonaparte, welden ex den
>) Woltes Verbefferungen für „Göttin“ und „würdig.
112 Ein nod) ungedrudter Brief Kants.
„Kölner“ nennt, weil er die Erde in eine Hölle verwandelt habe
und dgl. ın.
Wie groß Wolkes Anfehen damals war, wie had) auch feine
jpracpreinigenden Arbeiten von Diännern erjten Nanges geihägt
wurden, das zeigt uns das Sejpräch, welches Ditmar bei feiner
erjten Begegnung mit Jean Paul in Bayreuth hatte. Ditmar
führt fh mit einem Brief Wolkes bei Jean Paul ein, findet
diefen gerade beim Studium von Wolfes „Anleit” und Jcan Paul
fpricht fid) darauf mit wärmjter Anerkennung nicht nur über
Wolfeo Perfon und Charakter, jondern gerade ipeciell über feine
ipracjreinigenden Arbeiten aus. Ja, er äußert, wenn er feine
Opera omnia edire, woran er jept ftarf denfe, jo wolle er
Wolfes „Anleit“ noch einmal durchjtudiren, um feine Schriften
nach denelben zu corrigiven! Alles fönne er aber dad) nicht
annehmen, namentlich die Orthographie nicht”). Das it immerhin
ein vielfagendes Zeichen der Anerfennung.
Wertgvoller und bedeutender als Wolkeo Bemühungen, die
deutiche Sprade zu verbeifern, war ohne Zweifel fein pädage-
güches Wirken, in weldem er mit VBajedow zujammen ftand.
Auf diefe Seite feiner Thätigfeit, veip. auf das jogen. Rhilan-
thropin bezieht fid) nun auch der Brief von Kant, welden Ditmar
offenbar von Molke zum Gejhent erhalten hat. Wolfe hat in
jeinem eigenthiimlicen Jargen über denjelben die Venrerfung
gelept: „Schreiben des verjtandberühmten Heldenfers Nant an
Wolfe.“ Der Brief jelbjt lautet:
Verehrungswürdiger Freund!
Wenn ich hier alle Yobeserhebungen, die nur die größte
Schmeichelen erfinnen fann, bäufete, jo würden fie wirklich dod)
nur die aufrichtige und wahre Gefinmung meines Herzens aus-
drüden. Sie find der lehte Denker, auf dem alle Hofnung der
Theilnehmer an einer Sadde, deren der allein das Herz auf
ichwellen macht, ist beruht. Die Veharrlichteit, bey To vielen
Hinderniffen einen fo großen ‘an ausguführen, erwirbt Shnen
Nach) DTitmars Neifenotigen, Mai ISI6 (Keile von Tresden nach
Heidelberg).
Ein noch ungebrudter Brief Kants. 113
mit Recht die Bewunderung und den Dank von icdermann, der
da verjteht, was es heiffe, nad) feiner ganzen Veftimmung ein
Menih zu jeyn, und wenn Sie aud nur durd) einen feineren
Ehrbegrif getrieben würden, alle Gemädhlichfeit des Lebens jo
dem öffentlichen Velten aufzuopfern, jo würde cs überall fein
gewiljeres Mittel geben, Ihren Namen dem Danke der jpäteften
Nachfommenfchaft zu überliefern, als das Gejchäfte, dem Sie fi
weihen und weldes, wie id mit vielen anderen iegt hoffe, feinen
Zwed (wenn der Himmel Sie nur gefund erhält) fiherlich nicht
verfehlen wird.
Ih Habe eben igt das Pad mit den legten Pädagegüichen
Stüden des erjten Jahrganges erhalten und werde fie gehörig
vertheilen. Ich muß aber zugleich von einer Veränderung, und,
wie ich Hoffe, Verbefferung der Art, wie bie philanthropiniidhe
Angelegenheit fünftig in unjerer Gegend betrieben werden fan,
Nachricht geben. Die Kanterihe Zeitung, durd welche allein
gelehrte Ankündigungen im Publitum verbreitet werden Fönnen,
ift bald in eines, bald des anderen Hände gegeben worden. Jeht
birigirt fie der reformirte HE. Hofprediger und Doctor Theol:
Criehton. Diefer fonft.gefehrte Mann hat fich either nicht fonbderlid)
günftig vors Philanthropin erklärt und, da fein Urtheil, theils
durch feine weitläufige Belannticaft, theils die Zeitung, weldhe er
iegt in feiner Gewalt hat, meiner Ihnen gänzlich ergebenen Ges
finnung ein großes Hindernis in den Weg legen fönte, fo habe
id, ftatt des frucjtlofen Controvertirens, das Ichmeicdelhaftere
Mittel ergriffen, diefen Mann auf Ihre Seite zu ziehen, nämlich
diefes, daß ich ihn zum Haupte Ihrer hiefigen Angelegenheiten
machte. Diefer Verfuch ift mir gelungen, indem id) ihm, durd)
die Vorjtelung der wichtigen Verbejlerungen, welde unter HEn.
Wolf’s direetion am Jnjtitute gemadht worden, einen Weg lies,
ohne fein voriges Urtheil zu wiederrufen, zu einem ganz entgegen:
gelegten überzugehen. Ich glaube, daß diefes Mittel aud fonit
nügfich fein fann: denn die, jo ihren Venfall verweigern, jo lange
fie nur die zweyte Stimme haben, werden gemeiniglid) ihre
Spradje änberen, wenn fie das erite und große Wort führen
fönnen.
144 Ein nod) ungedrudter Brief Kants.
Ich habe alio HEn. Hofprediger Doctor Criehton die Liite
der bisher Pränumerirenden und den Auftrag, den ich hatte, Ihre
Angelegenheit fünftig durd öffentliche Anfündigung, colli
und anderweitige Bewerbungen aufs Velte zu treiben, übergeben,
und er hat folhen gern übernommen. Und nun bitte id) inftändigit
an gebachten Herren Crichton doc) jo bald als möglich zu chreiben,
Ihr Zutrauen zu ihm zu äufferen, vornemlih aber, entweder
fhriftlih von den neuen Verbefferungen die das Jnititut, entweder
dem Plane oder der Ausführung nad), jeit Jhrer Direktion erhalten
hat, eine furze Jdee zu geben, oder jolde im nächjten Stüd der
Unterhandfungen zu veripreden. Denn er jdien über den Vor:
wand verlegen zu feyn, bey der öffentlichen hiefigen Ankündigung
feine neue Denfungsart zu rechtfertigen und bedarf gewiile Gründe
diefer Menderung aus der Sache jelbit, ohne fein voriges Urtheil
wieberrufen zu bürfen.
Wir find beyde in den Principien der Veurtheilung eines
folhen Inftituts zwar himmelweit auseinander. Gr fieht die
Scgulmifienfhaft als das einzige Nothwendige an und id) die
Bildung des Menihen, feinem Talente jomwohl als Charakter
nad. Aber nad) der guten Einrihtung ti? Sie getroffen haben,
kann beyden genug gethan werden. Ein Cremplar von allen
Stüden des fünftigen Jahrganges werden Sie and) nicht vergeffen
vor ihn Fünftig benzulegen, imgleihen dod) zu beforgen, dah die,
fo bisweilen einige Päce von bdiefer Schrift hieher abzuliefern
Haben fünftig feine spesen forbern, wie der Jube Hartog Jacohs
kürzlich that, dem 5 fl. Frachtfojten (mit 24 gr. preußiih aceise
eingeichlofien) nad) unferem Gelde bezahlt werden mußten, die
fi) nicht füglid) auf die Interessenten repartiren lafien.
Db ich gleih mich auf folhe Weife von der hiefigen Be
forgung Ihrer Angelegenheit loszufagen jcheine, jo it diefes doc,
Teineswegs fo zu verjtehen. Denn da Ihnen der iegigen Ein
tihtung unferer Zeitungen, von mir nicht anders als nad) der
fchon gemeldeten Art gedient werden fonte, jo habe id) mid) dazu
entfchlofien; gleichwohl Ihrem neuen Gejdäftsträger meinen
Veyjtand, in allen Fällen, wo es ihm zu viel Beidhwerde maden
möchte, angeboten, wie id) mid) denn eben fo willig, zu Ihren
Ein nod) ungedrudier Brief Kants. 145
anberweitigen Aufträgen und allem was Jhr interesse betrift,
fernerhin darbiethe und nach herzliher Begrükung von Herren
Motherby und feiner Frau an Sie und Ihren Sohn mit ber
größeften Hodachtung bin
Ihr und des ganzen Jnitituts
ergebenjter Diener
J. Kant.
Königsberg, d. 4. August 1778.
* 4 x
Man cerficht aus diefem Briefe, wie hod ein Mann von
der Bedeutung Kants die päbagogiihe Wirffamfeit Wolfes, die
mit dem Philanthropin neu angebahnte Richtung ihäpte. Wichtiger
und intereffanter erjheint aber der Einblid, den wir durd) denfelben
in den Charakter Kants gewinnen. Der grofie Philofoph zeigt
ih hier als ein weltgewandter Diplomat, der mit groier Klugheit
die Schwächen feiner Nebenmenjchen zur Förderung eines guten
Zwedes zu benupen weiß. So ült der Brief zwar nicht von
wifienihaftlicher Bedeutung, dafür aber von um jo größerem
allgemein menjchlihem, piyhologiihem Intereffe, zur Charakteriftit
Nants nicht ummichtig und daher von jedem Biographen des
großen Königsberger Denfers wohl zu berüdfichtigen.
ae
Ans einer Denkinrift
des Wrofefors Georg iriedrich Parrot.
Folgenden Brief des befannten Dorpater Profeffors der
Phnit ©. F. Parrot (j 1852) an den Naifer Nicolaus -I. ent
nehmen wir der „Nusifaja Starina” (1895, April ©. 213 ff.).
Die Umftände, unter denen er gejchrieben worden, gehen aus ben
Anfanggeilen hervor.
1839, März 8. (20.)
Mojejtät!
IH habe den Bericht des Mlinifters der Volksaufklärung
vom 7. Juni 1838 gelefen und zwar in der beutjchen „Allgemeinen
Zeitung” vom 21. Februar 1839*), welche Nummer in Petersburg
unterdrüdt worden ift. Die Redaktion fügt nichts hinzu in ber
Ueberzeugung, daß die Sadıe an fid) ihre Wirkung haben werde.
Sie bemerkt nur einleitend, dab diejes Dofument in zahlreichen
banbfepriftlihen Exemplaren ruffüc) und deutic) jirfulire, und daß
Gure Kaiferliche Majeftät mit Vleiftift darauf geichrieben: „Ich
genehmige es.”
Dan fragt fi) zunädjit, warum diefes von Eurer Kaiferlichen
Majejtät gebilligte Nejtript vom 7. Juni 1838 bie zum 27. Fer
bruar 1839, an weldem Tage e& durd) das Mittel einer deutichen
Zeitung in Petersburg eintraf, nicht veröffentlicht worden ült.
*) Neuerdings wieder veröffentlicht im Ra Jahre ruffiicher Ders
waltung in den baltifen Provinzen“ (Leipzig 1883), ©; .
Aus einer Denfidrift ©. F. Parrot’s. 147
Man fragt fid, warum das fremde Blatt, das eine fo gewichtige,
drei blühende Provinzen Jhres Neid)s aufs Iebhaftefte interejlirende
Anordnung veröffentlicht, unterbrüdt worden ijt. Curopa muß
glauben, daß Eure Mojeftät fürchten, Ihren Willen hinfichtlic des
öffentlichen Unterrichts befannt zu geben. Was mich betrifft, fo
bin ih wohl überzeugt, daß Sie nicht glauben, ein Interrefle
daran zu haben, was Sie für die Zivilifation Nußlands thun, in
ein dunfles Geheimnis zu hüllen. Sie bedürfen feiner Hinter:
aedanfen für das Gute, das ie thun wollen. Das Geheimnis
it nur denen erforderlich, die, um Thatlahen und Grundfäge mit
Gewalt zu verdrehen, Sie zum Jrrthum verleiten und aus diefer
Urfadhe die Deffentlichteit jo jehr fürdten.
Eure Majeftät haben von mir Wahrheit verlangt. Ceit
zwölf Jahren habe ich fie Ihnen ohne Umtleidung geboten. Mein
Gewiffen fordert mic) faut auf, diefe Pilicht heute gegenüber dem
erwähnten Bericht zu erfüllen. Geruhen Sie mid) zu hören.
Der Bericht jagt: Die ruffüche Sprade dringt nur
mit Mühe und fehr fangfam in die baltifchen Provinzen ein.
Meine Antwort darauf lautet: So ift e8, und id) denke,
dafı wenn die Sade fi jÄneller machen ließe, fie fih von felbjt
gemadjt hätte, da die baltiihen Provinzen wohl überzeugt find,
daß es in ihrem Interefje liegt, wenn diejenigen, die fi dem
Dienfte der Provinzen und Nuhlands widmen, das Nuffiihe
volltommen fennen. Keinesfalls ift ber öffentlicye Unterricht diefer
Provinzen die Urfahe biefer Langiamkeit. Jede öffentliche und
private Schule und die Univerfität jelbft hat Lehrer der ruffiichen
Eprade und Literatur, bie beten, die man finden fann, und zu
ihrer Aufmunterung hat man ihnen Rang und Bezüge der wiffen-
Iaftlihen Lchrer verliehen, deren fid die Lehrer der anderen
lebenden Sprachen nicht erfreuen. Die Univerfität wendet fogar
Zwangsmahregeln zur Begünjtigung des Etudiums des Nuffiichen
überall an, wohin ihre Autorität reiht.
Diefe beftändigen Ausfälle gegen den geringen Fortichritt
der ruffiihen Sprade in den baltischen Provinzen rühren von
Perfonen her, die die Dinge nicht fennen und glauben, «6 reihe
hin, ruffilch zu Äpreden, um ein guter ruffücher Patriot zu fein.
Sie überjehen, dak heute die Gegenjtände des willenihaftlichen
148 Aus einer Denfigrift G. 3. Parrot’.
Unterridts auf Schule und Univerfität jo zahlreih und fo unum-
gängli) find, da es unmöglid ift, dem Studium einer lebenden
Spradje mehr Zeit zugumwenden als man fie dem Nufjiichen widmet.
Sie überjehen, daß eine lebende Sprache fi Teiht und jcnell
nur da lernen läßt, mo das Wolf diefe Spradhe redet. Der
Verfafler des Verihts will die Vevölferung der baltifchen
Provinzen in drei Jahren zum Ruffüdipreden bringen. Glaubt
er denn wirklich infolge feines Plans die ruffiiche Nationalität
den Provinzen aufzupfropfen, daß bie ruffihe Sprade als
folhe dem Herriher und dem Vaterlande ergebene Unterthanen
made? Dann hätten ja alle die Verräther, die der denfwürdige
14. Dezember enthüllt hat, fein Wort Ruffiih veritehen müffen.
Id wieberhole: die ruffiiche Spradye wird in bie gebildeten
Naffen der baltiichen Vevölferung von felbt eindringen, aber
langiam und im Verhältnis zum Fortichritt der Wifjenfchaft und
Literatur in Rußland. Gewaltmaßregeln fönnen nur den Eintritt
diefer Epodje verzögern.
Der Bericht beflagt, daß die baltifhen Provinzen
während eines Jahrhunderts fi Fernruffiichem Charakter
und fernruffiicer Sitte jo wenig genähert hätten, ohne
offen zu jagen, worin diefer Charakter und diefe Eitten
bejtehen.
Der Charakter eines Volkes hängt vom Einflu des Klimas,
der Gefeggebung und der Religion ab; jeine Sitte von mehr oder
weniger alten Gewohnheiten, von feiner Gefdichte und feiner
Suftweftufe. Sehen wir zu, unter weldjem von all diefen Gejichts-
punkten ber Balte ji dem ruffihen Charakter und ruffiicher
Sitte nähern follte.
Das Klima? Gott giebt es allen; wir fönnen mehr oder
weniger Mälder verwüjten, Cümpfe troden legen, Korn fäen.
Aber wir werben nie die Temperatur der Krim oder die Berge
des Raufafus nad) Petersburg verfeßen oder die Kälte Nord:
fibiriens in die Nahbarihaft des Ararat. Alio giebt es nach
diefer Nichtung hin nichts zu mobeln.
Die Gefeggebung? Sie ift Menjchenwerf und fann geändert
werden. Will der Verfahier des Werichts, her bie fernruffiichen
Aus einer Denkihrift ©. F. Parrot's. 149
Zitten fordert, die Zeiten wieder aufleben laifen, da die Nation
in ihrem Schoße feinen Dann fand, ber fie zu regieren fähig
war, und deshalb den Normannen Nurit berief, oder bie Jahr
hunderte, da Rufland, in mehrere Großfürftenthümer getheilt, fi
als Beute der Varbarenhorden jah, oder lieber jene neueren, da
die Streligen die Prätorianer und Janitiharen Ruflands waren?
Die gegenwärtige Gejeggebung, durd) Peter den Großen begründet,
bat diefe alten Gitten aufgehoben, und ohne dem ruffiichen
Charakter unredht zu tum, läht fid) zweifeln, ob ein mohlunter:
rihteter Nuffe den Verluft jener vergangenen Zeiten bedauert.
Die Gefchichte? Die neuere Gedichte Außlands datirt von
Peter dem Großen und hat mächtig auf bie Sitten des ruffilchen
Volts eingewirkt. Prüfen wir die Wirkung unter den verjchjiedenen
Regierungen.
Unter Peter 1. war fie am fprunghafteiten, am gewaltiamften.
€s Handelte fi darum, Rußland in die Neihe ber europäifchen
Staaten zu ftellen. Rußland hafte vor diejer Epoche fremde
Litten und folglich die Ausländer. Cs litt damals nur Kaufleute,
mit welden «8 den Gewinn bes Handels theilte. Peter 1. wollte
im Fuge die mecanifhen Künfte und Wifenfhaften einführen,
welche zur Flotten: und Heeresbildung in Beziehung ftehen. Darum
die Einführung der Ausländer, der Deutihen und Holländer. Darum
die Yilbungsreifen bes Zaren und feine Anordnungen, bie Nuffen
jur Heife ins Ausland zu gewinnen. Dieje Bemühungen eines
vielleicht zu abjoluten Geiftes haben wohl Schiffe, geihulte Soldaten
und Feitungen geliefert, aber nicht MWifjenichaft und Aufklärung
befördert, die doch die Grundlagen der Zivilifation find.
Katharina 1. nahm das Werk fait an dem Punkte wieder
auf, wo ihr großer Vorgänger es gelafien hatte. Sie hatte
gleidjerweife große Ideen und jeßte die Ariege Peters 1. fort.
Sie begünftigte Wiffenfchaften, Künfte und Handel. Sie triumphirte
über die Türken, um das jdwarze Meer zu beherrichen, und
theilte Polen, um die Grenzen des Reichs dem übrigen Europa
mehr zu nähern. Ihr Auhm war ihr Wille, den Ruffen
ein Gefegbuch zu geben, und jelbjt hat fie ihre berühmte
„Snfteuftion“ geichrieben. Sie jcheiterte, weil ihr Volk feine
Nectsgelehrten hatte, Indeilen gab fie einige Gejege, die in
150 Aus einer Denkjehrift ©. $. Parrot's.
Geltung verblichen find, zu Gunften der Bauern, und orga:
nifirte Rußland in Gouvernements. Der Nuffe reifte viel unter
ihrer Negierung, nur bildeten biefe Reifen Touriften, die mehr
auf Vergnügen als auf NKenntnijfe ausgingen. Immerhin lieh
dieje vorzeitige und überflüffige Zivilifation, die mit jo wenig
Einfiht erworben war, den Nujien glauben, dah er viel weiter
vorgerüct jei, al8 er es war. Was Gutes geihah, geichah
größtentheils durch die Deutichen, die nad) Rufland ftrömten, und
durd) die Bewohner der baltijcen Provinzen, die fich in Petersburg
fammelten; unb bie ruffiidhe Zivilifation hätte viel mehr gewonnen,
wenn die Menge franzöfiiher fogenannter Hofmeifter nicht einge-
derungen wäre, die nur den Gebrauch, ihrer Sprache fannten und
das Vorurtheil begründeten, das nod) lange darnadı gewährt hat:
man brauche nichts zu fernen, wenn man mit Leichtigkeit frangöfifc)
ipredien Tonne. Die derzeitige Armut; an Unterrihtsmitteln
Fonnte nicht mit Erfolg gegen diejes bequeme Vorurtheil fämpfen,
das den Fortgang der Vildung bis auf Raifer Merander 1. auf:
gehalten hat.
Erft unter diejer dritten Schöpferiichen Negierung entjtanden
die zahlreichen öffentlihen Unterrichtsanitalten, die noch heute die
Grundlage der nationalen Bildung ausmachen. Aber die Haupt:
träger biefer Bildung waren die baltiihen Provinzen und ‚bie
Ausländer; der Nationalruffe Fonnte zu diefem großen Werfe nur
wenige geeignete Perfonen bieten.
Kaifer Nitolaus 1. wurde über biefen Mangel, wie über die
verderblihen Wirkungen nationaler Eiferfudt und des Deipotismus
der Nuratoren, unter dem die Univerfitäten im Innern hinwelften,
unterrichtet, und nahm den ihm vorgelegten Plan, eine Generation
junger ruffifcher Profefforen zur Begründung einer wahrhaft
nationalen Zivilifation heranzubilden, an. Dod) fo ftark jein Eifer
zum Ausdrud gekommen war, fheiterte er an einem Kunftgriff
biefer felben inneren Univerfitäten. Cie erklärten, zujammen nicht
wehr als zwanzig Perjonen für jenes Unternehmen liefern zu
Fönnen. Indefien nahm feine Standhaftigfeit aucd) diefe geringe
Zahl an und der anerkannte Erfolg auch diefer Fleinen Minderheit
läßt bedauern, daß der lan nicht im großen ausgeführt worden.
Aus einer Denfihrift G. F. Parrot’s. 151
Die Kulturjtufe? IC mühte fürdten, Eurer Majeftät Ein-
ht zu fränfen, wollte id) erft zu beweifen fuchen, daß der Rultur-
grad der baltiihen Provinzen höher it als der des übrigen
Ruflands. Alle aufgeflärten Huffen geltehen das, wenn aud mit
Bedauern, zu, und nur einige erhigte und durch mikverjtandenen
Patriotismus irregeführte Köpfe bilden fi) das Gegentheil ein.
Wenn aljo der Verfaffer des Verichtes die Annäherung ber
baltiihen Provinzen an die Kultur derjenigen wünfcht, die er als
ruffiih par excellence betrachtet, will er, daß die Liv-, Kur- und
Ehftländer einen Theil ihrer deutjchen Kultur opfern, um fi den
anderen Provinzen zu aifimiliven. Es fommt ihm nicht in den
Einn, daß es gerade umgekehrt jeine Pflicht jei, dahin zu arbeiten,
daf die Kultur des übrigen Ruflands fi) auf die Stufe der
baltifpen Provinzen hebe. Der Undankbare vergißt, dah er feine
eigene Bildung einer beutichen Hodichule verdanft ...
Se- .
Bolitijhe Sorrefponden.
Es mag lange her fein, feit ein Minifter im deutjchen
Neihstage dur) eine hochpolitiiche Nede einen jolden Sturm der
Anerkennung entfeilelte, ale der Stantsjefretair des Auswärtigen
am 13. d. M., und die Neichsboten erinnern fi nicht einer
würdigeren Sigung in diefer Tagung beigewohnt zu haben, als
bier bei der Verathung über Transvaal und das Verhältniß zu
England. Die äußere Politik ijt eben das Feld, wo allein nod)
eine Einmüthigfeit zn gewinnen ift. Und Herr von Maricall
hat denn aud) feine Sache fo vortrefflich geführt, daf nicht blos
Anerkennung, fondern ein gewilfes Staunen darüber fid fund
that, wie diejer Mann, den man vor ein paar Jahren den Diinifter
tranger aux affaires nannte fid) entwidelt habe und mit feinem
Amte gewachien fei. Die Nede war, wie gefagt, vortrefflih in
ihrer Hude, Sadlichfeit nnd Feitigfeit, und wenn die Engländer
den Wunfd) hegten, fid) von der Unfadjlichfeit ihrer Erregung zu
überzeugen, jo den fie in Dielen offiziellen Darlegungen alle
nöthigen Mittel dazu. Die Hauptfache war, da nad) der Ver:
fiherung des Staatsiekretairs „unfere Beziejungen zu der engliichen
Negierung feinen Augenbli aufgehört haben gute, normale und
freundliche zu fein.” Das ift mehr, als was Mande für wahr:
iheintich hielten, die jeit Wodyen aus englifden Blättern einen
Strom von Galle fid) ergießen jahen, von dem man annehmen
durfte, da er doch einigen Einfluß auch auf die Haltung der
britijchen Negierung ausüben fünnte. Und man hatte zu jolden
Vefürhtungen um jo beijeren Grund als mandje Yeiter diefer
Politiihe Norreipondenz. 153
Regierung einen Ton in ihren Reden angefchlagen hatten, in dem
faum mehr die diplomatischen Formen der Freundichaft erfennbar
waren. VBalfour, Chamberlain, jelbjt der Lord auf der Kommando:
brüce redeten als ob Dentichland gedroht hätte, nicht in Transvaal,
fondern in Irland zu interveniren, und fie haben ja ohne Zweifel
ihre Gründe dazu und ihre Zwede gehabt. Denn jelbit ein jo
ruhig und billig dentendes Volt, wie John Bull, wird doc, endlich
ungeduldig, wenn es ein Jahr lang Niederlage auf Niederlage
erleidet, bald hier, bald da, ohne recht die Urfahen zu erkennen,
marım man es denfelben ausgejegt hat, und da jammelt id) der
Uerger im Innern auf, und in dem unbehaglichen Gefühl fucht
man Luft zu befommen durd) tüchtiges Zanfen gegen einen guten
Mann. Da war denn Deuticland der gute Dann, um jo lieber
als eo in Handel und Wandel aud) oft unbequem ijt und man
fi) fchon des Oeftern über „made in Germany“ und dergleichen
geärgert hatte. So gok man denn aljo als praftiiher Held die
in Citafien, am Mefong, in Armenien, in Stonftantinopel, in
Venezuela überreizte Leber gegen Deutfchland, als den ungefähr
lichjten Nachbar aus und benupte zugleich die Gelegenheit wie ein
geriebener Börfianer, um die Nothwendigfeit einer bedeutenden
Vermehrung der Flotte dem engliichen Steuerzahler Mar zu
maden. Das war jo die Gefühlsfeite in diefer Angelegenheit.
Hinter derjelben jtedt denn aber dod) aud) ein gut Theil polit
iher Heafität, wenn man auc) zugeben muß, ba 6 zu wenig ift,
um den alten guten Nuf Lord Salisbury's als eines Politikers
des thatkeäftigen Healismus wieder herzujtellen oder felbit um
diefem SKabinet feine Ropularität zu fihern. Gegenüber den Er:
Härungen des Herrn von Maridall und den Elaren Thatjachen
des deutichen MWeihbuches über Transvaal ift es nicht möglid), die
vorher beliebten Vorwürfe und Drohungen nod) weiter fortzufegen
oder aufrecht zu halten, und man hat fid) denn aud) fdon vorher
in der Thronrede, mit der das Parlament am 11. d. M. eröffnet
wurde, darauf bejonnen, daß cs mit Deutidland gar feinen Kon:
fitt giebt. Ich wühte mid) feiner Thronrede eines europäliden
Großjinates zu erinnern und feiner offijiellen Erflärungen, wie
Lord Salisbury fie im Oberhaufe am jelben Tage der YParla
mentseröffnung abgegeben hat, welcde idhwere Niederlagen mit fo
154 Politische Korreipondenz.
guter Miene der Welt und gethan hätten. Das Spiel bleibt
darum doc böfe genug und es gehört dazu die ganze engliide
Selbitzufriedenheit, e6 gehört die englifhe Unbefanntichaft mit der
Preffe fremder Länder, um fich einzureden, daf; England mit dem
Gang der Dinge in der Türkei, in Venezuela, in Transvaal und
Wien zufrieden fein dürfe und Alles zum Bejten ftehe. England
erfennt ruhig das Necht der Union, fih in die fühamerifanifhe
Grenzfrage einzumifchen an und der Premier meint ohne mit den
Wimpern zu zuden, „dah die Einmiichung der Vereinigten Staaten
in die Angelegenheit Venezuelas befriedigende Nefultate für Eng:
land fchneller herbeiführen fönne, als cs ohne die Einmilchung
möglich gewejen wäre.” Die Monroe-Doktrin findet man heute
fogar ganz annehmbar. Das find, von anderen Demüthigungen
zu fchweigen, jo jchwere diplomatiiche Schläge als England feit
hundert Jahren faum ruhig welche hingenommen hat. Aber die
‚Zeiten find eben andere geworden, feit man aufhörte für ein euro:
pälfches Gleichgewicht zu Ihmwärmen. Es handelt fi heute um
ein Gleichgewicht nicht mehr in Europa, fondern in der Welt, und
da giebt es nur zwei Konkurrenten, die Union und Rußland: mit
beiden wird auch das „greater Britain“ fid) hüten anzubinden
ohne jtarfen Nüdhalt, und welchen Bundesgenofien Fönnte England
etwa gegen die Union in Ausficht nehmen? Vorläufig jedenfalls
feinen Staat von erheblichen Machtmitteln. Andererjeits aber ber
deutet ein ernfter Zufammenftoß mit der Union für England ben
fofortigen Verluft von Kanada, welches, obwohl größer als die
Union, doc) fih mit biefer Friegerifd nicht meifen fan, nicht
etwa wegen ber 10 bis 50,000 Dlann Truppen, die Bruder
Jonathan bereit Hält, jondern wegen deffen fehr überfegener po-
tentiellen Machtmittel. Inzwifhen hält man es freilid, doc) für
möthig, in Ranada zu rüften und fi) zu befeftigen —- eine für
den Erntfall wahriheinlich nusloie Anftrengung. —
Was England will und trog aller Idmacvollen Behandlung,
die es fid) gefallen (äht, ruhig weiter verfolgen wird, das it die
Vefeftigung und Sicherung jeiner Weltftellung. Diefe hängt aber
davon ab, ob es ihm gelingt, feine Kolonien enger als bisher
mit dem Mutterlande zujammenzufchliehen, insbefondere ob die
großen und verfafiungsmäfiig der engliihen Geiegebung nicht
Politiiche Norrejponden;. 155
unterjtellten Nolonien von Yuftralien, Napland und Nanada fich
dazu verftehen werden, an dem Schup des Dutterlandes im Kriegs:
falle pflihtgemäß fich zu betheiligen und entiprechende Ausgaben
für Streitkräfte zu übernehmen. Denn bisher jdügt Großbritans
nien fajt allein feine Kolonieen mit Aufwand bes größten Budgets
für Heer und Flotte in der Welt. Diefe großen Kolonien aber
waren bisher jolden Forderungen jehr unzugänglid, weil fie fi)
von feiner Seite her bedroht jahen, aljo eine vermehrte Kriegs:
fteuer nur einfeitig dem Dlutterlande oder andern Kolonieen wäre
zu Gute gefommen. Heute ift Nanada bedroht, aber alle Rüftungen
würden im Ernftfall gegen die Union unzureichend fein; Napland
mit feinen Nebentolonieen bedarf ebenfalls verjtärtter riegemacht,
aber nicht zum Schuge, fondern zur Fortführung der feit zehn
Jahren in einem feften Plan gejtalteten erobernden Politit, deren
Ziel it, Afrifa, wenigitens den üben bis hindurch zur Nil:
mündung für die angejähfiiche Naffe zu gewinnen. Der Gedante,
daß diejer Plan dur) Deutichland ernitlih Fünnte beanjtandet
werden, war cs denn aud), was die Times und ihren Anhang
neuerdings jo in Aufregung brachte. Je weniger Ausficht vor-
handen ift, Kanada zu Halten, um fo wuchtiger wirft man fid) in
London auf Afrita, um dort Entihädigung zu finden. Amerika
hält man bereits für fo verloren, daß man ruhig die Monroe:
Tottrin hinnimmt, dafür aber eine ähnliche Lage für fi in An:
ford) nimmt in Nüdjicht auf das jüdliche Afrita. Hier joll die
englüche Weltjtellung einen neuen Grundpfeiler erhalten, wie ein
weiter in Aegypten errichtet wird, und um diefe Pläne durdhzus
führen, wird England vielleicht felbft grobe Nongeifionen in der
Türkei, in Oftafien maden. AU der Lärm des legten Jahres und
alle Niederlagen, die England erlitten, haben England nichts ge-
koftet, wenn man die Meinung der Welt nicht etwa veranchlagen
will, vielmehr den Beutel des Steuerzahlers geöffnet, mur mit
einer Ausnahme: in jeiner Stellung zur dritten Weltmacht, zu
Rußland. Hier ift die Niederlage jehr real und wird ihre Wir-
tungen wohl noch lange verjpüren laffen.
Die von der „Pol. Correipondenz“ neulich) gebrachte, von
den Botihaften in Konjtantinopel zufammengeftellte Weberficht über
die armenischen Vorgänge des lepten Jahres geben ein etwas
156 Politiche Korrefpondenz.
anderes Bild, als weldes man nad) den Berichten der Tages
blätter fi gemacht hatte. Aus diefen amtlichen Darlegungen
geht hervor, dab der Angriff in den Hämpfen und Megeleien meijt
von den Mufelmännern ausgegangen ift. Andrerjeits erficht man
aus dem engliichen Vlaubuch, da die Mepeleien der Mufelmänner,
wenn nicht hervorgerufen, fo doch geihärft wurden durd; Provofa-
tionen von armeniicher Seite. Uud diefe Provofationen wurden
mit Bewußtfein angeftellt, geleitet von einem revolutionären Ro-
mit, das Anfangs in Athen, dann in London jah, und von dem
man jagen darf, dal; eo, wenn nicht unterjtüßt, fo dod von eng:
licher Seite geduldet worden it. Indeiien find Zuftände, wie
diefe, wo 25,000 Mtenichen niedergemacht wurden, weil einige
Morde an Mufelmännern begangen und andere erbitternde An:
griffe der Armenier gegen die fürfiiche Herrichaft erfolgt waren,
dad) nad) europäifchen Begriffen foldhe, daß; die Mächte allen
Grund und eine ftarfe Verpflichtung hatten, einzufchreiten und
Ordnung aud für die Zukunft möglichjt herzuftellen. Ob es von
England politiih Hug war, wieder ohme Verbündete hier vorzus
gehn, wie es Furz vorher ohne Verbündete für Japan eingetreten
war, bleibt zu erwägen. Der Erfolg zeigt, dah feine anderen
Mächte in die armenifcen Angelegenheiten ich verwiceln ließen,
da vielmehr Nufland eine Stellung aus diefen Wirren fi) her-
ausgeichält hat, wie es feit Jahrzehnten fie am Goldenen Horn
nicht bejefjen hat. Und dieje Stellung wird fi ohne Zweifel für
England fehr bald unfiebjam fühlbar machen, vor Allem am Nil,
wo Nufland auf billige Weile eo in der Hand hat, Franfreid) für
feine Liebenswürdigfeit abzulohnen. Zum Glück it Deutfchland
in der Lage, diefen Wahrfcheinlidyfeiten mit vollem Gleidhmuth)
entgegenzufehen, bis zu dem Nugenblid, wo etwa die Frage
aufgeworfen wird, wer jtatt Englands den Suezfanal bewachen
Tolle. Und ehe es dazu fommt, werden wir wohl nod) manderlei
Meberrafchungen durch die Torungbafte und verftedte Politit Eng:
lands erleben. Grade dieje Pofition am Euez ift für England
von jolcher Bedeutung, dal es, wie ic) meine, fie nicht freiwillig
aufgeben fann, oder auf andere Weife fih die Veherridung der
Verbindung zwifchen dem Mittelmeer und dem Indiiden Tjean
fichern muß. Das wird Mar dur) einen Vlid auf die gegen-
Rolitifche Korreiponden;. 157
märtige Lage in Dftafien. Sobald Nufjland, was ja vorauszis
jeben leicht ift, am Golf von Petjchiti beherrichende Stellung ge
minnt, fobald cs au nur einen guten eisfreien Hafen von Hovea
erwirbt, ift die jtarfe Stellung, ift der Handel Englands in China
bedroht, und kommt dann Hinzu, da der Sueyfanal für England
nicht fiher ift, jo find die englifchen Juterefjen in Oftafien völlig
in der Hand Ruflands. Ein Hafen, etwa Port Hamilton oder
Tihufan, würde dann nicht mehr das (teichgewicht Heritellen
fönnen. Die nenejten Wirren in Söul, wo der Nönig die Ja-
paner verlafen und fid) in vujjiihen Schuß begeben hat, find eine
neue und jehr derbe Mahnung an England. Und wenn ‚ich num
nah einer Seite wenigitens einen Schluß aus dem äußeren Ver
halten der engliichen Negierung in den lebten Wochen ziehe, To üit
es der, dah England gefonnen üft, fid) für den Fall der Auflöfung
der Türfei vorzubereiten durch Lerftärfung feiner Stellung in
egnpten, und daf cs mit Preisgabe feiner enropäiihen Stellung
zur Sicherung feiner Seeherridaft alle Kraft aufbieten will, aber
um diejes zu verdeden die Vorgänge in Transvaal uud das Se:
ihrei der fontinentalen Preife zum erwünfchten Vorwand nimmt.
Vie taubenfanfte Thronrede vom 31. Februar jelbit ift ein Zeichen,
wie ängftlich man fid) in London hütet, feine wahren Sorgen zu
enthüllen. Sie pafit zu dem großmäuligen Uebermuth der nini-
feriellen Neben, die vorausgingen, in feiner Weife.
Gegenüber der Bedeutung, melde das ruffifc:engliiche Ber:
baltniß im der Politit Heute einnimmt, treten die anderen ns
tereifen jehr zurüd. Die finanzielle Noth am Bosporus, die Um:
inlbung des Prinzen Boris, das find Dinge, die jept bereits in
den Nreis diejes ruffiichengliihen Jnterefies gehören. Co ge:
fpannt man in Deutichland auf die Balkanhalbinel Hinblickt, To
glaubt man nicht, da; Aufland, in deifen Hand die Dinge dort
eben liegen, einen Friegeriihen Konflift geitatten wird. Gbenjo-
wenig wahrscheinlich ift, daß Nukland cs in Oftafien ohne zwingen:
den neuen Zwildienfall zu Stonfliften mit Japan oder England
werde fommen lajien. Der Friede fönnte mur von England, jei
es mittelbar, fei cs unmittelbar, gejtört werden, "wenn leßteres
einen Bundesgenofien findet oder fid) in Negppten bedroht ficht.
Recht bedentlid; wird die Lage in Cuba und Erythräa.
Spanien wie Ztalien find nicht reich genug, um jahrelange Kriege
158 Politiiche Korreipondenz.
zu führen, und weder die cubaniichen Nebellen noch die abefigni-
ichen Feinde haben bisher eine Erlahmung ihrer Kräfte gezeigt.
Seit weniger die Fürften als die Völker die Kriege maden, it
5 viel jchwerer gemorden, mit einer Schlappe den Kampf aufzu:
geben: die Ehre des Volks und die Erhaltung des Kabinets jegen
weit mehr als die Fürften früherer Zeit aufs Spiel um zu fiegen,
und fo laufen beibe Staaten Gefahr, an biefen Kämpfen zu ver:
bfuten, was weder für Spanier, nod) Italiener, nod) aud) die Be
figer fpanischer und italienifcher Papiere eine angenehme Ausficht
darbietet. Dazu ficht Spanien wenigftens für eine Jnfel von
großem Werth und altem Vejig, Italien aber um neue Länder,
deren Werth im Fall der Gewinnung evt erfahren werden fol.
Das ift für den Dreibund ein ebenfo unerwünichter als für Srank-
reich ein erwünfchter Vorgang, weshalb denn aud) die Bewaffnung
der Scoaner vorwiegend franzöfiih zu fein fcheint.
In Franfreic ift die Krifis pro Februar wahriheinfid
wieder erledigt — wohl bis zum März. Imdeflen ift doch zu be>
achten, dab feit Jahr und Tag der Nadikalismus Fortichritte
maht und e& diefes Mal nicht ein Anfturm blos einer Partei
gegen den Senat war, wie er jhon oft dageweien, fondern eine
prinzipielle Gegnerfchaft zwilchen dem Senat und den beiden
andern Gewalten, die ungelöft geblieben ift. DBejteht der Senat
darauf, daß das Rabinet feine Verantwortlichkeit zwiiden ihm und
der Kammer gleichmäßig theilen folle, To fommt es bei nädjiter
Gelegenheit zu einem Kongreh in Verjailles, der, wie die Regies
rung heute zufammengejegt ift, dem Senat und damit der ganzen
Verfaflung ernftlid) gefährlich werden dürfte. Nach außen freilich
find aud) die radifalften Bourgeois nicht allzugefährlich.
Defterreih » Ungarn jteht vor dem gefährlichen
Grempel des zu erneerden Ausgleichs. Und jo wunderbar es
Mlingt, die Herren Magyaren fceinen jelbit gemaltfam auf eine
Löfung hinzuftürmen, welde ihnen recht teuer zu ftehen kommen
würde. Man fann in Cislathanien faum was Befleres wünfchen,
als daß die ungerecdhte Stenerbelajtung von 1867 dur Ungarn
jetbft zerriffen würde. Allerdings gehen manche magyariiche
Wünihe nod) weiter, indem fie einer reinen Perfonalunion zus
ftreben. Nun, die Zerjegung des alten Neiches der Habsburgis
Politiice Rorreipondenz. 159
ichen Yeirathen geht ja jhen länger ifuen Weg, und follte fie in
unjern Tagen fchon ans Ziel gelangen, jo glaube ic nicht, dah
die nädjten Nachbarn mehr jo viel Grund zum Trauern haben
werden, als vor nod) nicht gar langer Zeit. Der Dreibund hat
mandes an jeiner jpitematiihen Nothwendigfeit in den legten
Jahren bereits eingebüßt, — vor der fetten Gonfequenz aber
mird man denn dad wohl felbit in Pet zurücichenen, und vor-
läufig liegt in der Perfon Naifer Franz Jofef's nad die Garantie
dafür, daß der mitteleuropäiihe Bund nicht vorzuitig in die Brüche
gehen wird.
Berlin, d. 24. (12.) Februar 1896.
Berichtigung
zu dem Yuffap „Einiges zur Gefgidte der Toblenjhen Kirche”
im Januarheft diefer Zeitfchrift, Seite 13, Zeile 18 bis
Tie erfte Schenkung Terlof von Plates ift nicht vor 1516,
fondern nur vor 1593 gefchehen; in welchen Nahre it nicht befannt,
aber nach Dr. Tito, deffen erite Notiz ich mihwerftanden hatte, vielleicht
nur mehrere Jahre vor 1503, Dr. X. Bielenitein.
Kine nene Parftellung der Tivländiigen Bejdicte.
11%)
Gejcichte Liv, Er, und Kurlands von der „Aufiegehung“ des
Landes bis zur Einverfeibung in das ruffiiche Neich. Eine populüre
fieltung von Ernft Serappim. IT. Band. 1. Abtheilung: Die
Wrovinzialgeicichte bis zur Unterwerfung unter Nufland von Ernit
Seraphim. — 2. Abtheilung: Aurland unter den Herzögen von
Dr. Auguit Scraphim. Neval. Lerlag von Franz Auge
1806. 714
Ms Ernjt Seraphim in dem Vorwort zum erjten Bande die
Hofinung ausjprad) binnen Jahresfriit den zweiten Yand ericheinen
zu lajfen und mit ihm die Livländiiche Gefchichte bis 1721 fortzu-
führen, werben die meiften Lefer ungläubig den Kopf geichüttelt
haben. Es mußte jcheinen, als ob ein joldes Unternehmen, an
fich Schon äußerft jchwierig, Jahre vorbereitender Studien bedürfe
und ad) die Niederichrift mehr Zeit erfordere, als fie dem beruflic)
fiort beichäftigten Verf. während eines Jahres zu Gebote jtchen
mochte. Wenn mun trogdem der 2. Band zu Weihnachten 1895
der Deffentlichkeit übergeben werden fonnte, jo werden zunädjt die
Energie, der Fleih und die Arbeitskraft des Verf. volle An:
ertennung finden.
on den 714 Seiten des zweiten Yandes entfallen 425 auf
den Bearbeiter des erjten. Nun wird ein jeder fi jelbjt jagen,
da; die Vorftudien zu diefem die Zeit von 1561—1721 umfafjenden
Theil unferer Landesgeihichte nicht erit aus dem legten Jahre
) Rgl. „Balt. Mon.“ 1895, ©. 73 ff.
162 Scraphim’s liol. Geidhichte.
ftammen. Was der Verf. bietet, ift vielmehr die Frucht einer
durd Jahre fortgejepten, mit Liebe und Eifer gepflegten Ver
Ihäftigung mit der Vergangenheit der Oftfeeprovinzen. Immerhin
waren diefe Studien doc) nicht mit direfter Nüdficht auf Ver:
werthung in einer allgemeinen Darftellung der Kivländiichen Gefchichte
getrieben worden und cs bleibt dabei, dah die fchriftiiclleriiche
Produktivität Ernjt Seraphims über gewöhnliches Maf hinausragt.
Dasfelde gilt von Auguft Seraphim, dem es gelungen ift, im
verflofienen Jahre aufer einer auf gründfichen gelehrten Forfbungen
beruhenden Doftordifjertation dieje ausführliche Gefichte Nurlands
für die Zeit von 1561-1795 zu ftande zu bringen.
Sharakter und Ziwet der Seraphimichen „populären“ Gefammt
darjtellung der fivländiichen Gefchichte find befannt. Was von
der Kritit zum Lobe der warmen, zu Herzen gehenden Sprade
Ernft Seraphims gefagt worden ift, findet aud) auf den vorliegenden
Band uneingeichränfte Anwendung. Ich behaupte jogar noch ein
Auffteigen in diefer Linie, obgleidh der Sapbau nicht immer
tadellos ift und der Stil fi von etlihen feuilletoniftiichen Gepflogen-
heiten und Anforreftheiten, die fich jhen im 1. Bande gelegentlich
jtörend bemerfbar machten, nicht frei gehalten hat’). Wenn
ih, Darftellung und Sprade des 1. Bandes in der Gefcichte
Vifchof Alberts und des Zerfalls zu befonderer Höhe erheben und
am meiften gefallen muhten, jo it diefes wohl dem Umftande
äuzufchreiben, daß diefe Perioden nicht nur Earer vor uns liegen
und veider an verftändlichen, dharakteriftiichen Einzelpeiten find,
fondern vor allem Perfönlichfeiten hervortreten lajlen, denen man
in Liebe und Abneigung gegenüber jteht und deren Schilderung die
gefhichtlihe Darftellung fo reizvoll macht. In diefer Hinficht hat
*) 3.9. ©. 81: „Neben den andern Nechten der Stadt, der Gerichtsbarkeit,
der Verfaffung, der Münze etc. waren die Gefandten angemwiefen, dem vom
tütauifchen Adel geforderten freien Handel in Riga nicht zu willfahren.” der
&. 206, wo von dem in den Nieberlanden weilenden Grafen
Johann von Kafau erzählt wird bnelfentichlofer fih einen im
Hafen von Lravemi iegenden Yiolandfegler zu befteigen u. Thon am
12. Juli 1001 betrat er in Pernau den Boden unferer Deimath..." Als ob
die Trave ein nicderländifces Gewäfter it. Das „Ihen“ flieht aber dem Ber.
gleichjam aus Gewohnheit , obwohl es doch mr angebracht wäre,
wenn er den Zeitpunkt des Entfehluffes zur Neife oder der Abfahrt mitgetheift hätte,
Seraphim’s livl. Geidichte. 163
aber die Zeit, mit welcher es der 2. Band zu thun hat, vor dem
Mittelalter unendlich viel voraus. Das Mittelalter bietet bei
weitem mehr Icere Namen, an die fid) Handlungen fnüpfen, aus
denen doch nur unter befonders günftigen Umjtänden ein Nücichluß
auf die Perfönlichkeit geftattet it. Umgetehrt in der neueren
Geihichte. Wie oft ijt da das geicichtlidhe Creignih in feiner
wahren Bedeutung erit aus der Nenntnih ber handelnden Per:
fönlichteit erjchlofien worden. Nun ift ja unfere Geidjichte von
1561-1721 nicht gerade reidy an überragenden Geftalten. Aber
wir haben cs doc; mit Menfchen von leifch und Blut zu thum,
wir erfennen, wie ihr Eingreifen den Gang der Ereigniffe beeinflußt,
und jchlieglich find doc) in diefem Zeitraum, abgejehen von den
bervorragenderen Söhnen bes Landes, aud in unferer Gedichte
eine ganze Anzahl welthiftoriicher Perfönlicjfeiten thätig, die mehr
oder weniger in den Mittelpunkt der Erzählungen treten. Namen
wie Stefan Bathory, Guftav Adolf, Karl XL, Karl XIL, Peter
d. Gr, und andererjeits die ganze Neihe namhafter Patrioten bis
hinauf zu Patkul, — fie erleichtern cs, früh, farbenreih und
omüfant zu erzäh Dieje Vortheite hat der Xerf. fi nicht
entgehen lafien, find der gefammten Darjtellung zu gute ge:
fommen. Hervorheben möchte id) einzelne Partieen aus der polniichen
Zeit, insbejondere die Kalenderunruhen in Niga und die Zeit der
ausgehenden ehwebifchen Herridhaft. Hier ift die Nede von großen
Leidenfchaften, ergreifenden Natajtrophen, Willfür und Vergewaltigung
auf der einen, Vaterlandsliebe, Nechtsbewußtfein und Stolz auf
der anderen Seite. Dieje elementaren und doc) größten Themata
der Geichichte, die das Gemüth unmittelbar ergri
jedermann verftanden werden, fie mußten dem Verf. einer populären
Landesgejchichte am beiten gelingen. Und id) glaube mich nicht
u täufhen, wenn ich beobachte, dah Seraphim da am beiten
ihreibt, wo er jelbitändig geforf ht Hat und die Darftellung aus
dem Nahmen der Kompilation heraustritt und auf jelbitgebahnten
Begen einhergeht. Für die Kalenderunruen hat Serapfim bie
von 2. Napiersky hinterlaffene Abichriftenfammfung mit glüclichen
Erfolge verwertet und für diefen Zeitabichnitt dadurd) die wifien-
Ihaftliche Ertenntniß der livländiichen Gejdichte aud ihrem Um:
fange nach erweitert und gefördert, ein Nuhm, auf den er dem
1
164 Seraphim’s livl. Gedichte.
ganzen Plan und Gharafter des Werkes nad für die übrigen
Barticen versichtet. Befanntlic, bietet S. grundfäglid nicht mehr,
als was den Fadjgenofien aus früheren Monographien oder um
fajfenderen Daritellungen bereits befannt war. ch will gleich hier
hervorheben und anerkennen, dah in und troß diefer Beichränfung
eine durchaus notwendige und zeitgemäfe Arbeit geleiftet worden
it. Wenn icon der 1. Yand einem allgemein empfundenen
Vedürfniß nad Zufanmenfaflung des zerftreuten hiftorifchen Materials
entgegenfam, wie der in den Annalen unferer Yitteraturgeichichte
überaus feltene buchhändleriihe Erfolg desielben erweilt, To trifft
das für den 2. Band in noch höherem Mahe zu. Denn bis zum
Zufammenbruch des alten Yivlands führte die weit verbreitete und
gern gelefene Arbeit von Schiemann; für die folgende Zeit fehlte
es aber an zulammenfajlenden Daritellungen ganz und gar, jo dal;
diefer 2. Band eigentlich zum eriien Mal dns Fazit aus der
landesgeichichtlichen Arbeit einer ganzen Generation zieht. Zeit
dem Erfheinen der Nichterichen Geichichte der Tjtieeprovinzen find
fait 10 Jahre verfloifen. Welche Majle an gelehrter Arbeit ift
auch für den in Nede ftehenden Aojchnitt der livländifchen Geidhichte
geleiftet worden! Nirgends aber Fonnte man fih darüber ausreichend
und fiher orientiven. Hier ift mın endlich ein Gejammtbild der
Provinzialgeidichte Yivlands in der polnifchen und fdhwediichen
Zeit geliefert, deiien Einzelzüge und Farben mühlam aus zeit
ihriften und Monographien zuiammengetragen werden muhten.
Da aud die Ergebniffe der neueften Forichung gebührende Ber
rücfichtigung gefunden haben, jo werden nicht nur „Liebhaber“ der
Livländifchen Gefhichte nad) diefem Bande greifen, nicht nur dies
jenigen, welche fi durch eine populäre Darftellung belehren laffen
wollen, jondern das Seraphimiche Buch wird auch dem ernten Foricher
bis auf Weiteres ein millfommenes Mittel der Drientirung fein.
Allerdings fein ansreicendes. Das hat der Verf. aber au nicht
schaffen wollen und wer in der Yeltüre für feine ji Ion Be-
dürfnife das Erwartete nicht findet, darf das dem X
Loft legen. Mit Kecht Tann fid) diefer auf das Vorwort zum
1. Bande berufen, welches daran erinnert, dai; ein Bud von dem
Eharatter des vorliegenden nicht auf jede Detailfrage Antwort zu
geben braucht.
Eeraphim’s fivl. Gefchichte. 165
Ih habe in der tritit des 1. Bandes rühmend hervorgehoben,
dab aus ihm eine eindrudsvolle und im Allgemeinen richtige Ge-
fammtanihauıng der fioländiihen Gefchichte zu gewinnen ift, war
aber dad) genöthigt fejtzuitellen, daß die Juve t im Einzelnen
feine unbedingte genannt werden fünne und dai; darum bei der
Benugung einzelner Daten Vorficht geboten fei. In diefer Allgemein:
heit muß ich das Urtheil für den 2. Band wiederholen. Cs ift
weder meine Aufgabe, rein äußerlich die Fehler auszuzählen und
danach das Urtheil zu geftalten, nod) wäre der Sache danıit gedient.
€s geichieht daher ganz unabhängig von der Zahl der nachjtehend
geltend gemachten Veanjtandungen, wenn ic) mid) zu dem Eindruc
betenne, da; diefer Band doch weniger Veranlaffung zu Aus-
fellungen im Allgemeinen und zu Verichtigungen im Einzelnen
bietet. Eine unferer einheimifhen Tageszeitungen hat eine Anzeige
des Buches gebracht, welche die Bemerkung enthält, es jei allerdings
verbefferungsbedürftig, aber auch in hohem Viafie verbefferungsfähig.
Diefem treffenden Urtheil Ihließe ich mich vollfommen an und bin
überzeugt, daß eine 2. Auflage das Werk von den ihm nod)
anhaftenden Schladen und Unvollfommenpeiten befreien wird.
Wein Bud) als Ganzes genommen und beurtheilt werden,
fo wird man das Äufere Gewand, das die geiftige Arbeit des
Verfaffers vermittelt, nicht ganz unberüdfichtigt lnffen dürfen.
gewiß Ausftattung und Drud Neußerlichfeiten find, jo gewiß; Fönnen
fie unter Umftänden und bis zu einem gewillen Grade für den
objeftiven Werth eines Bud)es von Einfluß werben. Die Aus:
ftattung des Seraphimi—en Werkes wird mun jeder gern als eine
durdaus rühmliche anerkennen. Danfenswerth ijt auch die Bei-
ande der Löwisihen Hifteriichen Karte der Oftieeprovingen; nur
ift der Mapitab zu Hein. Wie fie hier in 1: 2,300,000 vorliegt, Läht
fie die Abgrenzungen der Territorien allerdings in wünfchenswertyer
Deutlichfeit erfennen, die eingejeihneten Namen bleiben aber
dem unbewaffneten Ange gröhtentheils unzugänglicd. Nun aber
die Drudfehler! Wie eine böje Nrankheit haften fie dem ganzen
Werke an und in folder Menge, dafi man den geedrten Verfafiern
den Ärger über diefe Verunftaltung ihrer Arbeit wahrlich lebhaft
nadhempfinden Tann. Ein auf bejonderem Blatt beigefügtes
Verzeihniß der Errata ijt bei weitem nicht erichöpfend und Lüht
166 Seraphim’s Tiol. Gejchichte.
leider die jehr vielen verdrudten Jahreszahfen, bei deren größtem
Theile ein fachlicher Jrrtfum der Verfajfer ausgeichloiien eridheint,
völlig unberüdfichtigt. Beim erjten Bi in das Vuc) jtarren dem
Lejer unter dem Bilde Patkuls die Worte Johann Heinrid
Patkul entgegen! Es liegt mir fern, wegen joldies Mihgeichids
mit den Verfaffern zu rechten, aber unerwähnt durfte es aud)
nicht bleiben. Sehr gute Dienfte leiftet das ausführliche Inhalts-
verzeichni und erjegt zum Theil das Sadhregiter. Mit diefem
Dat 06 eine eigene Vewandtniß. Gin „Perfonen: und Sad:
vegifter“ ift auf dem Titel allerdings angefündigt, im Terte aber
lautet die betr. Ueberichrift „Perjonen- und Orts regifter”.
In Wirklichkeit finden fi aud Anjäge zu einem Sachregifter;
fie find aber jehr fpärfich und durchaus willfürlich, fobah es fait
ihheint, als ob der urfprüngliche Plan während der Arbeit geändert
wurde, die einmal ausgezogenen und eingefügten Anführungen aber
aus Xerjehen tehen geblieben find. Auch find die beiden Verfaiier
in der Negifterarbeit offenbar nicht nad) gleichen Grundjägen
verfahren. Das Perjonen und Drtsregifter wird vermuthlid,
in den meiften Fällen feinem Zwed entipreden. Ich muß aber
geitehen, dal es mid) aud) wiederholt im Stid) gelahjen Hat. Und
zwar (äßt nicht nur die Volljtändigkeit zu wünfden übrig, ondern die
Art der Zufammenftellung ift zuweilen auch irreführend. Mo im
Terte der Namen Chodfemwicz erwähnt wird, üjt cs nicht jedes
Mal sofort erfichtlih, ob der evite polnifche Adminiftrator oder
ein anderes Gfied diefer Familie gemeint ift, da die begleitenden
Titel wechieln und man gelegentlid den Vornamen vermißt. Aud,
verichwindet der Mdminiftrator Chobfewic; vom Schauplage feiner
verhängnißvollen Wirfamfeit, ohne daß der Lefer erfährt, warn
und wie), Nur aus einer ganz beiläufigen Erwähnung feines
Todes in einer wörtlid) mitgetheiften Hebe der rigafden Deputirten
in Warihau v. 3. 1583 ift zu entnehmen, ba er damals nicht
mehr unter ben Lebenden weilte. Wer num diefen Pafjus, was
Teicht geichehen Fann, überfieht, muß; fih unwillfürlich fragen, ob
*) Da übrigens Jan Chodfewiez in Yivand ärger gewüthet habe als
Ada in den Niederlanden, eine Behauptung. die der Verf. in Form eines Citates
giebt, wird durch feine eigene Dartteltung feineswegs glaubhaft gemacht.
Seraphim's liol. Geidhichte. 167
der zum Beginn des 17. Jahrhunderts auf ©. 183 erwähnte
„weitgebietende Chodfemwicz“, deifen Schwager Woldemar Farens:
bad) war, mit dem Ndminiftrator identiich it. Schlägt man nun
zur Drientirung das Negilter auf, fo erhält man jogar eine
bejahende Antwort, denn die Anführungen diejes zweiten Chod:
tewicz erfolgen nicht getrennt, jondern in fortlaufender Neihe mit
denen des Admin torS gleichen Namens, Ganz ebenjo werden
die im Tert ©. 580 u. ©. 598 zu den . 1697 u. 1726
erwähnten beiden Sranz Yefort, von denen der ältere fchon
1699 ftarb, im Negifter als eine Perjon behandelt.
Wenn zu den unzweifelhaften Vorzügen der Schreibweile des
Verf. eine friihe Lebendigkeit und Lebhaftigkeit gehört, jo it es
doch ebenfo zweifellos, dab diefe nur zu oft in eine üchtigfeit
ausartet, welde den Autor den einzelnen Ausdrud nicht genügend
beachten oder feine Tragweite unterfchägen täht. Es ijt ver-
ftändlic, dab die unerquidlice, nach vielen Zeiten dod) nur
dürftig bekannte polnijche Periode beionders ichwer zu behandeln
war. Hier drängen fi mn auch an einzelnen Partien die
fehlerhaften Stellen. Aus der Geididhte Nigas greife id) das
Folgende Heraus. Auf ©. 83 wird die am IH. Januar 1581
zu Drohiegin erfolgte Unterzeichnung des corpus privilegiorum
Stephaneum erwähnt, das dann der König auf dem Warfchauer
Reichstage des Folgenden Jahres (1582) mit dem Neichsfiegel
verfehen läht (. 85... Auf ©. 88 hat der Verf. diefe Angaben
bereits vergejfen, denn indem er eine Neuerung des Königs vom
7. Januar 1582 über feine fatholifirenden Abfichten bezüglich
Livlands anführt, jagt er, dah fie „in eigenthümlicher Weife die am
14. Januar, alfo fnapp 7 Tage fpäter, folgende Betätigung der
Privilegien Nigas“ illufteire. Cr fann damit nur jene eben erjt
zum 14. Jan. 1581 vermerfte Unterjeichnung des corpus
privilegiorum Stephaneum meinen. Auf &. 99 aber heißt cs:
„Am 4. Oftober 1582 verfammelten fid die polniicen Yandboten
zu Warihau....: bereits am 16. Nov. erfolgte, wie eben fdon
eryählt wurde, die Veftätigung der Privilegien der Stadt.“
Hiermit ift offenbar wieder jene oben erwähnte auf dem Neichstag
zu Warjchau erfolgte Befiegelung der Veitätigungsurfunde gemeint.
Ganz abgejehen von der Verwechjelung der Jahre 1581 u. 1582
168 Seraphim’s livl. Geihichte.
fann man fic) in diefer Sache faum unpräctier und mißverjtändlicher
ausdrüden. Ebenjo läht den Verf. das Gedädhtniß im Stid),
wenn er S. 85 mittheilt, daß... „Rt Kid im Diai 1571 [joll
heißen 1581] den Verfuch machte, Dr. Welling wegen des
Drohiceziner Vertrages... zur Nede zu jtellen“, nachdem
kurz zuvor, S. 81, erzählt worden ift, dah Dr. Melling an den
Verhandlungen zu Drodiezin nicht Theil nahm, weil ihm wegen
feiner Tpätigfeitauf derzweiten Legation in
Wilna Vorwürfe gemacht worden feien, deren Hauptvertreter
eben jener Nik. Fit war. Es muß dem Verf. überlaffen bleiben
hier die Korrektur nad) der einen oder anderen Seite vorzunehmen.
Dan fann € gerne und mit Necht anerfennen, ba Seraphim
nicht nur Greigniife hübjd erzählt, jondern aud) in der Schilderung
des AZuftändlichen ein beneidenswerthes jehriftitelleriicheo Talent
offenbart. Nur wo cs fi um Nechts- und Verfafjungsfragen
handelt, mo die größte Stlarheit und Präcifion im Ausdrud und
in der Entwicelung eine Gedantens das erite Erforbernih it,
bleibt mandes zu wünjchen übrig. Bejonders feidet darunter der
Abjchnitt über das Emporfommen der Gilden und die Entwidelung
der jtändifcen Verhältniife in Riga. Wie an einigen anderen
Stellen wird allerdings audı hier die Benrtheilung erichwert durd)
bie Vermuthung ober den Wunfch, da Druckfehler vorliegen mögen.
Schlielih muß aber der Tert dod) genommen werben, wie er
it. Unpräcije ift von vornherein die Bezeichnung „Zunft“ der
Handwerker, jtatt „Zünfte”. Gleich darauf werden die Gilden
für die Zeiten des Wittelalters, aljo wohl ipätejtens für das
14. Zahrh., das nad dem Zufammenhang allein in Frage fommt,
als die eigentlice „Oemeinde“ bezeichnet, wie fie denn im 15.
DJahrh. Kim Tert heißt cs allerdings 16. Jahrh.) zur Berathung
allgemein ftädtifcher Fragen herangezogen werden. Iener Zeit:
bejtimmung über die verfaffungsmäfige Bedeutung der Gilden
widerfpricht aber 2 Seiten weiter (S. 75) der Sap: „Zuerit jegten fie
um die Mitte des 16. Jahrh. durd, daf... nur die beiden
Gilden als die Gemeinde anerkannt wurde.“ —- Cs bedarf ferner
längeren Nachdenfens, um feitzuftellen, wen der Verf. jedesmal
meint, wenn er auf ©. 77 wiederholt von „den Nelterleuten“,
„den anderen Welterleuten“ und „den eltejten” jpricht.
Seraphim's livl. Gedichte. 169
Sind die „anderen Nelterleute“ und „Xelteftien” identiih, was
des Verfafiers Dieinung zu fein jcheint, jo wären dieje beiden Be:
zeichnungen im nterejie größerer Verftändlichkeit wohl befier
dur) ein „oder“ zu verbinden aewefen. Die Lerwirrung wädt,
wenn die Bildung der Aelteftenbanf auf derjelben Seite zweimal
erzählt wird, als ob es fih um zwei verichiedene Fafta handelte.
Dah; der Nusarbeitung hier nicht die genügende Sorgfalt zugewendet
worden, zeigt aud das Vorkommen eines fo unfertigen Sabes,
wie der folgende (2. 79): „Man braucht nur die Forderungen zu lejen,
die in diefen Jahren üblich find, die ernjtlichen Wünjche, die Aelter-
fente und der zur Regel gewordene Vürgerausiduß dem Rath, vor-
legen, der Hohn... den Nathsherren gegemüber..., um den
Terrorismus der Bürgerfhaft... vor Augen zu haben.“
Hecht und Verfaffung erfahren natürlich eingehende VBerüc:
fhtung auch in der fdwediicen Zeit. Die Entftehung des liv-
fändiichen Yandesjtantes im 17. Jahrh., die Drganifation der
Nitterichaft, der ländlichen Verwaltung und der Landesfirdhe find
im ganzen überfichtlic und verftändlich gejchildert. Yermißt wird
eine wenigjtens fürzere zufammenhängende Darlegung der ent-
iprehenden Verhältnifie in Ejtland. Cine nod) nicht ausgeglichene
Differenz waltet in den Angaben über die Eintheilung Livlands
in Nreife ob. 49 werden Riga, Dorpat, Bernau, Stofendufen,
Wenden und jogar Narwa als jolde genannt, &. 259 dagegen
nur Wenden, Dorpat uud Pernau. Unklar bleibt aud) die Trag-
weite der durd) Guftav Adolf und die Königin Chriftine erfolgten
Privilegienbeftätigungen. Zunäcjit it es wohl nicht richtig, wenn
an zwei Stellen (©. 238 und &. 246) der Negierung Guftan
MAdolfs eine feindfelige Haltung zum Adel überhaupt nachgejagt wird.
Bekanntlich hat der König in Schweden die Nechte des Adels nicht
nur nicht angetaftet, jondern nod) beträdhtlid) vermehrt. Dieje dem
Adel ungünftige Stimmung habe, fährt Seraphim fort, den König
im $. 1629 mur zu einer Art Vejlätigung der livländiiden
Privilegien vermocht. „Die jpezielle Konfirmation einzelner Punkte
erreichte die Nitter- und Landihaft jedoch nicht.” Endeten folder:
gejtalt die bezüglichen Verhandlungen mit einem Miherfolge für
die Nitterichaft, — To fragt es fid, warum die unter der Königin
Ehrijtine 1648 erfolgte „Oeneralfonfirmation der Yandesrehte”,
170 Seraphim’s lvl. Geidichte.
die nad) dem Wortlaute der Darjtellung faum einen anderen Charakter
als die von 1629 gehabt haben fann, offenbar eine allgemeine
Befriedigung hervorrief. Die Regierungszeit Narls XI. und die
Schilderung der Güterreduftion in Schweden und Livland find gleich
falls von foldhen Stellen nicht frei, die den Vlangel oder die Flüchtigfeit
der legten Nevifion verrathen. Wie die Neduftion in Yivland
thatfächlich begann, Läht fih aus dem Buche nicht entnehmen, da
die betreffenden Mittheilungen auf Seite 292 und 293 wenn
nicht einen unlösbaren Wideripruch, fo dod) jedenfalls eine Lüde
enthalten. Was ift 1681 vor dem Zufammentritt des Landtages
eigentlich gefcjehen und was beabfichtigt worden? Der Verf. jchreibt:
1681 begann die fcwediiche Regierung aud) hier vorzugehen... An
den Gen. Gouverneur EHrifter Horn erging der Befehl, die Heduftion
der fchwebifchen Adelsgüter ins Werk zu jegen, die Güter der Liv
länder dagegen nicht anzurühren, der König wolle die Entjheidung
[worüber denn?] auf einen Landtag verweilen.“ Nur im Falle
der Widerfeglichfeit würde eine umfafiende Neduftion durchgeführt
werden. Dem Landtag d. I. 1681, dem aljo, wenn ich vet
verftehe, die Entiheidung über die Einziehung der „ihnebiichen
Adelsgüter” zuftchen follte, (ag aber eine ganz andere Propofition,
bie mır eine allgemeine Neduftion ins Auge fahte, zur Verathung
vor. War das die als Strafe für die Widerfeglichfeit angedrohte
Erweiterung der Reduktion? Cs jcheint aber, nad des Verf.
Worten, daß bis zum Zufammentritt des Landtages, ber denn
doc) erit das wirffame Organ eines Widerftandes war, die heftige
Erbitterung fid) mod) nicht in Thaten, fondern nur in Worten,
wie den jarfajtifchen Heimen Guftav v. Miengdens, Luft gemacht
hatte, jodai die Vorausfegung für die Steigerung der Reduktion
erft auf dem Landtage jelbft eintreten fonnte. Jh muß wegen
der Weitläufigfeit, mit der hier ein verhältnigmäßig untergeordneter
Punkt behandelt wird, um Entjhuldigung bitten. Aber es joll an
diefem tppijcen Falle deutlid) gemacht werden, worin die Unter:
laffungsfünde des Verf. beiteht. Der Lefer hat Feineswegs das
Verlangen, alle Einzelheiten des gefchichtlihen Herganges zu erfahren,
wohl aber nad) ausreichender Narheit umd Präzifion für das mas
geboten wird. Cs hätte garnichts geihadet, wenn die Erzählung
einfad) mit den Landtagspropofitionen cingefegt hätte. Nachdem
Seraphim’s fivl. Gefchichte, 171
aber einmal audy die eriten vorbereitenden Mahnahmen erwähnt
wurden, war es unbedingt geboten, auch zu erzählen, ob und wie
ein thatjächlicher Wideritand gegen das Vorgehen der Negierung
Nid) geltend machte. Ueberhaupt wäre cs aber der Nebuftions
geihihte zu gute gefommen, wenn an einem Beijpiel das Verfahren
der Reduftionsfommiifion veranfchaulicht worden wäre. Lieles
wäre dadurch Elarer geworden. Aud) die Wirkungen der Neduftion
für das praftiihe Leben werden zu wenig hervorgehoben und
gezeigt. Die Entrüftung über fie lingt dazwiiden etwas nad)
Deflamation, denn die Erzählung bewegt id) großentheils im
folher Allgemeinheit, dab man fid) fein Bild von den wirklichen
wirthbidhaftliden Jolgen, von dem Umfang des Bejik-
mechjjels und dem Grade der allgemeinen Verarmung machen
tann. Ext fehr ipät erfährt man, daß +5 der Güter veduzirt
wurden. Die Erwähnung des Tertials der Arrende hätte dad)
jedenfalls eine nähere Erklärung dieles an fid) vieldeutigen Aus:
druds nöthig gemacht. Co ift die Vermuthung nicht ausgeichlofien,
dab das materielle Elend nicht To jehr groß gewefen jein
tönne, wenn die Gutsbefiger fih nur in wolbejtallte Inhaber
perpetueller Arrenden verwandelten. Auch Hier macht fih des
Verf. Gepflogenheit bemerkbar, wichtige Mittheilungen an einer Stelle
unterzubringen, wo man fie nicht jucht und wo fie den Effekt,
den fie haben fönnten, nicht erzielen. Da % aller Güter in
Yioland reduziert wurden"), eine Mitteilung, welche dem Bilde
des 1690 vollendeten „materiellen Zerftörungswerts“ in Livland
erft Licht und Farbe giebt, erwähnt der Verf. nicht zu diefem
Jahre und überhaupt nicht mit Nadpdrud, jondern nur in Nlammern,
beiläufig, als Erläuterung zu der Wiedergabe der Begründung
der den Landesjtaat aufhebenden jcwediihen Verordnung von
1694. — Im der ganzen Darftellung der Neduftion, in der
Gruppirung des Stoffes, auch in den manderlei wörtli—hen Ent-
» Wenn der Verf. daraus weiterhin den Schlaf zieht, baf; die Zupl der
lichen Evelteute auf !;; des früheren Beitandes herabgelunfen fei, jo muß
dem die befannte Toatfache entgegengehalten werden, dafs die farweditchen Maguaten
doc ungeheure Güterfomplere beieffen hatten, deren Meduftion den privaten
Säterbefit, allerdings fehr jtart, die Zahl der Grunbbefiger aber nur fehr wenig
verminderte.
172 Seraphim’s Livl. Geidichte.
lehnungen titt die Mbhängigfeit von den Vorlagen wieder, wie
in einigen Bartieen des eriten Bandes, recht jtark hervor. Der
fompilatoriiche Charakter des Wertes und die Unmöglichkeit einer
Nachprüfung aller fremden Arbeiten entfchuldigen den Verf. bis
zu einem gewiffen Grade, aber er geht darin gelegentlich zu
weit, wenn er durch Uebernahme und wörtliche Anführung fremder
Urtheile und Behauptungen bemüht ericheint, alle Verantwortung
für den Inhalt von fih abzuwälzen. Auf mandıe folder entlehnten
und auf Autorität angenommenen Behauptungen ift der Leer durd)
den bisherigen Gang der Erzählung garnicht vorbereitet. Zie
mögen an ihrer Uriprungsftelle als abichließendes Urtheil nach
längerer Beweisführung ihre volle Berechtigung haben; hier wirfen
fotche Schlußfolgerungen, deren Prämifien unbetannt bleiben, im
höchften Grade befremdend. Und doc) treten fie jo auf, alo ob
08 fi um Dinge von feitjtchender Notorietät handelt, was nur
jelten der Fall deder ft es von vornherein flar, warm das
Gpllenfternafche Miligipitem in Schweden bei dänenfeindlicher
Politit ein Umding jein muite, nad da; die Neduktion „im beiten
Falle nur ein vorübergehendes Heilmittel“ der finanziellen Roth
fein Fonnte. Und wenn Seraphim der Neduftion jeden ifbaren
Erfolg für den Staat abjpricht, wenn er mit Berufung auf
Schirren, 08 eine Thatjadhe nennt, dal; der Schag bei Karls X.
Tode leer und Schweden im Angejicht drahender Verwidelungen
ohne Kredit war, — fo hätte er doch mindeftens feiner Verwinderung
über diefe merkwürdige IThatfache Ausdrud geben müffen, nachdem
er wenige Zeilen vorher erwähnt hatte, da Hal allein im Yaufe
von 6 Jahren der Strone einen SGrundbefis zurücbrachte, deijen
Jahresrente die für jene Zeit gewaltige Summe von 3,200,000
Ahle. betrug. Gewih; theile ich des Verf. Meinung, dah eine
Politik willfürliher Gewalt und brutaler Nechtoverpöhnung jchlichlich
fih gegen ihre Urheber wendet und zum Lerderben führt, weil die
moralifchen Kräfte des Staates unterbunden und gelähmt werden.
Das pflegt aber weder eine ganz direfte, unmittelbar eintretende
Folge zu fein, noch ift es immer fiher, dal einer folden Politik
aud) zeitweilige materielle Erfolge verfagt fein müffen. Im vor-
liegenden Falle hat die bisher Herricende Meinung in Narl XI.
noch immer den Dann gefehen, der Schweden nad) tiefem Zturje
Seraphim’s lvl. Geihichte. 173
wieder zu achtunggebietender tellung unter den enropäifchen
Staaten erhob, der Heer und Klotte neu in Stand fette, und man
glaubte bisher, dah die reichen, durd die Neduftion erfchloffenen
Geldmittel ebenfolchen Zweiten dienten. Mit diefer herichenden
Meinung muhte der Verf. fich auseinander jegen, wenn er die
abjolute Erfolglofigfeit der Negierung Narts N. behauptete, und
eine Erklärung für ihr unbegreifficyes (hen. Mo blich
denn das Geld? Mit dem Hinmeis auf den geiftlolen, verfnöcherten
Despotismus des Nönigs und die moraliiche Verwerflichfeit feines
politiihen Spitems üft nad) nichts erklärt. Ich bedauere, die vom
Verf. angezogenen fritif—en Arbeiten Schivrens in den Gel.
Wöttinger Anzeigen nicht zur Hand zu haben umd auf ein aus:
teichendes Urtheil über die Art ihrer Benugung durd) Seraphim
verzichten zu mühen. IH urtheite alfo vom Standpunt des
Lejers einer populären Darftellung, den nicht eine überlegene
wiffenichaftliche Einficht, Tondern mr aufmerfiame Lektüre zu diefen
aus dem Tert felbit fih ergebenden Beobachtungen md Aus-
ftellungen drängt.
Es joll nicht veridpviegen werden, dal; die Yijte nicht ein-
wandfreier Stellen nad um einige Nummern vermehrt werden
könnte. Aber schlichlich haben derartige Einzelheiten doc vor:
nehmlich den Ziwed zur Chorafterifirung des Ganzen beizutragen
Hierbei die Grenze nicht zu eng und nicht zu weit zu ziehen, ift mein
Vetreben gewefen, nachdem mir durch die ausführliche Anzeige
des eriten Yandes in diejer Zeitichrift eine eingehende Würdigung
auch des zweiten zur jelbitwerftändfichen Pflicht geworden war. Es
wideritrebt mir zu wiederholen, was id) {con einmal gelagt habe.
IH muß daher für die Veurtheitung des ganzen Buches auf die
allgemeiner gehaltenen Stellen jener Anzeige verweilen. Denn
im Grunde genommen bewegen fi Yob und Tadel für beide
Bände in der gleichen Nichtung. In Vorzügen und Fehlern ift
Ernjt Seraphim während eines Jahres fein anderer geworden,
feine ganze Arbeit trägt überall diejelben unverfennbaren Züge.
Er it derielbe warmblütige Latriot geblieben, ausgerüftet mit
wohlthuender Empfänglichfeit für jedes Hohe deal, derfelbe liebens
mwürdige Erzähler, dem man gerne laufdht und dem man co
gelegentlich aud) verzeißt, wenn er co nicht mit jeder Nleinigfeit
174 Seraphim’s liol. Geichichte.
gleih genau nimmt. Der Polemik it in vorjiehenden Zeilen
freilich ein unverhältnigmäßig viel breiterer Naum gewährt worden,
als er für die Empfehlung des Buches in Anfprud; genommen
wird. Aber das liegt in der Natur der Sadje, zumal das, was
ein Buch jonft immer am beiten empfichlt, cine das Wefentliche
hervorhebende Angabe feines Inhalts, bier, meil zwedlos, in
Wegfall tommen muhte. Das Thema der livländiichen Geihichte
fpricht für fich felbt. Wohl aber möchte ich hier ausdrüdlicd,
erwähnen und zum Theil wiederholen, dah nicht nur der Gang
der politiichen Gefchichte erzählt wird, fondern daß diefe durchiegt
und belebt ericheint durch charakteriftiiche Züge des Fleinen Lebens,
dur) vieles Fulturhiftoriiche Detail und eindrudsvolle Schilderung
der hijtoriichen Perjönlichfeiten. Der Nulturgeichichte it fogar ein
Napitel: Stadt und Land im NVI. Jahryundert ausichliehlicd
gewidmet und darf um feines reihen Jnhalto willen befonders
willfommen geheißen werden. Die fingirte Perjon des nad) Neval
und wieder zurüc reifenden Fremdlings, dejfen Gefpräde und
Erlebniffe die Form hergeben, in welde der Verf. mit unleugbarem
GSefchie einen Theil der fulturhiftoriichen Mittheilungen flicht, hätte
ich freilich lieber vermieden gejehen. Der Abichnitt gemahnt etwas
an die Schablone fulturhifteriiher Schilderungen in hifteriichen
Romanen. Er wiberjpricht dem ernjthaften Charakter des übrigen
Vuches und erzeugt fo im Leler eine gewille Disharmonie der
Stimmung, welche den Genuß der Lektüre beeinträchtigt.
* *
DieGeihichte des Herzogtdumskurland von
Dr. Auguft Seraphim muh ale eine überaus werthvolle
Vereicherung des ganzen Werkes bezeichnet werden. Es hätte, von
einigen wenigen Verweifungen auf den Inhalt der Arbeit Ernit
Seraphims abgefehen, ebenjo gut alo jelbjtändiges Buch ericheinen
fönnen. Unverfennbar trägt es einen anderen, wiflenichaftlicheren
Gharakter. Auher der gedrudten daritellenden Literatur find die
Quellen jelbftändig verwertet und auch arcdivaliihes Material
in erheblichem Umfange zu Nathe gezogen worden.
Der weientlihe Inhalt der politiichen Geihichte Nurlands
t fi) nach aufen in dem Verhältnii zum Stönigreic) Polen,
er
Seraphim's livl. Gedichte. 175
nad innen in den unausgefebten Streitigkeiten zwilchen Herzog
und Adel. Für einen Fremden fann die Gejcichte Nurlands
fomit nur ehr wenig Jntereffe haben. It es dod nur eine
Periode, die Negierungszeit Herzog Jakobs, welde die Kennzeichen
eines wirklichen Aufihwungs trägt, und an jid) der Theilnahme
weiterer Nreife werth it. Aber die vielverheihende Entwidelung
des Heinen Staates unter der weitblidenden, fürforglihen Re-
gierung diejes vortrefflihen Xüriten bricht plößlich mit einer
gewaltiamen Natajtrophe ab, die einerjeits als unverjchuldetes
Mingeihid eriheint, andererjeito doc) in der Nonfequenz der un-
igen Thatjache lag, daß ein völlig madhtloier Staat zu einer
politüicen Selbjtändigfeit gelangt war, die er aus eigener Nraft
feinem ernjtliche Angriffe gegenüber behaupten fonnte. Won vorn
herein waren Nurland nnd Pilten ein Spielball fremder Mächte
und fie mußten cs in immer höherem Vahe werden, je weniger
der einzig mahgebende Stand der Vevölferung, der Adel, Ver:
fändniß für diefe Sachlage zeigte, je rückfichtelofer und erfolgreicher
er bemüht war, die füritliche Gewalt zu Ihwäden, die dod) allein
no im Stande gewejen wäre, die Kräfte des Landes zur Wahr:
nehmung, feiner wichtigften Lebensintereffen zufammenzuhalten und
zu verwerthen. So jteht man bei der Vetrahtung der Gefdjichte
Kurlands unter dem peinlichen und betrübenden Eindrud einer nur
felten unterbrodhenen retrograden Entwidelung, die folgereht mit
der Selbftauflöfung endet. Auch der Sohn des Kandes wird dieje
Empfindung theilen. Aber wie die Geidhichte feiner Heimat aud,
verlaufen it, er wird ihr, weil fie diefe it, das gefleigerte
Intereife entgegenbringen, das eben die Licbe zur Heimat im
ihm erwedt, und jo wird er aud dem Verf. Danf willen für
feine mühevolle gewiiienhafte Arbeit, die auf dem Grunde der-
ielden Gefinnung erwachien ift.
Die herzoglice Zeit Kurlands ift ein in fi völlig ab
geichloffenes, jpezielles Gebiet der Geicjichte unjerer Oftfeeprovinzen.
Id defenne, daf mir die bejonderen Nenntnifie fehlen, die ich
nothwendig befügen mühe, um eine eingehende fritifche Würdigung
der vorfiegenden Arbeit zu verfuchen und id beichränte mich Daher
auf einige VBermerfungen allgemeiner Natur. Nicht geradezu
einen Mangel, aber eine Eigenart diefer Arbeit möchte id) hervor
176 Seraphim’s livl. Geichichte.
heben: Der Verf. giebt nur politiiche Geichichte. Ta ill es denn
ganz außerordentlich zu bedanern, das ein Fulturhifteriiches Kapitel,
zu dem der Stoff jchon gejammelt war, aus äuferen runden
nicht mehr aufgenommen werden fonnte. Mir fcheint die Anlage
der Arbeit ein foldhes ergänzendeo Fulturhifteriiches Napitel geradezu
zu fordern, jowohl im Intereffe der Darjtellung als für das Ver-
ftändnif; der geichilderten Zeit. Ich gebe der Vermuthung Raum,
daf der Verf. abjichtlich jedes Eingehen auf die Agrar: und fonitigen
wirthichaftlichen Verhältnifie, auf Handel und Wandel an Edel:
böfen und in den Städten, auf die literäriihen und Bildungs:
verhäftniffe, ja jelbft auf die Perfönlichfeit und das Hofleben der
ten vermieden hat, um ihre Schilderung für jenes leider in
Fortfall gerathene kulturhiftoriiche Kapitel aufzufparen und Wieder:
holungen zu vermeiden. Co geitaltet fid) das Wild der Furländiichen
Herzogsgeit vielleicht noch ungünftiger als fie es wirklich war.
Es muß unter der wenig erfreufichen Oberfläche diefer eigen:
unpolitüchen und eines höheren Strebens baren Adelsoligardie,
wie fie in den Verfaflungshändeln hervortritt, doch auch ein anderer
Seit vege gewejen fein, der nicht nur der Entwidelung fräftiger
Individuafitäten förderlich war, fondern Nurland auch dem geiftigen
Kontakt mit dem Miutterlande im Weiten offen bielt und jo dem
demoralifivenden Einfluß des Polenthums ein ges Gegen
gewicht bot. Die Veichränfung auf die rein politiiche Geidhichte
hat zur Folge gehabt, dafs joldhe Gefichtspunfte in der Darjtellung
ne geftreift find, deren Verückfichtigung aber den unerqwielichen
Gefammteindrucd gemildert hätte. Vielleicht aber wäre cs doc)
auch im Rahmen der vorliegenden Anordnung des Stoffes möglich)
gewejen, wenigftens von den Perfönlichfeiten der Furländiichen
zöge ein anfdaulicheres Wild zu geben. Celbit eine jo marfante
tengeftalt wie Herzog Jakob wird dod) nur in den allgemeiniten
Zügen gefgjildert. Seine innere und äußere ‘Politif fommen ja
vollauf zur Geltung, der Verf. hat aber darauf verzichtet oder
verzichten müffen, ihm den Lelern menfchlich nahe zu bringen.
Gerade als Vejtandtheil einer umfalenden populären Darjtellung
tonnte diefe Geidichte Nurlands meinem Empfinden nad) eher eine
fürzere Behandlung der Verfaifungs: und diplomatiichen Geichichte,
als diefen Verzicht auf die Ausfüllung der nur in Konturen ge-
Seraphim's lol. Gefcjichte. 177
gebenen Bilder der feitenden Perfönlichfeiten vertragen. Dafür
hat aber der Verf. die Möglichkeit gewonnen, fo mande Partieen
feiner Heimathsgefchichte durd) die Ergebnifje eigener Forfchung
zu ergängen, zu bereihern und zu berichtigen und darum darf
jenes jubjektive Bedauern ber Werthichägung bes objektiven Gehalts
feiner wiffenfchaftlihen Leiftung feinen Eintrag thun.
In der Vorrede bemerkt Aug. Seraphim, da es ihm ihwer
gefallen fei, Die Darftellung auf den Ton zu flimmen, ben der
Verf. diejes Werkes, fein Bruder, anfchlägt, aber fein ff
entbehre des großen Zuges, ber dem Autor unwillfürlid bie
mohlthuende Wärme der Darjtellung ermöglide. In der That
fühlt man fofort, dah hier eine andere fchriftitelleriihe Indivi-
dualität waltet. Niemand wird ihrem Stil aber das Zeugniß
verfagen, daß er dem Gegenftande angemeffen, würdig und durchaus
entfpredjend it.
A. Vergengrün.
Schwerin, Februar 1896.
re
Drudfechler
(bie fich in einige Exemplare eingefchlichen haben).
©. 166, 3. 7 vu. I. Ehoblemwicz ft. Chobliewig. -- &. 170,
3.16 ». 0. „worüber denn?“ mu in eigen ftatt in runden Alanımern fichen.
3.16 0. u. langedropte ft. angedadjte. — S. 171, 3.3 0. 0. I. gegen
. gegen des. 3. 1 0.0. wohlbeftallte ft. wolbejtellie. —
174, 3.700. u. ift mach dem Worte „abgefehen“ ein Komma zu feyen,
desgleichen 3. 9 v. u. nad) „es hätte”.
Neber den Begriff der Gntwidelung
nad Herbert Spencer.
65 gehört gewiß unter die jhwerjten Aufgaben des will
Ichaftlichen Denkens, gute Definitionen für allgemeine Begı zu
geben — und dad) it cs fo auferordentfich nothwvendig folche
gute Definitionen zu befigen, weil ohne fie ein fruchtbarer Aus:
taufch von Erfahrungen md Urteilen über allgemeine Fragen
und fomit jegliche erfolgreiche Förderung derfelben unmöglich wird.
Wie joll man fich über fompliivte Zufammenhänge verjtändigen,
wenn man nicht jederzeit genau weil, welche Vorftellungen beim
Gebrauch eines in einer Auseinanderfegung vorfommenden Terminus
mit legterem zu verbinden find. Es ift daher vielleicht eine
danfenswerthe Arbeit, fi gelegentlich genauer über foldhe im
Vordergrunde des zeitgenöfliichen Denkens ftehenden Begriffe und
über die Bedeutung zu inftruiren, welde ihnen in der Auffaffung
ihrer hervorragenditen Vearbeiter und Vertreter zukommt.
Die folgenden Zeilen Haben den Zwed ein Neferat darüber
zu liefern, wie der bedeutende Philofoph Herbert Spencer den
Aufgaben einer folhen Begriffsbeitimmung gerecht wird: es üft
der Begriff der „Entwidelung“, von dem geredet werden foll, cin
Wort, dem man bei der Lektüre moderner Werke auf Schritt und
Tritt begegnet; nennt fi) dod) die Lehre, auf der die ganze
moderne Naturauffaffung — man möchte jagen Weltanfhauung —
beruht, „Entwidelungs:“ oder „Cvolutionstheorie.”
Der Entwidelungsbegrifi nad) Spencer. 179
Mit echt engliiher Umftändlichkeit, Gewifienhaftigfeit und
Klarheit, an einer Fülle aus allen Gebieten des Lebens herbei:
gezogenen Beifpielen verweilend, nie fi) übereilend, nie den
Faden verlierend und mit unglaublichen pädagogiiden Heidi
im Geifte des Lefers allmählich feine Gedanken aufbauend —
geht der große Meijter bei der Lölung feiner Aufgabe zu Werk.
Er giebt uns nicht gleid) eine fertige Definition, die dann nad):
träglih anafytiid) behandelt, durd) Umfchreibung und Beiipiele
erläutert wird — nein, feine Methode ift wie alles natürliche
Erfahren -— ignthetifh: wir müflen uns durch eine 120 Drud:
feiten umfajlende, zufammenhängende Gebanfenreihe durcharbeiten,
bis alle nothwendigen Elemente des Begriffes zufammengetragen
ud geordnet find — Bis die Formel für den Begriff in ihrer
gedrungenen, alles Wefentlihe in fürzefter Form enthaltenden,
abgerundeten Gejtalt vor uns dajtcht. Für den aufmerffamen
Lejer bedeutet num aber auch und vergegenwärtigt jedes Wort
den Inhalt einer ganzen Abhandlung, welcher fi auf's treuejte
dem Gedächtnis einprägt.
Diefe Formel und unjer Verftändniß dafür deinen bei der
Lektüre organiid) zu wachen. Das weientlihite, augenfälligite
Merkmal des Begriffes wird zunächft herangezogen, in einem Sı
ausgejprohen und jeine durdgehende Gültigkeit bei allen Vor:
gängen, die wir mit dem Worte Entwidehung bezeichnen, nad):
gewiejen. Diefes Werfmal, diefer Sap ült gleihlam die
Keimzelle, aus der das ganze fünftige Gedanfengebilde hervor:
geht, fid) differenzirt und auswäcjt: bei der nun folgenden Ve:
fprechung defielben jtellt fich die Notwendigkeit von Ergänzungen,
Veichränfungen ober weiteren Zufäßen heraus, — am Schluf
eines jeden neuen Kapitels ijt unfere Formel um einige wenige
bedentungsvolle Worte gewacien, und jo geht es Schritt um
Schritt fort, bis der Gedanke jeine volle Ausprägung in der
Schluhformel erhalten hat.
Wiffenihaftlihes Erkennen untericeidet fi von fonjtigem
Wiffen und Erkennen, abgejehen von der größeren Strenge und
Genauigkeit, darin, dal c3 fich dabei nicht um gelegentliches und
ungeordnetes Crfajjen diefer oder jener Eingelthatfadhe handelt,
fondern, daß es Exfenntniffe find, die typiiche Bedeutung haben;
180 Der Entwidelungsbegriff nach Spencer,
6 ijt ein Wifjen von Gefegen, von Allgemeinheiten. — — Auch
bei der Gliederung und Nangabitufung der einzelnen wiffen-
Ichaftlichen Disziplinen ift es ein enti—eidendes Merkmal, ob es
fi) um mehr oder weniger umfaifende Allgemeinheiten handelt.
Die oberjte Stelle nimmt in diefer Hinficht die Philofophie ein,
fhlechthin als die Wiffenfhaft von den legten und umfaiendften
Allgemeinheiten. Je tiefer eine Disciplin zu der Vetrahtung und
Erforihung von Spezialitäten und Einzelthatfachen abjteigt, beito
geringer ift ihr philofephifcher Giehaft (womit ihr, nebenbei gejagt,
nichts von ihrem Werth und ihrer Würde genommen fein fol)
je höher fie andererfeits zu den großen Gejehen alles Dajeins
auffteigt, defto größer ift derjelbe. Ye mehr ein Schräftfteller, und
fei es aud) ein Novellift, Romanichreiber, Feuilletonift — in feiner
Darftellung bemüht ift, die Einzelthatfahen in Natur und Leben
als von jenen allgemeinen Gefegen beherricht und getragen barzu:
jtelfen, um fo mehr werden wir ihn einen Philofophen nennen
können — umd fo it auch im täglichen Leben das Verhalten jedes
einzelnen Menfchen mehr oder weniger „philofophiidh,” je nadhdem
er ein zerftreutes Dajein führt oder feinen Erxlebniffen Zufammen-
Hang zu geben weiß — ob er nad) Zufälligfeiten oder nad)
been lebt und fein Leben anf—haut.
In feinem Werke „Die Grundlagen der Philofophie” jucht
nun Spencer zu den legten, allgemeinften, das gelammte Leben
des Univerfums wie aud) aller Gingeleriftenzen in demfelben
begerrfchenden Merkmalen vorzubringen und glaubt in der „Ent:
wicelung“ und ihrem Gegenjtüd der „Auflöfung“ wie er
diejelben im Folgenden erläutert — das oberjte Gefeh des Vers
Hattens alles beifen gefunden zu Haben, was da entfteht, wird
und vergeht. Die Gedichte jeder Einzeleriftenz, jedes Dinges —
ift ein Verlauf, der mit feiner Entjtehung anhebt und dann nad
fürgerev oder längerer Dauer mit feinem Vergehen abichlieht.
Das ift eine Wahrheit von der größten Allgemeinheit — fo fchr,
baf fie fait trivial ericheint!
Was geht denn num aber eigentlid vor fi, wenn ein Ding
entjteht? In einer eingehenden Prüfung diefer Frage zeigt
uns Spencer, dah ein ing, jei cs ein Lebewelen oder gehöre
es dem Neid) der anorganiichen Dtaterie an, nur infofern entiteht,
Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 181
als jeine bereits vorhandenen Beftandtheile, die ehedem zeritreut
und aufgelöjt in der Natur gegenwärtig waren, räumlich zu einer
engeren Gruppirung zufammentreten, wobei fie einen Theil ihrer
relativen Bewegung einbüßen; denn cs fönnen Beftandtheile nicht
zu einem Ganzen fich vereinigen, ohne etwas von ihrer beziehent-
fihen Bewegung zu verlieren.
Somit it das erite allgemeine Merkmal der Entftehung
ober beffer Entwidelung von Etwas gefunden; Spencer faht cs
in die vorläufige furze Formel zufammen: Integration des Ctoffes
und damit verbundene Zerfireuung der Vervegung.
Der der Entwicelung entgegenarbeitende Prozeß der Auf:
löjung befteht hingegen in einer Abforption von Vewegung mit
begleitender TDisintegration des Stoffes (die Worte Integration,
Tisintegration bedeuten, das erftere: Vereinigung zu einem Ganzen,
das legtere: Aufhebung des Zufammenhanges. Cs fünnen
vereinigte Theile nicht anders getrennt werden, als duch Mit-
teilung von Bewegung, daher geht, wie geiagt, bie Auflöjung
unter Abforption von Bewegung vor fic.
Die beiden Prozeffe jtellen die Gefdhichte jeber wahrnehm-
baren Exiftenz in ihrer einfachften Form dar; denn jede Ner-
änderung, die irgend ein Ding erleidet, ijt immer ein Fortichreiten
in der einen oder der anderen Nichtung. Alle Dinge wachen
oder zerfallen, alle Dinge nehmen an Maffe zu oder fchwinden
dahin, alle nehmen Bewegung, jei es als Wärme oder in anderen
Formen, auf ober theifen jolde anderen Körpern mit: Furz, jede
Andersvertheilung des Stoffes oder der Bewegung in einem
förperlichen Aggregat ift entweber ein Fortichreiten zur Integration
oder Disintegration, — in der Entwidelung oder in der Auf:
löfung. Dabei ijt nochmals bejonders in’s Auge zu fallen, dah
die Integration des Stoffes immer mit Zerftreuung der Bewegung
verbunden it md umgefehrt die Disintegration des Stoffes mit
Aufnahme von Berregung. Wo fid Stoff anhäuft, gelangt er
zu einer relativen Hude: Verwegung wird abgegeben; — durd)
Vittheitung und Aufnahme von Bewegung wird der Stoff auf:
geitört, bie Teile eines Aggregats werden verfprengt: — Wenn
ein Körper beijpielsweile Wärme, d. i. Bewegung, abgiebt, fo
erjtarrt er, feine Theile lagern fi dichter an einander, er wird
12 Der Entwicelungsbegriff nad) Spencer.
integrirt, wenn er dagegen Wärme aufnimmt, fo beginnt damit
fein Auflöfungsprogeß (alle Verwefung verläuft unter dem Ein-
fuß; der Wärme fcpneller) — der Körper nimmt durd) die Wärme
an Volumen zu, feine Theilden rüden von einander ab, bei
zunehmender Wärme verlieren fie immer mehr ihren feiten
Zufammenhang, —- derfelbe wird im flüffigen Zuftande ganz labil
und fhlichlih it im gasförmigen Zuftande die Auflöfung voll:
zogen, die Theile find gänzlic) veriprengt.
Die beiden Grundprogefie der Entwidelung und Auflöfung
gehen an allen Gritenzen jtets gleichzeitig und neben einander
vor fid); feiner von ihnen fommt im ganzen Verlauf der Geichichte
einer wahrnehmbaren Griftenz je zum Stillftande. Im eriten
Abjchnitt einer jolden Geidjichte Herricht im Ganzen die Juter
gration vor, das Individuum wächjt, dann pflegt ein Abjchnitt
zu folgen, in welchem relatives Gleichgewicht ift, der legte Ab:
fehnitt ift durch ein Ueberwiegen ber Disintegration bis zur
gänzliien Auflöfung gefennzeichnet. In feinem Nugenblic
jedoch Halten fich Zunahme und Abnahme die Wange, oder nehmen
fie aud) nur ein Fonftantes Verhäftnif; zu einander an, fondern,
wie der Nhythmus das allgemeine Gefeg aller Bewegung ift, To ift
auc) Hier ein ewigeo Schwanfen, ein Steigen und Zinfen ber
gegen einander arbeitenden Prozeife vorhanden.
In der bisher gefundenen Formel: Integration des Stoffes
mit begleitender Zerftreuung ber VBeregung it das. allge:
meinjte Merkmal der Entwicelung erfi eö giebt feinen Ent:
wicelungsvorgang, bei weldhem diejes Merkmal fehlte. Wenn-
gleich 5 jedoch, Entwidelungsprogefie giebt, die außer demfelben
nichts aufuweifen haben — wie z.B. die Ablagerung eines
Sediments am Grunde einer Flüffigfeit, -— jo it der Be
griff damit dod) noch nicht volljtändig erichöpft, denn in den
allerwenigiten Fällen handelt es fid) um eine derartige „einfache
Entwidelung,“ fondern fait immer ijt die Entwidelung, wo fie
aud) auftreten mag, das, was Spencer „zufammengejegte Ent:
widelung“ nennt. Bevor baher Spencer dazu jchreitet, an einer
wedmähig geordneten Neihe von Veiipielen das oben gefenn-
zeichnete Gefeg zu erläutern und fein durchgehendes Zutreifen
nachguweifen — jucht er, ohne feine Formel vorläufig nad) durd)
Der Entwidelngsbegriff nah Spencer. 183
weitere Zufäge zu vervolftändigen, andeutungsweile eine Bor
ftellung von der zufammengefepten Entwidelung zu geben, um
den Eefer dadurd für das Verftändnif; des Folgenden beifer zu
befähigen. Um cs Furz zu fagen: das Merfmal zufanmengefegter
Entwidelung it, dai; ein materielles Aggregat während feines
Aufbaues —- feiner Integration nicht zu einem zufälligen,
innerlich unterichiedslofen Atlumpen geballt wird, fondern da cs
dabei eine ausgeiprodene innere Gliederung erfährt. In Spencer's
Spradje rüctüberjegt heißt das: neben der primären Jntegration
gehen jefundäre Andersvertheilungen des Stoffes vor fic.
Die Bedingungen für eine bejonders reiche Entfaltung folder
iefundärer Glieherungen während des allgemein fortichreitenden
Wahsthumes jind vorzüglid) in den organiihen Körpern gegeben
und zwar fieht Spencer diefelden in folgenden Cigenichaften:
Zunächit darf die Entwidelung nicht jo ichnell vor fid) gehen,
dab für die mebenbeilaufenden, jelumdären Progeife feine Zeit
übrig bleibt. Ferner: das Aggregat darf bei feiner Integration
nicht zu viel Bewegung zeritreuen, fondern muß möglichjt viel
davon zurüdbehalten, weil die zurücgehaltene Bewegung das
Zuftandefommen fekundärer Andersvertheilungen erleichtert. Spencer
führt zum Verftändnih diefer im Webrigen genügend auf Er
fahrungen gejtügten Ihatfadhe ein bejonders einfaches und inftruf
tives Beifpiel an: — wenn wir in ein Gefäß voll Getreideförner
etwa eine Vleitugel thun, jo hat die Echwerfraft jofort das Be-
fireben, in biefem Lörperfihhen Aggregat eine Andersvertheilung
hervorzurufen, infofern die Nugel unter ihrem Einfluß die Tendenz
hat nad) unten zu finfen; -— allein der Widerftand der ruhenden
Körner it genügend, um die Vleifugel in ihrer Anfangstage in
der oberei hit zu erhalten. Schütteln wir aber das Gefäß,
jo wird diefe Widerftandskraft Herabgefegt: die Iabil gewordenen
Körner fönnen die fefundäre Undersvertheilung nicht mehr hindern,
die Vleifugel finft allmählid zu Voden. Co würde uns zu
weit führen, wollten wir diefe Thatjache nad) genauer ver-
folgen — e8 genüge uns, im Auge zu behalten, daf; in einem
Angregat, deiien Theile in Vewegung begriffen find, did):
ihnittlich ein geringerer Widerftand gegen Anderovertheilungen
vorhanden ill.
184 Der Entwidelungsbegrift nad Spencer.
&s find mın befannte Thatiacdhen der PHufit und Chemie,
dah die flühfigen Körper mehr Vofefularbewegung enthalten als
die feiten (dev flüffige Zuftand tritt ja aud durd) Zufuhr von
Wärme, d. i. Molekularbewegung ein) — und daß ferner diejenigen
Stoffe eine größere Molefularmärme und damit zugleich aud)
eine größere Zerfeplichteit befigen, deren demifche Zufammen-
fegung eine Tompfizirtere ift.
Die Nörper der organischen Wefen zeichnen fi aber gerade
durch dieje Eigenjchaften aus: fie beftchen vorzugsweile aus den
Kohlen: und Stidjtoffverbindungen, die befanntlic von ber fom-
pligirteften —hemifchen Struktur find, und find reich an beweglichen
flüffigen Veftandtheilen, -- und daf; es gerade der Gehalt an Mole-
fularbewwegung ift, der den Organismen bie große Entwidelungs-
fähigfeit giebt, dafür jpricht auffallend der Umftand, welde Nolle
im Leben der Pilanzen und Thiere Wafler und Sonnenwärme
fpielen. — Aber nod ein anderes ift es, was die organijchen
Körper auszeichnet und fie zu einer hodgradigen Entwidelung
geeignet macht. Diefes läht fid) am beften an einem Beifpiel
ausführen: -— Wenn heiße Dämpfe fondenfirt werden und fid)
zue Flüffigfeit integriven, jo wird dabei noch eine gewaltige Menge
Molefularbewegung zurüdgehaften. Es finden bdementipredend
in Flüffigfeiten von velativ hoher Temperatur auch energüde
Andersvertheilungen in Form von inneren Strömungen jtatt.
Allein fie werben nicht wahrgenommen, jo raid) und umfangreic)
fie fein mögen, weil fie in der Flüffigfeit feine bleibende Spur
binterlaffen. „Bei der Annäherung an den fejten Zuftand gelangen
wir anf einen Punkt, wo der Stoff plajliid wird, mo Anders
vertheilungen immer noch), aber viel weniger leicht vorgenommen
werden fünnen und wo diefelben eben der geringen Veränderlichfeit
wegen, eine gewifie Dauer erreichen, eine Dauer jedod, die nur
dann vollftändig gefichert ift, wenn weitere Verfeftigung jede
fernere Anderovertheilung unmöglich macht.”
Die förperlihen Vejtandtheile der organischen Wejen find
num im höcjten Grade plaftiich mit ihrer für dieien wet jo
fehr geeigneten Vereinigung feiter, Geftalt und Dauer verleijender
und fabiler, eine groie Menge innerer Bewegung enthaltender
Vejtandiheile, die in ihrem Zufammenmirten die große Fülle
Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 185
langfam vor fich gehender, fich genügend verfeitigender, jefundärer
Andersvertheifungen geitattet.
Nachdem nun in allgemeinen Umriffen der Begriff der
Entwidelung gefenngeidhnet ift und hervorgehoben, dal die Ent-
mwidelung mit Ausnahme der allereinfachiten Prozeiie ftets zweierlei
umfaßt, nämlich erftens: Verdichtung, feitere Verknüpfung, Anı
fammfung, mit einem Wort Integration des Stoffes: — Wadio-
tum, umd zweitens: innere Gliederung und Anordnung der Theile
des fid) entwidelnden Aggregats: — Organifation, geht Spencer
jur genaueren inductiven Behandlung der erjten Seite des Ent
widelungsgefeges über, indem cr uns an einem überaus veicy-
baltigen Material von Erfahrungsthatfadhen zeigt, da das von
ihm ausgefprochene Gejeg bei allen Entjtehungs: nnd Entwidelungs-
progejien feine Bejtätigung findet, feien diefe num Fosmiidher oder
terrejtrifcher, anorganifcher, organicher oder auch überorganifcher
Natur (mit feßterem Terminus wird die Welt geiftigen Lebens
bezeichnet).
Zunädjft find es die Thatfahen der Ajtronomie, welde «6
binfänglid wahrideinlih machen, daß die jog. Kant-Laplace'ihe
Nebular-öypotheie Hecht hat, welche die Entjtehung der Himmels
förper mit ihren Trabanten aus Konzentrationen Lofer vertheilter
Nebelmafjen erklärt. Aber abgeiehen von diefer Hmpotheie
liefert auch das Sonnenipftem Beweie genug: die Sonne integrirt
fortwährend Stoff durd Aufnahme der auf fie in Diajlen ein-
ftürgenden Vieteore — ein Schidjal, dem aud) die Planeten und
die um die Sonne freijenden Stometen langiam entgegengehen.
Dabei wird unausgejept eine große Dlenge Bewegung in Korn
von Wärme ausgeitwahlt: die nothwendige Vegleiteriheinung der
fortdauernden Jntegration der Sonnenmajle.
Es folgen Beilpiele aus dem Gebiet ber terreftrii—hen Er-
iheinungen: die Erde fann nod) zur Zeit, wo fie fh an ihrer
Oberfläche unter die Nothgluthhige abgefühlt hatte, nicht die
ungeheuren Wajlermaffen auf ihrer Oberfläche gehabt haben, die
beute drei Fünftel derfelben beberten, fondern diefe müflen damals
in Form heißer Dämpfe der Atmoiphäre angehört haben: erit
mit weiterer Abkühlung der Erde find die Waflergafe zur Flüffigfeit
integrirt worden, was fie nod) in viel größerem Mafjtabe wären,
156 Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer.
wenn bier nicht der Integration ein beftändiger Auflöfungsprozeh
entgegenarbeiten würde, infofern das Waifer bejtändig durd) Auf:
nahme von Sonnenftrahlen wieder verdunftet. —
Die Thatfachen der Geologie ipredhen aud) für eine feit der
Entjtehung der Erde begonnene und eben nod) fortdauernde jlelige
Integration derjelben, — mas aud mit den neueften modernen
Erdbebentheorien übereinftimmt: die Erde wird im Inneren weiter
fontrahirt, —— die hart gewordene, unelajtiiche oberfte Schicht folgt,
wird faltig und brüchig — bildet dadurch Tberflächenerhöhungen
heraus amd ruft beim Verjten Erfhütterungen hervor. Nebenbei
laufen an der Erdoberfläche unzählige lofale Integrationen, aber
aud) Auflöfungsprojeije einher: hier wird Yand abgejpült, ein
Felfen wird abgewaidhen, dort bilden Ablagerungen des Vieeres
neues Feitland.
Gehen wir zum organifhen Leben über, deifen Schauplag
die Oberfläche der Erde ift, fo fehen wir, wie jede Pflanze
wejentlicd dadurd wäclt, dab fi fie in fi vereinigt, die
bisher gasförmig in der Atmoiphäre vertheilt waren; denn die
Ernährung geihieht ja vorzugsweile durch) die Blätter und nur
zum weit geringeren Theile durd die Wurzeln. — Die Thiere
unterhalten ihr Wachstyum auch theilweife duch Aufnahme von Gajen,
aber mehr nod durch Stoffe, die bereits duch Pilanzen oder
andere Thiere integrirt waren.
Während des allgemeinen Wachsthums von der Zelle, die
im Gewebe des Gieritodes eingebettet ift, bis zum ausgewachlenen
Individunm — gehen ununterbrochen jehmdäre Entwidelungoprogefle
vor fd. Die Entwidelung eines jeden Gliedes, eines jeden
Drgans, einer jeden Zelle ift eine folde jefundäre, Iofale Inter
gration. Das Auswachien und die Lerfeftigung der einzelnen
Teile geht mit forticjreitendem Alter immer weiter vor fi) (man
denfe nur an die Vorgänge am menfchlihen Schädel) -— Knorpel
werden zu Stnochen, unzufammenhängende Stnochen wachjen zu-
jammen das ganze Gewebe wird dichter und zäher. Dürfen
wir uns num aud) der Hypotheje bedienen, welde in den niederen
und höheren Arten und Gattungen der Organismen eine Ent:
wietelungsreihe erbliht -—- der befannten Darwinfhen Hypotheie, —
jo fünnen wir in auffteigender Richtung diefer Neide eine Fülle
Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 187
von fortichreitenden Integrationen erfennen; ic) erfaube mir hierfür
einige Veifpiele mit Spencer’s eigenen Worten anzuführen: „Won
fongitubinaler Integration liefert uns das Unterreid) der Annufojen
(Gliederthiere) eine Fülle von Beipielen. Die niedrigeren Formen
deifelben, wie die Würmer und die Taufendfühler, zeichnen jich
meiftens durch Die große Anzahl der fie zufammenfegenden Segmente
aus; diefelbe fan in einigen Fällen bis auf mehrere Hundert
anfteigen. Im den höheren Abtheilungen jedoch, bei den ftruftazeen,
Infetten und Spinnen, jehen wir dieie Zahl auf 13 und jelbjt
noch weniger reduziet, während in Verbindung mit diefer Neduftion
eine Verfürzung oder Integration des ganzen Nörpers auftritt,
die ihr Extrem in ber Strabbe und Spinne erreicht. Die Be-
deutung diefer Gegenfäge für die allgemeine Lehre von der Ent:
widelung wird erit Mar, wenn man berücjichtigt, daf diejelben
genau den Verfdiedengeiten entiprechen, welde während der Ent:
widelung eines einzelnen Glieberthieres zur Erideimung fommen.
Beim Hummer bilden der Kopf und der Brufttheil zuianmen eine
feite Kapfel, die as der Verichmelzung einer Anzahl von Segmenten
hervorging, welche im Embryo gefondert erfennbar waren.
Ebenjo finden wir beim Schmetterling Segmente, die jo viel
inniger mit einander verbunden find, als fie es bei der Naupe
waren, daf; fie, zum Theil wenigitens, nicht mehr von einander zu
unterfheiden find. Aud) die Wirbelthiere bieten in der Stufen
folge ihrer verichieden hoc ftehenden tlaffen ähnliche Beijpiele
einer Tongitubinafen Verfhmelzung. Bei den meijten Fiihen und
bei denjenigen Neptilien, die feine Gliedinahen befigen, verwachien
die Wirbel nirgends mit einander. Bei den meiften Säugethieren
und Vögeln dagegen verfchmilzt eine wechfelnde Anzahl von Wirbeln,
um das Kreuzbein zu bilden, und bei den Höheren Affen und beim
Menschen verlieren aud die Schwanzwirbel ihre gefonderte Indi-
vidualität und gehen in ein Kufutsbein über. Das, was wir als
transverjale Integration unterjcheiden, findet unter den Glieder:
tieren feine bejte Betätigung in der Entwidelung des Nerven:
foitems. Abgeiehen von feinen im hödhiten Grade rücgebildeten
Formen, welche feine deutlichen Ganglien erkennen laffen, it
beobachtet worden, daß die niedrigeren Oliederthiere und überein:
itimmend damit die Zarven der höheren, durchgängig eine doppelte
158 Der Entwidelungsbegriff nah Spencer.
Ganglienfette befigen, bie von einem Ende des Mörpers zum
andern verläuft; bei den vollfommener ausgebildeten Slieberthieren
dagegen verichmilzt dieje doppelte Sanglienfette zu einer einfachen.
Newport hat den Vorgang diefer Konzentration beidrieben, wie
ex bei den Injeften vorkommt, und Nathfe hat dafjelbe für die
Neujtazeen fejtgeftellt. In den frühejten Lebensjtadien von
Astacus Auviatilis (dem gemeinen Fluffrebs) it für jeden Ring
des Körpers ein Paar gefonderter Ganglien vorhanden. Won den
vierzehn Paaren, die dem Kopf und Brufttheit zugehören, vers
fcmelgen die drei vor dem Wunde gelegenen Paare in eine
Diaffe und bilden das Gehirn oder das Kopfganglion. Unterdeffen
vereinigen fid, von den übrigen die vorderften jehs Paare jeweils
ebenfalls in der Vlittellinie, während die andern mehr oder weniger
getrennt bleiben. Won biefen jo entitandenen jechs Doppel:
ganglien verwadjien die vorderen vier zu einer Majle, die hinteren
zwei ebenfalls, und bann verichmelzen diefe beiden Maffen in eine
einzige. Hier jehen wir aljo longitubinale und transverjale Inte:
gration gleichzeitig vor fi gehen, und bei den Höchjten Kruftazeen
ichreiten beide noch weiter fort.”
Zu den Integrationen der organifchen Melt muß man aud)
die Mechielbegiehungen rechnen, in welde die Individuen derjelden
Art oder aber aud) verfdiedener Arten zu einander treten und
dadurd) in gegenfeitige Abhängigkeit gerathen.
„Mehr oder weniger Neigung zu gefellfchaftliher Vereinigung
ift allgemein unter den Thieren verbreitet, und wo fie jtarf aus:
geprägt üit, da bejteht neben der einfaden Heerdenbildung nod
ein gewiffer Grad von innigerer Verbindung. Geicöpfe, die in
Nudeln jagen, Schildwachen ausitellen oder von Anführern geleitet
werden, jtellen durch gemeinicaftliches Handeln teihveife ver:
ichmolzene Körperichaften dar. Bei polygamiid) lebenden Säuge
thieren und Wögeln geht diele gegenfeitige Abhängigkeit nad,
weiter, und die gefellig lebenden Infekten zeigen uns Gefellichaften
von Jndividuen von noc) feiterem Zufammenhang; einige derjelben
haben ja die Vereinigung jo weit ausgebildet, dal; die Individuen
vereinzelt garnicht mehr leben fönnen.“
Aber auch zwiihen Organismen verichiedener Gattung finden
folde Integrationen jtatt. Pilanzen und Thiere, Thiere ver:
Der Entwidelungsbegriff nach Spencer. 189
ichiedener Gattung, find in ihren Eriftengbedingungen auf einander
angewiejen, und mit der höchiten Entwidelung des Nultur-
menschen hat dieje foziale Integration aud ihren Gipfelpmft
erreicht.
Mit der legten Betrachtung find wir jchon theiweile aus
dem Gebiet des Urganifhen heraus und haben uns auf das
nächjthöhere Gebiet des „Ueberorganüichen“, wie Spencer es nennt,
anf das Gebiet des Geiftigen begeben. Die Formel: Integration
des Stoffes mit gleichzeitiger Zerftörung von Bewegung darf nun
hier nicht mehr unmittelbar angewandt werden. Allein durch den
engen Zufammenhang, in dem die geiltige Entwidetung mit der
pbyfiichen fteht, ift cs bedingt, daf die materiellen Vorgänge in
den geiftigen ihr Wideripiel finden. Wie wir aus dem veränderten
Abdrud im Siegehvads eine Veränderung des Stempels erfennen,
fo fchen wir in den Integrationen der fid) fortentwidelnden
Sprache, Wiilenihaft und Kunft gewiile Integrationen ber fi)
fortentwidelnben materiellen Veichaffenheit des Menfchen und der
Sefellichaft fih abipielen.
Es ift ein Verfahren, das man in den Sprachen aller
Völfer antrifft, — daß zur Bezeichnung ungewöhnliderer Gegen:
ftände neue Wörter durd) Jufammenfegung von bereits gebräuchlichen
gebildet werden, welche die Merkmale des zu Bezeichnenden be-
ihreiben follen. Diefe Integration pflegt dann fpäter nad)
weiter vorzufchreiten: Die Wörter fchmelgen zur Untrennbarfeit
zulammen, fchliehlih find die Vejtandtheile nicht mehr herauszı:
erfennen. Je unentwidelter eine Sprade it, deito weniger feit
und bejtändig pflegt bieje Integration zu fein, was man haupt:
fählih aus der leichteren Trennbarfeit der zulanmengejeßten
Wörter und aus der großen Anzahl von Eitben erfennen fann
bei Wörtern, die bejtändig vortommende Dinge und Handlungen bes
zeichnen. Der Tag heißt in der Paroneefpradhe
der Teufel tsaheekshkakovraiwah. Die Wö
Auge,
Hund, Vogen find mindeitens breifilbig — die einfadren Zahl-
wörter find zwei: bis fünffilbig, in der Nifaveriprad)e bis fieben:
filbig. Dei den modernen Nulturfpradhen läht cs fih dagegen
leicht verfolgen, wie jtets die Tendenz zur Verichmelzung, er:
fürzung und weiteren Integration bejteht, wie die alten Formen
190 Der Entwidehrngsbegriff nad Spencer.
immer jilbenreicher find als die neuen; — am meilten integrirt
ericheinen naturgemäß die am hänfigften angewandten Auodrüde:
„Good bye wird aus .„Good be with you“, ftatt „ic wünihe
Ihnen einen guten Morgen“ fagt man „.moyn
Es findet hier eine beitändige Verdichtung des geiftigen
Inpalts ftatt; eine längere Gedanfenreihe, eine reihlichere Anzahl
degrifflicher Merkmale wird in einen möglicht funzen Ipradhlichen
Ausdrud eingefchloifen; Anfammlung, Verdichtung, Verfeitigung,
das ift and) hier der Vorgang wie bei den materiellen Integrationen.
Auch im Sapban jhreiten die Aulturiprachen in der Richtung
der Integration fort: die Nede wird zufammenhängender, die
Sprachperioden werden fefter gefügt, die Wörter im Sage durch Prü-
pofitionen, lerionsfilben und Gonjunetionen in engere Beziehung
zu einander gebracht. Wenn man die dinefüiche Sprache in diefer Be
jiehung mit den europäifchen vergleicht, fo hritt die ftärfere Zufammen-
Dangslofigfeit der erfteren deutlich hervor. Spencer harafterifirt das
in folgenden Veifpielen: Wenn wir fatt zu jagen: ich gehe nad)
Yonbon, Feigen fonmen aus der Türkei, die Sonne fdjeint durch)
die Luft, uns jo ausdrüdten: id) gehe Ziel London, Feigen fommen
Uriprung Türkei, die Sonne jcheint Durchgang Luft, jo würden
wir ungefähr nad) Art der Chinefen ipreden. — Doc) verlaflen
wir das Gebiet des Spradlichen und wenden wir uns der Ent
wickelung der Wiffenfchaften zu. Auch hier überzeugt uns ein
flüchtiger VBlid, daf der Fortichritt im Wefentlichen in einer jtets
weitergreifenden Verfnüpfung von Einzelerfahrungen zu Sejepen
von immer größerer Allgemeinheit und von Sefegen zu Spftemen
von fiets umfaflenderem Umfang befteht. Die Milfenfehaft in
ihren eriten Stadien beginnt mit der Klaffifizirung von Natur:
objeften. Schon das Volk vollzieht hier die erite grobe Worarbeit,
indem cs die verjdhiedenen Naturreihe als da find: Steine,
Pflanzen, Thiere 2c. ohne Zuhülfenahme eines wifjenfchaftlichen
Verfahrens untericheiden lernt und innerhalb diejer umfaffenden
Naturreiche die Cinzelobjefte in eine Fülle von Unterabtfeilungen
äufammenordnet und jomit in jeinem Geifte integrirt. Durch) die
Wijfenihaft werden die dermahen vom Volfe geihaffenen, nod)
größtentheils verworrenen, unzulänglichen und rohen Zufanmen
hänge vollfommener, auf Grund geeigneterer Merkmale und jhärferer
Der Entwidelungsbegriff nad) Spencer. 19
Beobachtung fiherer zulammengeordnet und fomit nad) inniger und
beifer integrirt. Deutlicher noch Lüht fi) diefer Prozeß in jenen
Niffenfhaften verfolgen, die fih mit der Ermittelung der Gelehe
des Gefchehens beichäftigen. Wir wählen uns als Veihpiel den
Entwidelungsgang, den die Phyfit genommen hat: — Zuallererit
find es Naturgefege von verhältnismäßig fpesiellem Charakter und
geringerer Allgemeinheit, die alfo eine verhältnism geringe
Summe von Einzelerfheinungen integriren, die von den erjten
Naturforichern ermittelt werden, jo 5. B. das Hebelgejeb, das
nad Archimedes benannte Gefep über den Gewichtoverlujt von
feiten Körpern in flüjigen Medien x. 2. MWeld) einen Fort
ihritt in der wijfenichaftlihen Integration bezeichnet c9, wenn ein
Newton findet, bafz bie von Galilei beobadyteten Kallgeiege jchwerer
Körper an der Erdoberfläche und die von Kepler beobachteten
Gelege der Planetenbewegungen um die Sonne jowie überhaupt
der Bewegungen jämmtlicher Seflirne am Firmament identiüd) find
und in die eine furze Formel des Gravitationsgefetes zufammenz
gefaht werben fünnen.
Ganze Atyeilungen der Phyfit, wie Schall: und Lichtlehre
einerfeits und die Lehre von der Elektrizität und vom Magnetismus
andererfeits, ift «8 gelungen unter gemeinjame Gefichtspunfte zu
bringen, und die jüngften Verfuche des zum Schaden der willen:
ihaftlichen Welt zu früh veritorbenen Phyfifers Herb find ein
erheblicher Schritt zur Integration diefer beiden bereits in ber
oben angegebenen Weije zujammengeordneten Gruppen, da Her
«8 fehr wahricheinlich gemacht hat, da die vier genannten Ab:
theilungen der Phyfif in einer allgemeinen Wellentchre fi werden
jufammenfajjen lajfen.
Wer einen genaueren Cinblid in die außerordentlich geift
vollen wiljenidaftlihien Arbeiten unfereo Landsmannes Yicolai
Baron Dellingshaufen genommen hat, der wird daraus erfehen
haben, im wie folgerichtiger und Fühner Weile der Verfafier
derfelben dem Ideale einer fegten und abjchliehenden Integration
der gejammten anorganiicen Naturichre nadjitrebt: nicht nur
Akufit, Optit, Cfektrizitätslehre und Magnetismus, jondern aud)
die Gefege der Medanif, die Erklärung der Gravitation und
192 Der Entwictelungsbegrifi nach Spencer.
der hemifchen Vorgänge werden in einer einheitlichen, befonders
gehandhabten Wellenfehre vereinigt.
„Und wenn,“ mit diefen Worten fchließt Spencer fein
Rapitel, „das möglid) ift, was wir hier unter Philofophie veritchen,
fo muß fi fchliehlich eine univerfafe Integration aller Wifjens
fchaften erreichen laffen.“ -— Mir Finnen darüber nicht im Zweifel
fein, daß Spencer das glaubt und daß er mit der Feitftellung des
univerfalen Entwidelungs: und Auflöfungsgefepes diefes Ziel im
Wefentlichen gewonnen zu Haben meint, indem er darin bie all:
gemeinften harafteriftiichen Merkmale aller Vorgänge in der Welt
der Eriheinungen und des menfehlicen Erfahrens zum Ausdrud
gebracht hat.
Zum Schluß diefer Reihe von Betrachtungen fei cs mir
geitattet, Spencer jelbft noch einmal reden zu Iaflen: „Auch die
induftriellen und änthetischen Nünfte liefern uns ebenjo jhlagende
Veilpiele. Der Fortigritt von rohen, feinen und einfachen Wert:
zeugen zu vollfonmenen, verwidelten und großen Mafdhinen ift
ein Fortfehritt in der Integration. Unter den jogenannten
mecjanifdjen Potenzen ift der Uebergang vom Hebel zum Nad an
der Welle ein Uebergang von einem einfachen Agens zu einem aus
mehreren einfachen zuiammengeiegten Agens. Und vergleichen wir
das Nad an der Welle oder irgend eine der in früheren Zeiten
gebräuchlichen Mafchinen mit den gegenwärtig verwendeten, fo
fehen wir, dah in jeder von unferen Mafchinen mehrere von ben
ujprünglihen Mafchinen zu einem Ganzen verbunden find. Ein
moderner Apparat zum Spinnen oder Weben, zur Verfertigung
von Strümpfen oder Spigen, enthält nicht blos einen Hebel, eine
ichiefe Ebene, eine Schraube, ein Nad an der Welle, alle mit
einander verbunden, fondern mehrere bderjelben find zu einem
Ganzen integrirt. Ferner war in früheren Zeiten, wo die Nraft
des Pferdes und des Menfchen fait allein in Anwendung kamen,
das bewegende Agens nicht mit dem bewegten Geräth verbunden ;
jest aber find in vielen Fällen beide in eins verichmolzen. Der
Fenerraum md der Dampffeifel einer Lofomotive find mit der
ganzen Mafchinerie in Verbindung gebracht, welche der Dampf in
Bewegung feßt. Eine noch) ausgedehntere Integration ift in jeder
Fabrit erreicht. Pier finden wir eine große Zahl Tompfizieter
Ver Entwielungsbeguifi ne Spencer. 103
Diaihinen, alle dur Triebitangen mit derjelben Tampfunidine
verbunden, alle mit diefer zu einem qvohen Apparat vereinigt.
Dan braucht bios die Vianerverzierungen der Ueanpter id
Afgrier mit modernen hitoriichen Gemälden zu vergleichen, um
ich den großen Zortihritt in der Einheit dev Nompofition, in der
Unterordnung der Theile unter die dee des Ganzen flar zu
madıen. Zolde alte Frestogemäfde find in der That aus einer
Anzahl von Gemälden zuammengefegt, die nu in geringer gegen
jeitiger Abhängigkeit ftehen. Die einzelnen Figuren, aus denen
jede Gruppe beiteht, lajfen in ihren Stellungen nur wwolltennen
und in ihrem Gefichtsausdrud ganz und garnicht die Beziehungen
erfennen, die ziwiidhen ihnen obwalten, die einzeinen Girnppen
fönnten, ohne den Zinn erheblich zu fören, von einander getrennt
werden, und ber Dittelpunft, an den fid) das Danptintereffe fnipft
und der alle Theile zulammenhatten foltte, üt oft in feiner Weile
erfichtlich. Dasjelbe Weien Fennzeichnet auch die gewirkten Tapeten
des Mittelalters. Cs mag vielleicht eine Jagdizene darauf dar
geteilt fein, die Menfchen, erde, Hunde, wilde Thiere, Wögel,
Bäume, Blumen enthält, Alles vegeilos vertheilt, die lebendigen
Gegenjtände mannigfaltig beihäftigt und zumeiit ohne dai; ertennbar
wäre, Dal fie von ihrer gegenieitigen Nähe hraend eine Anna
hätten. Im den Gemälden aber, die either erzeugt wurden,
findet fich, To mangelpaft auch manche in dieher Dinficht noch find,
doch ftets eine mehr oder weniger deutliche Zulammenordming,
eine Sruppirung der Stellungen, des Anodruds, der Lichter und
Farben, die daranf abzielt, das Semätde zu einem arganticdhen
Ganzen zu verbinden, und der Erfolg, mit welchem did) eine
Vannigfaltigfeit von Bertandtheifen eine einheitliche Wirtung her
vorgebracht wird, gilt als weientliches Zenyniß für die erlangte
Vollfommenbeit.
In der Dinfit macht fih eine fortichreit
noch mannigfaltigerer Weile geltend. Die einfache, mr aus
wenigen Noten beiichende Cadenz, welche in den Oefüngen der
Wilden in eintöniger Weile wiederholt wird, bildet jich bei
gefitteten Völkern zu einer Inngen Neihe von veriihiedenen, zu
einem Ganzen verbundenen mufifaliihen Zäpen aus, und jo voll
kommen ijt die Integration, dah die Melodie nicht in der Witte
de ntegration in
194 Der Entwidelungsbegrifi nad Spencer.
abgebrochen oder ihrer Schlufmote beranbt werden Tann, ohne dafi
ein peinliches Gefühl von Unvollftändigfeit in uns hervorgerufen
würde. Wenn fich zu der Melodie eine Hal, eine Tenor- und
eine Altftimme gefellen und wenn zu der Harmonie der verfchiedenen
Stimmen noch eine Begleitung hinzugefügt wird, fo erfennen wir
darin Integrationen einer andern Ordnung, welche ebenjallo all:
mählich immer umfafiender werden. Und noch am eine Ctuf
höher wird der Frogeh geführt, wenn die verichiedenen Coli,
Nongertftüce, Chorgefänge und Orcheiterwirfungen zu dem großen
Ganzen eines mufifafifchen Dramas vereinigt werden, deilen
fünjtferifche Wollendung, um nochmalo daran zu erinnern, im
hohem (ade von der Unterordmung der Eingehirfungen unter
die Gejammtwirfung abhängt.
Endlich erfennen wir auch in den Nünften der litterärtichen
Darftellung, der erzählenden fewohl wie der dramatifchen, ähnliche
Verhältniiie. Die Geihichten der früheren Zeiten, wie diejenigen,
mit welchen die Märchenerzähler des Oftens noch heute ihre Zu
hörer unterhalten, find aus aufeinanderfolgenden Vorfällen zulammen
geieht, die nicht allein an fd) umnatürlich find, fondern and) jedes
natürlichen Zufemmenhangs entbehren: es find mm ebenfo viele
befondere Abentener, die ofme notwendige Folgerichtigfeit an
einander gereiht winden. Xn einem guten Dichterwerf der Net:
zeit dagegen werben bie Begebenheiten recht eigentlich durch die
Charaktere der unter bejlimmten Dedingungen handelnden Perfonen
herbeigeführt umd ihre Neihenfolge oder ihre Eigenthüimlichfeiten
fönnen deshalb auch nicht nach Belieben abgeändert werden, ohne
die Gefammtvirtung zu Ächädigen oder ganz zu vernichten.
Ferner werden uns die Charaktere jelbit, die in früheren Dichtungen
ihre betreffenden Nollen fpielen, ohne baf; erfichtlich wäre, wie
üpre geifligen Verhältnifie dund) einander oder burd) die Begeben-
heiten beitimmt werden, heutzutane jo dargeitellt, dafı fie durch
moralifche Beziehungen zufammengehalten werden und gegenfeitige
Wirtung und Gegemwirfung auf ihr Welen ausüben.”
Wir daben uns überzeugen Fönnen, da die Entwictelung
von ihrer weientfichiten Seite aus betrachtet ein Ucbergang ats
einer weniger zufammenhängenden Form in eine mehr zuammen
Hängende ift, welche durch Integration des Stofies zu Stande
Ver Entwidelumgsbeariff nach Spencer. 195
aebracht wird. v Vorgang iit mit pholikaliicher Nothwendigfeit
itets mit Jeritrenung von Bewegung verbunden; dadurd wird
das fich integrirende Aggregat zu einem Ausgangspunkt
von Wirkungen auf die Imgebnug, zu einem aftiven
Zentrum, und diefe Wirkungen fteigern und vermehren fich mit
fortichreitender Entwidelung des Aagregato. wiet über das
Geieg der einfachen Entwidelung.
Id hoffe durch dieieo gedrungene Neferat ein Wild von
der Gründlichfeit Spencericher Tarlegungen vor Augen gebracıt
zu haben. Die zujammengejegte Entwidelung Foll nicht in gleicher
Ausführlicheit behandelt werden. ch werde cs verfuchen die
Spencerfche Formel in furzen Worten zu erläutern und werde aus
der Fülle der erflärenden Yeilpiele, welche Spencer für jeden
einzelnen Zap feiner Formel giebt, einige befonders inftruftive
herausgreifen.
Der nädjite Jufag, den Spencer zu feiner bisher gewonnenen
Kormel macht, it der, dah der Stoff während feiner Antegralion
aus einem gleihartigen in einen ungaleihartigen
Zuitand übergeht; d. h. während des Wachothums, das eine fiht:
bare Eriftenz in der Zeit feiner auffteigenden Entwicelung erfährt,
wird dur innere Differenzirung md bejondere Verlagerung des
fieo eine jteto forticreitende Wannigfaltigkeit des inneren
Vaneo bewirkt. Jeder thieriiche Nörver beginnt, fo weit wir die
Sace verfolgen können, feine Eriftenz mit einem winzigen, undiffe:
vensieten Schleimbläschen, welches, auf den geeigneten Mutterboden
gebracht und genügend mit affimilirbaren Stoffen verichen, alo:
bald energiich zu wachen beginnt; aber energiicher noch als das
Wachsthum it die innere Differenzivung, welde das Wachethun
begleitet: die eine Zelle ipaltet fih, die Beitandtheile zerfallen
abermals, und jo geht dao in geometriicher Progreiiion vorwärts,
während die eingenen neu enfjtandenen ‚Jellen unter einander
einen jteto ungleichartigeren Gharafter annehmen, lofale Inte:
grationen eingehen und fich jo zu den höchjt ungleichartigen Geweben
und Organen eines thierifchen IJndivimumme zufammenicliche
welch ein enormer Nortichritt zur Ungleichartigfeit Deo inneren Yaucs
hat fid) in der verhältnismähig Furgen Zeit vollgogen, wenn das
einftige, einfache, befrudhtete Samenbläschen des weiblihen Cier-
196 Der Entwidelungsbegriff nad Spencer.
ftodes als veife Krncht den Mutterleib verläßt. Ich areife
nad ein zweites Beilpiel und zwar aus der Neihe der über:
organifcen Entwidelungsprogefie beraus, um daran die fort
Ächreitende Differenzivung des Sleihartigen zum Ungleichartigen
machzwveifen. Cs it die Iyatacbe, dak die verfchiedenen Formen
der Schriftiprace, der Pinlerei und der Bildhauerfunit, wie Fich,
das hiftorifch nachweilen fäht, einen gemeinfamen Uriprung haben:
fie alle find aus den Wandmalereien hervorgegangen, mit denen
die alten Multuwvölter ihre Paläfte und Tempel jchmülten. Die
jenigen Aigquren und Viloniffe, welche in diefen bildlichen Dar-
itellungen fich am hänfigiten wiederholten, gewannen allmählich
topiich Inmboliiche Bedeutung für gewiiie Vorgänge oder Begriffe,
und darin war der Anlai zur Entwidelung der Bilderichrift
gegeben, welche ihrerjeits durd weitergehende Verfürzung und
Vereinfachung in die Yuchitabenfchrift überging. - Die Um:
rilfe der Figuren auf den Mandgemätden, wurden, um feßteren
eine qröfere Deutlichfeit zu verleihen, Häufig in die Wand gerik
in biefem Verfitren Seat der Srumd zur Entitehung des Nelief's,
welches mit ver Zeit ausgeprägter gearbeitet wurde, bis die Fiqur
fih als jelbitändiges Muntwerf von der Wand föfte, während co
feine Abftammung vom Wandgemälde noch in der Bemafung
verrieth, welche die älteren plaftischen Yitdwerfe aufweilen. in
jpäterer Zeit bat fi dann die Plajtif felbftändig weiterentwidelt
und fic) ihrerieito in ungezählte Yarietäten differen Schliehlich
hat auch die Malerei fid von der Baufumft emanzipirt und fich
als jelbjtändige Ntunft in mannigfade Sattungen, als da find:
biftoriiche, Yandichafts , Marine, Bau, Genre, Thier,, Stillleben
malerei u. f. m. getrennt.
„Zo Tonderbar cs aljo auch ericheinen mag, es bleibt nichts
deito weniger ganz richtig, da alle Formen der Schriftiprade,
alerei und Bildhauerei in den politifch = religiöfen Aus:
ichmüdungen alter Tempel und Kalüte ihre gemeinjame Wurzel
haben. So geringe Achnlichfeit fie auch Heutzutage haben: die
Büfte, die dort auf dem Zorkel fteht, das Yandichaftsbild, das an
der Wand hängt und der Abdrud der „Times“, der auf dem
Tische liegt, find entfernt verwandt mit einander, und zwar nicht
6103 ihrem Welen nad), fondern wirtlich dur ihre Abftammung.
v Entwidelngsbegriff nad Spencer. 197
Das metallene Gefidht an dem Nlopfer, den der Poftbote eben in
Bewegung fegte, fteht in foldem Verhältnis nicht blos zu den
Holzihnitten der Mustrated London News, die er abliefert,
jondern auch zu den Schriftzügen des hillet-doux, welches jene
begleitet. Zwiihen dem gemalten Kirchenfenfter, dem Gebetbuch,
auf welches jein Licht fällt, und dem Denfmal an der Seite beiteht
Blutsverwandticaft. Die Bildnijje auf unferen Münzen, die Zeichen
an den sStaufläden, die Ziffern, welde jedes Hauptbud) füllen,
das MWappenichild auf der Auhenfeite des Nutichenfchlags und die
‘Blafate imvendig im Omnibus find nebit Puppen, Blaubüchern
und Papiertapeten, direfte Abtömmlinge der vohen Bildhauer
malereien, durch welche die alten Aegypter die Trinmph)
die Verehrung ihrer Gott-Könige daritellten. Cs lieh
faum ein anderes Beifpiel finden, daß To lebhaft die
und Ungleidartigfeit der Eryeugnifie deutlich macht, die alle im
Laufe der Zeit durch fortwährende Diferenzirungen von einem
gemeinfamen Grunditod aus entjtehen fünnen.“
Der zweite Zufag zur Formel des Entwidelungsgeiebes
lautet: Jede fihtbare Eriftenz jchreitet während ihrer Entwidehmg
von einem verhältnismäßig unbeftimmten zu einem ausgeprägteren
und mehr beitimmten Zuftande fort: es findet ein Mebergang von
der Verwirrung zur Crdnung, vom Chaos zum Nosmos ftatt.
Wenn einen gefunden Organismus eine Krankheit befällt, To
werden durch die entzündlichen Progeffe und die Gewebover
änderungen, welde die Nranfheit verujacht, in den betreffenden
Nörper neue Momente der Ungfeichartigleit hineingetragen, und
doch bedeuten di je Vorgänge für den Organismus nit: Ent
widelung, jonderı Die ru hat die Tendenz,
die bejtimmte, ausgeprägte Organiation des gelunden Körpers zu
vernichten uud die einjt jo fcharf gezeichneten Yinien der Orga
nifation zu verwilchen. „Nicht anders joziale Veränderungen von
aufergejegliher Art. Die Mihftimmung, welche einem politiihen
Ausbruch vorausgeht, bringt eine Yockerung der Bande mit fi,
durdy welche die Bürger in bejondere Alaffen und Unterklafien
abgegrenzt werden. Voltsbewegung erzeugt aufeüihreriiche
Zufammenfünfte und verichmilt aemöhntich getrennte Nang
ordnungen mit einander. Unbotmähige Handlungen durchbreden
198 Der Entwidelungsbegriff nad Epencer.
die der Führung des einzelnen geiegten Schranten und ftreben die
Linien zu verwiichen, welche bisher KHöhergeftellte und Untergebene
ichiede Dur die Stodungen des Handels verlieren zugleich
Nünftler und Andere ihre Beihäftigungen, und indem fie auf
hören durd) ihre Thätigteit unteridjieden zu jein, verlieren fie id)
in der unbejtimmten arofen Miafie. Und wenn cs endlich zum
Anfitande Fommt, dann hören alle behördlichen und amtlichen
Lollmachten, alle Nlafenvorzüge und alle Unterichiede dev Gewerbe-
thätigfeit auf: die o.nanifirte Gefelfihaft finft in den Zuitand
einer unorganifirten Zuiammenhäufing geiellichaftliher Elementar
beftandtgeile zurüd.“
&s ift bisher nur von der Jntegration des Stoffes und den
nebenhergehenden fefundären Andersvertheitungen deifelben geredet
worden und nur gelegentlich ift dabei auf das Verhalten der Be
wegung bingewiefen worden. Zwar ift es ausgeiproden worden,
dah bei einer Anjommlung und Verdichtung des es, legterer
zu einer relativ größeren Nuhe gelangt, was nicht anders vor jid)
gehen fann, als wenn Bewegung von dem fich integrirenden
Aggregat eingebüht und den umgebenden Körpern mitgetheilt
wird und da, das Angregat auf diele Weile zum Ausgangspunft
von Nraftleiftungen und Wirkungen auf die Umgebung wird.
Allein eine zujammengeiepte Entwidelung mit fortichreitender
innerer Organiiation einer wahrnehmbaren Eriftenz wäre nicht
denkbar, wenn diejelbe bei ihrer Integration alle die Bewegung,
welche ihr von den fie integrirenden Veitandiheilen zugeführt
wird, geritvenen wollte: eo bliebe ja dann nichts nad, um die
inneren Verlagerungen zu bewerfitelligen. Die bei der Integration
zugeführte Bewegung muß die Noften jowohl der nad) außen
gerichteten Yeiftungen als aud) der inneren funktionellen Vorgänge
beitweiten. Hocentwicelte Gritengen, wie z.B. die Ihiere höherer
Trdmung halten ein jehr bedeutendes Quantum von Bercgung
zuwüh, mm ihre inneren Yebensfunftionen aufrecht erhalten zu
fünnen. Die Wärme des Blutes, die dhemifcen molefularen
Energieen, die in den Säften und Geweben aufgeipeichert find,
die Energie des zirfulivenden Blutes und der freifenden Zäfte
vepräfentiren diefen jurücgehaltenen Worratd an Bewegung.
Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 199
Wie die feundären Anderovertheilungen des Stoffes auf
einen ebergang von einem mehr gleibartigen und undeftimmten
zu einem mehr ungleihartigen und beflimimten Zuftande abzielten,
fo erleidet aud) das Quantum an zurüdgehaltener Bewegung eine
entfpredende Umformung: aud die zurücgehaltene Bewegung
wird bei auffteigender Entwieluug immer mannigfaltiger, pri
und inniger zuiammenhängend. Wir brauchen, un das Gefagte
zu verftehen, uns nur im (Seife das innere funktionelle Yeben
im Körper eines niederen Weichthieres neben dasjenige im Körper
eines hocentwidelten Zäugethieres zu jtellen und an das präsiie
arbeitende, höchit Tompligivte Ernährungs, Zirfulationo, Wiusfel
umd Nervenfgftem des lepteren zu denfen. Auch im fogialen
Organismus jowie im höheren Nerven und Geiftesleben it es
nicht anders. Wlan denfe an den fompligieten, präziien Bervegungs
apparat, den ein moderner Staat präfentirt, wie aud hier die
anfangs diffufen, zeriplitterten Nräfte und Vejtrebungen der Jndi
viduen fih) bei aufileigender Entwidelung zu immer träftiger
werdenden Gejammtwirfungen von Körpericaften, Ständen und
Injtitutionen integriven, immer mannigfaltiger werden und in
beijeren, präziferen Zufammenbhang fommen.
Faffen wir jegt rüdblidend die weientlien Momente zu
jammen, jo ergiebt fi als Endrefultat, dah; der Begriff der
Entwidelung jeder wahrnehmbaren Eriftenz in ihrem univerjaliten
Sinn folgende Toeilbeftimmungen in fi faht: &s findet bei
auffteigender Entwidelung eine fortichreitende Anfamınlung und
Verfeftigung des Yaumaterials, des Stoffes jtatt; das Baumaterial
wird in ftets fortichreitendem Vaafe wmannigjaltig verlagert.
Dieje innere Gliederung der Mafie wird immer ausgeprä
präzifer md beifer zufammenhängend. Während der
anfammlung, des Wachsthums wird durd) die zujammentretenden
Vejtandtheile dem fid) bildenden Ganzen fortwährend Yewenung
zugeführt, welche zum Theil auf die Umgebung übertragen und
dadurd) zum Träger der nach außen gerichteten Wirfungen wird,
zum Teil aber zurüctgehalten, fich zu inneren Funktionen heraus
bildet, wobei fie ebenjo wie der Stoff von einer gleichartig unbe
fimmten zu einer ungleichartig beftimmten Anordnung fchreitet;
oder mit Spencer's eigenen Worten:
200 Der Entwidelungsbegriff nad Spencer.
„Entwideting it Antegration des Ctofles md
und damit verbundene Jerjtrenung der Verenumg,
während welcher der Stoff aus einer unbejtimmten,
unzufonmenhängenden Gleichartigfeit in beftimmte zu
jammenbängende Ungleichartinfeit fbergebt, und während
welcher die zurücgebaltene Bewegung eine entiprechende
Unmformumg erfährt.”
Tas ganze, viele Bände umfafende Yebenswerf Zpencer'o
„Tas Znftem der Pbitjophie” behandelt im Grunde genommen
nichts weiter al die fvegielle Darloyung des Entwicelungsgefeges
auf den einzelnen Yebensgebieten, wo bajfelbe natürlid eine
noch viel font‘ , febendigere Geftalt gewinnt, als ihm hier in
der Kürze und in allgemeiniten Jünen verliehen werden fonnte.
Tiefes miverinle Werdegeiep gilt in gleicher Weije beim
Suftandefommen von Dimmelsförpern, Sonnen: und Weltjuitemen,
wie bei der Entjtehung eines Npftalls, eines animalifchen \ndi
vide oder eines Voll; cs beherricht die anorganiihen Ent
ftehungsprogeiie ebenlo wie die organifchen und überorganichen,
feien 05 nun atronomifche oder bioloniiche Vorgänge, pindologiiche
oder jozinle. Nie ehr deutet Tolche univeriale Manmähigteit
auf das Dervorachen alles deifen, was it, aus dem jchönferiichen
Willen eines einigen allmächtigen Weiens hin. Doc wir wollen
nicht Eigenes in die Spencerihe D
Darlegung mifchen und nicht den
Boden frenger Wilfenfchaft verlafen.
Die Wifenichaft amd ihre oberite Disziplin, die Pbilofopbie,
fo fehrt uno Spencer, bat 05 nur mit der geiftigen Aufnahme,
tung umd Ordmung der Erfahrungstbatiachen in der Welt der
Ericheinungen zu Sie wei wohl von einer unendlichen
acht jenjeits der Ericheinungen, welche die allmächtige, zeugende
md deitende Unrfache derielben it; fie it auf das tiefite von
ihrem Dafein und ihrer Bedeutung Durchdrungen, aber in Demuth
befennt fie, dal; fie hier vor einem für fie undincdringlicen,
heiligen Mofterium ftcht, deiien Schleier fie nicht zu lüften
vermag. Tas find micht mehr Dinge der Erfenntnis, bier
ichweigt die Wirtenfchaft, und Dihtung und Neligion greifen ein,
am dem Menichen geeignete Sombole für das Nnausipredliche
zu Schaffen. cd fann co mir nicht verlangen, ein paar Verfe
Der Entwidelungsbegriff nad Spencer. 201
unferes Dichters Nüdert hierherzufegen, die id in ähnlichem
Zuiammenhange von Prof. Fricbric) Paulfen zitirt gefunden habe:
Ein Vorhang hängt vorm Heitigthine
Geftieit aus bunten Bildern,
„on Thier und Planze, Stern und Blume
Die Gottes Größe jchildern.
Die Andacht fnieet anzubeten
Vor diejen reichen Falten;
Ein Lichtitrahl hinter den Tapeten
Verfläret die Geftalten.
Ih neige mich zum tiefiten Saume
Und fü’ ihn nur mit Beben,
Mir füllt nicht ein im fühnjtem Tramme
Den Vorhang wegzuheben!
N von Schulmann.
Baron Gduard von der Brüggen.
Eelten ijt in unjerem Lande eine Nachricht mit jo tebhafter
Theitnahme und jo fchmerzlihem Bedauern aufgenommen worden
wie die Trauerfunde von dem unerwartet vajdhen Hinfcheiden
Eduard von der Vrüggens. Man hatte allgemein das Gefühl,
daß Nurland einen jcdweren unerjeglichen Berlujt erlitten habe.
Seinen Freunden, Allen, die ihn perfönlih näher kannten und
ihn mod eben munter und frisch gejehen hatten, war es zunädjt
ein faum zu fallender Gedanke, dah er nicht mehr unter uns
weile. Unter dem Gindruce der friichen Trauer find von ver»
idiedenen Seiten dem Verewigten warme und pietätvolle Worte
der Verehrung und des Danfes in den öffentlichen Blättern nad)
gerufen worden, fie Haben Zeugnif; davon abgelegt, welde Hod)
ibägung Brüggen unter feinen Yandeleuten genof. Wenn id)
jest, nachdem der erjte Schmerz gedämpft it, das Gefühl des herben
Verluftes aber Icbendig fortdauert, es an diefer Stelle unternehme
dem Dahingeidjiebenen ein Blatt der Erinnerung zu weihen, jo
erfülle ic) damit zunächit eine Pflicht des Herzens, da eine lang
jährige Freundicaft mich mit Yrüggen verbunden hat. Cs it
mir Bebürfniß, mir und andern das Bild des feltenen Mannes
in voller Frijche noch einmal zu vergegemwärtigen, ehe die Zeit es
langiam und unmerklid) erblajfen läht, co ift gleichjam ein lepter
Abjchied, den ich von dem heimgegangenen Freunde nehme. YAuher-
dem hat ein Mann wie Brüggen darauf Aniprud, von den
verichiebenften Gefichtspunften aus aufgefaßt und geidildert zu
werden. Cs wird nur eine Stige fein, die id) im Folgenden
biete, nicht Weniges fann darin nur angedeutet, Anderes muß
ganz übergangen werden. Ein volles Bild von Brüggens Perfönlichfeit
und Wirken zu entwerfen, ijt gegenwärtig noch nicht möglich. Indem
ic) mich aber über ihm zu reden anfdjicte, ift es mir, als jähe id) den
theuern heimgegangenen Fremd vor mir, wie er mich ernjt
anblickt, und als hörte ich ihn mit dem aufgehobenen Finger der
Rechten mir zwvinfend, wie er im Eifer zu thun pflegte, Ipreden:
ic) halle Schmeicheleien und Yobpreifungen. Ic werde ihn darum
bei aller Verehrung und Liebe fo jcildern, wie er wirklicd war,
auch jeine Schwächen nicht verichweigen, frz fo, wie id) es ver“
antworten zu fönnen glaubte, wenn ihm jelbjt biefe Blätter vor
die Augen fümen.
Vergegenwärtigen wir uns zunächft Brüggens dußern Lebens:
gang.
Er war am 4. Januar 1822 als das dritte von 6 Ge
ichwiftern zu Arishof in Kurland geboren. Sein Vater Julius
dv. d. Brüggen, der damalige Befiger von Arishof, war ein durch
feine Nechtichaffenheit und Nedlichfeit allgemein geachteter Man
von aufrichtiger tiefer Frömmigkeit. Seine Mutter, Charlotte,
geb. Yaroneife Firde aus Heyden, war eine Frau von grofer
Begabung und guter Bildung; der Sohn hat, wie das jo oft
vorkommt, die geiftigen Anlagen von der Mutter geerbt. Als
Neunjähriger j—hen verlor Brüggen die Mutter im Jahre 1831,
der Vater hat fi über diefen Verluft niemals völlig zu tröften
vermocht und vergaß zunäcjt in feinem Schmerze allı Da war es
ein Glüd, daf die Großmutter, Baronin Firds geb. Find von Finden:
jtein, eine energiihe Frau, fid) der Erziehung der Kinder annahm.
Der junge Eduard erhielt, nachdem ihm die erjten Elemente des
Wiffens durch eine Gouvernante beigebracht waren, furze Zeit von
einem Hauslehrer, dem fpätern Pater Otto in Angern, Unterricht
und trat dann im Augujt 1836 in die Tertian des Gymnafiums
zu Witau ein, wohin feine Großmutter mit ihm übergefiedelt war.
Im Gymmnafium zeihnete ex fihh durch großen Zleih und gewijlen
bajte Arbeit aus. on jeinen Lehrern hat mır E. 6. Engelmann
eine tiefere Cinwirfuna auf ihm ausgeübt. Zu Nobannis 1340
204 ©. v. d. Brüggen,
verlieh Brüggen nac) wohlbejtandenem NAbiturienteneramen das
Gymnafium und bezog die Yandesuniverfität, um jura zu jhwdiren.
Er trat in die Curonia ein und nahm aud) am Burfdenleben
Antheil, vernachläffigte aber dabei das Studium durchaus nicht.
Von feinen juriftiichen Pehrern verbankte er am meijten dem hädjit
anregenden caraftervollen C. DO. von Madai und dem eleganten
atiniften C. Edumd Otto. 1842 fiedelte Brüggen nad) Berlin
über, um dort fein juritisches Studium zu vollenden. Der große
6 3 v. Saviguy las zwar nicht mehr, da er jehr zum
Schaden der Wiffenidaft Viiniiter geworden war, aber fein Schüler,
der ausgezeichnete Nomanijt G. %. Puchta, vor furzem nad)
Verlin berufen, jtand damals auf der Höhe jeines Nuhmes. Seine
vielbewunderten Vorlefungen übten aud auf Brüggen bedeutenden
Einfluh aus ud er Ho6 nod) in fpäteren Yebensjahren nicht felten
hervor, wieviel er Puchta verdanfe. Ob er ad) andere juritiiche
Brofefioren gehört, willen wir nicht, ebenio wenig vermag id)
anzugeben, ob er F. N. Stable oder Leopold Nanfes Kollegin
befucht Hat. Jedenfalls Hat er mit Fleih und Ernjt feinen Fad)
ftubien obgelegen. Auch mit Whiloiophie hat er fd in Berlin
viel beic t, namentlich mit der Logik, diefer für den Juriften
fo wichtigen Disziplin; er hat Adolf Trendelenburg und Karl
Werder fleihig gehört und aud) ihre Togiihen Werke eifrig ftudirt.
Das gährende, feidenfchaftlich erregte politiiche Leben im damaligen
Berlin hat auch Brüggen nicht unberührt gelaffen. Er wurde ein
Anhänger des fortgefehrittenen Yiberalionms jener Tage, Arnold
Huges Schriften, Herweghs Gedichte und N. Prus’ Satire: die
politische Wochenitube (ns er mit Eifer und tebhafter Zuitinmung.
Van darf dabei nicht vergeien, dal die gefammte Jugend, die
ideal GSefinnten unter ihr am meijten, damals dem Liberalismus
anhing, ja fogar dem Nadifalismus begeiftert zujubelte. Brüggen
zeichnete fih unter feinen zahfreihen Yandsleuten in Yerfin durd)
die jeltene Neinbeit feines Zinnes und die ideale Richtung feines
GSeiftes aus; alles Nohe und Gemeine war ihm in tiefiter Seele
zuwider. Früh gereift erichien er feinen Altersgenofien weit voraus
in Urtheil und jelbftändiger Auffaflung. Nad) mehrjährigen Auf
enthalte in Deutichland fehrte Brüggen auf's trefflichlte vorbereitet
und mit einem reichen Zchab von Nenntnifen ansgeitattet in die
€. v. d. Brüggen. 205
Heimath zurück. Im Mai 1816 begann er jeine Yaufbahn im
Yandesdiente alo Ajeifor des Grobinjchen Hanptmannsgerichts.
Die politifchen Bewegungen des Jahres 1848 ergriffen ihn
lebhaft und beichäftigten ihn in hohem (Srade. 1852 winde
Brüggen Ajefor des Mitaufchen Hauptmannsgerichte. Auf den
Landtage von 1854, an dem er als Yandbote für Sellan Theil
nahm, wurde er in Folge des plöplichen Todes des neuerwählten
Nitterfchaitsiefretärs zum Protofoflführer gewählt und waltete vieles
Amtes in jo glänzender Weile, dab nod) lange feiner Sekretär
thätigfeit gedacht wurde, Schärfe feiner Auffaflung,
ungewöhnliche Intelligenz machten fich hier zuerit bemerfbar und
fenften die allgemeine Anfmerkfamfeit auf ihn. Sehr bezeichnend
ift die damals zrfufivende Anekdote, mande Nedner hätten aus
Brüggen’s Protokoll mit Vermwunderung erjehen, dah fie am Tage
vorher viel Hüger und einfichtiger geiproden, als ihnen fetbit
bewußt war. 1856 wurde er Hauptmann zu Srobin. Hier lebte
er in regem Lerfehre mit dem Dichter Narl von irds, der
damals Ariedensrichter des Nreisgerichts dajelbjt war. Brüggen
nahın an den Lebensfchietialen des Freundes lebhaften Antbeit und
fprach auch ipäter nicht fetten mit liebevoller Wärme von beiten
Streben nad) dem Höchiten und feinem ernjten innern Ningen.
1 wurde Brüggen dann Mitaufcher Tberhauptmann und 1562
trat er als jüngerer Nath in das Überhofgericht ein. In
Folge feiner hervorragenden juriftifchen Tüchtigfeit wurde er
im Mai 1864 zum Vitglied der Sentral + Nuftiz + Reform
fommijlion in Dorpat erwählt und bat bier cine tiefein:
greifende Thätigfeit entfaltet. Der Anogang dieler Juftiz:
fommifiion it befannt. lo dann im November 1865 ein
berathendes Nomite in Sachen der Nujtigreform beim General
gouverneu eingefegt wurde, war Brüggen ad) deifen Mitglied,
trat aber bald aus ihm aus. 1868 wurde er zum Präfidenten
fltoriums gewählt. Am berhofgericht befleidete er nad)
einander die altchriwürdigen Aemter eines Yandmarichalls, Oberburg
grafen, Nanzlers und jeit 1886 das Deo Yandhofmeifters; er Jah
mit Schmerz voraus, dahı er der fepte fein werde, der dielen
Titel führte. Im Dezember 1889 nahm das Oberhofgericht mit
Einführung der neuen Juftizverfaifung ein Ende und damit ichlof;
206 €. v. d. Brüggen.
auch VBrüggens richterliche Thä äfident des Konjijtoriums
blieb er nody bis 1890, dann legte er and dieies Amt nieder.
Was er als Mitglied des Oberhofgerichts, in dem vorzugsweiie
die Zivilprogefie feiner Enticeidung unterlagen, geleitet, welche
Bedeutung er für die heimiiche Nechtopflege gehabt, das auseinander-
äufegen und zu charafterifiven ift nicht meines Amtes und Berufes,
ich muß das Sachfundigen überlaffen. Aber gewih it: das hohe
Anjehen, deifen fi) das Oberhofgericht in den lebten Jahrzehnten
im Lande erfreute, war zu nicht geringem Theile Brügaens Ver:
dienft. Und mit welchem Ernit, Eifer und Fleiß er jeines Nichter
amtes waltete, wei; Jeder, der ihn näher gefannt hat. ud) mas
er alo Präfident des No ums für das Wohl der Kirche
gewirkt und gearbeitet, Tann hier jetbitverfiändlic nicht auseinander-
geiegt werden.
Aber noch auf einem anderen Gebiete hat Vrüggen eine
tiefeingreifende, fruchtbare Thätigfeit entwidelt, auf dem der
Yandespolitif. Seitdem er zuerit an dem Yandtage von 1851 52
als Landbote für Grobin Theil genommen, üt ev als Deputirter
auf fait allen Fandtagen und cbenjo auf allen Nonferenzen der
folgenden 30 Jahre thätig geweien. Was aber nad) mehr jagen
will und von feiner Bedeutung und feinem Anjehen auf der
Landbotenjtube ein glänzendes Zeugnih ablegt, it die Thatiache,
dah Brüggen nicht nur auf dem Yandtage von 1858 59 einjtimmig
um Yandbotenmaricall gewählt worden it, Tondern dah er dieie
Vertrauensjtellung noch viermal eingenommen hat und ihm auferdem
dreimal das noch ichwierigere Amt des Direktors der brüderlichen
Nonfereny übertragen worden it. Meines Willens it feinem
andern Mitgliede der Nitterfchaft während dieies Jahrhunderts eine
jolhe ehrenvolle Anerfennung und auozeichnende Würdigung zit
Theil geworden. Der Yandtag von INS] 82 ijt der lebte, an dem
Brüggen tätigen Antheil genommen hat, feitdem zog er id) von
der aftiven Vetheiligung an der Yandeopolitif zuüd. Zu einer
vollen und gerechten Würdigung der großen Verdienfte Yrüggens
um Nurland wäre es notwendig die bedeutende Wirtfamteit, welche
Brüggen als Yandbote jowie alo Yandbotenmarjchall oder Nonferenz
direftor ausgeübt, eingehend zu beleuchten und zu charafteriiiren.
Alein das ift an diefer Stelle nicht möglich. Einem auferhald
€. dv. d. Brüggen. 207
der Candbotenftube Stehenden fommt cs nicht zu, über die dort
geführten Verhandlungen und den Antheil eines hervorragenden
Teputirten an denjelben fih zu äußern; wenn ihm aud) vieles
von den Vorgängen auf den Yandtagen befannt geworden it,
er wei davon dad) nur durd) die Berichte Anderer, wenn and)
Nahebetheiligter. Es wäre fehr zu wünjchen, daß ein Angehöriger
der Nitterfchaft, der die legten 45 Jahre oder wenigjtens einen
großen Theil von ihnen als Diithandelnder durchlebt hat, Brüggens
Sandtagsthätigfeit im Zujammenhange jcilderte. Soviel it
aber allgemein befannt, dah Vrüggens energifche, von genauer
Sacfenntnih; getragene Leitung, die Nlarheit und Schärfe jeiner
Formulirungen, fein durchdeingender, juijtiich geübter Scharf:
blid, jeine Unparteilichfeit und feine genaue Nenntniß der
Verfaffung zum gedeihlichen Fortgange der Verhandlungen,
zur Ausgleichung widerfireitender Meinungen und zur Herbei-
führung vieler für das Kandeswohl wichtiger Veichlüffe außer:
ordentlich viel beigetragen hat; grindlid) motivirte Vleinungs:
äußerungen von ihm haben, jo jagt man, manchmal im lebten
Augenblide nod) enticheidend auf die Beichlühfe der Yandboten
eingewirft. Brüggen war allmählid eine allgemein anerfannte
Autorität in allen Yandtagsangelegenheiten geworden, an bie man
fih auch jpäter oft wandte und deren Nath man eindolte.
Mas aber war 6, was Brüggen ein jo großes An:
iehen im Kande verihaffte, jeine Autorität zu einer allgemein
anerfannten machte, feine ganz einzigartige Stellung begründete?
Shne Frage trug dazır feine hervorragende geiitige Begabung und
fein reiches Wien nicht wenig bei. Sein heller, durd) vieles
Nachdenfen und Stubium gereifter Geift war auch jÄhwierigen
Problemen des Lebens wie des Denfens gewachien, fein natürlicher
durd) Logik und juriftiiche Thätigfeit geübter Scharfiinn vermochte
auch vermidelte Fäden mit Yeichtigfeit zu löfen, die Originalität
feiner Gedanfen überrafchte immer von Neuem. Er mar von
einer auferordentlichen geiftigen Negiamfeit und bejah eine
umfaffende, in die Tiefe gehende allgemeine Yildung. Yeder
ihwierigere Fall in feiner richterlichen Thätigfeit, jede ver
Frage, die ihm als Präfidenten des Moni
anfaßte ihn zu gründlichen eingehenden Studien, die alle bafiie
208 €. v. d. Brüggen.
in Betracht Fommenden Schriften und Werke heramoyg. Aber
nicht auf feine Kachwiiienfchaft beichränften fich feine Studien, das
Gebiet feiner geiftigen Jntereiien war ein viel weiteres, Er las
und fannte die hervorragendften Geichichtowerfe der neueren Zeit
und ebenfo war cs jelbjtwerfiändlich, daf; er dev baltischen Gejdhichte
jtet> Lebendiges Anterefie zumvandte. In gewilfem Zufanmenbange
mit jeiner Amtothätigfeit jteht feine langjährige Beichäftigung mit
dem Gefängnifwelen, namentlich dem englüchen, das er auf's
genauejte Fannte. Auch für Geographie intereffirte er fich jehr
und verfolgte die neueren Entdeungen und Koricungerei
namentlich in Afrifa, mit großem Eifer
1,
Eine Yieblingsbeihhäftigung
endlich war für Brüggen das Studium der deutichen Sprache;
er vertiefte fich gern in die Ableitung und den Zulammenhang
der jegtigen Wörter und Sprachformen mit denen des Altdeutichen
und ebenjo aud in die Diafeftiichen Cigenthünmlichteiten des
icen Spracjidioms. So mar Brüggen auf mannigfaden
Gebieten des Willens heimiich wie wenige im praftiichen Yeben
ftehende Männer in unferen Provinzen. Cs war daher ganz
natürlich, daher zum Präfidenten der Gefellichaft für Yiteratur
und Nunjt erwählt wurde und diefes Amt fait 25 Jahre lang
innegehabt hat. Welchen regen Antheil er an den Verhandlungen
der Gefellichaft und an ihren Sigungen genommen, wie windig
er fie nad) außen vertreten hat, ijt allen Mitgliedern der Gejell
ichaft bekannt.
Aber reiches Wien, Geift und Alugheit würden cbenjo
wenig wie die Nenter, die ev befleidete, allein hingereicht haben,
um Brüggen die einzigartige Stellung, die er ehmahn, zu
verihaffen, am wenigiten in Nurland. Geiftreiche Vtenfchen hat
5 bier nid)t wenige gegeben, ohne dal; fie großen Cinftuh aus
geübt haben, und Vanche, die ein hohes Fandesamt bekleidet,
find vorübergegangen, ohne ein Spur zu hinterlaifen. Das, was
Brüggen jo vielen Einzelnen, was er dem ganzen Yande geworden
und geweien ift, Hat jeinen tiefiten Grund in jeinem Gharatter;
exit in Verbindung mit diefem übten jeine giftigen Cigenichaften
ihre volle Wirkung aus, durd ihn war er die eigenartige Ber-
fönlichfeit, die wir Alle fennen. Gewife Seiten feines Wejens
iprangen Jedem, der mit ihm in nähere Verührung Fam, fogleic)
©. d. d. Brüggen. 209
in die Augen und find daher auch) überall hervorgehoben worden.
Wahrhaftigkeit, Lauterfeit, Uneigennügigfeit, Selbitlofigleit waren
Grundzüge feines Charakters. Zu ihmen gefellten fi aber nad)
andere, nicht weniger ausgeprägte Eigenidaften, das waren die
Feitigfeit und die Ueberzeugungstrene, die abjolute Zuverl
und das rüchaltloje Eintreten für der als richtig und wahr Er-
Tannte. Verftellung, Intrigue, Seintichfeit waren ihm ganz
unbekannt. Gerechtigkeit war das Xeitjtern feines Yebens, er
übte fie gegen Jeden und ift in dem Streben nad völliger
Unparteilichteit politiichen und fachlichen Gegnern gegenüber mandı-
mal wohl zu weit gegangen. Aber diefes gewiifenhafte Bejtreben,
au) dem Gegner nicht Unrecht zu hun, ift immer das Kennzeichen
einer edlen hochgefinnten Natur. Brüggen würde fein echter Nır-
länder gewejen jein, wenn nicht in ihm aud) etwas von der
Aueifchen Sonveränität des Individuums geweien wäre. Dieje
aus der Ordensgeit überfommene, did die fange Verbindung
mit Polen verftärkte und geiteigerte Selbitherrlichteit des Einzelnen,
diefe Schranfenlofigfeit des Cigenwillens, diefe Abneigung gegen
jede Autorität find mehr oder weniger im jedem Sturländer
vorhanden. Oft genug führt diefe Naturanlage zu förperlicher und
geiftiger Zerrüttung und nicht wenige begabte, vorzüglich, beanlagte
Naturen find jo durd Maß: und Zuchtlofigkeit, durd) den Mangel
an jeder Selbitbeherrichung efend zu Grunde gegangen. Wie ganz
anders war Vrüggens Entwickelung! Von Natur mit einem leiben-
ichaftlichen, leicht aufbraufenden, heftigen Temperament ausge:
ftattet, hat er diejem nicht die Zügel Tchiehen laffen, fondern in
strenger Eelbjtzucht und ernjtem Ningen cs zu befämpfen und zu
beherrichen gejtrebt. Dah; das, namentlich in früheren Jahren,
ihm nicht immer gelungen, wird Niemand wundern, der die Vienfchen-
natur fennt. Hatte er fi) aber einmal von einer Leidenfchaftlichen
Aufwallung Hinreigen laflen, fo genügte der Appell an feinen
Gerechtigfeitsiinn, um ihn zu beruhigen und es war rührend und
ergreifend, wie er dann oft nachher fein Unrecht zugetand. Brüggen
war überhaupt ein Menid, der fortwährend an fich arbeitete und
6 zu einer bewundernswürdigen Selbitbeherihung gebracht hatte.
Bei ben qualvolljten Körperichmerzen, bei ftartem Unwohljein fan
fein Laut der Nlage über feine Yippen und ebenio verichloh er
210 €. v. d. Brüggen.
Kummer und Scelenleiden tief in feine Bruft. In diefem Sinne
war er wirklich ein antifer Charakter und die tiefe Verichloiienbeit,
die ihm zur Natır geworden war, lieh nur jelten und Wenige
einen Blit in fein inneres Wejen tun. Wlochte er audı bisweilen
dei fid) vordrängenden Gefühlsäuferungen und mur auf ein under
ftimmtes Gefühl beruhendem Handeln über „Gefühlsduielei“
jpotten, er jelbft befah ein tiefes Sefühl, das er aber feujdh in fi
verichloh, und ein reines tiefes Gemüth.
Einem alten Adelsgeichlechte des Yandes entjtammend Hatte
Brüggen wohl ein Gefühl feines Standes, aber alles junferliche
Weien lag ihn völlig fern; ihm war die durch die Geburt ihm
gewordene bevorrechtete Stellung nur ein Sporn und Antrieb, die
damit verfnüpften Pflichten und Aufgaben jeder Zeit in vollem
Mahe zu erfüllen. Und in der That, hat es je einen echten,
wahren Edelmann gegeben, jo war co Brüggen, das bezeugt fein
ganzes Leben. Selbft wahrhaft gebildet, ihäbte er die Bildung
auch an Andern hoc und betrachtete jeden wirklich Gebildeten als
einen Gleihftehenden. Er war fd) feines Wejens wohl bewuft,
wie das bei jedem ausgeprägten € arafter nicht anders fein fann,
aber nie lieh er andere, zumal geiftig unter ihm Stehende, feine
Ueberfegenheit fühlen, nie empfanden die mit ihm Verfehrendenjein
Uebergewicht drüdend; nur die Schlechten und die jelbitzufriedenen
Toren jceuten die fühlbare Wucht feiner Perjönfichfeit. In
ihm lebte wahre und echte Sumanität, fie äuferte fih aber weniger
in Worten als in Thaten und Handlungen md nie hat Jemand
feine Hilfe angerufen, dem fie nicht zu Theil geworden it. Und
welches freundliche Wohlwollen bejeelte ihn und welche Liebens:
würbigteit zeigte ex fait immer, wenn man zu ihm tam. Cs gab
feinen treuern, feinen zuverläffigeren, feinen unerichütterlichern
Fremd alo Vrüggen; wem er feine Fraumdichaft geichenft
hatte, der Fonnte unbedingt auf ihm bauen, für den war
er and) jeder Zeit zu jedem Handeln, mochte cs ihm perjönlid)
nod) jo unangenehm fein, bereit. Jede Art von Menjchenfurcht
mar ibm vollkommen fremd; fein ftark ausgebildeter Unab-
hängigfeitoffun fiel; num das als Autorität gelten, was er adıten
nd chren fonnte. Er drängte jeine Veinung Niemand auf, und
war im Allgemeinen duldfam aegen die Anderer, nur wenn
€. d. d. Brüggen. au
müberlegter Wideriprud) und unbegründete Ginwendunger nenen
feine wohlerwogenen Anfihten und Neberzengungen erhoben wurden,
fonnte er ungeduldig werden oder fertigte er die Wideriprechenden
mit jarfaftiicher Ironie ab. Cine qutmüthige Jronie wandte er oft
cd) an, da zeigte er auch die ihm verlichene föftliche
Gabe des Humors. Starfen Zorn Änferte er nur genen das
Niedrige, Gemeine, Umwahre, mo 9 ihm entgegentrat und tiefen
Widerwillen erregte ihm ftets alles Gemacte, Gefpreizte, jede Art
von eitler Selbjtbeipiegelung und felbjtgefälliger Phraienbaftigkeit.
in ideal gerichteter Geiit und die Neinheit feines Wollens
wirkten auf alle dafür irgend Empfänglichen ftärtend nd erhebend.
Ieder wuhte, das Brüggen uie bei feinem Neden und Thun
geheime Hintergedanfen hatte, Niemand eifelte, dai, wenn
Brüggen etwas ausipräch, cs ihm voller Ernft damit war. Dadurc)
wurde er der Vertranensmann des ganzen Landes und das gute
Gewiifen Kurlands, wie man ihn treifend bezeichnet hat. Wie:
viel Streitigkeiten bat er geichlichtet, wie oft hat er als Schieds
tichter gewirkt, wieviele jhrvierige Fragen perjönlicier und allgemeiner
Art find ihm zur Entfcheidung vorgelegt worden! Wei feinen
Ausipruche beruhigte man fi meilt und wenn Brüggen etwas
für nicht anftändig evflärte, war damit das Urtheil geiprocen.
Raum je hat ein einzelner Mann bloh durch die Macht feiner
Perfönlicfeit, die Jpealität feines Charakters ein jo grofies An
feben in Kurland bejefien wie er, in Nurland, wo man nicht fo
leicht einer Autorität ih beugt. „Das it Vrüggens Anficht, jo
meinte aud Brüggen“ oder „Brüggen dentt ganz anders” - das
waren oft gehörte fehmerwiegende Argumente und ebenfo häufig
bieh 65, „wir wollen Brüggen um feine Meinung fragen“. Einen
Pann zu befigen, dem alles jo vertraut, den le jo hochachten
und verehren, wie dao bei Brüggen der Fall war, iit ein Glüc
und ein Segen für das Yand, vor allem für die Norporation, der
er angehört.
Brüggen war ein fuger, erfahrener Politifer und, co üit
taum nöthig das noch zu jagen, einer der cdelften Patrioten, der
mit feinem ganzen warmen Herzen an der Neimatb, au den
baltiichen Yrovinzen hing. it den Jahren wurde er immer
fonfervativer, übrigens ohne in irgend eine Parteiichablone fd)
4
zu fügen. Staatsmann im vollen Zinne des Wortes war er
nicht, ihm fehlte dazu der vorwärtstreibende Schaffensdrang, der
berechtigte Ehrgeiz Vedeutendes zu vollbringen und befonders das
diplomatische Talent, das mit wechjelnden Mitteln und auf ver-
ichiedenen Wegen das Ziel zu erreichen fucht. Es wäre ihn Schwer,
ja ummöglic gewejen feine Ueberzeugung zurüdzudrängen, das
von ihm als richtig Erfannte nicht unummwunden auszuipreden
amd zu vertreten. Dazu Fam, daher fih durd feine lange
tichterliche Thätigfeit daran gewöhnt hatte, die Gründe für und
gegen eine Zacbe aufo Torgfältigite und arünblichfte zu prüfen und
zu erwägen, und daft es ihm in Folge deffen Fchwer wurde vafche
Entihlüfle zu fallen; das Streben nur ja alle in Betracht
fonmenden Momente nicht aufer Act zu allen, verurfachte, daf;
x bisweilen and da zögerte, wo Andere mit Yeichtigfeit zum
Entihluh famen.
Brüggen war eigentlich fein Nedner, fcwerflüiig, in ver:
schlungenen ‘Perioden entjloß die wohl vorbereitete Nede feinem
Munde. Aber durd den Gedanfenreichthum des Inhalts, durch
die Macht der Perfönlichfeit machten Brüggens Neden doch tiefen
Eindrud und waren von grofer Wirhung.
Dah Brüggen ein tief fittlicher Charakter war, ergiebt ih
aus der Disherigen Ausführung von jelbit, es fei geitattet noch
ein paar Worte über jeine religiöfe Stelhung hinzuzufügen. Sein
Verdättniß zum hriftlichen Glauben hat im Laufe der Jahre
manche Wandlungen durchgemacht, das lich ih aus vereinzelten
Andeutungen entnehmen, die er gelegentlid) machte. Ueber religiöfe
inge fprach er fh, namentlic) in früheren Jahren, nur hödit
fetten und ungern aus, ev verichloß feine Gedanfen in diefer 7
jiehung, wie feine Empfindungen, nad feiner Art, feft in fh.
Ob er allen Glaubensjäsen der Nirche zugeftiimmt hat, lajle ich
dahingeitellt, aber das fan ich nad) dem, was id von ihm fetbit
in den legten Jahren gehört und erfahren habe, mit Bejtimmtheit
ausipreden: Brüggen mar mit Weberzeugung ein evangelifcher
Ehrift. Wie hätte ih auch fein Charakter jo entwieln und
folche Früchte bringen fünnen, wenn er nicht auf ewigem Grunde
geruht hätte?
€. v. d. Brüggen. 213
Vrüggen war unvermählt geblieben und entbehrte daher der
Rreuden und Zorgen des Jamilienlebens. Als feine Großmutter
1866 geftorben war, zog er mit feiner Schweiter Lina und feiner
Tante, der verwittweten Varonin Lina von Saden-Dondangen,
der Echweiter jeiner Mutter, einer Mugen und hödit originellen
Dame, zujammen. Er lebte nun jahrelang in einem angenehmen
heitern Familienfreife und hatte dabei dod) die Möglichkeit nad)
Neigung und Vedürfnih fih Itelo zurüdziehen zu fönnen.
Wem 65 vergönnt gewejen ift, namentlid an den Abenden, die
alle drei Familienglieder beim Theetifch vereinigten, in diefem
Haufe zu verfehren, der wird der dort herrichenden angeregten
und munteren Unterhaltung, an der die Tante einen weientlichen
Antheil hatte, jtets mit Vergnügen fi erinnern. Der Tante,
wie überhaupt den Damen gegenüber bewies Yrüggen jtets die
größte Nitterlichleit und Liebenswürdigkeit. Die Schweiter, eine
fluge, fehr gebildete Dame von großem Wohlwollen, liebte und
verehrte den Bruder über Alles und war jtets darauf bedacht, ihn zu
erheitern und aus zeitweiliger Verftimmung nnd Mißmuth heraus:
gureißen. Diejes idöne gemüthlihe Familienleben erlitt einen
ihweren Stol durch den Tod der Tante am 30. December 1856,
und föfte fid) völlig auf. als auch die Schweiter am 1. December
1891 aus dem Leben fchied. Der Tod der Schweiter war für
Brüggen ein Schlag, den er aufe fi empfand; er hatte
immer gemeint, er werde früher als fie jterben. Jept blieb
er allein und einfam zurück; der einzige Bruder weilte jeit vielen
Jahren in weiter Ferne. Und dazu war Brüggen feit längerer
Zeit. fchon förperlich behindert und gehemmt. Cine nicht redtzeitig
erfannte Anochenentzündung hatte bereits 1879 zur Amputation des
linfen Yeines genöthigt; der fünftliche Fuh, den er feitdem trug,
verurjadht immer wieder Engündungen und Schmerzen des Stumpfes
und machte ihm überhaupt weitausgebehntes und häufiges Gehen
unmöglid. Brüggen trug dies harte Geihid anfangs jehr cher,
aber mit der ihm eigenen männlichen Faflnng; die Gebmdenheit
und Beihränfung in der freien Bewegung empfand er auch ipäter
iehe femerzlich. Er 309 fich immer mehr von der Deifentlichteit
zurüd. Nur das Amt des Direltors des mitaujcen Bezirks:
fomitös der evangeliichzlutgeriihen Unterftügungsfaffe übernahm
214 €. v. d. Brüggen.
ern IRHI und bekleidete eo bio zu feinem Tode. Mit
dem Leben hatte er eigentlich feit dem Tode der Schweiter
abgeichloifen und fühlte tief die Vereinfamung des Alters. „Die
mit mir jung geweien, find num meift dahin und die Be
Tannten aus fpäterer Zeit haben doc) nicht zuiammen mit mir
daffelbe erlebt, daran merkt man das Alter,“ jagte er
mir wehmüthig einmal im vorigen Herbft. Und wenn er auf
fein Leben zuvüdblidte, meinte ev wohl mijmüthig, ev habe die
in ihm vorhandenen Anlagen doch nicht jo entwicelt und ausge
bildet, wie er cs hätte thun follen. Solche bjtkritit it die
Art edler Naturen, denen das, was fie geleiftet und gewirkt
baben, gering ericheint gegenüber dem ihnen vorjchwebenden Jdeale.
Dabei blieb aber Brüggen friihen und regen Geiftes bio zu
feinem Yebensende. Er las außerordentlich viel und jprad mit
großer Einficht über die ihn gerade intereffirende Yelture; To
beichäftigten ihm 5. ®. Taine, Les origines de In France con-
temporaine, Sybels und Treitichkes Geicichtswerfe und namentlid)
herings Vorgeidjichte des römiichen echtes in feinen legten
Jahren und regten ihn zu mannigfachen Gedanfen und Neuerungen
an. Er fonnte in Gefellihaft noch ebenfo heiter jein wie früher
und fcherzte gern. Den ihm Vejuchenden empfing er mit der
alten liebenswürdigen Freumodlichfeit und feine Unterhaltung war
Bis zulegt geiftreih und voll origineller Gedanfen. Nur darin
zeigte fid) das Alter, daß; er jtiller war alo früher und bisweilen
in fi) verfanf. Cine Lieblingsbeihäftigung war ihm allegeit das
Schadjipiel, dem er viele Stunden widmete und in dem er eo zu
großer Fertigkeit gebracht hat. Wer ihn um die Weihnachtszeit
des vorigen Jahres geichen hatte, der würde nicht geahut haben,
da; er uns jo bald entriffen werben würde. Nad) furzem, aber
ichwerem Leiden ift er am Morgen deo 25. Januar heimgegangen.
Nun find fie geichloffen für immer, die hellen, flugen, guten
Augen und was jterblid war von Brüggen, ruht jegt in der
Erde der Heimath, die er jo warn und tief geliebt. Ein Mann
wie er wird jo bald nicht wieder erfichen, denn nur unter den
jen vergangener Zeit vermochte fih eine Individualität
wie die feinige frei umd ungehemmt zu entwideln und auszugeftalten.
Diefe Vereinigung von reinem Jdealismus und ccht kurifchem
€. v. d. Brüggen. 215
Wefen, wie fie in Brüggen fid) einzigartig verförperte, fehrt
jo nicht wieder. Wir, die wir ihn gefannt und geliebt haben,
werden die Lüde, die fein Sceiden in unfer Leben geriffen,
immer jchmerzlich empfinden und das, was er und geweien, feit-
halten, bis wir früher oder jpäter ihm nacjfolgen. Aber wenn
auch Ale einjt dahin find, die ihn von Angefiht gefannt, fein
edles Bild wird much auf die ipätern Geichlechter übergehen, denn
nur mit Rurland jelbit kann Ehumd Vrüggen’s Gebädhtnih
untergehen. H. Diederichs.
5
Notizen.
Der deutiche Handel in Nowgorod bis zur Mitte des
14. Jahrhunderts.
Während die erjten Kämpfe zwifdhen Deutfchen und Ruffen zu Anfang
des 13. Jahrhunderts an den Ufern der Düna und dann vornehmlich im chit
nifchen Gebiet ftattgefunden Haben, datiren die eriten deutfch-ruffiicien Besiehungen
aus früherer Zeit: es find das Hanbelöbeziehungen gewejen. Statigehabt Haben
fie (etwa von Premen aus) vielleicht fon un die Mitte des 11. Jahrhunderts,
ficher nadyweistich jedod) erit um die Mitte des 12. Jahrjunderts, zumal fid erit
um diefe Zeit die deutfche Serrfchaft dauernd am Sühufer der Citiee feftgeieht
hat. Jntereffant it, dafı damals nod) ruffifche (d. . eigentlich wohl warägiiche)
Schiffe nicht nur bis Wisby auf Gotland, fondern aud) bis zur deutfchen Stadt
gübed, welde der Sachfenherzog Peinrich der Yöme 118 an der Stelle einer
urfprünglich wenbifchen Niederlaffung gegründet hatte, worgebrungen zu fein
icpeinen. reitich, die ruffiichen Handelsiiffe find fehr bald von ber Titiee
verihwunden, aber fo zahlreicher erjienen von nun an deutiche Kauf
feute in den ruffiichen Städten, vor allen im ehrwürdigen Nomgorod am Woldon.
Diefer „Deutfche Handel in Nowgorod bis zur Mitte
des 14. Jahrhunderts“ bildet das Thema einer fehr Iefenswerthen, injtruf-
tiven Abhandlung, melde Dr. W. Bud im Ieptjährigen Programı der St.
Annenfcue veröffentlicht hat (St. Petbrg. 1805, im Separatabdrud 90 Seiten $91.
Ihre Letüre fann auch nichtfahmännifchen Areifen beitens empfohlen werden,
da fie ohne großen gelehrten Apparat in licht fajlicher Tarjtellung einen hübfchen
Ueberblid über ein intereffantes Stüd deutfcher Aulturgeicichte bietet. Ermwähnt
fei, dafı der erjte Teil bereits im Jahre 1801 als Berliner Tiffertationsichrit,
aber doc) mr in wenigen Pflichterempfaren erjcpienen ift und in der vorliegenden.
Veröffentlichung — wie der Verfaffer in der Worbemertung jelbit angiebt --
eine „ziemlich gründliche" Umarbeitung erfahren bat.
Notizen. 217
Den Srügpankt des deutihen Handels in Nowgorod bildste der nad)
Dr. Bad in den „legten Jahrzehnten des 12. Jabebunder.s” angelegte Deutiche
Hof oder St. Perershof, fo genann! nad der offenbar TIB4 erbauten
St. Verritiche. „Ein mit einem Zaun oder Wall umgebener nnd. beieltiger
Gebäudefompfer, war er bzitimmt, den Kaufleuten und ihren Waaren Unterkunft
zu bieten, fo dal; fie nur im Fällen ftarken Andranges außerhalb Wohnung
nahmen? aber auch das Necht gehabt zu habın feinen, beitimmte Göfe zu
belegen.” Nacgemwiefen wird, sah diele Grindung vom Perein deutfcher Maufe
leute in Wisby ausgegangen üft, und dab die Gründer vorzugsweile Weitfaterr
waren. Des Weiteren werden wir über Die verfchiedenen Wege unterrichtet, anf
welchen die deutfchen Naufleute nach Nowgorod gelangten, und über die Art und
Weite, wie die Heilen dorthin unternommen und ausgeführt wurden. Mehrfach
hat der Verfeßr in Folge von Streitigfeiten und Rriegen Unterbredjungen erfahren,.
welche durch ben Abidhluh neuer Verträge mit den nomgorader Fürften (in den
Nahren , 1260 und 1269) beendigt wurden. Ausführlicher berichtet der
Verfaifer über die aus dem 13. Jafrzaudert und der eriten Hälfte des 14.
erhaltenen Seras oder Schragen, die Sapungen des Deutfchen Dofes. Namentlich,
zeigt er, mie Wisbn fi jehe bald im die Cherhoheit über den Hof mit Lübert
bat theilen müffen und epteres fchlichlih das Uebergewicht erlangt hat, und
ihifdert fehe eingehend die Lerfaffung und Einrichtung des Hofes und die Art
%S dort betriebenen Handels. Tie zum Schltui; gebotene Ucberficht über Die Dandels*
artitel und die üblichen Zahlungsmittel iftr freilich im Werhäftnih zur Anlage
des Ganzen eiwas zu fnapp gehalicn: Schr danfenswerth wäre «8, wolle
der Werfaifer die Bearbeitung des einmal aufgenommenen Themas um weitere
andertfalb Jahrhunderte fortiegen, zumal ihm aud, für dieie Periode N. ©.
Niefentompf in der trefflden Magiiter-Piffertation „Der Deutiche Hof zu Row
gerod bis zu feiner Schliehung durch Jan Watfiljewinfeh TIL. im Jahre 1404"
(Dorpat 1854) vorgearbeitet $
Bedeutfamer, weil felbftändiger, ift der Inhalt des eriten Teiles —
gleichwohl ift Einiges aus demielben zu beanftanden. Wenn der Verfaffer gleid)
auf den erften Seiten im Gegenjaß; zu den bisherigen Tarftellungen den Anfang
der beutfchen Yandelsfahrten nicht in die zweite, fondern in die erjte Hälfte des
12. Yahrhunderts fehen will, fo feudhtet feine Beweisführung infofern nicht recht
ein, al8 nad) Ieyterer Diele erften Handelsreifen auch um die Mite des 11. Jah:
bunderts_ ftattgefunden haben fönnten; aud) wäre zu dem S. + bezüglich Cübeds
Berichteten Binzuzufügen, da fAjon Heinrich der Yöine glei) nach Gründung der
Stadt bie Nuffen zum Befude des neuen Freihafens eingeladen hat (fiche
Kurd von Schlöger, die Hanfa und der deutiche Ritter-Crden &. 8). ©. 14
wird erzähft, daf ruffiiche „Raufleute" in der Terra Adgeile überfallen und
ermordet worben feien; es find daS aber pfesfaulche Tributeinfammler
gewefen, melde hier, vierzig an der Zahl, im Jahre 1285 von den deutfchen
Ordensrittern umgebragit wurden (über die näheren Umftände fiche meinen Auf
fa „Die Tributpflichtigleit der Yanbihaft Tolowa an die Pilestauer" in den
„Ritth. a. d. Tot. Geichihte" W. XIV, meziell &. 108 j). Wenig glaube
218 Notizen.
würdig ericeint S. 14 Anm. 2 das Zitat aus C. Crosgers fiol. Geidichte.
€s ift vielmehr binlänglic bezeugt, dafı 5 zwiihen Piga und Plestau einen
direkten Handelsweg gigeben bat, und aus einer neuerdings aufgehundenen
Uefunde wiflen wir foger, dal -- allerdings im fpäterer Zeit — bie Stat
Wenden für den Handel mit und aus Westau als Stapslplay gedient bat.
geiber eben hat der Werfafer fich binfihtlic der Lvländiichen Beziehungen
feviglic, mit der Nenntnihnahme der menig zuverläffigen Daritellung €; Erosgers
umd der von A. CE. Napiersty publizixten „tuffiih-lioländiichen Uelunden”
begnügt; eine außgebreite'er: Renntniig der livländichen Cuelken um) der
baltiihen Gefeiih'sliteratur wäre feiner interefionten Schrift fiherlich ehr Ju
Gute gefommm!
Friedrich v. Reußler.
die Eingeborenen It » Kivlands
im 1. Jahrhundert.
Die Küftenländer des baltiihen Wieeres find die erjten
Jahrhunderte unferer Zeitrechnung in tiefes Dunkel gehüllt,
Die vergleichende Sprahforihung hat feitgeftellt, dah die
ugro-finnifchen Völfer, welde dem ural-altaiichen Epradftamme
angehören, fon im erften Jahrhundert n. Chr. mit germanifchen
Stämmen in Verührung gekommen fein mühen md ywwer in
jo nachhaltiger Weile, dah; fie einen großen Theil ihres Wort:
ichages dem Altgothiihen entnommen hätten. Wo und wie aber
hat dieje enge Berührung der zwei Naffen jtattgefunden? Ptüllenhoif
nimmt an, dal die Nordgermanen die Finnen bereits in Sfandir
navien vorgefunden Hätten’). Dagegen führt Meigen in feinem
großartigen Werke „Siedelung und Agrarweien der Wetgermanen
und Oftgermanen 2c.“ aus, dal diefe Annahme nicht genügend
erkläre, wie die Dialekte vieler öftlicher Finnenftämme die ger:
maniiche Beeinfluifung in fo hohem Maahe zeigten. Die von Ionen
und Ntosfinnen alo germanifch bezeichneten Stammmörter der
finnischen Wöller umfahten die wichtigiten Kulturbegriffe?). Cs
jei ganz unmöglid, dab; durd) blofe Webertragung umter den
13.8. Müllenhof, Deutjcpe Atertfumstunde, Berlin IN
>) W. Thomfen, Ueber den Einfluß der germanifcen
finniidh:lappifchen. Halle 1870. V. Koskinnen, Sur Tantiquitis ı
vonie. Acta societ. seient, Fennieae Bd. VLIL Th. 11. Helsin
220 Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh.
Finnen jelbjt biefe Aulturmörter zu den öftlichen Stämmen gedrungen
feien. „Diefe Weiterverbreitung würde eine allmähliche Bewegung
fteigender Bildung vorausjegen, in der mannigfader Wechlel und
das Schaffen eigener Begriffe unvermeidlich eingetreten wären.“
Ebenjo wenig Fünne man annehmen, „dah etwa jämmtliche
finnifche Stämme bei Ankunft der Germanen in irgend einer
Gegend Fonzentrirt gelebt hätten,” oder, „da vor unjerer Zeit
rechnung eine nachbarliche almähliche Wanderung dev Nordgermanen
längs der Grenzgebiete der Finnen jlattgefunden habe, welche
diefen die germaniiche Nultur zugetragen hätte.”
6S bleibt mir übrig, To folgert Meigen, „weitzerftreute
Niederlaffungen nordgermanifcher Friegerücher Naufberren in allen
fübticheren, flimatifch bevorzugten finnijchen Yandichaften anzunehmen,
Niederlafungen, welche durch ihre Nulturhilfsmittel der benadhbarten
Vevölferung jo große Vorteile boten, dal fie ohne Widerftreben
und ohne die Nationalität der Finnen an fich zu zeritören, auf-
genommen wurden,“ ")
Tiefe einlenchtende Smpotheje gewinnt uns ein ganz
bejonderes nterefe, wenn wir fie auf die Nejultate der
bisherigen präbiitoriichen Forihung in den Tftieeprovinzen anzı
wenden verfuchen.
Hier zeigen nämlich zahlveiche archäologiche Funde die Spuren
germaniicher Ziedelung. Bei dem an und für fi) hupothetifc—hen
Charakter der prähiitoriichen Forihung ijt bioher aber feine
Einigung darüber erzielt worden, in weldem Verhältnih die
Spiren folder germanicer Ziedelung zu derjenigen anderer
aifen, vornehmlich der finniichen und. litoflaviichen ftehen, welche
fich — wahricheinfich als gleidhyeitig —— in großer Anzahl nach:
weijen laffen. Dit andern Worten: Ardologen und Eihmologen
wien nicht vecht, was fie mit den Spuren germaniicher Elemente
anfangen jollen. Bedeutende jfandinaviche Gelehrte wie Worfaae
9) Kugut Meipen „Siedchmg ud Agrarmeien der Weitgermanen und
Titgermanen, der Nelten, Mömer, Aünnen und Steven,” (I. Abtheilung von
Wanderungen, Anban und Agrarraht der Wölfer Europas nördlid der Alven“)
Verlin. 18 170. 2 1. Wültenhoii a. a. C. ©. 0.
Die Eingeborenen Livlando im 13. Jabrl. 221
Viontelins und Apelin!) gehen joweit, day fie behaupten, germaniiche
Stämme hätten in den Oftieeprovinzen während der eriten Jahr:
Hunderte n. Chr. geieilen. Aspelin bezeichnet als Endpuntt der
rein germanifchen Siedeltung die Sunmeninvajion (um 375), alodann
feien die Germanen von Finnen und Yetten abgelöft worden.
Grewinge ?) dagegen nimmt an, dab zwiichen der ugro-finniichen
Urbevöfferung gothiiche Elemente gefeiien hätten. Cr unterftügt
feine Annahme aud durd etymologüche Yeweile und meint, da
als hiteriche Ertlärung diefes Zuiammenlebens der zwei Naflen die
Erzählung des Jordanis dienen fönne, nad) welcher der Djtgothen
fönig Hermannarich die Nation der Xeitier fih unterworfen Habe.
Unter den Xejtiern des Taeitus und des Jordanis jeien in erfter
inte ito-flaviihe Stämme, in zweiter die Titländer überhaupt,
aljo auch die finnifchen Urbewohner der Titieeprovinzen zu vers
itehen. Die Nadrichten des Jordanis ipielen überhaupt eine
wichtige und, wie mir iceint, unberechligte Nolte in der Daritellung
diefer dunfeln Epoded). Schon Wattenbach hat nachgewiejen, dab
Jordanis, der um 550 icrich, für diele Zeit Cassiodors Geichichte
der Hothen und zwar blos nad) dem Hedächtnif; benugte und dal
er Überhaupt flüchtig und unzuverläffig it".
"
33%. Woriaa, „LVorgeihichte D:3 Nordens nad gleichzeitigen Dent
mäleen,“ 0. d. Tin. von Mestorf. Yamburg. INT8. & Dr. Muntelins
Sur le prem es Valtigques de la
en Pol« on du com inte
istoriqnes ih Budapest INT6. D. AST. 0
Aspeli 3 Finno-Ongrien.“ Helsinetorsto. 3.1.3.3
ı €. Grewingt, ‚Die neolithifdhen Bewohner von Aunda im Ejtlan.”
Verhandlungen der Gefeheren Ehtwitchen Geieliheft zu Dorpu Q. NIL.
ISSL. 2.59 fi. al. and deifen „Die Steinichifie von Muihing sc.” Darpat IST.
8.0. fi.
s les prov
Compte-rendu de daS. ses
Wanthropolagie et d’archeolnzi
. 8.0. Parrot, „Berjud) einer Entwidehung der Sprache,
g. dir viwon, Yäten, Geften“ Yerlin 1839 2. 224 nad Era
ins, Torfens. Diusoss. Berner: St. d. Slöjer „Xivland und
1 baltüichen Norden“. Berlin 1850, 2.31 u. 4.1.
. Zeraphim „Gefichte Yio-. Et uud surlands ıc." 9b. 2. Neval IS. &. 11.
Auch Meipen, Siedelung x. 11. 3. 1451. 154 ziier den Jordanis (oder Jormandısı.
HB. Watrenbat) „Deuticplands Geicichtsquetlen im Mittelalter bis zur
Witte des 13. Jaheh.” Werlin INS. &. 47 f. Jordanis fteigert wur die Wer
wirrung, die jene Vorgänger angerichtet haben, 5. %. macht er and die Stythen
und Amozonen zu Cohen.
2 Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrh.
Wir müfen daran feithalten, dah uns für dieje Epoche feine
fiheren Hifterifchen Quellen yu Gebote Neben und daf wir uns
mit den Forfchungen der Archäologie und Ethnologie begnügen müfien.
Angenommen mn, dafi fi unpweifelfafte puren ger:
maniicher Siedelungen in bem Gebiete zwiicen Diemel und Naroma
finden, fo fragt es fidh jept, wie weit germaniiche Ein
den eriten Jahrhunderten n. Chr. feitzuftellen find. Ob in ber
That germanifche Stämme das ganze Gebiet eingenommen haben,
Montelius und Aspelin behaupten, oder ob blos ein Herrichafts:
Itnih der Gothen erijtirt Habe, wie andere Foricher, gejlübt
auf Jordanis, annehmen, oder ob endlich) die Meigenjche
von dev Niederlaffung germaniicher Kaufleute in den füdfin
Kandichaften auch auf die Gegenden der heutigen Oftieeprovinz
auszudehnen wäre. Das muf die nächite Aufgabe der prähiftoriichen
Forichung fein.
Wir fommnen jegt zu einer andern frage: In welche Zeit
fällt die Abgrenzung der Siedelungsgebiete der beiden alien,
welche die deutihen Eroberer im 12. Jahrhundert in den Oftiee
provinzen vorfanden? Aud) dieje Frage läht fid) nicht mit abjoluter
Vejtimmtheit beantworten. Denn and darüber find die Forfcher
nicht einig, welche Nation zuerit in den Oftfeeprovinzen gefiebelt
habe — die finnifche oder die lettifche. Gvewingk it, wie oben
ausgeführt worden, der Meinung, da das ganze Gebiet von
Preußen bio Finnland oder, wie er co nennt, das „Djtbaltitum“
von ugro-finniichen Stämmen befiedelt gewefen fe. Er fommt
unabhängig von andern Forfchern, die daffelbe behauptet haben,
zu diefer Anficht ). Dagegen haben Schirren ?) und Nosfinnen ?)
9) 3. 2. Watfon, „Ueber den Letifen Yölterftanım“. Jahresverhandtungen
der Aurl. Gefelicaft für Literatur und Nun
3.20 der Furl
S. 631. 103,
geiefien hätten.
t zweifelhaft. La.
Nordijche Geichichte”. Halle 17
18 und AD.
> €. Scirren, „Nachrichten
länder des baltifchen Meeres". tig
®) Y. Koskinnen. „Sur Vantiquites des Lives en Lixenie“,
Geiscen und Nömer über die Aüftens
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
die Anichauung ausgeiprochen, da eine Jnvafion finniicer Stämme,
theils auf dem Landwege von Norden, theils zur See von Mejten,
in tettifdj-litpauiiches Siedelungsgebiet tattgefunden habe. Dieie
Anfhauung it neuerdings von Vielenftein aufgenommen und mit
großem Gejchit vertheidigt worden !). Aud) Meiben Ichlieht fid)
in feinem jüngiten Werfe den Ausführungen Vielenfteins vollftändig
an und bejtimmt als Zeitpunkt der finnijchen JSnvafion das 6.
oder 7. Jahrhundert n. Chr, >).
Was uns die Gedichte über den Zeitraum bis zum 12. Jahr
hundert bietet ift undeutlich und unzuverk Herodot. Ptole-
mneus, Taeitus, Plinius fönnen wir bei Seite lafjen, ebenjo
Cassiodor und Jordanis®). Cie bieten der Hypotheie ein zu
weites Feld. Als mwarnendes Beilpiel mag das gelehrte Werk
des Archäologen Krufe dienen *), dem in Bezug auf unwahricheinliche
und gezwungene Hypothejen nur nod) das Wud) des Finguiten
Barrot gleichfommt.
Das Licht der Gejcichte dringt erft fpät in das Dunkel,
welches über den Dftgefladen des baltiichen Meeres ruht.
Mit Sicherheit erfennen wir jehr alte Veziehungen der
Standinavier zu dem „Oefterrife.” Nunenjteine und die alten
nordiichen Sagas fprechen dafür‘). Diefe Veziehumgen mögen meijt
friegeriicher, vielleicht aber. aud wirthichaftliher Natur gewefen
1) Dr. X. Vielenftein. „Welds Bolt Hat an den Süften des Nigichen
Mesrbufens die hiftorifche Priorität, die indogermaniichen Yetten oder Die mongolifchen
innen?“ Valtifche Monatsichift.
Holt in „Die Grenzen des Iettiiche
& Meipen, Siedefung x. I.
m:int, dal üi fi
Yetten von der baltiihen Seefüfte abgedrängt hätten.
5) Herodot (Hist. Lu MMC. 115). Ptolenaens (Geogr. Tu I.
Taeitus (Germania Plinius (mad) den Verichten des Phytlens).
Mist. natur. Lib. NNXVI. € 2) Wal darüber E. Schirren, Radpichten 1.
45. Steuie, „Urgefchichte des Eitpniichen Lollsitammes“ Mostau 1810.
Yarrot. a. a. D.
> Ingooriagn, Seinstsingla, Anglinga-Saga des Suorre Sturleffon,
talla-Grimfon's Saga. Ueb:r den in Södermannland gefundenen Numeniteiı
ibungsberichte der „Pete für Geichidhte u. Alterthumstunde der
Au 20 Kerner: Dr. . Bielenfteiı,
irenzen 1.
221 Die Eingeborenen Liolande im 13. Jahrh.
fein. Auch bier müfen wir an die oben ausgeführte Meigenjche
Supotheie denfen.
Eine genanere Nachricht Haben wir erft aus dem 9. Jahr:
Gumdert. In Nimberts Vita Anscharii werden die Chori im
jeßigen Nurland (oder in Cefel erwähnt. Wir hören von erbitterten
Nämpfen der Nordmänner mit diefem Wolfe, Um 850 joll die
Kurenftabt Apule von dem Schwedenfönig Llaf erobert worden
jein, naddem zuvor die Dänen, welchen das Land zinspflichtig
geweien, einen verumglücten Feldzug dorthin unternommen hatten).
Aus dem 11. Jahrhundert haben wir den Bericht des Adam
von Bremen. Zwar ijt das, was er uns von Nurland und Ehjtland
erzähft, noch fehr märchenhaft, aber wir erfahren von ihm, daf
ein dönifcher Kaufmann auf der Injel Churland eine Kirche gebaut
babe; das habe er — Adam - aus dem eigenen Wunde des
Königs Sven Ejtrinfon. (1047-1076 9).
Ans diefen Nachrichten tönnen wir entnehmen, dah die
ndinavier chen Fehr feih verlucht haben an den öftlichen
ten des baltifchen Meeres Fu zu faflen. Mehr ale Wicinger
ige find cs aber faum geweien. Wir willen, daft die fühnen
hiten und Nuren ihnen Diele Naubzüge mit gleicher Münze
zurüchahlten, ja daß cehitmiiche Zeeräuber die reiche Stadt
igtuna am Mälar verbrannten?).
on diefen Scoräuberzügen wird noch fpäter die Nede
Weniger ımdentlich alo die Beziehungen der Cingeborenen zu
den Sfandinaviern find diejenigen zu ihren öfttichen Nachbaren,
den Nuffen®).
Die auf bfoher Neberlieferung beruhenden Nachrichten der
ruffiichen Ghroniten über die Zeiten bis zum 11. Jahrhundert
fönnen wir füglic übergehen.
1) Ygl. Aurtänbifche Siumgsberichte von 188
>) Adam von Dramen IV. 16. 17. 19. Ka. Min.
’ Yal. Scplöger, Yiland 1.
Rad) A. Yampreht „Deutice
um HIST verbrannt.
.. &. 160 wurde Zigtuna
hen Beziehungen find Mar und überficlich dargeitellt von
Wuhland, Polen und Yivland bis ins 17. Jahrhundert.” Berlin,
5 fi. im 10. Theit der I. Danprabtheitung von W. Cnten,
ine 1c.).
Atg-meine
Die Eingeborenen Livlande im 13. Jahr).
AS fid) die Neiche von Nowgorod und Polozt gefeitiat
hatten, mögen deren Fürften verfucht haben ihre Herrichaft bis
an die Oftfeefüfte auszudehnen. Die nad) Neftor benannte Chronik
(um 1100) berichtet uns, daß Wladimir der Große (080-1015)
die Dünagegend unterworfen Habe.
Sicher ift, da; im Jahre 1030 der Großfürit Iarostaw die
Ehjten befiegte und in ihrem Yande die Stadt Jurjew an der
Stelle des fpäteren Dorpat gründete. Die ruffiiche Chronif berichtet
dann weiter, day dem Grohfüriten schliehlic) jemmtliche Wölter der
Titfeeprovinzen: Ehiten, Yiven, Letten, Semgallen, Yithauer, Samaiten
und turen zinspflihtig wurden. Das ift jedod) faum anzunehmen.
Nach Jaroslas Tode einpören fid) die Chften, zerjtören 1061 Jurjew
und machen fogar den Verfuch Plesfau zu erobern. Jim folgenden Jahr:
hundert gelingt e8 den Rufen auch nicht dauernd fejten Fuß zu fafien.
1107 erleiden verbündete füb- und weitruffiiche Fürsten durch die
Semgallen eine bfutige Niederlage; 9000 Nuffen deden das
Schlachtfeld"). Allerdings eroberte Mitislaw von Nowgerod 1116
die Ehitenfeite Odenpäh und 1130 wide den Chften wieder ein
Tribut auferlegt, aber 1132 jchlugen diefe deu Wiewolod Mitistmos
Sohn völlig aufs Haupt. „Es geihab groß Unheil,” jagt die
ruifiiche Chronik, „viel gute Wänner aus Nowgored wurden
erichlagen.“ Die Erfolge, weldhe Wiewolod 1134 errang, waren
aud) nicht von Dauer. 1177 wird wieder eine größere Kicderlage
der Kuffen bei Plesfau din die vereinigten Ehiten berichtet.
Auch für die fpätere Zeit it eine aktifche Abhängigkeit der Ehiten
von Nowgorod oder Mesfau nicht madzuweifen?), wohl aber
finden wir vorübergehende Bindnife der Ehften mit den Kuffen
gegen die deutjchen Kreuzfahrer.
Während fi ale die Ehiten und aud die Semgallen der
wiederholten Unterjohungsverfuche der Auifen erfolgreich erwehrten,
x auch Karamfin's Geihichte des Au
IR und II
Die Tributpflicrigleit der Yandichaft Tolowa an
die Plesfauer“. gen aus der livlänifnen Gefhichte" Ad. XIV,
&. 050. 9% An. und deffelben „yur Arage der Beiehungen der ruffiiden
provingen im NL a. XI
Riga, dv. ISOL. 116 f.
u Reiche, Deutfche
Ueber‘. Bo. 1.
Fahrh.” Zigungsber. d. €
226 Die Eingeborenen Livlfands im 13. Jahrh.
gelang co Dielen über den Stamm der eigentfichen Letten, ber
Yettgallen, mad über einen Theil der iven danernde Herrichaft
ji gewinnen.
In welchen Zeitpunkt die Begründung berjelben füllt, willen
wir nicht. WS im der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bie
Dentihen in die Diinamündung drangen, fanden fie die Liven
und etten amı rechten Dimaufer, jewie die Yettgallen in Tolowa
unter vuffiicher Votmöhigfeit. Für die Wende des 12. Jahr“
bumderts find zwei wuiftiche Machtbereiche zu umtericheiden: der
Mactbereich des irftentbune Polozt an der Tina und der des
Rrftenthums lesfan, welcher die lettifche Landichaft Tolomwa am
oberen und mittleren Yaufe der (nländüchen Aa umfahte‘). Das
Abhängigfeitsverhäftnii; war nur forfer, eo beitand in Tributzahlung
und vielleicht in Srereofolge. Dierüber wird an anderer Stelle
noch ausführtich die Nede fein.
Mir mälen jebt, da wir zeitlich bei der deutichen Eroberung,
alle am der Grenze mnierer Darftellung, angelangt find, Halt
manhen amd die eihmogranbiichen Werhältniie ihildern, wie jie von
den Deutihen im 13. Jahrhundert vorgefunden wurden.
N.
Turrch die umehienden forfchungen des gelchrten Paitors
und Eimmologen Dr. A. Bielenftein find wir in der Lage uns ein
siemlich deutliches Bild der etbnograpbifchen Verhältniffe
Alt Yivlando im 13. Jahrhundert zu machen®).
Wir haben geichen, dafı Völterjehaften finnüicher. alfo mango-
licher, und Lertiic-litpaniicher, alto ariücher, Naife die Nüftenländer
zwifchen Memel ımd Naroma, das jpätere Alt-Livland, befiedelten.
Ir Kal. % 0. Acubler „Das livifche und dertiiche Timagebiet und die
ürften von Pologt, Grreife und Kofenbufen am Ausgange des XI. und zu
Veginm des NN Jahrhunderts.” Mürheil. a. d. Kol. Geidichte. Do. NV,
& auch deffelb. Triburpilichtigfeit x. von Toloma &. 81 f.
>) Dr. 9. Vielenftein „Die Grenzen des Ietiiidhen Wolfsitammes und der
detiichen Sprade in der Gegenwart und im 13. Jahrhundert.” Mir einem Atlas
von 7 Blättern. teroburg. 1802. 9 ci über Di
fwiedenen Nationen umd Ztänms, ;. D. die Rarionaliäten.srage der
om der Ma, werde ich hier bei Seite lafien
ver:
enden
Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahrh. 227
Die finnifden Stämme nahmen das heutige Ebjtland und
nördliche Livland fowie die ivländifhe und turländiiche Rüfte ein.
Wir unterfheiden zwei Hauptjiämme: bie Ehiten und die Liven.
Eritere jahen in geichlofienen Majfen in Ehjtland, dem nördlichen
Kivland und den vorgelagerten Infeln, d. h. ungefähr in ihren
heutigen Grenzen. Lebtere theilten fi) in zwei gefonderte Stämme:
die eigentlichen Liven, welche einen durchichnittlih 5-6 Meilen
breiten Küjtenjtric vom Trrobade bis zur Düna und das Gebiet
am rechten Dünaufer bis hinter Lenewarden einnahmen, und bie
Kuren an der ftüfte vom Angerniden Sce, bezichungsweife von der
Dünamündung, bis gegen Viemel und amı unteren Lanıfe der Windau.
Die Ketten zerfielen in drei Haupfitämme: die Yettgallen
füdlih von den Chften und öftlih von den Liven in den jepigen
Rreifen Walt und Wenden, im öftlichen Theile der reife Niga
und Molmar, jowie einem Theile des jebigen Polnifc-Livland;
ferner die Selen in einem jchmalen Streifen am finfen Dünaufer
von Dünaburg bis Zelburg, und endlid die Semgallen. Dieje
bewohnten das ganze mittlere und füdöftliche jegige Rurland zu
beiden Zeiten der Semgaller Aa und am oberen und mittleren
Kaufe der Winden. Sie grenzten alio im Norden und Weiten
an die Kuren, im Tften an die Liven md im Südoften an die
Selen. Das ganze Gebiet füdlih von den Nuren, Semgallen
und Selen wurde von den Lithauern eingenommen, einer ben
etten nahe verwandten Nation.
Dit Ausnahme der chimiichen find aber die geographiichen
Grenzen der Nationen feineswegs fanber durchzuführen, weil
auch eine ethnographiiche Scheidung nicht immer möglid) ü
€s ergeben ji) Gebiete, in denen Sprad und Geidic)ts:
forichurg gemichte Bevölferung annehmen müffen - wenigitens
im 13. Jahrhundert. Namentlid it das in Sturland der Fall,
wo wir auf einem großen Theile des finnifchen Siedelungsgebietes
fettiihe Spuren antreffen. Desgleihen in Livland im Vezirfe
Zoumen (zwiien Wenden und Lemjal) und an der Düna bei
Kenemarden.
Diefer Umjtand wirkt deswegen bejonders jtörend, weil, wie
wir jehen werden, ein prinzipielle Unterjchied zwiichen der
Siebelunasmw:ije der finniidhen und lettiihen Wölterjchaiten beitand.
Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahr.
I.
Es ift mun zu unterfuchen, welcher Art der Nultur-
zujtand diefer Nationen zu der Zeit war, als die Deutjchen
mit ihnen in Verührung famen.
Wir befisen für diefe Zeit eine unfchägbare Quelle in der
trefflichen Chronit des Yettenpriefters Heinrich, von dem wir mit
Veftimmtheit willen, dai; feine Berichte über das Zujanımentreffen
der Deutichen mit den Eingeborenen Alt-Livlande auf Autopfie
berugen!).
Es fiegt auf der Hand, dab die Chronit Heinrichs in erfter
itifche Vorgänge fchildert und fih nicht
mit ethnologiichen Fragen beichäftigt; eine folhe Betradtungsweile
(ag ja jener Zeit vollfommen fern, aber wir finden in der forg
fältigen Aufzählung von Thatfachen nicht jelten Fingerzeige, die
wir zu unferen Zweden ausbeuten fönnen.
Natürlich erlangen wir auf diefe Weife feine volljtändige
Kenntniß der politiichen, fozialen und wirthihaftliden Verhältnifie
oder gar der ethijchen Vorjtellungen unferer Völfer, auch wenn
wir verfuchen die Yücen durd Nücichlüjfe aus ipäteren Quellen
auszufüllen. Das fulturgeibichtliche Wild, das wir gewinnen,
bleibt unvollfommen genug; aber wir haben doch allen Grund
unjerem Chroniften aud für das Wenige danfbar zu jein, wenn
wir bedenfen, wie felten im Allgemeinen glaubwürdige Quellen
für die Geichichte eines Volfes vor deifen Verührung mit über
legener Kultur find. Wir befinden uns 5. B. in einem bedeutenden
Vorteil gegenüber unjerem Nacbarlande Preußen, deifen früheite
Hiftorifche Quelle über die Zujtände ber Eingeborenen — abgejehen
von den Fabeleien des Neifenden Wulfitan — Petrus de Dusburg.
üt, welder feine Chronit ein Jahrhumdert nad) der deutfdhen
Eroberung ichrieb.
land.“
der Ehronif wird von Hildebrand in die Jahre
Die Abfaffung
gelegt, vgl. &. 19.
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Die inneren politifden und fozialen Ver
bältwiije der Jndigenen lajjen fi aus der Chronik Heinrichs
von Lettland nicht deutlich erfennen.
Während wir bereits im 9. und 10. Jahrhundert bei den
Nord-Slaven politiich jelbftändige feit organifirte Staaten mit
Fürften und Beamtenthum fonjtatiren fönnen, finden wir bei den
tettifchen und finniichen Stämmen im 13. Jahrhundert Feineswegs
organifirte Staatswefen, jondern nur die Spuren jtantenähnlicher
Gebilde. Die einzelnen Stämme der beiden Nationen deinen
untereinander nur in jehr loderem Zufammenhange geftanden zu
haben. Zwar finden wir Bündniffe zweier Stämme, wo eo fid
um größere Feldzüge oder ernjthafte Vertheidigung bandelt!),
doch ift das National, oder beifer gelagt: Natiegefühl, To gering,
daß nicht felten zwei Stämme eines Vlutes in feindlichen Yagern
fämpfen?). Da wir aud) andererfeits Bündniffe zweier Nationen
untereinander®), ja jogar mit auswärtigen Nachbaren antreffen?),
fo brauchen wir nicht einen politifchen Zufammenhang der Stämme
eines Blutes voranszufegen. Eine Yusnahme macht vielleicht die
ehjinifche Nation. Cs wird uns nämlich berichtet, dah in der
Yandichaft Harrien ein Dorf Raigele lag, in weldem die
ummohnenden Stämme alljährlich) zu einer Verathung zujammen.
zufommen pflegten®). Yeider ift nicht näher angegeben, welche
ehjinijchen Stämme fich zu diefem jährlichen „Thing“ verlammelten,
jedenfalls nicht alle, was ion aus dem Ausdrud „ummohnend“
teireumiacentes), jowie ans dem Umftande hervorgeht, daß die
Injel-Ehften auf einem bejtändigen Ariegsfuhe mit den Feitland-
Ehiten gelebt zu haben fcheinen®). Immerhin liegt der Gedante
an einen engeren Zufainmenhang mehrerer Ehftenftämme — eine
Art Völferbund nahe und wir werden in lebhafter Weile
an ähnliche Ericeinungen bei den alten Germanen und Slaven
%) Heinsiei Chr. Lyvo ga bo Hy Dig 16,5 21 2,
wand,
> Ebinda IA, 123, Dar
3.8. cbanda I
* Der Ehiten mit den Nuffen ef ebenda 20, 2)
=) Eben
230 Die Eingeborenen Ciolands im 13. Jahr).
erinnert. 66 ift übrigens anzunehmen, dal; aud) dieer in Friedens:
zeiten zu Naigele abgehattene Thing den Zwed gehabt hat, in
exiter Linie friegeriiche Berathungen zu pflegen. Wir willen ja,
dah die Ehften feit Jahrhunderten mit ihren mächtigen Nadhbaren,
den Nuffen, in Kriege verwidelt waren; joldhe Unternehmungen,
wie die gegen Mestau (1061 ımd 1177), mögen auf der Jahres:
verfammfung von Naigele geplant worden fein.
Die innere Organifation des einzelnen Stammes it ebenfo-
wenig deutlich erfennbar.
Ieder Stamm zerfiel in eine Reihe gröferer und fleinerer
Gemeinwefen. Heinrich von Yettland verfügt über mehrere Ve
jeihnungen für das Land, weldes von einem Stamme bewohnt
wird, aber er gebraucht diefelben nichts weniger wie prägis. So
wendet er den Ausdrud provineia bald auf das ganze Siedelungs:
gebiet einer Nation an, bald auf eine größere Landidhaft, die
von einem Stamme bewohnt wird, bald auf den einzelnen Bezirk
oder Gau einer folden Landicaft.
Für die Hleineren Bezirke findet fd nod) ein ehjiniicher Aus-
brud „Kylegunda“, welder foviel wie Sauverband bedeutet uud
den der Chronijt an einer Stelle ausdrüdlich für provineia jegt!).
Dit Sicherheit fönnen wir annehmen, da das Eiebelungs-
gebiet einer Nation in mehrere Sandidaften und jede Landichaft
wiederum in eine Neihe Heinerer Bezirke jerfiel. Ueber die Ent-
ftehung dieier Gemeimvejen ift aus Heinrichs Chronif nichts zu
entnegmen. Sie fällt in eine weit frühere Zeit. Möglicherweile
find die Gauverbände aus Gefchledhtsverbänden hervorgegangen.
Bei wachjiender Nopfzahl haben die Geihledhter fid) aus wirth-
ibaftlichen Gründen getrennt und fid) jo räumlid) immer weiter
Y) Gbenda. 28, In 28, , Hat die Yandichaft N 1a 7 Ayfegunden,
in 2%, hat diefelbe 7 Provinzen; ef. auch 29, 7 und 30, Der Yusbrud
Kiligunda finder fih aud) in Nurland. vgl. Bud. 1. 103 u. 104.
Jegt beifst Kihlakunta im innifchen Bezirt, Kihhelkond im Ehftnülchen
Kircjipiel. Dal. X. 3. Sjögren, „Heile nad Fioland u. Kurland 1816.“ Peters:
burg 1847. 5.120 fi. Über d. Eimmologie de$ Wortes vgl. die Ausführungen
Kunits in Vielenftein, Grenzen 1c. 5. 273. U. 200 u. 207. U, ferner: Y. Meer,
„Über Ejten und Eftenthum bei Heinrich dem Yetten” in „Ziyungsberidte der
en Gefellihaft." Darpat INTT &. 1.
Tie Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. ı
ausgebreitet. Gemeiniame Gefahr hat einen lofern Zulammen-
hang der Zippen erhalten, nicht feit genug, um zu einer Staaten:
bildung zu führen, aber doch genügend jtarf, um ein Gemein:
weien zu bilden, weldes im Falle der Vertheidigung oder eines
Haubzuges unter einheitlicher Yeitung vorgehn fonnte.
IV.
An der Zpige der einzelnen Gemeinweien, jowohl der
größern Yanbjchaften als der Aleinern aue jtanden Häuptlinge,
für deren police md befonders fopiale Stellung id feine
ganz jharfen Umrifie in der Darjtellung Heinrichs finden.
Er nennt fie meijt seniores: Aeltejte, daneben prineipes
oder prineipes ac seniores'): parallel gebraucht er die Auo-
drüde: meliores®), primores. nobiles?). fogar divites'). Den
Semgallenhäuptling Vejthard nennt er an einer Stelle maior
natu>). offenbar eine Umfchreibung von senior. jonjt einfach
dux oder dux et princeps; von Ganpo jagt er: „der gewiller:
mafen König und eltefter der Liven war“ und an anderer Stelle:
welcher der Grite der Liven war“°); die Gejamntheit der
seniores ber Ehjten nennt Deinrid) eaput Estonie: Das Haupt
Ehitlands?).
Ob Heinrih den Ausdrud senior aus der Spradje der
Eingeboreuen übernommen hat, eri—eint mir fraglich. Allerdings
finden fid) fpäter fowohl im Chitniichen („Wannen“) alo im
Yettiihen („Wezzafais“) die gleichbedeutenden Wörter, aber wir
haben feinen Anhalt dafür, daß fie idon um 1200 gebraucht und
nicht etwa jpäter aus dem deutichen Spradigebraud übernommen
worden find. Bei den füdjlavichen Stämmen giebt es eine
Analogie in den Starojten oder Supanen, den Oxtevorfichern umd
' Heine. Chrom. Lv. 10, (dus et prineopsb Wis 1.4
Lee) a (prineipes a
34,100, 13021
330,
4 Mo „Reiche 15,7 (divites et s
30 1
% „qui quasi rex et. senior Lyvonum €
erat (Caupor“ 16,3.
%) Ebenda.
res),
„nor primus
Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh.
Semeindehäuptern, welche in lateinischen Urkunden ebenfalls Seniores
genannt werden.
Die Bezeichnung des Supans als Aeltejter it nad Weisen
„füglich nur auf den jlaviichen Begriff des Stareifina, des Zamilien
Daupts in der Sadruga wie in Bratinvo und Pleme zurücjuführen“ ").
Wenn wir aljo die jübllaviiche Analozie wenigitens für die tettiichen
mme anerfennen wollten, jo mühen wir aud bei ihnen eine
uriprünglihhe Hauefommunion vorausichen. Dafür fehlen nun
aber, wie fpäter noc) ausgeführt werden foll, alle Yorausiekungen,
da wir feine Anhaltopunfte für igend welche fommuniftiihe Ein:
richtungen bei Letten oder Ehiten und Liven haben.
Eine andere Erklärung der Bezeichnung Senior für die
Häuptlinge der Eingeborenen ift neuerdingo von A. v. Yulmerincq
gegeben worden?) Heinrich von Yeltland hätte den Ausdrud
senior „den ihm nicht unbekannten Verhältnifien in Holjtein und
auf Gotland“ entnommen. Jun Holftein ımterftand Gericht und
Xerwaltung den „seniores terrae* unter Führung des Querboden;
in Gotland biehen die Vorftcher der Yandgemeinde, die Nadmannen,
ebenfalls seniores. invid) hätte, um die Seniores der Ein:
geborenen von den seniores de eivitate. de Riga zu unteriheiden,
erjteren den Zuiap terrae hinzugefügt. Diefe Erklärung jceint
jedoch unrichtig, den evfiens Fommt der Zufag terrae nur zwei
Dat vor?) gegenüber ungezählten Malen, in denen cinfad) von
seniores der Gingeborenen die Nede ifl, und zweitens gebraucht
Heinrich den Ausdrud senior bei allen Gelegenheiten und im
allerweiteften nme, um Führer oder Haupt eines Volkes, einer
Kommune, eines Deerco u. dgl. zu bezeichnen; fo Äpricht er von
den seniores der Nu »), jo nennt er wiederholt Die
Führer des Nreujheeres seniores der Deutichen"), fo jagt er endlid)
an einer Stelle ausdrüdlih: „merfet und fehet «8 ihr Oberfien
iden oder der Dänen oder
‚0. Aus dem
tprineipes) der Muilen oder der
dehung und Aprarmefen ıc. IL. S. 233. op.
. Bulmzrineg, „Sine ira et studio.“ Sipungsberichte dr Oeiell:
id. und Alterihumstunde d. Tftieeprov. von INH. &. 140
®) Heine. Chrom. Lv. dıg Mao
9 23,, wird Herzog Albert von Sadıfen senior genannt.
Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh.
GSebrauche des Wortes senior bei
den Schluß ziehen, da damit di
Aeltejten im füpflaviichen Sinne gemeint find"), noch dab Heinrid)
damit eine Vorftellung bejiimmter Funktionen und Anmtspflichten
hat erweden wollen. Fajien wir dagegen die dem Worte senior
parallel oder analog gebrauchten Ausdrüce ins Auge, jo find wir
berechtigt anyunehnen, dai; fi bei jämmtlichen Stänmen der
Eingeborenen hervorragende Männer fanden die den Deuticen
als Häuptlinge und wegen ihrer großen Zahl”) zugleich als eine
bevorzugte Najte, aljo eine Art Ariitokratie, erihienen.
Was die Aunktionen der Neltejten betrifft, jo tritt uns
naturgemäß in Heinricho Chronit die Friegeriichie Seite derielben
beionders entgegen. Die Aelteiten find SHeerführer; als folde
befehligen fie ihre Volfogenoflen auf dem Zuge und in ber
Schlacht 9, fie jetteln Verjchwörungen an'), fie chliehen Vündniffe‘),
Srieden 9) und Unterwerfungsverträge”), fie jtellen Geifeln oder
werden jelbjt als jolde angenommen‘).
Die Nompetenzen der Yeltejten in Friedenszeiten find weniger
deutlich gezeichnet. Jedenfalls jtehen fie bei ihren Yandstenten in
hohem Anichn, wie es jidh tapfern Hcerführern gegenüber von
jelbjt verfteht ®).
einrid Dürfen wir alio meder
Familien: oder Geichleditsr
. Chron Lpv., die darauf deutet, da; mit
das Alter bezeichnet werden joll, üt wo malor natur
ior gebraucht üit
2) Ebenda
nensis_ proi
werden 500 „os meliorilus viris ar sen
ia” getötet, und falten ber 100 seniores
Meforhen. Die „tere wille de melimihus“ der Lieter in
md mo;L nur die auge
Ebenda 10,10 Hin
aa Da
10,
um 1a
Yeben Durch Gefchenfe an die weni
Atobrand tödten wollten, verhinderten c&
Einftuh Caupo hatte geht aus 16,2 hervor; feine Bedeutung 2, 1-
234 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrb.
Ton den Deutihen werden fie ud im rieden als Ver
treter ihres Wolfes betrachtet; mit ihnen werden jtaaterechtlid)e
Fragen verhandelt, fie werden zu Verträgen mit fremden Mächten
herbeigegogen!). Cie mögen als angefehene Vlänner, die das
allgemeine Zutrauen genojien, auch als Kichter fungirt haben ;
aus ihrer Mitte wurden von den Dentichen Nichter eingelegt,
die den Iandesherrlichen Wögten zur Hand gingen und aus denen
fi das fpäter zu beipredhende Inftitut der Nechtofinder entwiechte?).
Dan muß fih aber die rihterlichen Funktionen der elteiten nicht
als geordnet vorjtellen, wie ja überhaupt alle ftaatlichen Gebilde
durchaus ungeordnet waren. Cie werden in ben mehrfach erwähnten
Voltsverfammlungen ®) präfidirt und größere Streitfragen mit
Hülfe der Volkogenojien entichieden haben. Da von geordneten
Nechtsbegriffen feine Nede fein kann, da überall Selbjthülfe eintrat:
Ylutrahe, Raub, Recht des Stärkeren*), fo Fönnen die Aelteiten
nur fraft ihres perjönlichen Anjehns, getragen vom Lolfswillen,
vermittelnd oder ordnend gewirkt haben.
An ein geregeltes SHerrichaftsverhälinii haben wir nad)
alledem faum zu denfen.
€s fragt ih mum ob die Seniorenwürde, wenn auch wicht
de jure. d. b. verfalungsmähig, jo dod de farto erblid war
oder nicht. Id möchte mich dafür ausiprechen. Mehrfach wird
berichtet, daß Söhne oder Brüder eines Neltejten in die Stellung
ihrer verftorbenen Verwandten einrücten>), und jehr Häufig werden
„die Verwandten und Jreunde“ (wognati et amici) eines Zeniors
Y Gbenda Tyı Ihn Hay 2
seniores in Heinrichs Augen geht auch a
a ervor.
>) Ebenda 9; und Vertrag des Meilters Andrens von Lelven mir den
Bl. Kiot. Met. Buch. 1.100 1. DIL. 1694. ngl. ferner dal. 1.219,
12,01 Die Wihtigteit der
de auf d. heil. Jungiran
8,
9 Ebenda Zu 1y 5 Die Ibn
4) Ebenda 10, 15
>) Ebenda. Talibald und feine Söhne Hancko, Trivinatde und Waribule
19,3 30. 36. Die Söhne jcheinen jchon zu Yebzeiten dig Laters Heltefte geoejen
zu fein, — Unipcwe, Yruder des Yambitu 21,
Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahrh. 235
erwähnt"), woraus ji ichliehen läht, dah bie „Sippe* eines
jolden in den Augen der Stammesgenojien einen beionderen
Rang behauptete. Bis zur Entwicelung einer erblichen Kürten
würde ift aber nad) ein weiter Schritt. Durd) perjönliche Tüchtig:
feit, vor Allem Tapferfeit und Stätte, wohl aud) durd) Weisheit,
ragen die Hänptlinge über den freien Wolfsgenofien empor; viel-
leicht aud) durch Neichthum, durd großen Grundbefi, denn von
mehreren Nelteiten wiffen wir, dab fie bedeutende Yändereien ihr
eigen genannt haben, jo vom Yiven Gaupo und vom Yelten
Talibatd und dejjen Söhnen, die ihrerfeits großen Yandbefit
hatten?) Wenn, was jelten geichieht, der Beiig näher bezeichnet
wird, jo treten uno alle Vierfmale eines Bauernqutes entgegen:
Aeder, Bienenbäume, Badjtuben?). Wir haben uno dieje Ber
fingen der Xelteten mithin als große Bauerhöfe zu denfen,
die je nad) der Siedelungsweile des Volfojtammes allein oder
in einem Dorfe neben den Höfen anderer Volfsgenoffen lagen.
Der Reichtum beitand in erjter Linie in Nedern, zahlreichen
‚Heerden und Bienenbäumen, daneben in angejammmeltem Cdel:
metall, Familienihimu, Waffen und dal.*).
Wenn wir aus diefen Betrachtungen aud) fein ganz abae-
ihlofienes Wild von dem Wejen und der Stellung der Aelteften
erhalten, jo geht doc) aus ihnen umabweisbar hervor, da wir
die Derfmale einer jtändiihen Gliederung vor
26, 15 Compo's Sohn Berthold md
virtuosus®) Il... Die Yrüder Noboant
Y) Ebenda 1, 15
Sarwicgerioßn Wane (-vir fürtix e
ud Lefo 21,2 ıc.
3 Ebenda 1a Ul,y) 2, Talibald von
Tricata (15,3 17,, 18,9) fein Sohn Drivineloe am Mtijenwe (2
Entfernung von Tricatua, wenn man das Trdengiploi Trienten over and) die
Burg Yaverin (12,9 am WaidansTee (vgl. Vielenftein, Grenzen &. 78) als
Arsgangspunfi nimmt, bis zum Afijerwe Burine-Scc) beträgt in der Yuftlinie
cu. 20 Silo. Vielleicht befanden fd) Die Befigungen des Hameto (ul. Yiul,
Uet.Buch 1, 70 und Perlbacs Berichrigungen dazu in Mittdkil, a. d. Kol. Deich.
W. 13 2. 5 u. 13) gwiichen den Ziyen des Vaters und des Bruders.
3 Ebenda WW, 19,5
% Neichthum der Zantilie Talibalds an Geld vgl. Hein. Uhren. Lyv.
3 19,3. Ueber die Wohnfige der Meheften wird bei Beipredung der Heiden
burgen und der Siedelungsweile noch die Node fein.
236 Die Eingeborenen Fivlands im 13. Jahr.
uns haben. Die Aelteften und ihre Sippe ftanden fojial höher als
die große Diniie des Volles. An einen privilegirten Stand, einen
Adel im modernen oder auch nur mittelakterlichen Sinne, miijen”
wir dabei nicht denfen. Wir haben meines Wiflens fein
einziges Zeugnüh dafür, dal; ein perföntiches Abhängigkeitsverhältnii;
zwücjen den Yeltejten und dem Volfe oder and nur einem Theile
defielben bejtanden habe. Wir finden feine Spuren perjönlider
Unfreiheit. Alle Vologenofien waren freie. Die zahlreichen
Stlaven waren Nriegegefangene ober Naufillaven, aljo jedenfalls
Fremde.
Der Grumdjas der Gleichheit aller Volksgenofien, die id,
in der perfönfichen Freiheit ausfpricht, muß; aljo im Auge behalten
werden; aber es ijt mothwendig, dal; fozinfe Unterfcjiede überall
da entjtchen mühlen, wo der Sohn vom Vater nicht mr dejien
Anfehen, fondern auch defien Privatvermögen erbt. Diejen Bor
gang Tann and uriprüngliche Toginle Gleichheit wicht hindern.
Angenommen auc, die Yollsgenofien eines bemofratifchen Gemein-
wejens wählen in Zeiten der Vedrängnih einen Mann zum Führer
ober Häuptling, der fih nur durd) Tapferkeit, Stärke oder Alugheit
auszeichnet, der aljo aufer diefen ibealen Gütern nichts fein eigen
nennt, jo ann fid doch diefer Zuitand nad) jedem glüdlicjen
Feldzuge volljtändig ändern; der Köwenantheil der Beute fällt ihm
zu, er verwandelt ihn daheim in Grundbefig und Heerden. So wird
aus dem tapferen Emporfömmling ein Befigender und im Laufe einer
tuhmreichen Epoche vielleicht ein reicher Mann. Ex vererbt feinen
Nindern nicht nur den Nuhm jeineo Namens, jondern aud das
Anichen und die Wacht, welde Neihthum überall und zu allen
Zeiten gewährt. Er wird der Aynherr eines vornehmen Geichledhte.
Daher pricht Heinrid) von melior primores. nobiles
und divites der Gingeborenen?). Die Prägnanz der Anodrüde
läht ja Manches zu wünfchen übrig, aber wir verftehen, dah
damit eine jozial Über der Malle des Volkes jtehende Gruppe,
die Yelteften und ihre Eippe, bezeichnet werden Joll.
Heichen“ ulivites) wird and einmal cin
ro Molme) erwähnt, der fd, beiten
1) Am Gegenjalg zu den
„Amer (puuperem qtten
läßt. Meine. Chrom. Lyv. 10, 3
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr. 237
Nochmals mu aber betont werden, da wir unter den
Acttejten feine Fürften, jondern nur Hänptlinge - chua oje:
woden — zur verjiehen Haben. Sie waren primi inter pares.
An einer Stelle nennt Heinrich einen Nelteften auodrülich rusticus,
alio Yauer!), und damit hat er, meinem Gefühle nach, das
Nichtige getroffen; die seniores oder Aeltefien find nichts Anderes
gewejen, als die Angelehenjten, Tüchtigiten und Neichften in einem
Volfe Feiegerifcher Bauern.
V
Wie uns in Heinrichs Chronik die Hänptlinge zunädit als
Heerführer entgegentreten, jo ericheinen auh die Eingeborenen
hauptjächlich als Krieger, jo dah wir von ihrem Nriegomeien
weit bejler unterrichtet find, als von ihren jozialeu und wirth:
ihaftlichen Verhältniffen.
Die verfdiedenen Völferihajten Alt-Yivlands befanden fich
bis zum 13. Jahrhundert in fat ununterbrochenem Kriegszuftande ?).
Nicht nur die mächtigen Nachbaren, vor Allem die Nuffen nnd
Lithaner, dann aud die Tänen und Schweden, beunrubigten fie,
auch unter fi lebten fie in beftändiger Feindicaft. Heinrich
berichtet uns, daß die Semgallen immer Feindjeligkeiten hatten
gegen die Yiven von Treiden (10, 1). Von den Yetten erzählt
er, dah fie dur die Lilhauer oft verheert und von den Liven
immerdar unterdrückt wurden, gleichwie auch von den Ehjiten
(11, 3 12, 6). Desgleichen fdhildert Heimic) blutige Naubzüge
der Ehjten wider die Yiven und umgekehrt. Zogar die einzelnen
Stämme eines Volkes befriegen jic) untereinander, wie wir oben
geichen haben.
As die Friegstüctigiten und mäctigiten eviheinen uns,
abgejehen von den Yithauern, vor welchen Fogar die Nuflen
nach Heinrichs Bericht zu fliehen pilegten wie die alen vor
dem Angefichte der Jäger (13, 4), die chjtnifchen Stämme, ganz
bejonders die Tefeler und Harrier, während die Wierländer und
!) Ebenda 2;
>) Ebenda
c
rustieus. qui fuit. senior eorun.”
1. Dal. über die unumnterbrochenen Ari
„Beichichte des Untergangs der amifen Welt“,
Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahrh.
Ierwier zahmer als die übrigen Ehjten genannt werden (26, »).
Unter den fettiihen Stämmen zeichnen id die Sumgallen als
tapfer ans'ız die Yettgallen dagegen waren „demithig und ver-
achtet“ md wurden von fänmtlichen Nachbaren jien, Yithauern,
Liven und Chiten verfolgt und unterdrüct.
Die Entfiehung der meiften Nriege it unzweifelhaft in der
Gier nad) Beute zu fuchen; ein folder Naubfrieg zog natungemäh
einen Nacheyug des beranbten Volkes nad) fi. Falle die frieg
führenden Stämme fid) einigermaßen gewacyien waren, fonnte
auf diefe Weile zwiichen ihnen ein immermährender Nriegazujtand
entftehen. War der eine Stamm offenbar jcwäcer und weniger
Triegstüchtig alo der andere, jo war er gezwungen die Ueberfälle,
fo gut es ging, abzuwehren, ohne fie regelmäßig vergelten zu
fönnen, ja eo fonnte ein oberflächliches Abhängigfeitsverhältnii
entftehen, das Fi in Tributpflichtigfeit und Heeresfolge äuferte.
Bei günftiger Gelegenheit, ehva wenn die Unterdrüder in ans
wärtige Händel verwidelt waren, verfuchten die Unterjochten dann
Hace zu nehmen, indem fie hinterrüds in das Kand ihrer Feinde
infielen.
Sollte ein Keldzug unternommen werden, jo beriefen bie
Häuptfinge eine Perfammlung*) des wahtenfähigen olfes und
man berieth das Nähere, entwarf den Feldzugoplan und jchicte
Voten zu den Stammesgenojien, eventuell aud; Gejandte zu den
achbarvölfern. Vor dem Feldjuge, wie überhaupt vor ent:
icheidenden Handlungen, vor einem Sturm oder Meberfall, wurde
der Wille der Götter durd’o Yoos erforicht. Fiel das Opferthier
beim Zuiclagen nad rechts, jo waren die Götter dem Unter:
nehmen günstig gefinnt, die linfe Zeite dagegen bedeutete Ung u.
War die Antwort der Götter günfig und trafen Zulagen von
Ztammesgenofien oder Nachbaren ein, jo verichwor man fich zu
gemeiniamem Vorgehen durch eine fymbolifche Handlung, welche
Heinrich „Schwertertreten“ nennt). Alsdann verfammelte fi das
unten Die Abhandlung
über religibfe Vorjtsthungen der Cingeborenen.
16.2 0gle 12,5 Hay
orum sullatinn
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr.
Volfsheer, die „malewa“t), an einem beitimmten Orte und der
Zug in das feindliche Fand begann.
Meift beftanden die Striegsgüge in plölichen Ueberfällen deo
ungewarnten Feindes, da cs ja hauptiächlich auf Raub und
Yeite, Plünderung und Yermüftung abgelehen war, doch finden
wir ac formelle Abiage durch inmboliihe Handlungen: man
bedrohte fich negenfeitig mit Zpeeren oder warf einen foldhen
in einen Strom®).
Die Feldzüge wurden fajt immer im Winter unternommen.
Heinrich fagt ausdrüclich, daf die Heiden meift um die Falten
zeit, alle im Februar, ihre Seerjahrten anzufiellen pilegten®).
Der Mangel an Hcerftraßen, die viefigen unducchdringlicen
Wälder md vor Allem die vielen unpafiirbaren Moräfte machten
einen Feldzug in einer anderen Jahreszeit, als im Winter, mo
Schnee und Cis natürliche Wege ihufen, böchit jchwierig, nanz
befonders foldhe Unternehmungen, bei denen, wie wir fehen werden,
nelfigfeit der Bewegung die Snuptfade war. Sogar die deutichen
Eroberer unterwarfen fh aus diefen zwingenden Gründen den
Unbitden eines Winterfeldzuges"), auch fie haben ihre größeren
Unternehmungen meift im Winter ausgeführt.
Das Heer bejtand bei den meiften Völferfchaften aus Neiterei
und Fuhvolt. Als Neitervolf werden die Yithaner bejonders
hervorgehoben, doc) jcheinen fie ftets auch Fuhvolf auf Schlitten
mitgeführt zu haben >). And) die Keiterei der Chiten, vor Allen
der Defefer und Jerwier, wird vieljah genannt. Lithauen,
Tefel und Jerwen zeichen fich ja and) heute noch durch) erde
. vielleicht ein alte
a Hes Wort;
Heeresfolge bis ins 16. Jahrh. gebräuchlich
a a 0,1. Die Ghronit Heinridis
berichtet aber auch von zahlreichen Unterneymungen im den andıen \ahresjeiten.
Nic jelten werden dann die Schwisrigfeiten beiont, weldhe dar die ungünitig:
Fabreszeit entitanden,
+) gl. Ebenda 2.
>) Ebenda 9,1 11
Jerwier:
Dorpat 1
210 Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahr.
zucht aus. Bei den Yettgalfen erwähnt Seinvid) mur des Fufvolteo)),
wie er überhaupt von bieier fricdfertigen Nation, die id folert
den Deutfchen anfchloi, weniger friegeriiche Einzelheiten niebt,
do.) wien wir auo der fol. Neimchronit, da and) bei ihnen, jogar
bei den Frauen, die Zitte des Neitens verbreitet war. Bei vielen
germaniicen Stämmen gab es befanntlic) eine aus Neiterei und
Fuhvolf zuiammengejegte Truppe. Der Fußgänger flammerte fc,
an die Mähne des Pferdes oder ja unter Umftänden hinter dem
Neiter auf, wodurd eine große Beweglichkeit diefer gemilchten
Truppe erreicht wurde. Von einem joldhen Brauche finden wir
bei den livländiichen Eingeborenen feine Spuren ; cs jcheint da;
zur Erhöhung der Marichichnelligkeit das Fuhvolf anf Schlitten
gelegt wurde *).
Die Bewaffnung war mangelhaft; fie bejland mit Aus:
nahme des Schildes in Trubwaffen, jo dah Heinrich die Ein
geborenen wiederholt „ungenappnet” (inermes) nennt. Der
Scpild, welcher bei den Tefelern zwei Dial erwähnt wird und and)
fonft gelegentlich bei Yiven und Letten, war wahrjcheinich nur aus
Holz oder aus Fledhtwerf und Leder). Die Schitde der Kuren
werden ms genau beichrieben; fie beitanden aus höfgernen Tafeln,
zufammengejegt aus zwei Brettern und gejtügt durd) eine hirten
ftabartige Nenle >). Bon den Truswarlen wird am häufigiten die
Lanze erwähnt, die in der Schlacht meilt als Wurfipieh gebraucht
wird; daneben giebt co beiondere Wurfitäbe oder Wurffenten 9.
Die zweite Sauptwaife war das Schwert. Die Cefeler, deren
Ariegsweile uns am Ansführlichiien gejehildert wird, führten ferner:
33 14, , dagegen Neinchran. 3. 9230. Vielleicht it Meint. Chran. Lyv.
23, feftiiche Neiterei gemein.
2) Ebanta 9, 4 vgl. obs
*) Ebenda 7,5 10,
4 Gbsnda 15,5 2
Schild aneinander.
Srieqswefen der alten Dejeler, Arengburg 10
ühauer.
und Ehften),
=, Lat. ach I. d. Holpmayer „Ciitiana 1. Das
14 (nad) Heinr.
Tefcter
emgalten
v Yühauer. HI
>, mo die Wurf
Chrom. Ly
uten (,„Flupl
19, Na. Hemdhron. U. 1
erwähnt werden.
Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh. au
KReufen, Beile, Bogen und Steinichleudern !), deren Gebrauch wir
aud) bei den übrigen Wölterjchaften vorausiegen Fünnen.
Die Qualität der Waffen muß; jehr gering gewejen jein; fie
werden von den Dentichen nicht einmal als Beute betrachtet ?).
Größtentheils beftanden fie aus Holz und Eifen, doch fönnen wir aus
Funden in Heidenburgen und auf dem Schladhtfelte von Karnıel
11266) idließen, daß noh im 13. Jahrhundert Etreitärte aus
Stein gebraucht worden find). Sobald ces der prähifterifcen
Forfhung gelungen jein wird, die zahfreichen Funde aus Gräbern,
Heidenburgen und jog. Sökfenmöbdingern hronofogiic) und ethno-
Io, wirklich fiher zu beitimmen, wird unfere Nenntnifi der
Waffen und Geräthe noch bedeutend erweitert werden. Bis dahin
müfjen wir uns mit dem Wenigen aus Heinrid6 Chronif begnügen.
Nachdem fich das Heer an einem zuvor beftimmten Orte,
etwa einem gröferen Dorfe oder einer Yurg verfammelt hatte,
rüdte man ohne bejondere Ordnung, jolange man in Sreundestand
marichirte, vor. Auf der legten Najl, in der Nähe der feindlichen
Övengen, ordnete fi dann das Heer !). Heinrich ment biefe
Verjammelungs: und Lagerpläge mit einem autochthonen Worte
maja“, was uriprünglic) jowohl im Lettiichen als im Ehfinifchen
Heimjtätte, Haus bedeutet ’).
War das Heer geordnet, fo galt «0, jo fchnell wie möglich
in das feindliche Gebiet einzufallen. Diefes war nicht fo einfach.
Meift umgaben breite Wald- umd Eumpfgürtel die Siedelungen.
66 gab nur wenige und ichmale Wege, die außerdem hänfig durch
r. Chron. Lys. 18,5 Neule telava) und Dei, Yogen und
2) Ebenda mo bios die Waffen der mit den Ehiten verbind:ten
Auffen als Beute angefehen werden. Dagegen 9, , werden auch) die Wajfeu der
Kirhauer als Beute betrachtet.
3) Dt. Gremingl, und. di. Holzmayer „Ciiliona 1.” &. 9
EN: 61. Dgl. auch: 2. Schn „Nufturpflangen und Hauschisxs in ihrem Uebsrgug
aus Aien nad) Europa.“ Werlin 187 Ein
# Heine. Chrom. Ly =
3) Ebenda 1b: Zr ey. Ehftniich: maja
Serberge, Geimftätte, fioiich: mai und moi Kachtlage
von Yeirland Yiol. Ehromit S. 1d. Anm. u. Y M
di Beincich d. Setten &. 11.
Teniich: mahja Hans,
Aal. &. Pabit, Heineihs
Eiten und Eiten
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
tiefen Schnee die Fortbewegung des Heeres hemmten, indem fie
die Nrieger zwangen im langer Neihe, einer hinter dem andern,
einherzuziehn Y). Zudem wurden die Ausgänge der Wege burd)
Wächter und Kumdfehafter nebütet *. Entdedten dieie rechtzeitig
den Anmarjc) der Feinde, jo eilten fie in die Dörfer der Ihrigen
und ihr Warnruf verbreitete fidh val) von Dorfzu Dorf. Gelang
5 aber den Feinden die Wächter zu überrumpeln oder gleichzeitig
mit ihnen in die fer einzubringen, To begann ein chredliches
Vlutbad. Unbarmperzig wurden die Männer niedergemegelt,
Weiber md Kinder gefangen, die Höfe niedergebrannt, das Lich
fortgetrieben, Alles, was ivgend Werth bejah, geraubt. Schnell
verbreiteten fid) die Sieger über das Land, alle erreichbaren Dörfer
wurden ausgeplündert und von Grund aus verm
Nach gethaner Vlutarbeit verichwand der Feind jo ihnell, als
er gefommen war. In langem Zuge, die Gefangenen in der Witte,
die Beute auf Schlitten verpadt, ging es eilig hinaus aus dem
überzallenen Gebiete, denn das duch Beute beihwerte Heer hatte
alle Urjade einen Ueberjall der dem Schwerte Entronnenen zu
fürdten. Diefe, welche nur ihr nadtes Leben gerettet hatten,
warfen fih, von Nade und Ylutgier dürjtend, au) die Heim-
sichenden, iperrten ihnen durch) Verhaue die Ichmale he md
überfielen die in fnchterliche Enge Zufammengefeitten im Nücten
und von allen Zeiten”). Bei diejer Gelegenheit tödteten Die
Ueberfallenen gewöhnlich ihre Gefangenen, da diele in Nampf und
Flucht nur hinderfih waren, ja fogar gefährlid werden founten,
wie wir aus der Erzählung Veinridys von den Weibern der Jerwier
entnehmen, welche 1220 von den Teielern gefangen genommen
waren, fi während eines folchen Weberfalls befreiten und die
verwundeten Feinde mit Nnütteln erichlugen 9. Gewöhnlich aber
gelang «8 den Näubern unbehelligt Heimzufehren, denn, war der
hpendia) D,2. Weg längs
u Gije des Meeres 18, ,
19,80
„enstodes viaranı
BEE
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 243
Naubzug fchnell ausgeführt, die Feinde ungewarnt überfallen
worden, fo hatte man bie wenigen überlebenden Flüchtlinge nicht
zu fürchten.
Frohlocend fchlug das fiegreiche Heer feine maja auf heimatl)
lichen Boden auf. Dann wurde die Beute an Gefangenen, ich
und fonftigen Werthgegenftänden geteilt, wobei die Aeltejten
ohne Zweifel den Löwenantheil erhielten, und jede Schaar zog
heim in ihren Gau’). Zunädjit aber fonnte man fid) nicht ficherer
Kube hingeben, denn aller Wahricheinlichfeit nad) unternahm der
heimgefuchte Stamm noch in derjelben Jahreszeit einen Nachesug.
Den MWächtern der Wege wurde verdoppelte Aufmerfjamfeit
anempfohlen, die Wege felbit duch Verhaue geiperrt, die Burgen
in Xertheidigungszuftand nefegt, Weiber, Kinder und Vieh in
denjelben geborgen ?). (Fortfegung folgt.)
%) Ebenda 12,4
2 Ebenda 12,4 1b; Urs Ira
I 2
Typus und Judividunm in der Litteratur.
Saffen wir Sefchichte in der Bedeutung von Entwidelung,
To läßt ich jede hiftoriiche Wiffenichaft in diefem weiteren Zinne
in zwei Theile zerlegen: 1) in einen rein geidjichtlichen Theil, der
den Gang der einzelgeichichtlichen Entwidelung idildert, und 2) iu
einen allgemeinen Theil, der die allgemeinen Ericheinungen zufammen
jaffend behandelt, die Gelege jucht und auiftellt, die in der be
treffenden einzelgeichichtlihen Entwideling bemerkbar find. Wan
Fönnte einen jolchen allgemeinen Theil die Philofophie der dazu
gehörigen Geichichtowitfenichaft nennen, wie ja auch die Bezeihmng
„Pbilofophie der Sefcichte” feit Herder häufig gebraucht wird.
Ebenjo fönnte man aud) von einer Philofophie der Kultwrgeihichte,
der Runftgeichichte, der Sprachgefdjichte u. i. w. veden. Aber ein
Ausdrud wie „Whilofophie“ in obigem Zufammenhange it zu
verjchwommen, zu vieldeutig und zu leicht mihzuverjtehen, als dal;
man ihn ohne genauere jsbejtimmung jchlechthin gebrauchen
Fönnte. Denn z.B. unter „Mhilofophie der Gefchihte” werden
gewöhnlich nicht die in der Gejchichte enthaltenen Entwidelungs-
geiege verjtanden, jondern vielmehr die allgemeinen Lehren, die
Nuganwendung und Wioral, die fid as dem Gange der geichicht
lichen Entwictelung erichliehen Iafien. Ein Ansdrud wie „Rhilojophie
der Sprachgeichichte” Fönnte leicht mit „Sprachpbifoiophie” verwedhielt
werden, während beides dad ganz verichiedeng, jtreng auseinander
zuhaltende Bearifie find. Erftere befot fich mit den fid in der
Topus und Jndividumm. 245
Sprachgeichichte zeigenden Entwicelungsgeiegen, (e&tere behandelt
die allgemeinen Eriheinungen, die allen Sprachen, ganz abgefehen
von ihrer geichichtficen Entwicelung, gemeinfam find. Mit andern
ten, die Spradp)ilofophie it weniger die Wilfenfchaft von ben
Gejegen des Werdens, der Entwidelung in der Spradje, fondern
eher die Wijjenichajt von den allgemeinen CErideinungen des
ipradlien Seins, wenn der Ausdrud erlaubt if. Jene Willen
haft von den Gejeken des Werdens in der Spradie fönnte man
zum Unterihiede von der Sprachphilofophie, und um überhaupt
den vieldeutigen Ausdrud „Khitejophie” zu vermeiden, im Anfchluf
an den (Sermanijten Prof. Hermann Paul in München, beifer
die „Brinzipiemwiffenicaft der Spradhgeichichte” nennen. Pant
hat in feinem Werke „Prinzipien der Spradigeichichte” für dieen
allgemeinen Theil der Spradwviiienihaft eine neue vortreffliche
Grumdlage geihaffen. In entiprechender Weije wäre aud) zwiiden
der „Prinzipienwiffenichaft der Nechtsgeichichte“ und der Ned)ts-
pbilojophie, oder der „Prinzipienwifienichaft der Nunftgeidhichte”
und der Kunftphilojophie zu unteriheiden, und auch die Literatur
geidjichte liehe fh jo in einen bejonderen Theil, die eigentliche
Litteraturgeichichte, md einen allgemeinen, die „Prinzipienwifien:
ichaft der Yitteraturgeicichte”, zerlegen, welche Leptere fid) zur
Poetit ebenfo verhält, wie die „Rrinsipienwifienichaft der Sprad)-
geichichte” zum Sprachphilofophie u. j. w.
Bisher it man bei der Vetradhtung der allgemeinen in der
Kitteratur hervortretenden Erfdeinungen und Gefidhtspunfte viel
zu sehr ausjcliehlih von der Aejthetit ausgegangen, und hat
dabei außer acht gelafien, da; badurd) ein — id) möchte jagen —
fremdartiges Element, ein Element, das in der Kitteraturgefchichte
als jolcher nicht enthalten ift, von außen in diefe Hineingetragen
wird. Denn bie Aejthetit als die Lehre von den Gefegen des
Schönen hat nichts mit den realen Erjcheinungen der Literatur
zu fchaffen, fondern ftellt ideale Forderungen an diele. Die auf
die Yitteraturgeichihte angewandte Aejthetif unterfucht die Werte
der Yitteratur nicht daraufhin, wie fie find, jondern daraufhin,
wie fie fein jollen; fie mißt deren Werth an dem Wiahjtab des
fi) aus den Gefegen des Schönen ergebenden Jheals. Neben
und unabhänaig von diefer äfthetiihen Betrachtung der Litteratur
Topus und Jndividunm.
ift eine andere Art ihrer Vehandlung durdans berechtigt, ju
nothwendig, die nichts von aufen her in fie hineinträgt, fondern
gerade umgefehrt, von innen heraus, aus den Ginzelheiten der
litteraturgeicichtlihen Entwicelung, die darin enthaltenen allge
meinen Gefihtspunfte und Gejepe hervorfucht und Tammnelt.
Auf diefem Wege kommen wir zu der fdon oben erwähnten
„Brinzipiemoiifenfchaft der Yitteraturgeichichte”. Sie ijt eine
mod zu begründende Wiffenfhaft; wir befinden uns hier auf
einem noch jehr wenig angebauten, fait jungfräufihen Boden.
Die folgenden Ausführungen follen ein feiner Beitrag zu dieier
neuen Vetrahtungsweife fein.
Ehe wir nun zu dem eigentlichen Thema übergehen, ill es
vor allem wöthig, fi darüber Alar zu werden, mas überhaumt
unter einem Typus zu verfiehen jei. Vor einigen Jahren Ins
man in den Zeitungen von einem interefianten Werfudh, der in
Amerifa gemacht worden ift, je dreißig ober mehr Perfonen von
gleicher Verufsart auf diefelbe Platte, immer ein Bild auf das
andere, photographiich aufzunehmen, und auf diefe Meile ein
Turchichnittsbild aller jener Vertreter des betreffenden Berufes
zu gewinnen. Das fo hergeftellte Bild enthielt, in rohen und
groben Umriffen, nur die Züge, die allen photograpbierten Perfonen
gemeinfam waren, während alle andern nur für den einzelnen
eigenthümlichen Züge als unweientfich wenfallen mußten. Die in
dem Durdichnittsbild vorhandenen find die für den betreffenden
Stand typiihen Züge, die in Wegfall gefommenen imdi
vidwelle Züge. So gelangen wir zu dem Gegenfage ywiichen
dem Topiichen und dem Jndividuellen, der das Hauptthema unjerer
Unterfuhung bildet.
Auf die focben geichilderte MWeije verfuchte man die Durd)
jchnittobilder von Srzten, Lehrern, Seeleuten u. |. w. zu erhalten.
Ie mehr Perfonen bei diejen Verjuchen natürlich innerhalb
des WVereihes der tehnifchen Mtöglichteit - auf jedes einzelne
Bild famen, defto cher fonnte man diejes auch wirklich als ein
von allen individuellen Zügen freies Durchichnittsbild der betreffenden
Verufsart anjehen.
Tbiges Verfahren dient vortrefflih zur Veranihanlidung
dejlen, wie wir uns das Entjtehen eines neuen Topus in ber
Topus und Jndividuum. 247
Eitteratur im Geile des Dichters, deiten Ichöpferiiche Thätigfeit
bei der Aufitellung eine folhen Topus, zu denfen Haben. Diejer
Vorgang auf geiftigem Gebiete entipriht jenem mecjaniichen
Verfahren recht genau. Der Topus in der Yitteratur entfteht in
ganz ähnlicher Weile, indem bei einer Neibe gleichartiger Individuen
alle rein iudividuellen Charakterzüge ausgeichieden, und nur die
allen gemeinfamen Cigenthümlichteiten beibehalten werden. Der
DVegriff des Typus läßt fi aljo mit dem natwwiilenichaftlihen
Vegriff der Gattung vergleichen. Aber während diefer ein rein
abjtrafter Sammelbegriif it, gewinnt der Begriff des Topus ihm
gegenüber dadurd) an Fonfretem Anhalt, dal; beim Typus alle der
betreffenden Menichengattung gemeinfamen Eigenthümlichfeiteu in
einer Berjönlidfeit vereinigt werden, gleichiam Sleiich und
Blut annehmen. Man Eönnte den Typus eine perjonifigierte
Gattung Mlenfchen nennen. In genauerer Weije fiefe fid) der
Begriff des Typus etwa folgendermahen definieren: ein Typus
in der Yitteraturiftderin einer Berfönlidfeit
dargejtellteinbegriff aller der&igenthümlid:
feiten, die einer ganzen Neihe von in irgend
einer Beziehung gleidartigen menidliden
Individuen gemeiniam find... Je nad der Be
Äaffenheit diejer gleichartigen Individuen Tann man unteriheiden
zwijchen Standes: und VBerufstypen, Nationalitätstypen, Charakters
typen, Alterstypen und Seichlechtstypen. Alle diefe verjchiedenen
Arten von Typen lafien fid) wieder in zahlreihe Unterarten
zerlegen; außerdem Fönnen auch mehrere Arten von Typen in
einer einzigen Werjönligjfeit vereinigt auftreten, wie wir ned)
weiter unten fehen werden, Ferner laffen ic die Typen eintheifen
in jolhe von allgemein menjhlider Art, die zu allen Zeiten und
an allen Orten denkbar md möglich find, und in Typen, die
bloh eine durd) rein zeitliche oder örtliche, oder zugleich zeitliche
md örtliche Züge begrenzte Bedeutung Haben. Die leptere Art
von Typen fann feinen allgemeinen Werth, jondern hödhftens ein
gewiijes Fulturgeichichtlicheo Zutereife beanipruchen.
Für alle in den verichiedenen Yitteraturen auftretenden
dichterijchen Geftalten giebt es zwei Dauptarten von Quellen,
nämlih 1. unmittelbare uud 2. mittelbare Die
248 Typus id Imdioibunm.
unmittelbaren Quellen der Yitteratur zerfallen wieder in a) cine
innere unmittelbare Quelle: die didbterifde Ein
bildungsfraft und b) cine äußere: das unmittelbare
den Dichter umgebende Leben. Die mittelbaren Quellen lajien
fich aud) wieder in zwei Unterabtheifungen zerlegen, in a)direft
übermittelude: die (ichriftliche oder mündliche) geihictliche
Weberlieferung und b)indireft übermittelnde: durcd
die Yitteratur überlieferte Vorbilder, die jelbit
auf irgend eine andere Pitteratuquelle zurücgehen fönnen.
Dichteriiche Gejtalten, die jo aus der Yitleratur jelbjt abgeleitet
find, find afjo gleichjam als potenzierte Yitteratmwgeftalten anzuichen.
So erhalten wir im ganzen vier Quellenarten, je nachdem die
Gejtalten der Yitteratur freie Dichteriiche Erfindungen, oder aus
dem „vollen Mtenjchenleben“ jelbit gegriffen, oder Darjiellungen
von geihichtlichen Perfönlichkeiten, oder endlich Nachahmımgen
irgend welcher litterariicher Vorbilder find. Meine dichteriiche
Geftalt Läht fi mır auf eine von diefen Quellen allein zurüführen ;
jtets fönnen minbejteus zwei nachgewieien werden; in den aller:
meiften Fällen taten fih aber drei von diejen Quellen zugleich
annehmen oder feititellen. Auch die unbedeutendite und geijtloieite
Dieptung, das armielige Machwert irgend eines Nadıtreters
jelbjtändigerer Geifter, muß, wenn co nicht bloe Abichrift eines
fremden Miufters ift, einen wenn aud) noch jo fleinen Bejtandtheil
eigener Erfindungsgabe des Lerfaflers enthalten. And) die
phantaftifchite, unglaublichite, abjtwaftefte Geftalt, die je einem
Dichtergehirn entiprungen ift, fnüpft in irgend einer Vezichnng
an die Erfahrung und fonit an das wirkliche Fonfvete Leben, oder
an irgend eine geichichtliche oder jagenhafte Uebertieferung an.
Auch der originellfte und jelbjtändigite Dichter ift in Form und
Inhalt feiner Dichtungen mehr oder weniger an gewife in feiner
Nunft vorherrichende Ueberlieferungen gebunden, und jomit von
litterarifchen Vorbildern abhängig. Keine Geftalt aus der Geidhichte
Ült ganz ohne weiteres für die Zwede des Dichters zu gebrauchen;
fie Läht fi nicht einfach aus der Gedichte abichreiben, jondern
erfährt auf dem Wege von der Gefdhichte zur Dichtung verichiedene
wenn auch oft mr unbedeutende Veränderungen, Yujäße oder
Weglaflungen, die durd) die Perfönlichteit des Dichters und feine
Typus md Inbividinm. 249
fubjeftive Auffaflung, oder durch die aus der Weberlieferung über
fommenen Nunjtgejege der betreffenden Didyiungsgattung bedingt
find. Die geihichtlihe Geitalt bedarf aljo and, um in ber
Litteratur verwerthet zu werden, der Mitwirfung dichteriicher Phantafie
oder litterariicher Vorbilder.
Wenn aud), wie jhon erwäßnt, in jeder in einem Literatur:
denfmal uns begegnenden Geftalt fid gewöhnlich drei von jenen
Quellen vereinigt finden, eine joldie Geftalt alio alo das gemeiufame
Produft dreier Faktoren anzujehen it, jo ift dad) die Stärke und
der Grad der Velheifigung diefer Faktoren an ihrem Probuft auf
den verichiedenen Entwidelungsftufen der Yitteratur ehr verichichen.
In jeder Yitteratur pflegt, bevor ein einzelner Dichter über:
haupt auftritt und auftreten fann, eine Zeit der Volfodichlung
vorauszugehen, in der der Antheil des einzelnen an dem bichteriichen
Schaffen fid) ebenjo wenig nachweiien Läht, wie der einzelne
Tropfen, der in den Kluf fällt, im großen weiten Meere; wo das
ganze Volt dichtet, wo aud) die jubjeftivfte aller Dichtungsgattungen,
die Eyrit, nur den Gefühlen einer ganzen Volfomajje Ansdrud
giebt, ohme die allergeringiten individuellen Züge. Die Iyriiche
Digptung einer foldhen Zeit beiteht aus Gebeten, Opferiprücen
u. j w., die Prieftermund vor verfanmmelter Menge, oder diefe
jelbjt zu ipreden pflegt. Auf der Grundlage diefer allgemeinen
Volks: und Majlenpoefie ift überdaupt erjt eine individuelle Dichtung
möglich, die fich zuerit nur jchüchtern hervorwagt ımd mod ganz
in den Formen jener allgemeinen Bolfopoefic befangen ill, all-
mählich aber jid) von ihren feiten ftarren Formen Loslöft, immer
feder und jelbjtändiger auftritt und die einzelne Berjönlichteit
immer mehr zur Geltung fommen läht.
Und jo find wir wohl berechtigt zu jagen, jo widerfimnig. es
auch anfdjeinend Elingen mag: je voher und unentwidelter eine
Kitteratur it, deito größer ift die Abhängigkeit des Dichters von
litterarifchen Vorbildern, von überlieferten Formen ; deito weniger
Spielraum hat feine eigene Erfindungsgabe ; dejto weniger ijt co
ihm auch möglicd, feine Seftalten unmittelbar dem Leben, unbe
einflußt durch andere Litteraturdenfmäler, zu entnehmen. Zwar
it das Menichenfeben zu allen Zeiten und auf allen Nultwjtufen
reich genug an mannigfachen erzweigungen und Gejtaltungen,
250 Topus und Individuum.
um, wo man's aud packt, intereifant zu fein und jich fitterariich
verwerthen zu lajlen. Und dad) ift ein jolder Griff ine volle
Venicpenteben durchaus nicht zu allen Zeiten möglich. Im fiebjchnten
Jahrhundert, zu einer Zeit, alo Shakipeare die engliiche Yitteratur
ichon fängjt auf den Höhepunft ihrer Blüte gebradht hatte, hätte
aud, ein Dichtergenius höchien Nanges fid) in Deutichland durd)
die nod) jo ungehobelte deutihhe Sprache, und die noch jo wenig
ausgebildete litterariiche Technik beengt und an hohem luge
behindert gefühlt. So lange die Korm noch fo große Schwierig
feiten macht, läßt fi der Inhalt noch nicht reich und tief genug
getalten; und erit wenn die dichteriiche Gejtaftungsfraft j—hon eine
hohe Entwicelungsitufe erreicht hat, Läht jid das unmittelbare
Leben jelbjt wirklich ausgiebig und ganz meingeihränft als reichite
fitterarifche Quelle. verwenden.
Gine geihichtliche Perfönligpfeit unbefangen zu erfaiien und
objektiv zu jhitdern ift ebenfalle unmöglich zu einer Zeit, wo die
Literatur fid mod) anf einer rohen Anfangoftuie befindet. Zu
einer folhen Zeit ftedt aud der begabte Dichter noch ganz in
den engen Anjchauungen feines eigenen Volkes und feiner Zeit,
und ein aud nur annähernd richtiges Verftändnis für fremde
Eigenart und fremdartige Verhältniie it ihm unmöglid. So
erflärt eo fid) leicht, daß der Dichter des altniederdeutichen Gedichtes
„Seliand“ im neunten Jahrhundert Chriftus darjiellt wie einen
mächtigen deutichen Herricher; die zwölf Apoftel werden unter den
Händen des altdeutihhen Dichters ganz von felbit zu zwölf edlen
Miannen, die auf der Burg ihres Heren wohnen und ihm in
Treue dienen,
Ihrem Weien und ihrer Ericeimung nad) zerfallen alle in
der Yitteratur dargeitellten dichterifchen Gejtalten in zwei grohe
Gruppen, in Typen und in Individuen. Bei Dielen
beiden Gruppen, deren Vertmale und Unterjdiede wir fhon oben
beiproden haben, find nur die beiderfeitigen äuferiten Endpunfte
reine egenfäge; eine jdarfe Grenze zwiiden beiden Läht fh nur
in theoretijcher Vegriffobeftimmung ziehen, ift aber thatjächlich
nirgends vorhanden. Es giebt cbenfowenig ganz veine abjohıte
Topen, ohne irgend welcye individuelle Yeimengung, wie es abfolute
Zndividuen giebt, die gar feine mit andern gleihartigen Weien
Tppus und Individuum. 251
gemeinjamen, aljo Ippiichen Eigenschaften bejigen. ITupen ganz
ohne indivibnelle Züge wären beim Zugreifen in nichts zerilichende
wejenlofe Schemen ohne feite Formen und deutlich erkennbare
Umriife, blofe abjtrafte Mlegorien, wie bie alo Perfonen auf:
tretenden Tugenden und Yajler in der „Dioralitäten” genannten
Dramengattung des franzöftichen und engliichen Mittelalters; ihre
Worte und Handlungen wären genau jhematifch vorgejeichnet umd
rein fchabfonenhaft. Kurz, einem folhen Typus würde alles das
fehlen, was für eine Perfönlifeit weientlic it; die Eigenfchaft
der Perfönlichkeit aber, die, wie wir oben gejchen haben, ein
nothwendiger Bejtandtheil des Topuobegriffs it, macht co unbedingt
erforderlich, da jeder Typus wenigitens mit einigen individuellen
Zügen ausgeitattet werde. Gerade diefe und nur dieje find das
wejentlihe Vierfmal der Perjönlichkeit; fie allein rufen aud am
Typus den Eindrud der Lebenswahrheit in uns hervor. Noch
viel weniger ift ein Individinm denfbar ohne wenigitens einige
Eigenichaften, die fid) auf eine Allgemeinheit beziehen laffen, ein
Individunm, das fih nicht in irgend einer Hinficht mit ähnlichen
Wejen vergleichen Läht und fomit tppiiche Eigenchaften an jidh
hat. Wenn wir aljo zwiichen Typen und Individuen untericheiden,
jo hat eine joldhe Untericeidung nur velative Bedeutung, indem
bei einigen Geftalten in der Literatur die typiichen, bei andern
die individuellen Züge vorherrichen.
Hier bemerken wir mm bedeutfame Unterjchiede in dem
Verhältnis der verichiedenen Yitteraturgattungen zu dem Typiicen
und dem „Judividuellen, Unterihiede, die in dem jen der ein:
zelnen Yitteraturgattungen begründet find: die tupiichen Gejtalten
überwiegen in den Litteraturgattungen, die das Leben des gewöhn:
lichen Durcichnittomenjhen zum Gegenftande haben, aljo im
jogenannten „bürgerlichen“ *) Drama, im „bürgerlichen“ Epos und
Homan. Ganz befonders wichtig find die Typen für alle Zweige
der fomifchen Literatur, joweit dieje das Alltagsleben behandelt.
= Ic gebrancge hier den Ausorud „bürgerlich" in Ermangehung eines
befferen, weil er fi einmal in der Yitteraturgsfhichte eingebürgert hat, und bes
merte dabei ausdrüdlich, dafı id damit nicht mur das Veben der mittleren
m d unteren Stände. fondern das Alltagsleben der Durdhiemittsnsnidhen über:
Hanpt, aljo ad, der oberen Gefetlihaftstlaffen, bezeichnen will.
Topus und Indivibunm.
In den Diehtungen aber, die ih auf geihiehtliher Grundlage
aufbauen, alfo im geihichtlichen Drama, im Seldenepos und im
geicjichtlihen Roman, find die Individuen in der Mehrzahl. Weil
die Sage nichts anderes üft, als die fid in dichteriiche Formen
Eleidende Geichichtsanffaflung eines no in den Anfängen der
NRultm ftedenden ganzen Volkes, oder in Tpäterer Zeit, auf höherer
Nultueftufe, nur der naiv denfenden und empfindenden unteren
Loltsihichten, find auch die in der Yitteratur auftretenden jagen:
haften Perjönlichfeiten eher zu den Individuen als zu den Typen
zu rechnen.
Die Urfachen für dies Ueberwiegen der Topen einerfeits,
der Judividuen andrerfeite find Leicht aufsudeden. Als Helden ber
Dichtungen, die ihre Stoffe der geidichtlihen Neberlieferung ent:
nehmen, werden meijtens die großen Gejtalten der Geihichte ver
wandt. An einer großen Perjönlidfeit intereffirt uno
aber gerade das Indiwidmelle, theilo weil diefeo gerade fie
vom Durcchichnittsmenfchen unterideidet, und den Nern ihrer
Sröhe ausmacht, theils weil auch das, was an ihr gewöhnlich
und unbedeutend ift, durd) den Glanz, der von der ganzen Per-
fönlichteit ausjtrahlt, mitverklärt, durd) die mächtige Wirtung der
aelammten Perfönlichleit in eine höhere Sphäre emporgerüdt wird.
Uimgefehrt intereffirt uns der Alltagomenicd als Individuum
garnicht; mu diejenigen Leiten jeines Wejeno ziehen ımjere
Aufmerfiamfeit an, in denen wir irgend eine Beziehung anf eine
Allgemeinheit endeten fönnen, aljo, mit andern Worten, an einem
undedeutenden Menichen find mur die typiichen, nicht die
individuellen Eigenschaften allgemeiner Beachtung wertb.
Much der Hleinfte Zug aus Viomards Leben, jedes Wort,
das er jpricht, und jede wenn auch noch jo alltägliche Handlung,
die er vornimmt, wird in der Prejle ausführlich berichtet; alle
Schilderungen, die mit feiner wuchtigen Perfönlichfeit in Zu:
fammenhang jtehen, dürfen fiher fein, ein millionenfaches Leie-
pubfitum zu finden. Ein gewöhnlicher, den Durcihnitt in feiner
Weife überragender Tagelöhner wird hingegen die Aufmerkjanteit
weiterer Nreiie Faum in irgend einer andern Hinficht feileln
können, alo infofern er fic alo fogialer Tupus auffajlen und
verwerthen läht.
Topus und Individinm. 253
Im Alltagsleben find co gerade die Fehler und Schwächen
des einzelnen Dienjchen, die id) am cheiten und leichteften auf
eine Allgemeinheit beziehen Inffen; gerade diefe fallen dem Be
trachter des großen menichlichen Ameiienhaufens als heruo hedjenne
gemeinfame Eigenthümlichfeiten all der vielen Einzelwejen zuerit
und am jtärkiten auf. Die menihlihen Fehler und Schwächen
eignen Sich jo ganz bejonders zu einer tppiicen Behandlung.
Nein Wunder, dab gerade der Zweig der Pitteratur, der alle jene
Fehler und Schwächen zum Gegenitande hat, fie entweder mit
bitterem Spotte geifelt, oder fi mit guimüthigem Humor über
fie (ujtig macht, fein Wunder, dal; gerade die Fomiide Kitteratur
an tnpijchen Geitalten am reichiten. üt.
Aus dem Obigen Läht fi mun die dund) Erfahrung
gewonnene Hegel aufitellen, daf; der bramatifche, epiiche, ober
Romanheld, wenn eine bedeutende Perfönlichfeit in ihm dargeftellt
werden foll, möglichft veid) mit individuellen Zügen ausgeftattet
jein muß, um eine jtarfe Wirkung auszuüben. In den Zweigen
der dramatischen und epichen Dichtung aber, die ihre Stoffe aus
dem bürgerlichen und Volfolcben idöpfen, ganz bejonders in der
fomiihen Yitteratur, joweit ihre Gejtalten dem alltäglichen Leben
abgelaujcyt find, find eie tppiichen Charaktere am wirkjamften.
Hier joll oder darf das Typiiche über das Individuelle überwiegen;
die feine Nunft des Dichters zeigt fich aber gerade hier in der
richtigen Mifhung beider Elemente, da der Typus einen Zujak
von individuellen Zügen, wie icon hervorgehoben wurde, bio zu
einem gewijlen Grade nicht entbehren Fann, um den Gindrud der
frifchen Lebendigkeit, der Perfönlichfeit mit Fleiih und Blut,
zu erweden").
Der Böfewiht war in der englijchen Yitteratur vor
Shafipeare eine durdaus typiiche Geitalt. Es it eine piychologiid,
merkwürdige Ihatjache, das unjere abendländiichen Aulturvölter
das Schlechte jo gern mit dem Fluch des Yäcjerlichen unfleiden.
&s liegt offenbar ein gewiffer Trojt für die arme, durch das Be-
>) Ein anderes Mitel, Einförmigteit in der Geitalung nleicheriiger
Topen zu vermeiden, üt ihre möglichit manniglaltige Spaltung und Scheidung
in Unterarten, wobei die verichiedeniten Gefihtspunfte und Eintheilungsaründe
von mehr oder weniger nebenfächlicher Bedeutung in Beradıt tommen tönnen,
254 Topus und Individuum.
mußtjein von Sünde und Schuld bedrücte und gequälte Menichen-
feele darin, fi über all dieo Elend mit überlegenem Humor
binwegzufegen, indem man die Figme, die nach chrütlicher Auf:
falung die Perfonififation und zugleich der Urheber alles Böen
in der Welt if, mit Spott und Hohn übergieht. So madıt der
Teufel in der mittelalterlihen Yitteratur des Abendlandes fait
immer einen durchaus läderlihen Eindrud. Man braucht nur
in die deutichen Volfsmärden einen Bit zu werfen, um zu
fehen, wie häufig er überliftet wird und in die Nlemme geräth.
Aus jolhen Vorjtellungen jiammen nody heute übliche Ausdrüde,
wie „armer Teufel“, „dummer Teufel“ u. w. Und feinem
ftändigen Begleiter in den engliihen „Moralitäten“, dem „Lafter”
(Vice) haftet die Cigenichaft der Fücherlichfeit nod) viel mehr,
und zwar in jo hohem Grade an, da; er allmählich vollitändig
zum Haupfträger der Komik, zur Auftigen Perfon des Stüces, und
Viee jchliehlih mit Clown und Narr gleichbedeutend wird. Erit
Shatipeare hat in feinem Nicard IL. den Vöfewidht zu einem
‚Helden nad) der fdlechten Eeite umgeitaltet, und ihn zugleich mit
feinem Verftändnis für die einem. Helden zufommenden Eigen
Ichaften jo reich mit individuellen Zügen verjehen, dah wir biejen
Richard IN. wohl als den bedeutendjten Böfewicht aller Litteraturen
anjehen dürfen. Wie der Held nicht als Typus gezeichnet werden
darf, jo it and der Böfewicht, der ja nur eine befondere Art
Held ift, nicht als Typus darzuftellen; denn ebenjo wie «6 zu
wenig ft, wenn wir von einer diehterifchen Sejtalt weiter nichte
lagen fönnen, als dah fie ein Held it, fo ilt au der bloße
Böfewicht ohne individuelle Eigenthümtichfeiten zu bla und farb:
105, um einer jtarfen md nachhaltigen Wirkung fähig zu fein.
Yon diefem Standpunft aus muß ein Franz Door, der alo einer
der beiden Haupthelden der „Näuber“ zugleich als Charakter der
Gegenpol des andern ift, verworfen werden, eben weil er weiter
nichts als ein Bölewicht und zu ehr Typus ift. Einen ähnlichen
Einwand fönnen wir gegen die Geftalt des Nago im „Othello“ erheben,
obgleich diejer nicht eigentlich als Hauptheld anzufehen ift. Andere
GSejtalten verwandter Art find also Wiifhungen von Held md
Typus aufzufaflen; jo it Ehnlod zugleich Völewicht md
Kaffentypus.
Typus und Jndividunm. 255
Als das hervorragenbite Veifpiel eines tragüichen Helden,
der durchaus Individuum ift, wäre vor allem Hamlet zu nennen.
Und zwar ijt diefer jo reich mit individuellen Zügen ausgeftattet,
dah fein Ween fait unerfchöpflich fcheint, daf die Auffafjung feines
Charakters je nad) dem individuellen Standpunfte des Beurtheilers
ad) ganz individuell veridjieden zu fein pflegt. Der Vegriff bes
Individuums ift reicher an Inhalt, der Begriff des Tupus reicher
an Umfang in logiihem Sinne. So mu das Individuum als
verwidelter einzelner Organismus einer viel mannigfaltigeren und
verfchiedenartigeren Veurtheilung unterliegen als ber allgemeinere,
leichter verftändliche Typus.
Als Veiipiel eines bedeutenden Typus im Charakter: und
Eittentujtipiel, das gegenüber der bfofen Sitnationstomit der
Pole oder des Luftipiels niederer Art den Gipfel dramatifcher
Komik bezeichnet, jei Tartuffe angeführt, der berühmtefte Typus
eines Heuchlers in allen Litteraturen. Sein Wefen erfdheint zwar
durd) Ort und Zeit begrenzt, denn ex ift nicht jchlechthin Heuchler
jondern ein echt franzöfticher Heuchler, und noch dazu ein Heuchler, wie
er nur in ber Zeit Ludwigs XIV. denkbar ift, und bad) enthält
diefer Heuchlertypus joviel allgemein menfchlice Züge, da er
auc aujerhalb Frankreide und noch heutzutage eine fprichwörtliche
Bedeutung befist. Vefanntejtes Beiipiel eines engliichen Heuchlers
üt Bedsniff in Didens’ Noman „Martin Chuzlewit”, ein
rein englifder unferer Zeit angehörender Typus. Da e6 einen
mobernen Heuchlertypus aufer in der eugfifden Kitteratur faım
giebt, fo läht fi annehmen, da nur in England die Heuchelei
fich gegenwärtig nod) der Prühe Lohne. Aus den Verfchiedenheiten
in den Peucjlertypen eines Tartuffe und eines Pedsniff lernen
wir, dah ein allgemeiner Typus, wie j—hen mehrfad angedeutet
wurde, wieder nach Zeit, Ort und andern Umfländen in zahlreiche
Unterarten zerfallen fann. So ergiebt fid für jeden ITnpus eine
unendliche Fülle von in Wejonderheiten fid) unterfceidenden
Erideinungsformen.
Während in den Trauer- und Schaufpielen, deren Mittel
punkt ein Held bildet, die Verwicelung dadurd) geichieht, dafs
diefer Held gerade infolge feiner Heldennatur mit feindlichen
Vlähten in MWiderftreit geräth, die der freien Entfaltung und
Typus and Inbividinmn.
Vethätigung jeiner kraftvollen Individualität hinderfic find, dreht
fid die Handfung des „bürgerlichen” Dramas nicht um einen
Helden im eigentlichen Sinne, und überhaupt nicht um einzelne
Individuen als foldhe; hier find cs meiftens die großen jozialen
Gegenjäge ganzer Gefellihaftsichichten, die aufeinander plagen,
wie z.B. in Scillero „Habale und Liebe‘, Standesvorurtheile,
ober Verfchiedenheiten der Weltanfhaunug, die die Werwicelung
herbeiführen. Daraus folgt, dah die Gejtalten des „bürgerlichen“
Tramas nicht mdividnen, fondern Topen fein mühlen, typüce
Vertreter eines bejtimmten Standes oder Berufes, oder einer
bejtimmten Geiftesrichtung. So ift 5. 8. der alte „Stadt
mufifant Miller“ in „Sabale und Liebe” ein wohlgelungener
Typus eines ehrlichen braven Mannes aus dem Bürgeritande,
der als joldher zum Opfer ariftofratiicher Anmahung und Willfür
wird. Der Nonful Bernid in Jbiens „Stügen der Gejell
Ächaft“ ift ein topifcher Vertreter der fogenannten „guten Gefellichaft“.
Ungefehrt im gefchichtlichen Luftipiel. Dier, wie im gefcjicht-
lichen Drama und Noman überhaupt, dürfen zwar die Neben:
perjonen mehr jfisziert als forgfältig gezeichnet, cher Tupen als
Individuen fein. Als Nebenperfonen nehmen fie unfer Interefie
weniger in Anjpruc, und wenn c6 nicht erfundene, jondern wirtlid)
geichichtliche Geftalten find, jo find dod) ihre Namen weniger
wegen ihrer eigenen Behentung, als durd) zufällige Unftände
der Nachwelt überliefert ; fie find nicht Hervorragend genug, um
ihr geichichtlicdhes Charakterbild dauernd vor dem alle jeharfen Um:
riffe verwißchenden Etaube der Vergefienheit zu bewahren.
find, mit einem Worte, feine Belden *). Aber die Hauptträger
Das Vorwiegen indipiduclfer Fnüpft fidh natürlich wicht an die
der Gefchichte entnommene Dichtung an fich, Fondern, wie ich nochmals nach
drüctlich Hervorhebe, wur infeweit dieje eine grole Perjönlichleit, eine Helden:
manır filvert. Daher fan das Judividuelle ac) cbenjo wohl bei Geftalten
hervortreien, die dem unmittelbaren Yeben entlchnt, oder frei erfunden find, wenn
wir mr diefe Geftaften als Helden auf 1 haben ie frei erfundene
Geftalten, freilich ohne eine fehr plaftiiche Cherafterzeichmung, find 3. 8. die
icen Wrüber Don Manuel und Don Cejar in Schillers „Yraut
ma“. Ganz emtfprecheud haben auch die inpiicen Geftalten wicht in der
Tichtung, oder in der Fomifchen Yitteratur als joldier ihren Pak,
jomdern nur im den Arten diefer Litteranirgattungen,
beidcn fei
Typus und Jndividinmm.
der Handlung im geibichtlichen Lutipiel dürfen feine Tppen fein.
Ein Typus it ja, wie id) ion Mar gezeigt zu Yaben glaube,
niemals das Abbild einer einzelnen Perjon, fondern einer ganzen
Gattung von Wienjchen. Jene Hauptperjonen wenigitens müjlen
Individuen fein; denn fie befigen ja, wenn fie aud) Fomifche Züge
an fi tragen mögen, docd die Cigenjchaften, die den Helden
ausmachen ; auferdem bietet die Gefchichte in den meilten Zällen
jo reichlien Stoff für die Veurtheitung ihres Weiens und ihrer
Eigenart, dah der Dichter fich Leicht aus der Gejchichte jelbjt ein
deutliches Bild von ihrer Perfönlichkeit macyen Fann. Als pafjendes
Beifpiel eines Helden im gefdjichtlichen Yujtipiel jei der König
Friedrih Wilhelm 1 von Preußen in Guskums
„3opf und Schwert” genannt, diejer gutmüthig polternde Soldateı
tönig, der dur und durch originelles norriges Individuum it;
denn ein Original ijt ftets durchaus Individuum, niemalo Typus;
der jo fomijch und dabei dod) nicht lächerlich ift; denn jonjt wi
er eben fein Held.
Der Unterfchied zwiichen der tnpiiden und der individuellen
Behandlung fällt uns bejonders draftiid in die Augen, wenn wir
„Wallenfteins Lager“ einerjeits mit den „Biccolomini” und
„Wallenjteins Tod“ anderjeits vergleichen. Dort das Alltagsleben
des Nriegelagers, nicht ohne Beimifhung von fomifcen Zügen,
das buntbewegte Leben und Treiben der gemeinen Soldaten; hier
die lange Neihe ihrer Führer, geichichtlid) befannter Perfönlichfeiten,
die als Freunde oder Feinde fid) um die alle überragende Bejtalt
des Hanpthelden gruppieren. So zeugt es von Schillers dichte
riichem Feingefühl, daß jeder einzelne Soldat des „Yagers” das
volfsmähige Abbild feines Iruppenführers it, die Soldaten
alioden individuellen Hauptdarafteren in den
beiden anderu Stücden nahgebildete Typen jind. Aud
die andern Perjonen des „Lagers“ neben den Soldaten, der
Bauer, der Bürger und der Napuziner, jind, wie don
aus diefen allgemeinen Bezeichnungen jelbjt hervorgeht, durchaus
npiiche Vertreter ihrer Stände. In den „Riccolomini“ und in
„Wallenfteins Tod“ aber, deren Gefialten der Gefeichte entlehnt
find, überwiegen jelbjtwerftändlich die Jndividuen. So jieht das
„Lager“ zu den beiden übrigen Theilen der Wallentein-Tritonie,
258 Typus und Individumm.
au was das Tupiiche und das Individuelle betrifft, in ähnlichem
Verhältnis, wie das „bürgerliche” zum geihiehtlihen Drama.
Gang entiprechend verhält fi) aud) das Heldenepos zum
bürgerlichen Epos. Auch im Heldenepos begegnen uns vorherrichend
Individuen; durdaus als foldhe find die homeriihen Helden
Achilles, TCdyfieus m f. mw. aufzufaflen, obwohl Neitor
eher als tnpifcher Xertreter des weilen Alters gelten fönnte,
Aehnlic) find auch die Helden der „Nibelungen“, Siegfried,
Hagen, Gunther und Geflalten wie Aeneas, Barzival
u. a. zu beurtheifen. Die Helden der grofien Volks: und Kunftepen
find alfo meift als Individuen anzufehen, wenn aud, oft die nod)
ungeibte Runft der alten Zeit eine fharfe tebendige individuelle
Chavakterifierung vermiffen läht, und wenn auch, befonders im
Volfsepos, der Schwerpunkt nicht in den Charakteren, jondern in
den Greigniffen liegt. Das „bürgerliche“ Epos jebad), als defien
herrliches Mujter Goethes „Hermann und Dorothea“ zu nennen
wäre, erjordert feiner Natur nad) vorwiegend typiiche Geftalten.
Der Wirth zum Goldenen Löwen und jeine Gattin
in dem genannten Epos find 5. ®. typiiche Vertreter bes gemüth-
vollen fleinbürgerlichen deuticen Lebens, und zugleich ein topiidhes
Eltern und Chepaar. Die jtrenge und leicht aufbraufende
Gemüthsart des Vaters jtcht hierbei zu der janften, verföhnenden
und vermittelnden Natur der Viutter in jhönem GSegenfag. So
find die fonjt gleihartigen Typen des Vaters und der Mutter als
Gejcjlechtstypen von einander gefondert. Dies it au, injofern
lehrreih, als wir daraus erjehen fönnen, da nicht nur ein
eingeitlicher Typus, wie der oben erwähnte deo Heuchlers, fid in
mehrere Unterabtheitungen zergliedern täht, jondern baf; aud) in
einer einzigen Perfönlidhleit mehrere Tnpen zugleid vereinigt
werden Tonnen. ehntidh find auch der Pfarrer umd der
Apotheker in „Hermann und Dorothea” nicht allein als
Verufstppen neben einander, jondern zugleidh aud als Charakter
typen einander gegenüber geftellt.
Die Gejtalten vieler mittelalterlichen Nitterepen nehmen
eine Mittelftufe zwiichen Individuum und Topus ein. Perfön-
licjfeiten wie Eref und Jwein bei Hartmann von Aue, oder
Willehalm bei Woliram von Gicenbad laflen fi als eine
Topus und Jndividunm.
Art Zwitterweien, halb als Helden im eigentlichen Sinne, halb
als tppiiche Vertreter des NittertHums auffajten.
Als Veijpiel einer feinen individuellen Charakterifit im
geihichtlihen Noman führe ich die meijterhaft gezeichnete Gejtalt
des Königs Ludwig Xl. von Frankreich iu Walter
Scotts Noman „Quentin Durward“ an. In der Periönlichfeit
diefes Nönige wird ums ein Charakter vor die Augen geftellt,
deifen geiftige Weberlegenheit über feine Umgebung gerade in bem
unföniglichen, geradezu ärmlicen Gewande, in dem der Stönig
aufzutreten fiebt, nur um fo jchärfer hervortritt. Er ift reich
an abjtohenden und widerwärtigen Zügen, oft Heinlich, und doc)
groß genug, um das Hauptinterejie des Nomans in feiner Perfon
wie in einem Brennpunkt zu vereinigen.
€s giebt aud) eine andere Art von geihichtlichen Nomanen,
worin der Dichter nicht an bejtimmte Perjönlicyfeiten der Gejdhichte
anfnüpft, jondern es ihm Hauptjäclich darum zu thum ifl, uns
überhaupt ein wahres und gefrenes Kultur und Sittenbild der
betreffenden Zeit barzubieten, wobei die Perjonen, deren Schicjate
erzähft werden, aud) ganz frei erfundene Geftalten fein fönnen.
Bei diefer Art des geicjichtlihen Nomans, die eine Brüce zwiichen
dem eigentlich geichichtlihen und dem „bürgerlichen“ Roman bildet,
ift aud) eine tppiihe Behandlung der einzelnen Perfonen möglic)
umd zwar deito cher, je mehr die einzelnen Theile des Romans
den Charakter von geicjichtlichen Genrebildern annehmen. Sierbei
fann man die frei erfundenen Geitalten als zur blofen Staffierung
dienende tppüüche Vertreter ihrer Zeit aufiafen. Einzelne Theile
von Guftav Freptags „Ahnen“ glaube ich zu diefer Nomanart
vedinen zu dürfen.
Da im „bürgerfichen” Noman die tnpifhen Geftalten
vorwiegen, ichen wir am beiten an einem jo ausgezeichneten
Werke wie Freptags „Soll und Haben“. Hier erbliden wir eine
bunte Dienge von durchaus Iypiichen Charakteren; der deutiche
Kaufmannsjtand einer Provinziiadt von mittlerer Größe
wird uns in einer Neihe von typiiden und dabei unter fid)
mannigfaltig gegliederten Vertretern vorgeführt; umd aud die
Herren Ehrenthal, Veitel Jrig u. f. m. verdienen &6,
als wohlgetrofiene Tupen bes „auserwählten” Wolfes bezeichnet
Topus und Individuum.
zu werden. Zur Vergleihung und als Gegenbild jei hier der in
der Gejtalt des Mir. Dombey in Didens Noman „Donben
und Sohn“ dargeitellte Typus eines engliichen Kaufınanns heran
gezogen, des jtolzen, hohmüthigen, auf jeinen Neichtgum pocdenden
Sropfaufmanns der Londoner City.
Je mehr ein Typus allgemein menschliche Züge enthält, je
weniger ex in feiner allgemeinen Bedeutung durch rein zeitliche
oder örtliche Züge beichräntt ift, deito länger exhäft er fih, ohne
zu welfen oder zu verblaifen, auch in der Nadwelt. Shafipeare
zeigt fh uns nur in einigen fomifhen Typen feiner früheiten
Jugenddramen noch ganz in dem engen Sejichtsfreis des damaligen
Englands befangen. Eine Geftalt wie der Spanier Don
Adriano de Armado in der „Verlornen YLiebesmüh“, cin
Vertreter des jogenannten „Cuphuiomus“, jenes gegierten jchwi
Stils, der id, von dem „Marinismus” der Jialiener ausgehend,
damals in der englijchen Literatur breit machte, kann in unferen
Tagen fein objeftives Intereiie mehr in Aniprud) nehmen, fondern
mır als jatirifcher ITopus einer Modethorheit in der Gejdhichte
der Geihmadsverirrungen einen lab finden. Später hat fid)
Shafipeare aus den Anfdanungen feiner Zeit und feines Vater
landes zu den höchften Gebilden der dramatiicen Kumft durd)
gerungen. Zein berühmter Zeitgenofie Ben Zonfon blieb
jedoch alo Dramatiker zeitlebens an der heimathliden Scholle
fleben; feine damals jo body angejchenen Werke jind für uns
ungeniefbar, weil ihre unzähligen zeitlichen und örtlichen An
ipielungen ohne einen ausführliden Nommentar unverjtändlic)
find, und fo einen reinen äftpetiichen Genuß; unmöglich machen.
Er war zwar ein jehr wigiger und icharfer Satirifer, aber ihm
fehlten die Schwingen des Genius, die einen Shafjpeare zu der
erhabenen Sphäre reiner Menfchlicfeit emporgetragen haben.
Das; aud) rein äußere Umftände einen bedeutenden Einfluß
auf die Entftejung und Entwidelung von Typen ausüben fönnen,
fehen wir an den ftehenden Charaftermasfen der mittleren und
neueren attifchen und der vömijchen Komödie, die die Ausbildung
von jeiten fomifcen Ippen zur unabweislihen Folge hatten.
Tiefe jtehenden Winsfen des Alterthums haben fi nicht nur in
ununterbrochener Nette in den tmpiichen Gtejtalten der heutigen
Topus und Individuum. 261
itafienifchen Voltstomödie, dem Hartefin, Policinell u. j. w. fort
geiegt, Tondern auch durch das Bindeglied des Sumanismus jehr
befruchtend an der Ausbildung des funjtmäßigen Luftipiels unferer
modernen ulturvölfer mitgewirkt.
Ton den erwähnten vier Banptquellen für alle in der
Kitteratur begegnenden Geftalten fommen Gedichte und, in
größerem oder geringerem Zufat, eigene Erfindungsgabe des
Dichters, vorzugsweile für die Individuen in Betracht, foweit es
bier überhaupt möglich it, Grenzen zu ziehen; für die Typen
dagegen find das unmittelbare Leben und litterariiche Vorbilder
von größerer Wichtigfeit *). Die meiften Typen entipreden nicht
allein, mit mehr oder weniger Aehnlichfeit, irgend einer im
wirklichen Leben vorkommenden Menicengattung, jondern haben
zugleich) geile feit überlieferte Züge an fi, die fi dur)
Nachahmung forterben.
Ie mehr ein Topus fih mit feinen im wirklichen Leben
vorhandenen Originalen, der Gattung Vlenfchen, die er baritellen
fol, dedt, je mehr wir ihn als naturgetreu und febenswahr
empfinden, dejto mächtiger iit jeine Wirkung auf uns. Oft wird
dind) einen glüdlichen Griff ins volle eben ein neuer Typus
geidjaffen, und wenn es feinem Schöpfer gelingt, dem neuen
Stoff and) eine recht Fräftige in die Augen fallende Form zu
geben, jo fann er cines großen Erfolges fihher fein. Aber gerade
der Erfolg lot die Nadahmer an, wie das Licht die Wiotten.
Jede fitterarifche Neuihöpfung, die einen bedeutenden Erfolg erlebt
hat, pflegt eine Zeit lang unermüdlich, mit mehr oder weniger
Geidie, oft ganz blindlings, nadigeahmt zu werden. Die Nadı-
treter betreiben ihr Handıwert gewöhnlich nod immer mit grohem
Eifer, wenn der betreffende Typus unterdeiien fon Längjt veraltet
üt und die ihm im Leben entiprechenden Originale überhaupt nicht
mehr vorkommen. Während das Leben jeine Formen ewig wechjelt
*) 65 fann ailerdings auch cin hervorragendes Jndividunm aus dent
geben der unmittelbaren Gegenwart digpteriich behandelt werden, aber sinn
fotchen Jmvividunm möffen wir dann jedenfalls much geichichtliche Bedeutung
zufgpreiben. Ein jolher Aal würde j. W. vorliegen, wenn jemand Bismards
Perfönfichteit jeut dichteriich verwerthen wollte. Tiefer Fall iit alio nur jheinbar
eine Ausnahme,
202 Typus und Individuum.
und umgejtaltet, Hält aljo der Topus in der Literatur nicht
Schritt mit diefen Veränderungen, er hat eine längere Dauer als
feine Originale; wir bemerfen, dal; die blinde Nahpahmung älterer
Vorbilder ihm in eine gewijle Erftarrung ber Formen verfallen
läßt. Eine folde Erftarrung mu ja in jeder tunjt unvermeidlich
eintreten, die nicht unmittelbar nad) der Natur und nidt immer
wieder auf diefe zurücgreift. Nur eine jtets erneute Vergleihung
mit dem Leben und mit der Natur dev Originale, bejtändige An-
paffung an bie ewig neuen Lebensformen, fann die Typen vor
der ihnen fo leicht drohenden Erftarrung bewahren. Außerdem
dürfen wir nicht vergeifen, daß die Topen jhon ihrem Mejen
nad) zu einer gewiilen Einförmigfeit und Gleicartigfeit ihrer
Formen neigen, weil aud) im Leben jelbjt immer diejelben Tupen
wieberfehren. So fönnen fid auch jehr ähnliche Typen ganz
unbeeinflußt und mabhängig von einander herausbilden, wie wir
dies 3. B. befonders an den überrafchenden Uebereinftimmungen
der Topen des indichen Dramas und Shalipeares beobachten.
Der Typus des zeritreuten Profeiiors in dem
„Ölienenden Blättern“ ift durchaus nicht mehr das getreue Ab-
Bild des heutigen deutichen Gelehrten. Iener Typus jtammt aus
einer [ängft vergangenen Zeit, wo der deutiche Univerfitätsprofefior
mod in färglichen Geldverhältnifien und in meltfremder Abge
fchiedenheit nur feinen Wüchern lebte, und für die praftiichen
Vedürfniffe der Anfenwelt fein Verftändnis hatte. Der Profejior
der Gegenwart febt meilt in behaglicen Verinögensumftänden,
ihon deshalb, weil unjere afademiche Laufbahn heutzutage für
den minder Bemittelten jo gut wie verichloifen ift. Diele ver-
änderten änferen Verhältniffe haben dem heutigen Profeffor aud)
in den meijten andern Beziehungen ein neues Gepräge gegeben,
ihn vielfad) zum gewandten Weltmann umgebildet, und wenn die
‚erftreutheit unter dem Gefehrtentyum auch jest nod) immer,
befonders unter den Vertretern der rein theoretiichen, abjeits vom
praftiichen Leben liegenden Mifenihaften, Häufig genug fein mag,
fo ift fie dad) feineswegs mehr ber hervorragendite Zug im Wejen
des heutigen deutihen Profeffors. Windeftens einfeitig wird auch
in den Migblättern, die für die Fomifchen Tupen des Alltagstebens
die willfommenjte Heimjtätte darbieten, der Deutihe Student
Topus und Individuum. 263
aufgefaht. Nicht mur ber ewig buntige, jeden anrempelnde
Bummler ft ein danfbarer fomifcher Typus des beutichen
Studententhums, fondern ebenfo and) der beftändig „odhfende”,
vor jeinem Profeijor Friechende Stveber, den bie Wipblätter nicht
fennen, und den der fid) in der Nengeit immer mehr verichärfende
Kampf ums Dafein doc) leider nicht mehr jo ganz felten hervor:
dringt. In welcher Weife der unglüdjelige Topus der böfen
Schwiegermutter in ungähligen gleihartigen Wipen nod)
immer tobtgeritten wird, das ift icon oft rügend erörtert worden.
Aus meinen Ausführungen ergiebt fi der merhwürdige
Miderjprud), da der realifliiche Dichter es im Allgemeinen mehr
mit den eigentlich doc) abjtrafteren Tppen zu tun hat, während
die fonfreteren Individuen cher im Vereid gerade des idealijtiüchen
Dichters liegen. Doc) dürfen wir einen folhen Zap natürlich,
nur unter Vorbehalt ansipreden. Auherdem ift, wie icon betont
wurde, nur der abjolute Typus ber Theorie rein abjtraft. Die
in der Pitteratur wirklich vorkommenden Typen erhalten einen
Tonfreteren Inhalt durch eine Beimifchung individueller Beftand:
theile, oder dadurch, daß fie nach verichiedenen Gefichtspunften in
unzählige Unterarten zerlegt werden fönnen. Und umgefehrt
entfernen fid) die Individuen oft von ihrer uriprünglichen Non:
fretheit, indem fie durch Ibealifirung Xeränderungen erfahren.
&o findet von beiden Seiten eine Art Ausgleic) ftatt, die beiden
Endpole fehlichen fid im Nreife wieder zulammen, und jener
Widerfprudh verliert feine anfangs jo auffallende Sonderbarfeit.
Gerade die befanntejten Typen der Litteratur find auch an indis
viduellen Eigenthümtichkeiten befonders reid. So ilt z.B. ber
berühmtefte aller Braplpänfe, Zalitaff, durchaus nicht ihledhthin
Praplhans, jondern eine Miihung von Prahlhans und originellem
Individuum. Hingegen fönnen wir die größten Individuen aller
Literaturen, Hamlet und Faujl, jenen in feinem tieffinnigen
Grübeln über die Näthjel des Dafeins, diefem in feinem unabs
Läffigen Streben nad) vollfommener innerer Vefriedigung, auc)
als typiche Vertreter der gefammten Vienichheit auffaifen.
Ed. Edhardt,
Rolitiihe Korreiponden;.
Die legten Wochen haben in den zu Berlin tagenden beiden
Kammern, welche die politifche Leitung im Neid und Staat in
der Hand haben, einige Debatten gebracht, welche ud, außerhalb
Deutjchlands auf einiges Interefie Aniprud) maden fönnen. Da
war erjtens die dreitägige Verhandlung über den Kolonial-Etat,
die im Grunde ein Angriff auf die Nolonialpolitit des Neihhes
war. Die Nolonialgegner hatten fi als augenblictliche Blöhe in
der Feite, den Dr. Peters herausgefuht, und fielen über ihn ber,
um an ihm die Verwerflichteit der in den Kolonieen angewandten
Vlittel, die Verlegungen von Hecht und Moral nachzuweilen, aus
denen fie Vrennftoft für populäre Entrüftung holen fönnten. Die
toloniale Sache joll dem Volt verefelt werden. Go wurde aljo
der arme Petero allerlei Schandthaten beüchtigt, die er in Oi
afrita joll begangen haben und die ich dem Yefer biefer Zeitichrift
wohl nicht brauche in Erinnerung zu bringen. Cs war weder
ichön, einen Abwejenden, der auch feinen berufenen Nertreter
hatte — oder fand, jo gröblic zu beichimpfen, nod) war cs
erbaulich, das Weibergezeter über Gewalt und Härte und Nohheit
und Unmoral anzuhören, welche nun dad) einmal nicht zu vermeiden
find, wenn man dem Folonialen Gewerbe überhaupt nachgehen will.
Die Bebel und Nichter fpielten zur Abwecjlelung einmal hriftlihe
Miffionäre und Diafoniffinnen in einer Berliner Miffionsftunde,
>.
Pofitiiche Korreipondenz. 265
und da der Vertreter der Negierung, jeine Stellung mihveritehend,
feinen Beamten preisgab, To blieb ichlichlicd dem Herrn Bebel
die Leitung diejes ganzen Stüdes. Denn die Nedner der andern
Parteien Ihaten — bis auf den Grafen Arnim: Muskau —— jo gut
wie nichts, m von dem Neichotage die Schimad) diejes Bebel’ichen
Halogerichts abzuwehren. Mon fragt fi, warm das fo fam.
Nun, einmal fehlt eine überragende Leitung in der Negierung,
und mehr nod) fehlt es an überragenden Führern bei den Parteien
der Ordnung. &s ijt leider ein Symptom bes parlamentarif—hen
Niederganges, was uns diefe Debatte darbot. Der Keichstag hat
unter jeinen Gliedern viele Kolonialfreunde und mande Yeute,
welche Peters, iroß feiner Mängel, für eine in tolonialen Dingen
ichr brauchbare Kraft halten. Aber fie wagen nicht für Dr. Peters
und mer fhüchtern für die Fofonialen Intereiien einzutreten, aus
Furcht, dem Beftande der Partei zu jhaden, die wählenden Polititer
der Vierbanf zu erzürnen, auf welche die Frauen ihren Einfluß;
Und die Frauen waren natürlich in feierfiher Tugend:
tung ob eineo Vienfchen, der —- nun, der jo Flobig mit dem
ihönen Gefchlecht, wenn eo auch f—hmwarz war, verfuhr. Offen zu
jagen, dah es eine geichledhtliche Wloral, wie wir fie -— nämlich
theoretiüch — in Berlin haben, in Mrifa nicht giebt und man
daher an unfere Afrifaner drüben einen andern moraliichen Maah:
ftab legen muß, alo an einen Berliner Schulmeifter oder aud)
Volizeilieutenant, —- dazu fehlt der Muth nicht nur bei Leuten
wie Yammadher, fondern auch bei Frhr. von Manteuffel. Die
Zadıe, nicht blos die Perfon des Herrn Peters, litt davon erheblich
Schaden, denn auch der Vertreter der Negierung wurde von Diefer
Angitmeierei beeinflußt, und im Wolle jepten fic) faliche Vor-
ftellungen von den Aufgaben und Zuftänden in unjeren Kolonien
fet. Und dann ift nicht zu unterichägen, da VBebel der Held der
Tage wurde. — Diejelde Angitneierei zeigte fi bald darauf in
den Debatten vom 20. und 21. April über das Duell. Herr
von Roße, der einfache, in nicht bedeutende Jeremanienmeiiter,
den hatte man feit Jahr und Tog gehegt mit der Veichuldigung
Dinge ausgeführt zu Haben, deren im Grunde ihn Niemand für
geitig fähig hielt. Er ftürzte fh, von allen Seiten umitellt,
endlich anf den zunächt Stehenden, der erreichbar und angreifbar
266 Politiiche Korreiponden;.
war, den Baron Schrader, und erichof ihn im ehrliden Zweifampf.
Weldh’ ermünfchte Gelegenheit zum Angriff auf Negierung und Heer!
Ein Zentrumomann interpellixt, Liberale und Sozialiiten jefundiren,
was ja nicht auffallen ann. Wohl aber fällt es manden Leuten
auf, wenn man in dem mn folgenden Mehgeichrei über die
Unfitte des Duellweiens, über die Zündhaftigfeit des Duells, über
die fchwere Verlegung des Nechtobewußtieins des Volfeo feine
Stimme vernahm, die alle bieje Nebertretungen auf ein vernünftiges
Maak zurücführte. Nur Herr von Bennigien trat mäfigend dem
Geichrei entgegen, leider um fpäter — vielleicht unter dem Drud
der gegen ihn gerichteten Vorwürfe feine Mähigung zu bereuen
und jo dem Keichstag zu feinem einmütbigen Veihluß zu vers
belfen, von der Negierung energüüche Manfregeln zur Abihaftung
des Duellweiens zu fordern. Der Yiberalismus it in Dielen
Debatten über das Duell und über Di. Peters völlig von den
radifalen Führern in Schatten gejtellt worden, die mittleren und
fonfervativen Gruppen haben ji gefügt einem Urtheil, weldes
in beiden Fällen denn dod auch von einem liberalen und
briftlichen Staatobewußtiein ans fehr anfechtbar üt.
Ueber das Duell it jeit Menfchenalter viel geredet und
geichrieben worden, und es läht fid) viel Verechtigtes gegen dafielbe
in der That jagen. Aber es it ein Jrrtjum, wenn behauptet
wird, das Duell verlepe in roher Weife das Nechtsbewußtfein des
Volkes und die hriflich-ficchlihen Gebote. Das Duell erhält fh
erfahrungsmähig bioher in demfelben Manfe, als in einem Lande
geichlofiene Stände fid erhalten, welche eine beiondere Standes:
chre pflegen. In Ländern, wo der Unterfchied der Majien nur
durch das Geld bezeichnet wird, wie in den ange ichen Staaten,
da wird die Ehre durd) den Nicyter und das fittliche Urtheil der
Menge gefucht. Aber wenn man jtets auf England vermweilt, fo
glaube id) nicht, da fd) der Ehrbegriff eines deutidhen Edel:
mannes ober Offisiers dort jehr gefihert fühlen würde. Diefer
Ehrbegriff it zu fein, um mit Gefängnifi: oder Gelditrafen fi zu
begnügen, er it eine fittliche Kraft, die dem Stande einen Halt
verleiht, wie fein Gefeg es vermag, und die faum zu theiter
erfauft wird durd die Möglichfeit, da ihr aud) ein Menschenleben
einmal zum Ipfer gebracht wird. Diefer Ehrbegriff fann aus:
Politiiche Korreipondenz. 7
arten, wie in Frankreich, in England im 17. und 18. Jahrhundert,
aber er bleibt darum doch ein an fid) unfdägbares Gut. Und
wenn ein Mann für ihn fein Leben einfebt, fo glaube ich nicht,
daß irgend ein Vol fih in feinem moralifchen oder gar rechtlichen
Vewußtiein davon verlett fühlt. Das Volfsbewuhtiein Hat ftets
den Muth und die Todesveradjtung bei den oberen Kaffen auch
in der Vertheidigung ber verfeinerten Ehre hochgeahtet, die ihm
jelbit im Ganzen nicht in gleicher Weife eigen it. Cs bedarf
dev Verhegung, der Verfälichung des natürlic-richtigen Empfindens
im Volt um dafjelbe das Duell als ein Unrecht empfinden zu
Injfen. Und es fit ebenfo eine Fülfchung, wenn behauptet wird,
eitampf widerfpreche den Grundjägen des Chriftenthums.
Vielleicht verlegt er das Empfinden und Meinen der Michrheit
des heutigen Chriftenthums, aber ficperlic hat, feit es Chriften
giebt, die ungehewe Viehrheit derjelben, und die Kirche einge-
ihloffen, den Zweitampf für eine nicht unerlaubte, fondern für
eine hrüfliche und Löbliche Einrichtung gehalten. Wer fih, wie
das üblich üft, anf das „Du follit nicht tödten” beruft, der weile
doch and) gleich nad), dab damit das Tödten im Zweifampf ver-
boten, aber das Tödten in der Schlacht erlaubt jei; oder er fei
foniequent genug, um fi) den Yehren Yeo Toljtoi's anzuichliehen;
denn es Äft nichts damit getan, irgend einer Gefühlsdufelei einen
Say aus der Bibel überzuhängen, um fie al dritlid) ericheinen
zu Iafjen.
Wenn der Stant, wenn die Gefellihaft, wenn die oberen
Stände felbjt gegen das Duell anjireben, jo tum fie recht daran;
nur jollte man, jollte bejonders der Staat in feinen Geieben und
feiner Handhabung der Gefege dem Empfinden feiner Zeit und
dem Ehrbegrifi im Wolf oder Stand Nedhnung tragen, wie das
ja auch atjächlic in Nücficht der Handhabung der Gelege meift
geübt wird. Co joll and) Niemand von den Genofien in Volk
oder Stand zum Duell gezwungen werden. Cin Stand, der feine
bejondere Standesehre fid bewahren will, möge fie nicht nur
durch das Duell, fondern and) duch Chrengerichte Ihügen, welche
die Nöthigung zum Duell, wenn nicht zu befeitigen, dod) in
Schranfen zu haften vermögen. Was man aber bier in den
Kreiien liberaler und anderer Cifrer fordert, das ift eine Ver-
Wolitihe Norrefponden;.
gewaltigung eines Ehrbemuhtfeins, das nicht allein eine bifteriiche,
fondern and) jeine rein menichliche Berechtigung hat. Und zulegt
kämpft der Demofrat gegen das Duell, weil ihm dafielbe als
etwas den oberen Maffen Einenthümliches verhaft ft: er winfcht
nur Pöbel oder höchftens Bauern um fidh zu fehen, er erhebt ein
Gehent ob eines im Duell gefallenen Edelmannes ımd jagt, wie
Herr Vebel im Neichstage, dad in demfelben Mihem: „ms fan
85 vet fein, wenn die Edelleute einander umbringen.“ Xer
pöbehmg -— das üit die Signatur des Öffentlichen Lebens unferer
Zeit, eine Strömung, die leider ihren Einfluß bis in die parla-
mentarifchen Körper hin geltend macht. Was ift in diefen
> Jahren aus dem deutichen Keihstage nemerden! Wie tief
jteht der heutige unter dem der fiebsiger Jahre! Und wenn wir
noch weiter zurücbliden: welche Külle hochgefinnter, vornchmer
Männer fah man 1818 in der Paulofirhel Wie flein find heute
Gefinnungen und Ziele in diefen Parteien des do ut des-Zpieleo!
Ich möchte Xhre Yejer mm mac) auf die im dem fehlen
Tagen jtattgchabten Xerhandfungen des preufüichen Dauies
der Abgeordneten über die Nornlagerhänfer aufmerfjam machen.
Die Frage üft jeit fange auf der Tagesordmung der agraren
Prefie. Neichs + Lngerbäuler, genofienichaftliche Lagerhäufer mit
oder ohne Warrants, Zilo oder Bodenipreicer - das find
die weientlichen ragen, um die cs fich handelt. Die preufiiche
Hegierung hat mm 3 Mill WE angeboten zu einem Berinch
mit Lagerhäufern, welche die Yandwirthe oder die fandwirth:
ichaftlichen Genoifenichaften felbft verwalten jollen. &s joll der
Kornhandel von der mnlauteren Spehulation möglichit (osgelöit
und der Produzent in direktere Verbindung mit dem Konfumenten
gebracht werden. Da in Riga bereits ein Silo-Speicher erbant
it, jo wird es vielleicht für die baftifehen Yanbwirthe von Wertb)
fein, der Entwicelung der Frage in Preufen nachzugehen. Was
bisher fich {chen bemerklich macht, ift einmal der Wunfch der
andwoirthe, mit diefem Berfuch eigener Yagerhäufer der Gefahr
zuvorzufommen, dal; der Sandel mit dem Bat eines Nebes von
Silo Speichern vorgeht und dur Diele Zilos den Kandel mit
Norm noch mehr als bisher in feine alleinige Verrihaft bringt;
jerner die Abneigung gegen die Annahme des amerifaniichen
Potitiiche Korreipondenz. 269
Warrant-Epjtems, und zwar wieder aus dem Grunde, weil die
Ausgabe von Warrants der Vörje es erleichtern würde, die vor
handenen Vorräthe zu überichen, zu erwerben, und den Preis zu
beherrschen. Eo viel ich weih, ift der Nigner Tilo ganz in der
Hand der Börfe und wird vom Landwirt) gemieden; es ift dort
alio wohl ein faljcher Weg eingeichlagen worden, den man hier
meiden will, indem man durd) den Bau des Silo nur die Börfe
gefräftigt Hat zu Ungunjten der Yandwvirthe. Aber wenn aud) ber
Nigaer Zilo nur für Tranfit-Getreide aus dem innern Nufjland
jest Bedeutung bat, jo dürfte für die baltifchen Yandwirthe die
v- Frage damit nicht erledigt fein. Trop mander übler Er-
fahrungen, die auf genofienichaftlihenm Boden gemacht wurden,
bleibt Diele doc) der einzige Boden, auf dem eine Vejlerung der
Lage nicht nur hier in Teutichland, jondern auch in den Oftfee:
provinzen zu erreichen ift. Genoffenichaftlihe Sites und genoffen-
idjaftliche Getreideausfuhr werden verfucht werden miifen, To
ungern man fid auch in feinen (Gewohnheiten ftören läht, und fo
wenig geichulte Nräfte für folhe Unternehmungen aud) vorläufig
noch im Lande jeloft fd finden. Der Drud der Noth, der hier
zu Silos oder Schüttboden- Speichern führt, wird die baltischen
Yrovinzen nicht verichonen, und je zei v man fich der neuen
öfonomüjchen Konjunktur anpaßt, um jo weniger wird man von
der North Schaden leiden.
Die äufere Politif mag heute nur mit ein paar Worten
berührt werden, um jo mehr alo id) in derjelben in den legten
Wochen im Ganzen wenig verändert hat. immer noch wird fie
von der Frage beferricht, welde Entichlüie England in Oftafien,
in Südafrifa, am Nil fahen wird. Die großen Geberden, mit
denen englijhe Viinifter gelegentlich auf „Unternehmungen voll
Mark und Naddrud“ hindeuten, die in Züdafrifa geplant würden,
dürfen wohl kaum Jemanden in Schredfen fegen; denn die Herren
dort pilegen «0 ftets für billiger zu halten, mit Worten einen
Zwedt zu erreichen jtatt mit Ihaten jo lange das fid) irgend
Ahun läßt. Dah; England in aller Stille in Walhinton den Vor:
Ichlag gemacht hat, alle Streitigkeiten zwiichen Großbritannien und
der Union durd) ein ftändiges Schiedsgericht zum Auotrag zu
bringen, ijt ein deutliches Zeichen dafür, wie viel England daran
2
270 Politiiche Norreipondenz.
gelegen ift, nad) jener Seite hin fidh aller Differenzen zu entlebigen.
Drohungen gegen Deuticpland, feine Einmiichung in Tranevaal
zu dulden, dürften vorläufig nur ein Verfud fein, Deutichland
einzuichüichtern. Ebenfo Halte ih den Dongela-Zug nur für einen
Vorwand, um die Truppenmad)t in Aegypten zu jtärfen, und
nebenher auch für einen Perfuch, Italien Hilfe zu bringen.
In Frankreich it die Nrifis num zum Ausbruch) gelangt,
der Senat hat gefiegt, Bourgeois it gegangen. Herr Faure will
© mit einem gemäfigten Nabinet verfuden. Der Xerfuch it
gelungen. bietet aber doch nur geringe Ausficht auf Beitand.
Ev.d.B
Berlin, 27. April 189
Notizen
Die Memoiren des Grafen Ernit von Münnic. Herause
gegeben fonie mit Einleitung und Piographie des Lerfaffers verfehen
von Arved Fürgenfohn. Stuttgart, Gotta. 1896. XIIT. u. 212 Seiten.
Graf Ernit von Münnich (geb. 1708 F 188) ift der Sohn des befannten
zuffiihen Oeneralfeldmarjehalls BurchardChriftoph von Münnich (geb. LOSE FLTETI.
Seine erfte Jugend verlebte er mit den Eltern auf den Schaupläpen des fpanifchen
Erbfogefrieges, Fam dann nad Warichau und als der Vater in rufftiche Tienite
irat, mach Kiga, wo cr die Tomjcrile befuchte. Seine eigentliche Ausbildung
erhielt er in Genf. 1727 wurde er am Petersburger Hof eingeführt und machte
nun als Sohn eines der Hewvorcagendften ruffiicen Staatsmänner und Feldgerrn
cine brülfante Garriire. 1729 war er Cavalier d’Amıbassade in Paris, und
zwei Jahre darauf vertrat der junge Oraf fon ganz allein die ruffüihen Anters
effen am frangöfiichen Sof. Doch fehrte cr 17:33 nad) Beiersburg zurüd, belleideie
mehrere Hofämter, erhielt die höchiten Crden und ftand in glänzender Stellung
da, als er in den Sturz feines Vaters ig. ITH verwidel und gleichfalls vers
bannt wurde. Yon IT 1762 führte cr mit feiner Aami irliches.
Tajein in Wologda. Yon saifer Peter III. zurüdgerufen wurde cr 1763
Generaldireftor jämmtlicer Heichszölle und ftarb 8 als Präjident des
Nommerzfollegiums. Beerdigt it er an der Seite des berümten Vaters auf
feinem Gute Lunia.
Seine in Wologda i. }.
ie ein
verfaßten Memoiren behandeln die Jahre
1708 ITH. Bon vorngerein ift anzumehmen, dal Die vebeuserinnerungen
eines hogefteitien Mannes, der mit alten Leitenden Perfönfichteiten
geiesten Beziehungen fand, viel amiifantes Detail und auch Hitorifd werthuolle
Nacjricjten bieten müffen. ‚zu eriterem find die Mirheitungen über Ernit
Bünnicy’s eigenes Yeben, zu den Lepteren die über feinen Pater zu zählen, ja,
1 nase
272 Notizen.
torfche Antereiie an den Memoiren tonpentrirt ih in der Sanptiadhe auf
die Yerfon des ältsıen Münnich. Das’ ebrige, mie die Charafterijtiten der
Kaiferin Ana, Virons, der Nogentin Anna Yeopofdonua und ihres Gatten
Anton Weich von Bramnjchveig Find dod mehr oder weniger Staflage gnenüber
der Erzählung von dem ftetigen Emporfteigen des Feldmarfchalls. Die Erzählung
foieft mit der Enthebung Nünnichs vom Polen eines Premierminifters. Seine
Verfchidung nad) Sibi rd nicht mehr erwähnt.
Der Werth der nad) der deutichen Criginaldandichrift beforgten vorliegenden
Ausgabe des Hemoirenwertes it verichieden für Huffen und für Deutiche. In
per Ueberfeung find die Memoiren nämlich bereits zweimal IS17 und IND
gedrudt worden. Unter anderen hat fie Prof. Engelmann fchon 1802 in 90.
der „Walt. Monatsicrift" für feinen Anfiay über den Aeldmarjcall Ca
Rünnich beugen Fönnen. Aber and) der nicht ruifiichen Yelcwelt Find nicht alle
Particen der Memoiren vollftändig neu. Bruchftüde derfelben finden fih mit
ar wenigen Veränderungen in Wiüfcings Magazin, Theil 9 vom Jahre 1775,
ter dem Titel: „Atwort auf Die vorhergehende Schrift des Serzons
von Curland, von einem der nächiten Verwandten des Feldmarichalls
Grafen von Münnih.“ Sie umfaifen gerade den intereffanteiten Theil der
Memoiren und behandeln das Ende der Naiferin Anna, die Negeniicaft und
den Sturz Birons. Verücjichtigt man ferner, daj; der andere wirtlic hiteriihe
Nachrichten bietende Theil der Memoiren, nämlich die Schilderung der Aeldzüge
des üeren Münnic) in ruhflihen Dienften, gröftentheils aus den weit ver:
breiteten und oft gedructten Memoiren Manftins und defien Vorlagen msgc
irieben üft, fo fchrumpft der Teil. der vorliegenden Ausgabe, welcher einen
wirflich originalen hitorifchen Werth für fidh in Ynipruch nehmen lan, doc
techt erheblich ein. Wenn der Herausgeber eiwa 5 Scchfteln des Memirente
einen hoben Werth als uriprüngticher Celle und jelbitändigen Mittbeifungn
eines Augenzeugen beimit, fo muß dod) daran crünnert werden, dafı von den
ca. 150 Seiten Text die eriten 40 von jchr geringen allgemeinen Auterefie find,
die folgenden en. 54 Zeiten die fon befannten Nachrichten über Münnid's
Aelpzüge wiederholen und mer das Iepte Drittel im Yicte einer wirklich wertb
voten uriprünglichen Cuelte erfcheint, und ad diefer Theil it feinem wejent
ficpen |uhalte nach aus Viichings Magazin fon befammt - dod) wird man
6 der volfjtändigen Weröffentlichung der Memoiren in ihrem Criginaltert
immerhin freuen dürfen. Sie bietet immerhin eine recht unterhaltende Yetrüre
und auch der Wifienichaft it ein jhähensweruher Dienft geleitet, in dem Die
Bisher zeritreuten Nachrichten nun zuiommengefaht und in der. urfprünglichen
Folge bequem zur Benubung vorli
Der Herausgeber hat Feine Mühe geicent, Die Ausgabe handlich zu nt
ftatten und wijenichafslichen Sweden Dienftbar zu mauhen. Mm die Wentität
oder die Berwandticaft der cin vorhin genannten Älteren
Veröffentlicungen und einigen anderen Schriften in jedem Fall temmtlich zu
maden, it ein fompijirter Apparat von lommern, Anfübrungsgeiden, Texts
vorianten und verichiedenartigen Topen in Bensogung gejest worden, wie er für
Notizen. 273
die Edition älterer Quellenwerte allerdings durchweg nöthig üt, defien Anwendung
auf diefes Memoiremwerf aber doch in feinem Verhättnii zu der wiffenfchaftlichen
Bedeutung deiielben jteht. ad Anficht des Referenten hätten quellentritiche
Notizen und ein Vergeihnih; der emtehnten Stellen, teip. der Paralletjtellen im
Vorwort genügt. Statt dejfen werden mit ermüdender Weitihweifigleit an den
ericiedeniten Stellen die tertfriiihen Bernerkungen und die Angaben über die
Evitionsmeihode ohne erfichlice Nöthigung wiedergolt. „Lorwort“, „biblios
grapbifche Einleitung“, „Anweihung für den Yefer (vor dem Gebrauch des Memoiren:
eries zu dejendi" und die Wiederhohmg des in dielen Abichmitten Bigeiheitien
im den Anmerkungen zum Tert — das ift des Outen zu viel Der Derausgebir
iin nach den Worten der Lorrede das and zu empfinden, doc, nimmt er bei
jeinen Yefern ein merkwürdig Ichlechtes Gevächtmih an, wenn er den häufigen
Wiederholungen doch eine gemife Vercdjtigung zuiprict, die mr dem mit Dem
Gedächtnis eines Wunderfindes Ausgeitateien unficb jein Fönnten. Jedes Yudı
kann aber von en Yelern Gruft und Aufmerfiamfeit beanipruden und cin
normales Cvöchtmis bedarf folder Arüden wicht, welche, wie alles Unnüpe, Di
ig möchte fagen, Äftherifche Arcude am einer tüchtigen Arbeit, au) einer Cucllen:
edition, beeinträchtigen. So fehr eine größere Eraftheit und Genauigfeit
die Ausgabe der Tuellen zur ruffüchen Gefhichte gewünfct werden mu
iprichlich wäre 6, wenn die ruifiiden Diftorifer das „philologiice”
Verfahren des Herausgebers unter allen Umftänden zur Nictichnur nehmen
wollten, wozu er die Anregung geben will. Aud) hier heit es: distinguendun est.
Bereicpert wird die Ausgabe der Memoiren Ernit Münnich’s durd) eine
Heihig gearbeitere, ausführliche Wiographie des Lerfaffers, in dem wir eine ver
iranensiwirdige, wahrheistichende Perföntichleit Temen ternen. Diefes Mrıheil
wird im Ganzen auch) für die Memoiren zuirefien. Um fo befremdender it co.
wenn er die Naiferin Ana eine der grojaen Derrfcerinnen nennt, die je auf
dem zuffiicgen Throne regiert haben. Die auf dieies Sefammaurtheil folgende
Eharatteritit der Kaiferin im Einzelnen und einige vom Herausgeber migerheitte
anderweitige Ausiprüde Münnih's Über fie rechtiertigen Dieles Neiheil teineswegs.
f
wenig
Höriwelmann, T. A Andreas Anopfen, der Nefor«
mator Higas. Ein Beitrag zur Kirgengeidichte Yivlands,
Leipsig, A. Deicert. 1800. 8". Seiten.
Die Schrift zerfällt in wei Teile, einen biteriidh:biographiicen und
einen bitoriihtheologiichen. Der Ieptere bietet eine eingehende Analyfe von
Anopfens Kommentar zum Nömerbrieh, welder von Yngenhagen i. 3. 1524 in
die
5 Thema hielt, Ueber die Veveitung
ht beachteten Kommentars urtheilt
'gt uns eine der ältejten
Wittenberg Heransgegeben wurde. Eutftanden ift er aus den Vorträg
22 im Riga über die)
iheotogiichen Wi
Anopfen +
des bisher von I
Höricelmann jolgendermafen:
enschaft
u Diefem Kommentar
274 Notizen.
uns erhaltenen ewangeliicen Austegungen der für die reformatoriiche Lchre
bedcutfamiten Epiftel Pauli vor. Und da der Nommenar entiprechend der
damaligen Art der Schrifibehandhung eine ziemlich, volljtäudige Yehandlung der
Heilstehre enthält, fteht er als ein bedeutfames Dokument evangelicher Lehr:
faifung aus der Anfangsperiode der Neformationszeit da.” Somit werden die
Thcologen denn mit ntereife von den Interfuchungen Börfhelmann's über
Kuopfen’s Sommentar Senntnifi nehmen, während die der wiflenfchaftlichen
Theologie ferner Sıehenden cs mit dankbarer Genupthuung begrü
dafı die Bedeutung des Iiofändifhen Neformators un in ihrem vollen Umfange
zur Geftung fommt und der Name Amopfen’s jest einer über die Örenzen ber
Citfeeprovingen hinausgeheuden Werihfcäbung finer Üt. Bon einer Würdigung
diefes rein theologiiche ragen behandelnden 2. Teites von Börfhelmann's
Arbeit mh Neferent abiehen. Dagegen mögen den anderen Partieen De6 Wuchs,
die von allgimeinerem uterefje find, einige Worte gewidiner fein.
Wenn man den Yebensgang and die Wirffamfeit Anopfen’s überkhaut,
fo mh man doch immer wieder mit Vedanern feitiellen, dal wir fo wenig
Nachrichten über die Neformationsgeichichte Yivlands befigen. Wit gewifienbaften
Alf hat der Verl. alles bemubt, mas an Rachrichten über feinen Helden und
die allgemeinen Berhäftniffe zu finden war, fomeit ihre Verkctfictigung in feinem
Plane lag. Auch a ardivaliichen Forfhungen hat ex 5 nicht fehlen Infien.
Doc war die Ausbeute ehr gering. u Aüftrin, dem Geburisori Amopfen’s
fonnte nichts ermitelt werden; ja, die Aüftriner Verireter diefes jest mod) blühenden
Sefchlechts hatten von dem einzigen zu nröferer Bedeutung gelangten Borfahren
feine Apmung. Auch in Treptow, wo inopfen als Schüler und Yehrer fi auf
feine veformatorifche Wirfjamfeit vorbereitete, fommte wichts dircht auf ihn Le:
gügliches emdect werden; nur wurden einige näbere Nachrichten über die beiden
Schulen dajelbft gewonnen, aus denen fidh Schlüffe auf Anopfen's Verhältmi
stehen daffen. Erfreulich it dagegen die Entdectung des Danfbriefes des rigahben
Rates vom 11. November 1523 an Yuther als Autwort auf defjen befanntes
Zendichreiben am die Ehriften zu Nigda, Revell und Tarbıhe. Der Fundort
Diefes Schreibens it wieder das reiche revafiche Stodtanhiv. So dankbar wir
man auch jeden meuen Beweis der direlien Beziehungen zwifchen Winenberg und
Yioland entgegennehmen, To bietet dad; der juhalt and Diees Briefes feine
Vereicberung unferer Nenntnih von der Yebensgeidichte Amopfen's oder der O«
Äsicte der Epode. So üft cs denn dem Verfaffer auch nicht möglich gewejen,
über Snopfen wefentlich Neues zu fagen. Er üit daranf angewiefen, die wenigen
Mürheilungen über ihm md die befannten geichicpeticgen Iyatfachen mögliche
mad allen Seiten zu beleuchten und Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Im
Ganzen charafterifirt fich der erite Teil des Yirdies als cine ausführliche Nürchen“
geicichte Nigas in der Zeit von Anopfen’s (4 155) Wirkiamfeit mit gelegen
danfenswerihen Ausbliden in die jpäteren Zeiten. Wejondere Yeadtung ver
woh der 5. Mbfhmiut: Pitege und Crqmifarion der Gemeinde. Hier werden
in gemeinverftändlicher und AHarsr Tarjteltung der Ausbau des Gotesdienits,
das Wigafdhe Gefangbuch und die firdliche Verfafiung behandelt, afjo die Durd)
Notizen. 275
die Reformatoren ins Leben gerufenen neuen Firchlichen Teduungen, mit denen
unfer Xefepubliftum naturgemäß weniger vertraut zu fein pflegt, als mit den
geicichtlichen Tpatfaden der Neformation.
Wenn der Verf. chwas yaghaft der Hoffnung Ausdrud giebt, feine Arbeit
werde „vielleicht“ auch) in Areifen Verücfichtigung finden, in denen das wiffen
Ächaftliche Anterefie nicht das vorwaltende ft, To glaubt Neferent, daf; das Bud)
og der etwas. breiten und geiftlich reftettirenden Parftellungsmeife einen nicht
geringer Yeferfreis finden wird. Tie Ausfühtlicheit, mit mwelder einige uns
fehr geläufige Gefichtspumfte für die Bedeutung der Neformation in Yioland
erörtert werden, ermedtt allerdings den Anicein, als ob Verf. fih doch nicht, wie
das Xorwort will, in eriter Yinie an feine Heimathgenoffen, fondern an folche
wendet, denen das Wein baltiicer Eigenart crit erläutert werden mul.
Die politifche Gehhichte wird vom LBerf. mur furg geitreift, für die
Heformationsgeichichte Higas, dem Wirkungsfelbe Anopfın's, wohl zu furz.
Schon die Mitwirkung Luthers an dem Juftandefommen des Lüberter Bertrags
von 1529, die verhältnihmähig eingehende Würdigung, welche der Verf. Yohmülfer
widmet, hätten nadı Meinung des Kefsrenien doch ein näheres Eingehen auf
diefen Wertrag und das Ipätere Berhältnif; der Stadt zum Exzbilchof erfordert,
in dem doch ein fehr wefentlices Srüd der rigafgen Neformationsgeidichte
beichlofien ficgt.
Eine einfchränfende Bcmerkung möchte Neferent fich über Plettenbergs
Lerhalten zur Reformation zu dem Urcheil des Verf. erlauben. Görihehmann
fagt: Wohl hätte eine offene Parteinafmme für die Reformation .... den Auheren
Fortgang derjelben im nicht geringem Waafe befhleunigt. Aber reicere innere
Förderung fei ihe ohne Zweifel aus feiner Poliif des neutralen Gewährenlafiens
erwachien. Die Anhänger der Neformation wurden davor bewahrt, fich auf
Menfchen zu verlaffen und Fleifd für ihren Arm zu halten und die Führer der
wangelifchen Gemeinde durd) das Fehlen äufserer Stügen ad weltlicher
Förberungsmittel in die rein geiftfiche rbeit hineingeleitet. Sind viele Ber
merfungen in ihrer allgemeinen Faffung wirklich ganz zutreffend? Yaffen fid
im geiftlicen Sinne fegensreiche Folgen der Piettenbergihen Poltit für das
xand als Ganzes nacjweijen oder nur vermuten? Neferent ift geneigt, fie mr
für die Städte gelten zu faffen. Wäre Plettenberg ewangelifch geworden und
als Folge davon fon zu feiner zeit eine allgemeine Säfularifation eingetreten,
fo wäre -- die rein politiihen Fragen tommen bier nicht in DBetradt — dem
Lande eine Mjührige zeit verlogener Zwitterhaftigteit erfpart geblieben, in der
der evangelifce Glaube der höheren Stände fih nad der fatholicen Dede
Ätreden mußte, eine Zeit, melde aus äußeren Gründen die ftaatlichsfirclichen
Formen der innerlich überwundenen Fatholifchen Vergangenheit ängitlidh aufrecht
erhielt und fo der rechte Nährboden der Entfittlihung und Charatterlofigteit
werden muhte, bie fidh beim Untergang der Setbitänbigteit jo trojtlos offenbarten.
Hat denn das Befenntni der Fürften zum enangeliichen Glauben in Nord»
deutfehland und in Stanbinavien nicht gute Früchte getragen?
276 Notizen.
Scliehlich jei e$ geitattet im Anidyluf an diefe neuefte Darftelfung der
tigajcien Reformationsgeichichte eine Frage aufzumerfen, Die fid Referenten bei
Betradptung derielben jedesmal aufdrängt. A allen Daritellungen wird nämlich
der Bruder Andreas Anopken's Domperr an der Perrifirce genannt. Aus
Diefer nicht ganz genauen, aber herfömmlichen Bezeichnung gebt hervor, dab bei
der Petrifirche ein Rollegiatftift beitand und man wird annehmen müfien, dahı
daffelbe mit den gemöhnliien Torrechten ausgeftattet war, dafj cs aljo jelbit aus
der Zahl der Slanoniter den ordentlichen Pfarrer oder einen Lifar beitellte.
Trifft das zu, fo fragt es fi, wie das Patronatsrecht des Wathes damit zu
vereinigen und wie die Yerufung Andreas Anopten’s zum Archidintonus dur
den Rath zu verftehen ift. Xag hier ein revolutionärer Schritt wor oder hielt
ich der Rath in den Grenzen feiner rechtlichen Vefugnifie? Für die Neformations:
geichihte Rigas iit Die Frage doch von erbeblider Vedeutung und cs fohnte fi,
wohl, fie einmal näher in's Auge zu fallen. Ben.
der Urjprung des altlivländihen Landtages.
Unfer mittelalterlicher Candtag ift das Zentralorgan des
lioländiichen Yundesitantes und derjenige Fartor im poli
Leben der Nolonie, in weldem das ftaatlidie Band, das die Liv:
ländiihen Territorien umichloi, in erfter Yinie zum Ausdrud fam.
Unter biejem Gefichtspunfte it die Geihichte des altlivlän-
diichen Kandtages zu behandeln. Der lvländiihe Yundeoitant
und der livländiihe Landtag bedingen fic) gegenfeitig, der eine
iit ohne den anderen undenfbar.
Eine umfajjende Gejdichte des livländiichen Landtages wird
erjt dann geichrieben werden fönnen, wenn die Nezefie und Aften
dejjelben veröffentlicht jein werden. Das veide Material aber,
das bereite im Kivfändifchen Urfundenbuche niedergelegt ill,
ermöglicht jehr wohl jcon jet eine Unterfuchung über den Mr-
fprung diefes Jnftitutes, in dem das politiihe und das Nechts-
leben der Kolonie einen Mittelpunkt gefunden Haben.
Die livländiihen Stifter waren in völliger Unabhängigkeit
von einander begründet worden und auch der Deutide Orden
errang eine folde im erjten Danziger Frieden von 1366. Dod)
das Gefühl der Solidarität fnüpfte ion früh ein natürliches
Yand zwifchen den einzelnen Territorien, das wohl nie fo prägnant
zum Ausdrud gekommen üft, als in dem älteften erhaltenen
Bündnisvertrage der livländiihen Landesherren; in der Urkunde
ı
Uriprung des altlivl. Landtages.
vom 1. Oftober 1213 heißt es: -Quum omne regnum in se
divisum desolabitur et frater. qui adjuvatır a fratre. sit
detur expedire, ut nos. quos una «
eademque voluntas immediate sub uno eapite, domino papa.
xcolendam Domini vineam in gentibus aduna nobis
issim feramus consilium et auxilium opportunum.”'). Ein
dauernder Verband ift erft im erfien Viertel des fünfjehnten Jahr:
bimderts begründet worden und da ift co bezeichnend, dah der
Uriprung des Landtages und die Anfänge des Bundesitantes
zeitlich zufammenfallen.
Ter Yandtag, wie er fh im mittelalterlichen Yioland
ausgebildet hat, it eine in der Verfalfung begründete und im
Prinzip an eine gewiife Negehnähigfeit gebundene Berfammlung
der Vertretungen hünmtlicher Territorien des Yandeo, auf welcher
die Fragen von allgemeinem Interefie berathen und auf dem
Wege des Vertrages Veihlüfie gefaßt werden, die für alle
beteiligten Stantowejen in gleicher Weife verbindlid) find. Damit
ift num aber auch jehon die Grundlage gegeben, auf welder der
Bundesjtaat ruht; in der Eriftenz deo Landtages liegt der
Vegriff deo Vundeojtaateo begründet, infofern cr das politiiche
und das Nechtsleben der einzelnen Territorien bio zu einem ge
willen Grade mit einander verfnüpft und die Staatogewalt
innerhalb derfelben zu Gunften des Gelammtwillens beichränft.
Zufammenfünfte der Livländiicen Yandesherren aifen jid)
natürlich jeit älteiter Zeit nacdweiien, völferrechtlide Verträge Find
bäufig zwiichen ihnen abgeichlofen werden, der Uriprung des
Yandtages aber und damit aud der Uriprung des Fivländiichen
Bundeoftantes geht auf eine Taglagımg zurüd, die im Januar 1422
von den livländiihen Yandesherren in Walt veranftaltet wurde.
Alle jene zahlreichen Zulammenfünfte der fivländiichen
Yandesherren int 13. und 14. Jahrhundert, über die fid) in unferen
uellen Nachrichten erhalten haben, waren durd) vorübergehende
Vedürfniffe veranlaft worden; weder waren fie in der Verfajlung
begründet, mod zeigen die geringite Spur einer Hegel
mähigfeit fie waren feine Yandtage im eigentlichen Zinne.
9 Yiot. Urfundenbuch 6,
Uriprung des altlivl. Yandtages. 279
Die erite Tagiagung, auf welder nachweislich Beihlüiie gefaht
wurden, die in das Nedhtslebeu der Kolonie in ihrer Gejammtheit
eingriffen, fand im Jahre 1374 ftatt.
Das dreigehnte Jahrhundert ift in Finland das
der Eroberung, mit dem vierjehnten beginnt der pol
wirthihaftliche Aufihwung der Kolonie. Während im dreisehnten
Yahrhundert das Deutichthum alle Kräfte daran fegen mul, um
Fuß zu faffen im fremden ande und die Grundlage zu legen zu
einem gedeihlichen Wirthichaftsteben, fällt das vierzehnte Jahr:
hundert jchon unter den Gefichtspunft eines inneren Anobauens,
einer organifchen Entwidelung der im Zeitalter der Croberungen
gelegten Grundlage. Die Zahl der Verührungspimkte ywiicen
den einzelnen ntereffengruppen ift in itetem Steigen begriffen
und bald gilt eo bie Grenzen des Nechtszuftandes zwiichen ihnen
dauernd firiren und dem Nechts:- und MWirthicaftsleben der
Rolonie eine der Interefienjolidarität entfprechende Nichtung zu
geben. Die erfte Frage, die hier die livländifchen Landesherren
nachweislich beihäftigt hat, iit die Münzfrage geweien.
Die Verfcplechterung der Vrünze in Livland, die feit der
zweiten Hälfte deo viergehnten Jahrhunderts nachweisbar lt,
muhte in ungünfigiter Weife auf das Wirthichaftsleben deo Landes
einwirken; eine Aufbejferung der Münze that hen fehr früh
dringend not). Am 30. Juni 1374 verfammelten jid) zu Dorpat
die Vollmächtigen des Drdens und des Bifchofs von Dorpat, ber
erztiftiiche eneralvifar in Vertretung des an der Kurie weilenden
Erzbiichofs omie die Sendeboten der Städte Niga, Dorpat, Neval,
Wenden, Xellin und Wolmar zu einer Tagfahung md verboten
„van al des Landes wegen Liflande und Ejtlande“ unter Androhung
itrenger Strafen die Einfuhr fhlechter Dlüngen und die Zirkulation
jolher Münzforten, die im Lande nicht „genge und geve” wären.
Die Biihöfe von Tejel, Nurland und Neval waren nicht vertreten,
dagegen aber waren bie Städte, die an einer Ordnung des Münz-
wejens bejonders interejfirt waren, herangezogen worden, die Gebiete
der genannten drei Biihöfe fpielten im Wirthichafteleben der Kolonie
noch eine jo untergeordnete Nolle, da in Dorpat jehr wohl aud
ohne Heranziehung derjelben Beichlühle gefaft werden fonnten,
die für das ganze Land verbindlich werden jollten. Der Neych
p
250 Urfprung des altfivl. Candtages.
diefer Tagsjagung, die nad) nicht alo Yandtag im eigentlichen Sinne
aufzufailen üt, hat fid im Nevater dtardhiv erhalten ').
Die inneren Unruhen, die um die Wende des vierzehnten
Jahrhunderts in Yivfand herrichten, Icheinen weitere Verfammlungen
der livländiihen Landeoherren behufs Berathung und Beihluß-
faiiung über allgemeine Landesinterefien unmöglich gemacht zu
haben. Erjt die Gefahren, die nad der Schlacht bei Tannenberg
dem Lande drohten, haben die unter einander zerfallenen Fürften
wieder jufammengeführt und eine fegensreiche Neformperiode ver:
anlaft; und wieder ift eo bier die Münzfrage, die im order
arunde deo allgemeinen Juterefies ficht.
Im Mai 1415 erfahren wir, dab bis anf Weiteres die
Prägung der jog. Artige und Kübiihen verboten worden war;
obgleich aud aus dem Schreiben des Trdensmeifters an den
Kevaler Rath, dem wir diefe Nachricht entnehmen, nur hervorgeht,
dah erilerer und der Biichof von Dorpat für ihre Territorien eine
diesbezügliche Lerpflihtung übernommen >), jo fönnen wir dod)
nicht daran zweifeln, dafj hier eine für das ganze Land verbindliche
Mafregel in's Leben gerufen war: Denn aufer Neval und Dorpat
befaß nur nody Niga einen Vünzhammer, das Erzitift aber befand
fi feit 1394 in Abhängigkeit vom Orden, wird ihm alfo wohl
ichwerlich in der Münzfrage entgegengewirft haben; zu bem hatten
io radifale Mahregeln, wie die Einjtellung der Prägung überhaupt
nur dann Ausficht auf Erfolg, wenn fie für die ganze Molonie
verbindlid waren.
Auf NReminiscere 1416 hatte der Trdenomeilter mit den
Prälaten des Yandeo einen „Fruntlicen tag“ vereinbart,
der zu Walt „umme des beiten und gemeinen nuß
es landes zu betrahten“ jtattfinden follte ®).
‚Hier war anodrüclic die Vetheiligung der Viichöfe von Dorpat,
Tofel und Nurland in Auoficht genommen, doc wird eine Ver
tretung des abweienden Erzbiichofs jedenfalls nicht gefehlt haben.
Dit diefem „Tage“ ift wahriheinlid eine Verfammmlung identifch,
!) Yiol. Urfundenbuc, 3, unc-
ENDE. ao O0 nie
302 letere Urtunde, die dem Jahre 1116 angehört, it
im Urfundenbuche, iutfa (HAIS) Datirt,
Urfprung des altlivl. Landtages. ası
die vor dem 5. Juni 1416 zu angenbruggen am Heinen Embadh
itattgefunden hat und auf welcher Beitimmungen über die Prägung
der fog. Lübiichen getroffen wurden }).
Auf den 12. Februar 1419 war in Walk ein „Tag“ der
Eandesherren anberaumt; in Ausfiht genommen war die Be
tbeitigung des Ordensmeilters, des Erzbiihofs und der Biihöfe
von Dorpat und Defel. Tb diefe Tagfahrt zu Stande gefommen it
und was auf ihr verhandelt wurde, willen wir nicht. Doch da eine
Heranziehung der drei großen Städte Nige, Dorpat und Neval
erwartet wurde, fo ijt es anzunehmen, daf; auch diefe Verfammlung
der Plüngfrage gewidmet wart).
Ann 1. Auguft 1419 follte eine durch litaniiche Veziehungen
veranlafte Verjammlung des Erzbiihofs und der Biihöfe von
Dorpat und Defel in Walt md zu Neminiscere des folgenden
Jahres (3. März) eine Tagfahrt wegen Aufbeijerung der Münze
gleichsfalls in Walk jtattfinden, an weld letteren Berjaminlung
Äh der Meifter, der Erzbiichof und der Bichof von Dorpat
betheifigen wollten); die Biichöfe von Tefel, Kurland und Neval
famen nicht in Betracht, da fie feine Münzhämmer befahen. Ueber
das Zuftandefonmen diefer beiden Tage wiflen wir nichts.
Am 8. Juni 1420 famen die Vollmächtigen des Ordens
meijters und des Viidhofs von Dorpat beim Exzbiichof in Yemjat
äufammen und trafen hier eine für das ganze Yand verbindliche
Bejtimmung: imter Androhung der jtrengiten Strafen wird geboten,
überall im Lande von Ct. Johannis ab die Münzprägung auf
zwei Jahre zu filtiren!). Diefem Beichlufe lag wohl die Abficht
zu Grunde, Zeit zu gewinnen, um durch ein möglichit vollfommenes,
allen Theiten gerecht werdendes Negulativ der Verichlechterung der
Münze, die die wirthfhaftlidhe Entwicelung des Landes zu hemmen
drohte, ein Ende machen zu Fönnen. Und wirklich follte eine fin
den Februar (Mittfaiten) 1421 in Ausficht genommene Tagfahrt
282 Uriprung des altliol. Landtages.
in Wolf fih mit der Verbefierung der Münze befhäftigen!). Ob
fie zu Stande aefommen ift, willen wir nicht.
Die Verfammlung der Landesherren, die zu Ende Januar 1422
in Walk ftattfand, hat nicht nur Beichlüffe im der Münzfe
gefaßt, jondern ih aud mit Mihitänden auderer Art befaht; ein
Nejeh, der vom 28. Januar datirt it und fi im ichwediihen
Neichsardiv erhalten hat, trifft Vetimmungen, die die Kirchlichfeit
und Eittlichfeit der Eingeborenen heben jollten, und verbietet dem
Landesfeinde Pferde und Waffen zu verfaufen; Über die Veichlühe
dinfichttich der Münge it ein zweiter Nezeh aufgelegt worden, ber
fih) aber nicht erhalten Hat. An der Tagfahrt betheiligten fic,
der Erzbiichef für jein Stift und in Vollmadt der Biihöfe von
Cefel und Kurland, der Bilder von Dorpat für fein Stift und
in Vollmacht des Biichofs von Neval und der Ordensmeijter für
feinen Orden und gleichfalls in Vollmacht des Biichofs von Teiel.
Das ganze Yand ift vertreten, die Nezeffe Ichaffen Normen, die
für das ganze Land verbindlich find?)
Der Nezeh vom 28. Januar 1422 hat den liv-
(ändiihen Landtag geihaffen md damit die Grund-
lage gelegt zum Livländiichen Bundesitant. An den Nezei ift ber
folgende Beihluß; aufgenommen worden: um größerer Cinigfeit
willen gedenfen Grzbiichof, Büchöfe und rdensmeifter jährlid)
einmal zufammenzufommen an Ort und Stunde, melde der Erz:
Bifchof beftinmmen toll; „in welfer tosampdefominge men
overiprefen, handelen, nad vormöge jhiden und
richtigen fall alfodane brofelicheit geyitlifer und
wertlifer adte, de dejiem lande jdedelid ebir
unbequeme fyn mochten, und be to jhidende nnd
to mafende, als man denn tor fennende würde
deiiem lande notürftig und nutte to |unde.“ Diejer
Veihluh hat in die Verfaffung der fivländiihen Staatowejen
ein meines Inftitut eingefügt, er Hat die Tagfahrten ber
erseichn
Archiven uud Bibliorhefen,
Jahr 1442 gefept) und U. D,
ivtändifcher Gejcichtsquelten in fchwebiichen
14 Nr. 125 (jälidtich don Schirren in das
Urfprung des altlivf. Yandtages. 283
Eandeoherren, die bisher von Zufälfigfeiten und vom guten Willen
der Vetheiligten abhängig gewejen waren, jtabilirt und in ihnen
ein Organ geichaffen, in dem das politische und das Nechtsleben
der Kolonie in ihrem ganzen Umfange einen Biittelpunft fand.
Damit ift der Landtag, wie er fi uns in der Folge daritellt,
geihaffen, eine in der Verfaflung begründete und im Prinzip an
eine gewiife Negelmähigkeit gebundene Berfammlung der Vertreter
der einzelnen Territorien, deren Veichlüfe für die Mulonie in
ihrem ganzen Umfange verbindlich find.
Der Regeh macht cs den Landesherren, wenn dieles auch
nicht ausdrüdlicd ausgeiprodhen wird, zur Pilicht, fi an der vom
Erzbiichof ausgeichriebenen Tagfahrt zu betheiligen. Es wird eine
aljährliche Veranftaltung des Landtages geplant und wenn die
geitverhältnifie eine Ginhaltung diefer Veftimmuma aud) oft
unmöglich gemacht haben, jo war doc) im Prinzip eine Neget
mähigfeit gegeben und damit der verfafiungsmähige Charakter des
Landtages zu prägnantem Ausdrud gebradht. Der Verathung und
Beichluffaffung auf dem Landtage follen „aljodane brofe
liheit genitlifer und wertlifer adte, de deiiem
lande jchedelih edir unbegueme Iyn mochten“,
unterliegen, alfo nicht nur Fragen der Gejeggebung, jondern aud)
vorübergehende Streitigkeiten zwiihen den Kontrahenten, ja, die
innere und answärtige Politit in ihrem ganzen Umfange. Der
Landtag wurde nicht mur eine berathende, jondern aud) eine
beichließende Injtitution; das ergiebt fih aus den Worten „nad
vormöge ididen und richtigen“ Obwohl num hier,
wie überhaupt im Vittelalter an eine Unterordnung der Minderheit
unter den Willen der Viehrheit nicht zu denfen ift umd mithin
die Beichlüffe des Yandtags, wie diejenigen der früheren Tag
fahrten, mu als Nompromiije zwiichen den Betheiligten anzuichen
find, fo hat dad erjt die prinzipielle Unterordnung der Kolonie
in ihrem en Umfange unter die Beichlüffe des Landtags dieiem
in der Verfaifung des Yandes denjenigen Pla eingeräumt, den
er in der Folge eingenommen hat, Die übliche Bezeichnung für
diefe in der Werfafiung begrimdeten Tagfahrten ift Yandtag,
Yandestag oder gemeiner Yandestag, jeltener gemeine Tagesleiing
oder gemeiner Tag.
281 Uriprung des altfiol. Yandtages.
Infofern mun der Landtag zu einem in der Verfaifung
begründeten Jnititut erhoben wurde, das die veridiedenen Theile
der Ntolonie dauernd zufammenfaßte und jeine Mirfamteit über
das politifche wie über das Nedhtsleben der einzelnen Territorien
in gleicher Weile ausdehnte, it an jenem denfwürbigen
28. Januar 1422 aud) der livländiihe Yundesitaat fonjtituirt
worden. Wohl war das Band ein loderes, doch hier fommt cs
auf das Prinzip an. Exit der fortichreitende innere Ausbau ber
Nonföderation befejtigte das Band, das die Kolonie fortan umfcloß,
und nur allmählich prägte fich in greifbarer Geftalt der Charakter
des Bundesjtaates aus.
Haben wir jomit den Zeitpunkt firiren fönnen, in welchem
der fioländiiche Yandtag und mit ihm der Yundesjtaat entitanden
find, fo liegt co uns jest nach ob, die Entwidelung zu verfolgen,
in der die Grundlagen zur inneren Geftaltung dieier
Schöpfungen gelegt worden find. Zu dem Zwed mihlen wir bie
GSejchichte des Yandtages in den näcjjten vierzehn, auf den epodhe-
machenden Tag von Walk folgenden Jahren betrachten.
Aus einem Wiemorial, welches die Yandjtände bei der
Unterwerfung unter Polen im Jahre 1 dem Bevollmächtigten
des Mönigs, dem Fürjten Nadzuwil überreichten, erjehen wir, da
fich der Yandtag bei den Deliberationen nicht nad) Territorien,
fondern nad Ständen in vier Kammern oder Kollegien theilte,
in deren jedem die gefammten gleich benannten Landjtände aller
Territorien gleicham einen vereinten Etand bildeten; den erjten
Stand, aud Nurie genannt, bildete der Erzbiihof nebjt den
Viihofen von Dorpat, Tefel, Hurland und Reval, dann folgte
der Trdensmeifter mit feinen Sebietigern und Nittern, den dritten
Stand bildete der Adel des gejammten Yivlands, mit dem die
fürjttichen Näthe fi vereinigten, den vierten und legten Stand
aber die Städte Niga, Dorpat, Neval, Bernau, Wenden, Wolmar,
Narıwa, Fellin und Nofenhufen, mit denen zulammen aud) die
Schloßhauptleute jtimmten").
Dies Vierfurieniyftem geht in feinen Anfängen in
die ättefte Periode des livländiichen Yandtages zurüd; fie beruht
of. Dr. ©. &
Dr. & 0. Nottbed.
dt. MHedhtsgefchichte Yio-, Ehfte u. Aurlands;
Is1/108 5.
Isa.
Urfprung des altlivl. Landtages. 285
auf der Deranziehung der Landitände als gleid)
berechtigter Faktoren, wie fie bereits in der Yandeseinigung, die
am 4. Oftober 1435 in Walt abgeichloifen wurde, rechtlich firirt
worden üft.
Der Urfprung der landjtändiichen Verfajung üt in die exite
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zurüczuführen und Mmüpft
gerade an die Geidhichte des Landtages an. In der Verfailung
war nur eine Beeinfluflung des Landesherrn durd) das Dom-
reip. Orbensfapitel begründet. Nun hatte aber eine Entwidelung
ziveier Jahrhunderte die zu Norporationen ic zufammenicliehenden
Vafallenihaften des Erzitifts, der Viothümer Dorpat und Tefel
und der Lande Harrien und Wirlend, jowie die dem Hanfabunde
angehörigen Städte Riga, Dorpat und Heval zu einer fo mächtigen
Pofition erhoben, daf; ihnen auf die Dauer eine Betheiligung amı
Negiment nicht verjagt werbeu fonnte, zumal fie den der livlän-
diichen Heimath nicht entiprojienen Landeoherren gegenüber als
die natürlichen Vertreter der Landesinterefen gelten mußten.
In den Urkunden und Briefen, die auf die erjten Tagfahrten
des fünfyehnten Jahrhunderts Bezug haben, eridheinen die Yandes-
herren nod) als unbejchränfte Vertreter ihrer Territorien. Dod)
icon die Materie, die dieie Tagfahrten beihäftigte, veranlaßte
eine Heranziejung der Städte: die Aufbeiferung der Yalıta war
nur durd) Roneifionen jeitens der großen im Vefige von Mlünz
hämmern befindlichen Städte möglid. Es ift befannt, dah zur
Tagfahrt im Februar 1419 der Math von Niga und zum März 1420,
zum Februar 1421 umd zum Januar 1422 der Nath von Neval
geladen war, und es jcheint, da 1419 und 1420 aud) die Magi-
itrate von Neval und Dorpat von ihren Kandesherren Aufforde-
rungen erhalten haben; 1419 waren aud Vertreter der Harrifch-
Wiriihen und der Dörptichen Nitterihaft und des Dörptichen
Domfapitels anwejend!). Wie weit diefe Stände die von den
Landesherren gefahten Beichlüjje beeinfluit haben, willen wir nicht.
Ein Einftuh der Stände zeigt fi) erit im Nezeh des in
Wenden veranflalteten zweiten Landtages. Dieje Urkunde
ift vom Auguft 1422 Datirt und trifft Bejtimmungen über
VWB 5, zu me ar m ai mir
286 Unjprung des altlivl. Landtages.
die Müngprägung. 6s reyefliren hier der Erzbiihof, der Ordens:
meifter nebjt einer Anzahl Gebietiger, aud in Vollmacht der
Yifchöfe von Defel, Kurland und Neval, jowie eine Vertretung
des Viichofs von Dorpat „noch vade und volbort und
willen allen unien underfaten, als capittelle,
rittere und fnedte und derjtede in Lifflande,
der wi alle ere vullmehtigen boden bi uns
achat Haben"! Zum Landtage vom Januar 1424, deiien
Nezeh fih nicht erhalten hat, waren and) die Domcnpitel von
Niga, Dorpat und Defel, jänmtliche Nitterfchaften, fowie Bürger
meifter und Nathmannen in Walt verammelt?). Der Rezeh vom
. Oftober 1424 ift von den Landesherren, beziehungsweile von
ihren Vertretern „für fid und in Vollmadt ihrer Unterjajlen“
ausgejtellt); ein Artifel diejes Mezeiles lautet: „Und wes
dejulven dejfes landes herrn denne na rade und
autdundende erer getrumwen eyndredtidlifen
orbenerende und ihidende wurden... batmen
fiob denne furbat darna ridite.” Demgemäh find
au die Veichlüfle des Yandtages von 1426, die am 18. Januar
vegeffirt wurden, von den Landeoherren „nad rade unde
vulbort unfer rede unde ghetrumwen dejies
landes“ gefaßt"). Somit find die Yandesherren vom Augujt:
landtage des Jahres 1 ab in ihren Beichlüffen vom Nath
und Volbort ihrer Stände abhängig, während die Nejeffe nach wie
vor mr von ihnen unterfiegelt werden.
Einen gewifien Abfchluh hat diefe Entwidelung in der
Landeseinigung gefunden, die am 4. Dezember 1435 auf einem
Kandtage in Walt abgechlofjen wurde und in der die Grundlagen
zum inneren Ausbau des Landtages und des Yundesjtaates gelegt
worden find").
Die Yandeseinigung von Walk bewegt fi
vollfommen in dem Nahmen, der dem Verfafiungsleben der Kolonie
YUD 5, gar
YUDT,
YA DT, du
BT,
YUBS,
Urfprung des altlivt. Yandtages. a87
durch die Vegründung des Yandtages gegeben war, und ift Iediglich
als eine Phale im Ausbau des Bundesftaates anzuichen. Es
entiprad) vollfommen den Aufgaben, die dem Landtage bei feiner
Gründung 1422 zugewiefen worden, wenn hier in Walt die auf
dem Landtage vertretenen Faktoren fid) gegenfeitig ihren Nechts-
zuftand garantirten und die Beitimmung trafen, daß fortan alle
Streitigfeiten unter ihnen, bevor die Parten den Nedhteweg ein-
icplügen, einer aus den unbetheiligten Gliedern des Landtages
beitehenden Austrägalinftang vorzulegen feien, daß fernerhin mit
vereinten Kräften alle „Selbitgewaft” unterdrüct und feind
liche Einfälle abgewehrt werden follten und daf jchliehlih Angriffs
friege nicht ohne Nath und Volbort der Nonföderation unter
nommen werden dürften, wollte die friegführende Partei fid aufs
Land jtügen.
Die eigenartige Form, in der dieje Veichlüffe ins Leben
traten, — eine auf jed)s Jahre abgeichlofiene Yandeseinigung
erflärt fih einerfeits daraus, daß die Eriftenz des Yundesftantes
den Zeitgenoffen noch nicht zu Alarem Vewuftiein gefommen war,
andererjeits aber daraus, da; die fontrahirenden Parteien bei den
unficheren politifchen Werhältnifien im Lande daran zweifeln
mußten, daß Beichlüjie, wie die bier auf dem Yandtage gefahten,
von längerer Dauer fein fönnten. Schon 1 drei Jahre nad)
dem Yandtage, der den Yundesftant geihaifen, fand der Abihluß
einer Landeseinigung in Ausficht, cbenfo im Sommer 1429);
in der Folge find wiederholt Kandeseinigungen abgefchlofien worden,
die fid) in der Form an diejenige vom d. März 1435 anfehnten.
Zeit dem Yandtage vom Auguft 1422 ericheinen die Yandes
herren in ihren Veichlüfien von dem Math und Volbort ihrer
Stände abhängig, in der Urkunde vom 4. Dezember 1435 rüden
die Stände den Kandesherren als gleihberehtigte Nom
trahenten zur Seite. Schon eine zeitlich nicht mehr zu bejtimimende,
den Jahren 1413 bis 1433 angehörende Einigung der Dorpater
Stiftsfände beruhte auf einem WBertrage zwilden bem
Landesherrn und jeinen Ständen). Ju Walk ift ein Vertrag
HUB. a dr 6
UBS u
288 Urfprung des altlivl. Fandtages.
zwifchen Landeöherren und Ständen des ganzen Landes abge
ichloffen worden. nn der Urkunde vom 4. Dezember 1435
eridjeinen die Kontrahenten in folgender Neihenfolge: der Erz
bifchyof, die Viihöfe von TDorpat, Tefel, Kurland und Neval,
Pröpfte, Defane und Domfapitel der genannten Stifter, ber
Ordensmeifter mit einer Neihe von Gebietigern, die Vollmächtigen
der Nitterihaften des Erzitifts, der Visthümer Dorpat und Tefel
und der Yande Harrien und Wirland, jowie Bürgermeiter und
Rath der Städte Riga, Dorpat und Neval. Die Urfunde ift
von jünmtlihen Kontrahenten befiegelt worden.
Deutlich unteriheiden wir hier fünf Gruppen: bie
Prälaten des Yandes, ‚ihre Domkapitel, den Trden, die Nitter-
ihaften und die drei Städte. Wenn wir nun von dieien fünf
Gruppen die
Domkapitel ftreichen, deren politiiher Einfluß im
Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts ganz auf die Stiftsräthe
überging, jo haben wir hier die Gruppirung, wie je fi für den
Ausgang der angejtammten Periode aus dem 2 dem Fürjten
Nadziwil von den Ständen überreichten Memorial ergiebt. mit
it, wenn wir von einigen Modifitationen abjehen, ichon auf dem
Landtage vom Jahre 1435 die Grumdlage zum Bierkfurien-
ipftem gelegt worden, das für den altlivländichen Landtag
harafteriftiich it und Analogien zur Urganijation des deutichen
Neichstages bietet. 4 dv. Gernet.
ae
Die Eingeborenen IL = Kivlands
im 13. Jahrhundert.
Rortfegung.)
Im jedem Gebiete befand fid nämlich eine Anzahl befejtigter
Mäpe, Burgen, welde den Umwohnern als Zufluchtsort in
geiten der Gefahr dienten.
Solche Burgen, welde Heinrich von Lettland castra nennt,
und die im früheren Satein auch alo tes bezeichnet werden,
finden id im großer Zahl über ganz Mittel und Oft-Europa
jerftreut, befonbers auf dem Zicdelungsboden der Weililaven').
Diefe og. Heiden: oder Yauerbirgen waren im alten Liv:
fand an möglichjt unweglamen Orten angeleat, fo dafi die Natur
die Verteidigung derjelben erleichterte. Natürliche Bodenerhebungen,
Bergfuppen oder Yandzungen an einem See oder einer Fluhibiegung
wurden ausgejucht und dann fünftlidh befeitigt. Nicht felten lagen
die Burgen anf Voraftinfeln, wie fie häufig hierzulande vor:
fommen, md mur eine female Fünftliche Strahe aus Eichen:
%) Yitteratur fiber Yurgwälle, vgl. P. Jordan, „Beiträge zur Geographie
und land." Anhang „eher die Yanerburgen.“ Neval,
1850. &. 84, Anm. Ci in der St. Emmeraner Urfunde (zw. 66 u. 800).
Bl. Mei ü h Nimbert, „Vi rül” Stap. 30
braucht eivitas und urhs_ prom ivitates der Cor werden wohl
ud Burgen gewejen fein.
290 Die Eingeborenen Pivlands im 13. Jahıh.
ftämmen, eine Art Knüppelbrüde, dazwülden auch ein gepflaiterter
Damm führte dahin").
Die Burgen feinen alle nach demfelben Prinzipe angelegt
worden zu fein; die Unterichiede erklären fih durch die Ver:
jchiedenheit der topographiichen Verhältnifie und des Baumaterialo,
fowie durch Größe und Stärle. Ein meift vunder oder ovaler Wall?)
aus Erde und Steinen mit jehr breiter Yafis, nad) oben jchmäler
werdend, wurde zunächit mit BYenupung natünficher Yodenerhebungen
am gewählten Trte aufgeführt und zwar jo, dab der Boden des
Jnnenraumes höher alo die äußere Umgebung war. Die Um:
walfung hatte meilt zwei Zugänge oder Thore, zu welchen fchmale
Auffahrten hinaufführten. Oben auf dem Walle befand ic eine
jtarfe Vrufmvehr aus Paliffaden, jeltener aus Steinen, welche
legtere, je nad) ihrem Material dur, Erbe ober Moos verbunden,
in Art eines Eyflopenbaues aufeindergeichichtet waren®). In den
ftärferen Burgen scheint innerhalb dieler Bruftwehr noch eine
zweite gewefen zu fein, jedenfallo wieder ein ftarfer Kaliffadenzaun*).
Das Innere der Burg, in welcher fid ftets ein Brunnen oder
eine Quelle befanden"), war durch hölzerne Gebäude eingenommen,
in denen Dienichen und Vich während der Winterfälte Unterkunft
fanden und der nöthige Proviant aufbewahrt wurde. ®).
Sat ER
in Kin: und d Ehjtlon
and Latrel (Mich)
eben. Die el mai Verbreitung der Eichen
1i. Qei Warbola (darrien)
gl. Jordan, Bawerburgen.
Die Aorm eines a
. Duni 805. Nr. I
®) Ueber Bnrgenbefeftigungen vgl. Heinr. U
30, md 1. ac. auch Neimdronit L. i
Holymayer, Cfiliane 1. .
9 Heinr. Chran. Lyv. 15, 1:
&) Ebenda Kal. Holzmayer, RM. der in
alten Burgen Teiels Brunnen fand. Tesgl. Graf Y. 4. Mellin in Warbola.
Bgt. Hupels „Nord. Miscell.“ Wo. 1 zo,
% Heine. Chrom. Lyv. 16, 3
Korwall. Lyl. „Dün
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 291
Die Größe der Burgen war fehr verichieden; hing von
den gegebenen topographiichen Verhältniien ab. Meift war fie
nicht bedeutend, denn dem Bejtreben einen möglichit großen Raum
zur Unterbringung der geflüchteten Weiber, Ninder und Heerden
zu gewinnen, frat der Umftand entgegen, daf; die Bef
nicht zu ausgedehnt fein durften, da das die Vertheidigung
erichwert hätte!).
Daher finden wir bei mehreren Burgen eine Art Vorburg,
welche, im Scnpe der eigentlichen Yurg gelegen, mehr oder
weniger befejtigt war. Die Befejtigung derfelben bejiand meijt
in einem einfahien Hagen. Abgefehen von jolden Worburgen,
welche duch ihre günftige Yage den Charakter einer zweiten Yurg
hatten und die deshalb wohl aud) jvı tiger be] 1 wurden,
waren die meilten derfelben nichto weiter wie befejtigte Dörfer.
Der lateinische Ausdruc für diefelben war suburbium. Heinrich
erwähnt ihrer nur bei drei Orten: Dolme, Diefothen und Wenden’);
doc) braucht er au mehreren Stellen den Ausdrud urbs von
‘PBlägen, die er jonft nur mit eastrum bezeichnet ®), und, da fd) bei
fajt allen diejen Plägen neben der Burg Vorburgen nachweilen
tajien, jo it es möglid, dal er damit die bewohnten suburbian
meint. An te im eigentlichen Sinne it nicht zu denfen;
Heinrichs Bezeichnung für Stadt it übrigens eivitas"). Die
livländ. Neimcronif nennt die befeftigten Dörfer bei einer
burg „Hadjelwert.* Der Name rührt von dem Hagen her, der
fie umgab; er wird von den deutichen Groberern auf die Fleden
übertragen, welche fih im Schuse fait aller ihrer Burgen bifdeten
und aus denen jpäter die Heineren finländiichen Städte hervor:
4) Die Gröhe einiger Heidenburgen nad ihrem lädeninbalt it berechnet
worden von Wick n „tümberis Apulio.“ Magazin d. Yettijdhe
Seiellichaft. ynitan, 1 &. 10.
„menia suhurhana” 10, 9. X PREV
99. und y I1, 5 Renemorde. IL u
(Waliaı.
4 Dal. Pabit, Se
Tüiliona
Apulia,
>
estote). 30, , (Monc).
dh von Yetrlands Chronit,
urbes in Deel für Stäbe
. 9 erklärt die urbes für Yafchwerte,
Anm. Holymayer,
Kimberts,
202 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jabrh.
wuchien. Noch jest wird in den Oftfeeprovinzen ein leden, der
feine Stadtrechte befigt, Hafelwerf genannt’).
Abgejehen von den Vorburgen, welche nur den Zwed hatten,
den fehlenden Flädhenraum der eigentlichen Burg zu ergängen,
waren die meiften aljo befeitigte Dörfer am Fuhe des Burgberges
und natürlich aud) in Friedengzeiten bewohnt, während die eigent:
liche Burg nur in unruhigen Zeiten bezogen wurde).
Dean hat gemeiniglid) angenommen, da; die Burgen jugleid)
Wohnfige, gewilfermaßen die Nefidenzen, der Neltejtien gewejen
feien, indem man gewohnte Vorftellungen von mittelalterlichen
Verhältniffien anderer Völker auf unfere Eingeborenen übertrug.
Zugleich fügte man fi) auf Deinvich von Lettland, der die
niores nicht felten nad) den Yurgen benannte.
Id möchte mich aber durchaus dagegen auoipredhen. Die
Aelteften waren als Heerführer die Kommandanten der in ihren
Gebieten belegenen Burgen. Es it Nichte natürlicher, alo dal
Heinrich fie daher mit dem Namen der Burg bezeichnet oder
umgekehrt eine Burg nad) ihnen benennt. Zugleich giebt er aber
den Xetteften den Namen ihres Gaueo oder jogar der ganzen
Sandfchaft, während er andererjeito mehrere Leute als die Aelteften
einer und derielben Vurg bejeichnet. Co lajfen ji dafür zahl:
reiche Veihpiele anführen, jo wird der Yette Talibald nad) der
Landichaft Tolowa (18, »), nad) jeinem Gau Tricatun (15, 7.
17, 19, 3) und jchlichlich nad der in Tricatun belegenen
Vurg Vewerin (12, 6) benannt’); als Yeltejte der Letten von
VBewerin werden aber auch Dote und Paike angeführt (15, 7).
Während Heinrid alfo den Hänptlingen den Namen der Burg
ihrer Gebiete giebt, um fie als Befehlohaber der Burgen zu
') Liol. Neimdronit. 9%. 91H, 11010 (Doblen. 0576 (Terwercin).
11045 (odeten. 1 gdobrem. Allgemeiner Gebrand von „hachelwert,“
11357 12€. Bei Riga finder fi jchen 1210 eine Art Safehwerk.
. Chrom. Lv. 1b, z Suhurbia ud Satelwerfe in ipäterer Zeit,
d. Gutzeit, „Wörterfchag der deutjcgen Spradie Yivlands“ 1. 3. Wiga,
IN7T, 169 5.
) Heine. Chrom. Lyv. 15, „ferner: 12, 4
® Aenn es noch einen Crr oder eine Burg
v. senfiler, „Zur Geographie At-Livlands" Mittbeit,
N annimmt, jo wird der all noch fompligirter,
a. d. Kiol, Geich-
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh 293
tennzeichnen, bezeichnet er nicht jelten den Wohnort derjelben als
villa. alfo Dorf oder Hof, ja von dem mächtigen und angejehenen
Tatibald wird jogar erzählt, da er nad) dem Abzuge der brand:
ihapenden Chiten aus feinem Waldverjted heimgefehrt fei zu den
„Bädern“ (ad balnen), womit unzweifelhaft feine gewöhnliche
Heimftätte gemeint it!)
Es ijt natürlich nicht ausgefchloiien, daf der Wohnjit,
der Hof des Hänptlings in der Nähe der Burg Ing, mas ja aud)
wünjchenswerth war, damit er im falle der Gefahr gleich
am Plage fein fonnte. Wenn aber die Yurg, wie jo häufig,
mitten in einem Morajte erbaut war, jo it der Sedanfe von
vornherein abzuweilen, dafj der Häuptling, fern von feiner Ader-
und Viehwirthichaft, am feuchteiten, heihejten und ungejundejten
Orte der Gegend leben follte. Kießlich ift eo nicht unmöglich,
ba ein Häuptling feinen Wohnfis in der Burg felbjt aufne:
ichlagen hatte, falls ihn das in feiner VBeichäftigung als „Bauer“
nicht weiter ftörte.
Wir haben uns aljo unter den Burgen der Eingeborenen
eine Art jtehenden befeftigten Lagers vorzuftellen, das im Allge-
meinen unbewohnt war, vielleicht au durch eine geringfügige
Bejagung bewacht wurde?). Der Zwed derjelben it: der Bes
völferung mit ihrer Habe Unterfchlupf vor Nriegswettern zu
gewähren. Das Zyftem der Anlage ift in Folge deilen immer
bas gleide: ein durd) die Natur möglichit unzugänglider Ort
wird durd) Wall und Graben mod) mehr befeitigt, jo da er der
primitiven Velagerungsfunft der Eingeborenen widerftehen kann).
%) Heinr. Chron. Lyv. 19, 3. Ueber die Bedeutung der Bapitube für
bas Haus der Lehen und Finnen wird in dem Hapitel über Siedelung ausführlich
die Aede fein.
& Kielteicht it fo He
icdehung, II. &. 237.
3) Ygl. P. Jordan, Vauerburgen. Ucber Burgen in Cefel: vgl. Dr
IM. x. v. Luce, Notizen zur topograph. Geichichte der Aufel Cejel. Mittheit,
a. d. fol. Gef. V. und Holymayer, Ciiliana I. Ueber die Yurgen in Yivkanıd
und Surland nichts Zuiammenfafiendes. Acinere Auffäge von A. vd. Yöwis
Mitheil, Ir. Hucdt (Berhamdl. d. Gel, Ehitu. Sei. I. Vielenftein (Leit.
Magazin 14 u. Br ıc. Wgl. and Meipen, Siedehung. II u. I.
© 12.
7. Chron. Lv. Hs a zu verftehen. Dal. auch
294 Die Eingeborenen Fivfands im 13. Jahrh.
In welche Zeit der Yau der Heidenburgen fällt, entgeht
inferer Kenntnih. Sie werden nicht viel jünger fein als bie
iedelung der Eingeborenen überhaupt.
Die Anlage diefer Burgen zeugt zugleich von niedriger
Kultur und großer Energie der Exbauer. Da die Eingeborenen
die verbindende Nraft des Wlörtelo nicht Fannten!), jo waren fie
genöthigt, ihre Wälle dammartig aus Erde und Steinen mit jehr
breiter Bajis aufzuführen, was ungeheure Majien an Dlaterial
und mithin jehr viel Arbeitskräfte erforderte. Man hat für die
Burg Warbola in Harrien die Anfuhr der Steine auf über
32,000, für Narmel in Dejel gar auf über 60,000 Fuhren ange:
Ichlagen ?).
Trog der nicht geringen Anzahl folder größerer und Fleinerer
Burge fonnten Diefe dem Bedürfnih nad Schub nicht immer
entipredden, denn einerjeits genügten fie räumlich nicht bei
zunehmender Bevölkerung, und andererjeito waren die einzelnen
Gebiete doc jo ausgedehnt, dal die entjernter Lebenden bei
plöglichem Mriegslärm nicht mehr hingelangen fonnten. In diefen
Aüllen boten die mächtigen jumpfigen Urwälder den gewünichten
Schug. Hier müffen die Eingeborenen fihere, nur ben Dorfgenoiien
bekannte Schlupfwinfel gehabt haben, wohin fie ihre Weiber,
Ninder und Hecrden brachten. Schr häufig erzählt uns Heinrich
von den „Verteten der Wälder“), in welden die Gingeborenen
Sicherheit fanden, ja in welche fie jogar flüchteten, wenn ihre
Burgen ihnen nicht mehr ficher genug erichienen’). Da cs aber
4 Heinr. Chron. Lyv. 1a
>) Warbola nad, Mellins Angaben.
Nord. Wise. NY. 32,300 Aubren.
Die Angabe it aber zu gering Lt. jordan, Yauerburge SL. Für Narmel
bat Holymager Ciilione 1. 6 Merhordiger Weiie
wird Narmel in der Fol. Neimhronit als Hagen begeidmet. U. 6196 ff. Ebenfo
in Yalth. Nüffows fol. Eronit.
bl der Wurgen Ächeint ehr grois newelen zu fein. Taitor
md €. o. yövis find im DBencfle eine Nrbeit über diejeiben
Bat. „Neue Dörptihe Zeitung“ 1895, 26. Sept. (Nr. 218).
;gaboden allein vermutbet 2 1 über 9 Burgen.
10, 4 aaa 3: „silvanım
Iatehra” 9, .. „tutiora Jen memoris" $, jr
99,5 10, zus Sogar Hufen IL, 9
Die Eingeborenen Sivlands im 13. Jahrh. 295
dody vorfam, da die raubenden Feinde die Maldverjtecte aus-
fpürten, fo wırden fie, falls die Zeit dazu reichte, durch Lerhaue
in Feitungen umgemwandelt!). Won ben SHarriern berichtet uns
Heinrich, daß fie fi in unterirbifhhen Höhlen vor dem Auge ber
Feinde verbargen (23, ı0).
Fanden die einfallenden Feinde die Vevölferung mit ihrer
Habe in den Burgen veridangt oder in die Mälder geflüchtet, To
fonnten fie ihren Feldzug als mißfungen betrachten, denn, da «6
ihnen in erfter Linie auf Beute anfam, fo hätten fie die Burgen
erobern und die Maldverftecie aufluchen müjfen, um dazu zu
gelangen. Es jcheint aber, dah fie fi nur jehr jelten daran
machten, eine Yurg zu belagern, da eine joldhe in den meijten
Fällen für uneinnehmbar galt. Ein erfolgreicher Sturm Tonnte
bei der primitiven Ariegsfunft der Jndigenen nur nad) Verbrennen
der hölzernen Theile der Vefeftigungen verjudht werden. Dabei
mußte aber fchnell operirt werden, da das Belagerungsheer jich
in der von Lebensmitteln entblößten Umgebung, zumal bei jtarler
Kälte, nicht lange halten Fonnte. Außerdem fürdhtete man, wie
schon oben auseinandergejegt worden, einen veripäteten Nückzug.
Heinridy berichtet nur von einer Belagerung der Yettenburg
Bewerin durd) die Ehjten, die j—hon nad) einem Tage refultatlos
aufgehoben wurde (12, n), ferner von der Belagerung der alten
Burg Wenden durch die Ehiten 1210, die jhon ernjthafter war.
Die Velagerer bauten große Holzgerüite, unter deren Schub fie
die Baliiinden der Yurg in Brand zit fegen juchten. Exit am
vierten Tage zogen fie ab, als jie hörten, daß Entjag nahe (14, 7).
Aehnlich verlief die Belagerung der großen Yurg Gaupoo dınd)
die verbünbeten Ehiten 1211. Die Heiden umjchloffen von allen
Zeiten die Burg, begannen die Wälle zu unterminiren md
ihleppten Holzhaufen zuiammen, um die Vefejtigungen zu ver:
brennen. Währenddeilen wurden einige der tapferiten Krieger in
die Umgebung geidjiet, um zu fonragive
Da die Liven fi redtzeitig in ihre Burg zurüdgejogen
hatten, jo mühjen die Ehiten die Werjtece der Zurückgebliebenen in
93 Ebenda 15, 7. Lgl. fiot. Neimchr. 8. 3009 fi. und fi Die
Verhaue oder Hagen (indago) fpielten noch im Ehftenaufftande 1313 eine Holle.
296 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahıh.
den Wäldern gefunden haben, denn cs gelingt ihnen Gefangene
zu madyen und Vieh im ihr Lager zu treiben. Die Belagerung
verlief jedod) erfolglos, da das deutice Entjasheer die Chjten
in offener Feldihladht und auf der Flucht fait gänzlich,
aufrieb (15, a).
Die Verteidigung der Yurgen wurde ebenio energifd) und
funjtlos geführt wie die Belagerung. Die von den Velagerern
gebrauchten Schupdächer werden von oben durch Fener zeritört,
indem Schlitten mit Brandjtoff oder Fenerräder darübergeftürzt
werden. Die anftirmenden Feinde merden mit Steinen und Balken
überfhüttet, die in Brand gerathenen Paliifaden der Bruftwehr
auseinander gerüifen und durd) neue erjeßt, die Nrieger, welche
den Wall eritiegen Haben, mit Lanzen hinabgeitofien. Zugleid,
geichehen Ausfälle in größeren und Heineren Trupps, wobei die
Anlage der zwei Thore den Wertheidigern zu ftatten Fommt?).
Alles das fonnte genügen, um den Anjlurm eingeborener
Feinde erfolgreid, abzuwehren, da Bewaffnung und Kriegsfunit die
gleiche war und die Vertheidiger den Vorteil der gededten und
erhöhten Stellung hatten.
Gewöhnlic hielten fi daher die Eingeborenen mit der Ber
fagerung der Burgen nidyt auf. Sie zogen fdhnell durch das
Land, verbrannten die leeren Dörfer und verfuchten die Mald:
verftede zu entdeden und diejenigen Flüchtlinge abzufangen, die
auf der Sude nad) Vlundvorraih fich zu den verlafienen Dörfern
zurüdiwagten ?).
Offene Feldihlachten Famen bei diefer indianerartigen Nriegs-
führung nur jelten vor. Stiehen aber zwei KHeere aufeinander,
jo wurde mit großer Exbitterung und Tapferkeit gefämpft. Da
Jedermann über die Ninge fpringen mußte, falle er nicht fiegte
oder fiel, fo focht man mit wahrer Todesveradhtung. Der Angriff
jelbft war ungeftüm und mit geojem Sejchrei und Yärm verbunden.
Heinricd) fagt, daf es Sitte der Heiden geweien jei, Schwert umd
Schild aneinanderzuichlagen und ein Nriegsgeichrei auszuftohen,
1211 bei Hein. Ch
ng von zelfin
von None I
10.2 Wpl. 15, | und
15, , von
nl.
Die Eingeborenen Livlands im 13. Yahrh. 297
wenn fie auf ben Feind eindrangen!). Kurz vor dem Neil
ichlenderte man einen Hagel von Speeren über diejen, dann gi
man zum Schwerte und der Nahfampf begann. Zahl und Tapferteit
entichieden den Sieg, von Taftif oder Strategit finden fich jo
aut wie feine Spuren?)
Die Kampfesweile der Lithauer, die überhaupt den ehitniihen
und fettijhen Stämmen überlegen ericheinen, jchildert uns Heinrich
anicaulid. Als die Kreugfahrer mit den Semgallen 1208 einen
Zug nad Yithauen unternommen hatten, fanden fie alle Dörfer
verlafen. Die Vevölferung war alfo rechtjeitig in die Burgen
geflüchtet. itte folgend, machte fi) das Strenz,
heer fofort zum Nüczuge „US die Yithauer das bemertten,
flogen fie auf ihren ichnellen ferden allerjeits um fie her und
jagten, wie es ihre Gewohnheit ift, rechts und finfs umher, indem
fie bald flohen bald verfolgten und durd den Murf ihrer Lanzen
und Stäbe gar Viele verwundeten” (12, 2). Die Rampfesweile
eines echten Neitervolfes! An anderen Stellen wird uns berichtet,
daß die Lithauer auf ihren feinen Nojjen mit Leichtigfeit breite
Ströme paifirten, ja jogar im Frühlingshocwailer die Düna
durhihwammen?). Sie find das einzige Wolf, welches den
deutichen Groberern gefährlid werden follte und ihnen mehrfach,
> ®. in ben bfutigen Schlachten an der Saule (1236) und bei
Durben (1260) jcdhwere Niederlagen beibradhte. Die übrigen
Völker wurden in offener Feldichladht, auch wenn fie in über
wältigender Ueberzah auftraten, und troß ihrer wilden Tapferfeit
fait regelmäßig. geichlagen‘).
>) given 2, , Litpaner 11, 5 Oefeler und Ehften 15, „ Leiefer und
o Yiven umd Leiten 28, 5.
>) Am chejten bei den Yhmiern. gl. Hein. Chrom. Lyv. 9 5
und fonit.
®) Ebenda 17,
18, . Das erinnert am den Vericht des
Maurieins Strategiens (Lil 'ap. 5) über die Ariepsmweile der Donaus
Staven. Bat. R. Henning „209 Beutice Baus. ahburg, i./E. 1850.
. 100. und Müllenhof, a. a. T.
& Yejonders die Ehjten jcilbert Geinrich al6 ehr anpfer, up. 15, , 1. 4
19,5 nic Schlacht bei Starmel (12H) in Heimehronit %. 6106 ff.
Auch die Serngallen müffen vühmend hervorgehoben werden; den Tertilgungstrieg
gegen biefelben fhildert die livl. Reimdpronit. Erit 1290 find fie völlig bejiegt.
208 Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrb.
Hatte bei einem Ueberfalle oder in einem Zujammenftoß
ein Stamm den andern befiegt, jo wurden alle Wiänner nicder-
nemegelt oder gefangen genommen. Die Gefangenen fowie die
aanze Beute winden in die Maja der Sieger gebradit und hier
zur Feier des Zieges Spiele mit großem Gejchrei und Schlagen
der Schilde angeitellt . Dabei ging es wild md blutig her.
Ganze Schlitten waren bepadt mit den Nöpfen der Feinde *).
© gefangenen Männer wurden auf das Graufamjte gemartert,
lebendig gebraten, verjtümmelt, mit Striten auseinandergerifien,
wohl auch den Göttern geopfert”). Während die Yeihname ber
Feinde liegen bleiben ober den Kunden vorgeworfen werden *),
fammelt man die eigenen Gefallenen jorgfältig zur Vejtattung.
ie finnijchen Völfer verbrennen diefelben, wobei fie die Todten
feier mit vielen Nlagen und Trinfgelagen abhalten >).
In der Natur diefer Naub: und Nadefriege liegt es, ba
fie fajt nie aufhörten, doc) fonnten äußere Umftände, wie beider-
feitige Ermattung, allgemeine Hungersnot und Seuchen ober
Yerwidehung der Sieger in auswärtige Kämpfe, einen Frieden
herbeiführen ®).
Der Friede wurde, wie die Abjage, durch inmboliiche Hand-
tungen geichlojien. Man jchiete fd) zur Verjiherung deilelben
aegenfeitin Yanzen zu, worauf die Verhandlungen durch blutige
Opfer beftätigt und befräftigt wurden ?).
Es bleibt nur nod übrig das Kriegsmweien der
Eingeborenen zur Zee zu beipreden.
Vorausgeicit muß werden, da dabei, gemäß der geor
wraphüichen Sruppirung, ausichliehlic die finnifhen Wölferihaften
in Betracht kommen.
Schon mehrfach, ift erwähnt worden, da die Venohner der
ojtbaltüichen Stüften, bejonders Die Nuren und Tejeler, als Sees
N Heinr. Chron. Lv.
> Ebenda 9, ..
®) Ebenda 10 Ars Fun
9 Ebenda 26, 5 und u.
>) Ebenda IH. z (suren),
über Netigion.
© Ebenda 1, 5 1 je
?) Ebenda %, 5 I.
6 20, g (Ehiten). gl. unten das Kapitel
Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh.
räuber im Mittelalter berüchtigt waren. Die alten ffandinavifchen
Sagas und Chroniken erzählen uns von fortdauernden Kämpfen
mit den Piraten des „Tejterife“, von Naubzügen derjelben in
Schweden md Dänemard, von Nachezügen der Nordmänner in
ihren Landichaften. Die Ghronit Heinrichs bejtätigt diefe Nach-
richten. Sie berichtet uns wiederholt von den Zceräubern Tefels
und Nurlands. Als Biihof Albert im Frühjahre 1203 mit
Kreuzfahrern nad) Yivland jegelte, fand er eine Piratenjlotte der
Dejeler im jüdlichen Schweden, welche dafelbjt das Yand verheert,
eine Kirche verbrannt, Gloden und fonjtiges Nirchengeräth geraubt
und Menfchen in großer Zahl erihlagen ober gefangen hatten,
„lo wie die heidniihen Ejten und Kuren“, fügt Heinrich hinzu,
„bisher in den Nönigreihen Dänemard und Schweden zu thun
gewohnt waren“ }),
Ans den vielfachen Zufamenjtößen, welche die Kreuziahrer
mit den Piraten hatten, fönnen wir Einiges entnehmen, was und
die Tedpnit des Seemejens derjelben verdeutlicht. Seinrich unter:
icheidet zwei Arten von Naubfcifen; die eine nennt er pyratica,
die andere liburna®). Die pyratiene waren mit Segeln und
Rudern ausgerüftet 9; fie müflen yiemlich groß geweien fein, da
Raum für eine Bejagung von mindejtens 30 Mann und für
Gefangene, lebendes Vieh und fonitige Beute hatten +), Dabei
waren fie leicht und von geringem Tiefgang, To dal; die Piraten
die flachen Flußläufe der Trepder Aa und der Salis meilenweit
Hinauffahren fonnten®). Was SHeinrid) umter liburna verjteht,
it aus jeiner Darjtellung nicht erfichtlich. Im Alterthume ver
fand man unter navis liburna ein Schiff mit zwei (ipäter bio
fünf) Huderreihen umd leichter Tafelage, nad dem Mufter ber
NT Bl 14, 2 und 50, 2. Vgl. auch über die Cejeler Neimchronit
Eh 14 1 Törameae Lilmmas 10, 205
%3 Ebenda T, 2 R
2 werben
+) Ebenda Mann in einem Schiff erichlagen und «5
bleiben 8 übrig. Ju zwei andern werden 60 Mann erfchlagen. Gefangene und
4,
ı Hua
3) Ebenda 3: Die Ehften fahren bis Treiden. 19, 11: ie
Deieler jayren auf der Salis bis zum Yurtned-See.
300 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh.
Schiffe der als Sceräuber berüchtigten iburner . Wahricheinlich
will Heinrich mit liburna ein Fleineres und leichteres Naubichifi
bezeichnen, denn an anderer Stelle nennt er neben den p}
nocd) minores oder aline naves?). Jedenfalls wurden die liburnae
ebenjo zum Sceraub gebraucht, wie die pyratiene.
Die Zahl der Naubichiffe jcheint jehr bedeutend gemeen zu
jein. 1211 erbeuteten die Deutihen bei Ihoreiba nicht weniger
wie 300 große Naubjchiife und viele fleinere Schiife von den
Ehjten. Als die Nreuzfahrer fh 1215 durd eine Flotte der
Defeler durdhjichlagen mußten, zählt Heinrich etwa 200 Naubidiffe,
jo daß „das ganze Meer wie mit einer büftern Wolke überichattet
erichien.” Diefe 200 Schiffe hatten fid) über Nacht verfammelt,
es find aljo bei der Nürze der Zeit gewifi noch viele Schiife nicht
in Aftion getreten
Ob die Infel- und Strand-Ehiten einen befonderen Hafen
für ihre Naubdiffe, alfo einen Ariegshafen, gehabt haben, wie
behauptet worden ift, muß dahingeftellt bleiben +).
Ueber fürmliche Seeihladten, welde die Chjten und Kuren
liefern, berichtet uns Heinrichs Chronit mehrfad. Wir finden
bier joger Spuren von Taktif. Die Flotte wird in zwei Treffen
geordnet, um die feindlichen Schiffe zu umzingeln; oder die Raub-
Ähiife werden je zwei und zwei nebeneinander in Zwifchenräumen
aufgeftellt, fo dah die Kühne der Angreifer in dieje eindringend
eingejchloffen werden fünnen. Dabei werden die Vordertheile der
Schiffe entladen, wodurd) fie ji heben und den auf ihnen poftirten
Ariegern den Lortheil gewähren, von einer erhöhten Stellung
herab ihre Gegner zu befümpfen In der Schlacht werben die
Schiffe ausschlichlich durd Ruder fortbewegt und zwar mit großer
Schnelligkeit und Nraft 9. Ob die Naubichiife eine oder mehrere
Nuderreihen hatten, willen wir nicht.
9 %gl. €. Guhl u. W. Noner, „Das Leben der Oriedhen und Römer.”
BL 4;
66 je.
®) Heinr. Chron. (Zefeler), 14, z (Kuren).
9) Xgl. ebenda 19,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 301
Auch die Velagerungsfunft im Seefrieg it vecht ausgebildet.
Zwei Mal berichtet uns Heinrich von förmlichen Blodaden. Holz:
Hlöje und ausgediente liburnae werden, mit Steinen bejchwert,
in das Fahrwafier verjenkt. Gegen die im Hafen eingeichlojienen
Feinde werden Brander ausgeichidt, Flöfle, auf denen, Scheiter-
haufen aus trocdenem Holz mit Fett übergoifen, fodern !).
Wenn die Seeränber in der Schlacht eine Niederlage voraus:
fahen, jo festen fie jchleunigit Segel auf und flohen ü
WDieer; wahrjcheinlih waren ihre leichtgebauten NRaubjchiffe den
Ihwerfälligen Koggen ihrer jfandinavifchen und deutichen Gegner
in Beweglichfeit und Schnelligkeit weit überlegen.
Wie weit die nautijhen Nenntnifje der Seeräuber und
t der ojtbaltiihen Küjtenbewohner reichten, fünnen wir
tellen. Offenbar müfjen fie nicht gering gewejen fein,
denn Sonft hätten fich die Piraten in ihren leichten Fahrzeugen
nicht über die Tjtjee nad) Schweden und Dänemark gemwag
noch jeßt gelten ihre Nahfommen als fühne und geiciehte Schiffer,
wohlvertraut mit den Bildern des geftirnten Himmels ?).
vl
Wir wenden uns mun zur Unterjuchung der wirth:
Ihaftliden Zujtände der Eingeborenen.
Der Umitand, dal wir es mit zwei ganz veridhiedenen Naifen
zu thun haben, fällt hierbei weit mehr ins Gewicht als bei der
Vetradhtung der politiihen und friegeriihen Verhältnifie. Denn,
da die Beziehungen der Nationen zu einander jo gut wie aus
ichließlid, friegeriicher Natur waren, mußten fich die urjprüngliden
Unterjdiede der Kriegsführung der finnifchen und Tettiicen
Stämme joweit wir nämlich folhe bei dem niederen Kultur
itande berjelben vorausjegen fünnen — fat ganz verwiiden. Ab-
geiehen von geringerer oder größerer Nriegstüchtigkeit, wie fie id)
aus Gharafter, geographiicher Lage und Gejchichte jedes Volfes
ber haben bei den ‚nfel-Ehiten eigenthümliche, wahre
ieinfich uralte, Namen; jo heit der Polarjtern „Nagel des Kopfes“ oder „der
erlöjggende Stern“, die Mildhitrahe „Steg der Vögel“ 1. gl. Holzmayer,
Dfiliona I. &. 80. ä
302 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrd.
oder Stammes herleitet, it die Art der Kriegsführung, Bewaffnung,
Burgen Anlage u. |. 1. diefelbe. Menigitens in den Mugen des
deutfchen Ghronijten.
Achnlich war c6, wie wir gejehen haben, mit den politischen
und jozialen jältniifen. Auch hier haben wir eigentlich
mahgebende Unterichiebe nicht jeitftellen fönnen. Die Hechts: '
vorjtellungen waren jo ungeordnet, dah von einer Verfaifung der
einzelnen demofratiichen Gemeinweien nicht die Nede jein fann.
Wo fein Nect it aufer dem Nechte des Stärferen, da find aud)
feine Vorrechte, außer jolden, welche perjönlice Stärte und
Viacht verleihen. Im diefem Zinne haben wir die Stellung der
Hänptlinge, der Neltejten, aufgefaßt. Da in derjelben die rohen
Keime einer fozialen Gliederung liegen, ijt betont worden. Zu
einer Entwidelung von Ständen mit feit umriffenen Prärogativen
waren aber die Keime zu jchwad), die Yebensführung der Einzelnen
zu wild. Was heute oben war, fonnte morgen unten jein; c6
gab fein feites Vejtehn, keine organiihe Entwicelung.
Der Schatten ewiger Mriege fällt auf das Leben der Ein-
geborenen Alt -Yivlands. Naub und Mord, Feuer und Blut
brüden ihm ihren Stempel auf.
Wie ein vother Faden zieht jid) der Einfluß des ununter:
brodenen Nriegszutandes and durch die wirthidhaftlicen Wer:
hältwifie der Wölfer; auch bier verwildht er mande nationale
Xericjiedenheiten. Tas giebt uns die Möglichkeit, die wirth:
ihaftlihen Zuitände der finniichen und lettijhen Stämme gleich
zeitig zu beipreden. Dabei joll die nationale Eigenart jedes
Volfes, joweit fie uns deutlic) erkennbar entgegentritt, jorgfältig
betont werden.
Der Nulturguftand der Eingeborenen war foweit gediehen,
dah fie aus der Phaie des Nomadenthuns in die des Aderbaues
übergetreten waren, und zwar jeit geraumer Zeit.
Im 13. Jahrhundert finoen jid) überall feite Siedelungen.
Schon oben ift der prinzipielle Gegenfab in der Siedelungs-
fe der finnifchen und fettifhen Stämme berührt worden.
Grjtere wohnten in Dörfern, lestere in Einzelhöfen. Dieie Ver:
Äcjiedenheit der Ziedelungsweile finden wir bio in die neuejle
geit. Exit in unjerem Jahrhundert ift fie im Begriffe zu ver:
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jadrh. 303
fchwinden, jeitdem man begonnen hat, die ehjtniichen Dörfer treu:
zulegen. Mo wir in früheren Jahrhunderten Ausnahmen von
der regelmäßigen Siebelungsweile treffen, find jie in den meijten
Fällen auf fremde Einflüje oder außergewöhnliche wirthichaftliche
Verhältnifie zurüchzuführen ').
Heinrid) von Lettland macht feinen Untericied ywiiden
dorfartiger und einzelhofartiger Siebelung; er nennt beide villa,
feltener villula. Vielleicht will ev mit leßterem Ausdrud, ber
zweimal für die Siedelungen der Yettgallen gebraucht wird),
Einzelhöfe bezeichnen. Dagegen betont die livländifche Neimchronit
ausdrüdlic, daß die Letten in Einzelhöfen wohnten. Sie jagt:
dA nad) liet ein ander lant,
die fint Letten genant.
die heidenihaft hät Tpehe fite,
fie wonet nöte ein ander mite
fie büwen bejunder in manden walt?).
Dafı dagegen die Ehften in grofien und volfreichen Dörfern
lebten, geht aus vielen Stellen der Chronit Heinrichs hervor.
&s werden jogar im Dorfe Garetjen in Ierwen Strafen und
Häufer aufgeführt. Wir haben uns jedod unter den Dörfern
der Ehiten feine planvolle Dorfanlage mit geraden Straßen und
geichloffenen Dörferreihien vorzujtellen. Was Tacitus von den
Dörfern der Germanen erzählt, tät fi auch auf die Dörfer der
Chiten übertragen’). Sie beitanden ohne Zweifel in einer Reihe
9 Xal. A. 0. Tranfehe-Hojened, „Öutähere und Yauer in Yioland im
17. u. 18. Jabeh.“ Strafiburg, 1890. S. 11 f. Semgalfen: fiebe weiter unten.
a1 3; dagegen villulae bei Ehiten (Walgatabatwe): 24, „und
villae bei Yett
zeichnet die Tex
Behöft. Bat. R.
S. 196, Anm. 4.
DE 5. Spöbe fie feltfame Sitte, nöte -- ungern. Weipen,
Ziedehung I. 3. 184 bezieht dieje Stelle jätichlic auch, auf die Ehiten.
89. 15, 5 „villa Carethen pnlcherrinm et magnn et popu-
ent omnes ville in Gerwen et in tota Estonia fuerunt.” Ferner:
1, 5. Der Sprachgebrauch it überhaupt unfidher, 1. ber
a Cum 500) mit villa bald ein Dorf, bald ein einzelnes
Schröder, Lehrbuch der deutjchen Nechtsgeichichte. Yeipzig, 1880.
Pe
3) Germania NVI. Vgl. Henning, d. deutihe Yaus, &.
Siedelung I. &. 46 f.
und Reigen,
304 Die Eingeborenen Livfande im 13. Jahrh.
von Höfen, welde an einem Fluhlaufe, oder font in geeigneter
age, weilerartig jufammengerüdt waren.
Die dorfartige Siedelungsweife der finniicen Stämme muf
fehr alt fein. Vielleicht ijt fie gleich beim Webergange aus dem
Nomadenthum zur fejten Siedelung entjtanden, der in eine jehr
frühe Zeit fällt. Nosfinnen jagt in feiner Finnifcen Geihichte:
„Die Zeit, in welder die kota (das Zelt) des Kappen bem Finnen
zum koti (Haus und Hof) ward, gehört ber Sejchichte nicht mehr
an; denn jchon die ältejten Spradjichäge deuten auf einigen Aderbau
und feite Wohnfige hin“).
Da wir im 12. und 13. Jahrhundert die lettiichen Stämme
in Gingelhöfen, die finnifchen in. Dörfern finden, jo fünnen wir
annehmen, dal die finnifchen Stämme die dorfartige Siedelungs-
weile fon vor Berührung mit den Yetten gehabt haben. Denn
s ilt fauım anzunehmen, daf fie bei den jonjtigen Veeinfluilungen,
welche fie durd) die lito-flaviide Nation in Bezug auf ihre Wohn:
tten erlitten, ihre Siedelungsweife geändert hätten, während die
Ketten die ihre beibehielten.
Der lettijhj-lithauiiche Einfluß auf das Haus der Weit:
Finnen ift deutlich) erfenndar. Mir finden nämlich neben der
Urform des finnifhen Haufes, der aus der Jurte der Nomaden
bervorgegangenen kota oder koda, einer zeftfürmigen mit Yaum:
rinde gededten Stangenhütte, die pirtti?). Die pirtti ijt ein
vierediges Vlodhaus ohne Nauchfang mit einer Feuerjtelle aus
loder übereinandergeihichteten Steinen. Das Wort pirtti fommt
aus dem Lithauifdh-tettiihen und bezeichnet Yaderaum, Nod) jebt
heit die altlettiihe Yadtube pirts. Die Art des Yabens ift bei
den fettiihen und finniichen Stämmen diefelbe: durch Begiehen
der glühendheifen Ofenjteine wird ein ftarfer Dampf erzeugt, jo
daß die Vadjtube nad) Schliehien der Thüre und etwaiger Fenjter-
fufen zu einem Dampfbade wird. Der lithauijch-lettiiche Typus
der Pirte hat fi) aljo bei den finniichen Stämmen eingebürgert
und die dortigen Kaus-Typen, kota und saum verbrängt. Der
3) 9. nosfinnen, „Sinnifche Geichich
2 Ngl. Meiven, Ziedelug II. ©. 1
„Baus und Hof in ihrer Entwidelung mit Bezug auf die
Neipgiq, 1888. s,
Ad. Schwer. Leipjig, IN7I. &. 16.
ud}. von Hellwald,
Wohnfitten der Wölter.”
Die Eingeborenen Sivlands im 13. Jahrh. 305
saun oder die sauna war eine in den Voden gegrabene Höhlung
mit einem Ofen in der Dlitte und einem Dade über der Erde,
aljo offenbar aus der Gamme, der Erdhütte der finnifchen
Nomaden hervorgegangen. Neben dem ITppus der Pirte, weiche
zugleich Vadjtube und Wohnhaus war, haben id) bei den Chiten
Bis auf den heutigen Tag kota und saun erhalten’).
Da der Hauotypus der Pirte fid) aber aud) bei den eigent:
lichen Finnen nadhweilen läht und fehr alt jein muß, da das
finnifhe Nationalepos, die Ralevala, ihn fennt, jo it eo immerhin
möglich, dah er hen vor Berührung der finnijchen Stämme mit
den Yetten im jpätern Yivland eriteren befannt geweien üt?).
Eine zweite Veeinfluffung des finnischen Haujes durd) die
Letten findet fich, wie mir jheint, im Worte maja. m Lettiichen
heißt mahja Wohn: oder Heimjtätte, dann Haus, Yeimath; im
Ehjtniichen ebenfalls Haus, Wohnung; im Liviihen bedeutet mai
oder moi Nachtlager. Nach Aylaniit it das finniiche Wort maja
dem Lettiiden entnommen’). m 13. Jahrhundert war der Aus:
drud maja jedenfalls üblich. Heinrid) von Lettland nennt, wie
wir gejehen haben, den Verfammhungsort, das Lager, der indigenen
‚Heere maia }).
Wenden wir uns num zu dem Hanje der Letten.
Bezzenberger hat in feinen Lnterfuchungen über das
fithaniiche Haus feitgeitellt, da das ättejte Lihawische Wort für
$aus nämas ijl’). Nämas, lettiid) nams it der Heerdraum,
das Nauchhaus. Paltor 5. VBeuningen meint, daf der als Rüde
und Rauchhaus benugte Flur des ältern turländiichen Haufcs, der
ivegiell namıs genannt wird, ebenfallo als Kern des altlettüichen
Haufes anzujchen ijt’). Wie der miprüngliche nams der lito-
Y Ueber kota und saun ugl. A. Aplquit, „Die Aulturwörter der weite
finnifchen Spraden,“ Deutihe Wusgabe. Belfingfors, IN73
Äerner: Meipen: Siedehung II. &. 199 fi. III.
2 Bl. %. Ahlgwiit, Rafturwörı
>) Ueber moja vgl. Ahlquift, Nut
feuiiche Haus.“ Magazin d. Lett.
Hd, ; 2, z und. Lt. oben ©. 2L.
5) A. Berzeuberger, „Ueber das Fitaniihe Haus." Altpreufiiche Monats«
fehrift 23. Nönigsberg, ISS. S. 41 und -
*) Beuningen, d. leitiiche Haus.
3. Beuningen,
Mitan, 1804
3
206 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
flavishen Stämme aber ausgeiehen hat, wird von feinem Noridher
geiagt. Bielenjtein vermuthet, dab eine Art Sommerfüce, mie
fie dazwiihen in Livland (nicht in Nurland) vorkommt, „der allers
ältefte Typus der lettüchen Wohnungen it.“ Er beichreibt diefe
Sommerfüche, welche nams oder naminsch genannt wird, als
„vom Wohnhauie abgeiondert, oft nur von fpit zuammengeitellten
Stangen erbaut). Das iit aber, wie mir jeint, weiter nichts
wie die altfinnifche Fota. Ihr Vorkommen in Yivland würde fc,
auf altliviihem Siedelungsboden ohne Weiteres erklären lajien;
follten jie fi) auf alttettiichem Gebiete finden, jo wird man eine
inätere Webertragung diejer einfahren und praftiichen Gebäude
annehmen fönnen °
Id möchte mich aber dagegen ausiprechen, dai der Topus
der KRota der Urtppus des Lühnnifch-tettiihen Haules geweien it.
Sollte diefer vielleicht nicht in der Pirte zu juchen jein?
Zwar werden, nad) Bezzenberger, die Pirten „in den
älteften Quellen nicht erwähnt, obgleich eo unzweifelhaft ift, ba
diefe Häuschen jhen in fchr früher Zeit vorfamen, da fie einen
echt litawifchen Namen führen und mit demjelben (pirts) aud) von
den Leiten benannt werden“ ®), aber wir müflen doc annehmen,
dafı der Typus der Pirte nicht nur jehr alt, jondern aud) Herrichend
gewefen fein muß, da er zu den Weitfinnen übergehen umd deren
urjprünglichen Haustypus verdrängen fonnte). Dah der nams
aus dem pirts hervorgegangen fein fann, it um fo leichter
möglich, alo zwiichen beiden in Form und Yanart eigentlich Fein
Unterichied bejteht. Das Spezifüche, weldhes beide gemein Haben,
it der Heerd, der Ofen, welcher nicht nur zum Wärmen und
93 Anmerfung zu Veuningen, d. Ic. Haus Auch in Vezzenberger,
d. fü. Haus.
>) oc) jegt finden wir überall in Finnland und Ehftland folde Sommers
füchen, die aud, den alten Ramen fota bewahrt Haben. Bal. Ahlquiit, Rulture
wörter. 5. 101 f. u. 120.
3%) D. litauifce Saus. 12
9 And zwar nicht nur als Baditube, denn cine folhe heit blos im der
Gegend von Abo pirtti, jonjt saun oder sauna. fondern als Wohnftube, Haus.
Das ift umfo bemerfeuswerther, alo die Finnen die Sitte des Dampfbadıs
ebenfalls von den Litojlaven übernommen haben. pl. Ahlquüt, Aulturwörter,
8.1.
Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 307
Speifebereiten, fondern auch zum Dampferzengen dient, ferner
zum Dörren bes Getreides, wovon ned ausführlicher nehandelt
werben wird.
&s ift alfo immer derfelbe Nam, welcher je nach feiner Funktion
pirts, nams oder rija (Norndarre) genannt wird. Mit zunehmender
Rultur verändert id das Haus joweit, daf gefonderte Räume und
fogar gefonderte Hänfer diefen verichiedenen Zunftionen dienen,
doch gehört diefe Entwidelung einer fpäteren zeit an und fällt
aus dem Rahmen dev vorliegenden Arbeit.
Für das 13. Jahrhundert glaube id annehmen zu Können,
daf das Haus der Letten wie der Ehjten und Viven in einer
Pirte bejtand, welche zugleich Wohnraum, Badjtube, Nauchtammer,
Korndarre und wohl and Stall war.
Id möchte mich dabei, aufer auf das oben Angeführte,
noch auf zwei Stellen in Heinricho Chronik jtügen. Diefe berichtet,
dah“ die Düna-Liven 1198 nad Abreife der Kreuzfahrer „de
balneis eonsuetis“. d. bh. aus den gewohnten, üblichen YBädern
bervorgefomimen jeien, um bie Chrijtentaufe abzuidwören; ferner
erzählt fie, da die Ehiten 1215 den Yetten Talibald gefangen
hätten als er aus feinem Waldverfte zu den Bädern heimgefehrt
jei („ad balnea rediisse*)'). In beiden Fällen ericeinen ums
die Bäder oder Badjtuben alo MWohntätte, Yehanfung. Dah dem
deutichen Ehroniften die harakterifttiche Eigenschaft des autochthonen
Hauies als Babitube auffiel, it meines Grachtens bezeichnend.
Die abgejonderte Baditube (pirts. saun) fehlt aud) heute
auf feinem lettifchen oder chimiichen Bauerhofe. In vielen Fällen
wird fie noch bewohnt, theils als Altentheit, theilo als Tagelöhner-
wohnung. In Finnland bringen die Banerweiber ihr Wocenbett
am tiebjten in der Yadjlube zu). Nach ihr führte früher eine
ganze Nlajfe der bäuerlichen Nnechtebevölferung Yivlands, die jog.
Lostreiber, den Namen Badjtüber ’).
2 Dgl. fiot. Reimehronil, 8. 1202 [.,
be der Ehiten erwähnt wi
Ahlgwät, Nulturwörter,
®) Yapjtüber, let. pirtine
herr und Yauer. fm 05.
107.
ehitn. saumamees. Lat. Traniche, Gutse
308 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Wir müjlen uns aljio den Hof der Eingeborenen im
13. Jahrhundert ale eine jehr primitive Wohnjtätte voritellen.
Er beitand in ber Hauptiadhe aus einen mähig großen Bochanfe
ohne Rauchfang und wohl auch ohne fenfterlufen. In dent
bunfeln rauderfüllten Naume drängten fi im Winter um ben
wärmenden Heerd Menjchen und Vieh. Die Kleinen zottigen und
abgehärteten Pferde verbradjten den größten Theil des Winters
im freien, wie diefes mod) jept bei den ugrifchen Wölfen der
Fall it). Neben dem Haupthauje befanden fi Bei den Wohl:
habenberen vielleicht ned) einige Meine Lorrathehäufer. Im
Finnifchen führt eine Art von Vorrathsfammern, welde zum
Schug gegen Naub: md Nagethiere auf hohen Pfojten errichtet
wird, den genuinen Namen aitta. was auf hoheo Alter derielben
deutet, obgleich der Pfoitendau auf Einjfüile des jfandinaviichen
Nordens weilen Fönnte). Der gewöhntiche Aufbewahrungsort
des Getreides und jonjtiger Lebensmittel bejtand bei der Unficherheit
der Zujtände in jiloartigen Gruben. Nad) Deinricd) von Lettland
fanden die Areuzfahrer bei den Yiven von Holme in verichiebenen
Gruben große Mailen Getreide und and) andere Speifevorräthe (4, 2).
Dieje Art umterirdiicher Speicher ift jehr alt. Sie gehören zu den
älteiten Yauwerten der Steppe und chen die Alten berichten uns
von den Thrafern und Sfythen, dah fie in jolhen Zilos ihren
Weizen aufbewahrten 9). In Livland hat fich der Gebraud) diefer
Xorrathogruben jehr lange erhalten. Der Neitende Brand findet
fie bafelbit nod) 1693. Er erzählt, dah die Silos mit Virfenrinde
und Stroh ausgepolitert waren, dah Getreide und Efwaaren, wie
I Dal. Ahlanift, Aultrwörter. und 119.
>) Aitta bei Ahlquit, Aulimemörter. &. 103 und 119. Ueber jlandie
navifche Vorrathshäufer Kioften, jog. Stolpeboden, vpl. .
©. 08 umd Meipen, Ziedelung, I. 3. 18%. Der Name für die Vorratbse
häufer der. fiteslettiichen Stämme kletix. deutich: Aete, it nach Bergenberger
(Das Hitauifche Haus, >. 42 und Magayin d. lettlitterär. Geh. NIX. 3. &. 121)
nicht geuuin.
Kal. Dehn, Aulturpflanzen,
in. &. 118.
ISS und Meigen, Siedelung,
Die Eingebovenen Livlands im 13. Jahrh. 309
Schinfen und Sped, darin verwahrt wurden, und daf; man das
Erdreich darüber zur größeren Sicherheit zu bejäen pilegte ).
In den furzen und heißen Sommern lebten Vienjden und
Vieh wohl im Freien. Die finniüchen Stämme zogen nach uralter
Gewohnheit in die leichte, mit Vaumrinde gededte Sommerfota,
die fich überall aufihlagen lieh, wo wirthicjaftliche Zwede: Nobung,
‚Feldbejtellung oder Beauffichtigung der Neerden es erforderten.
Wie leicht beweglich im Sommer aud) die Letten waren, gebt
aus Heinrich Chronif (23, 5) hervor, die erzählt, dah die Yetten
von Aufenoys ihre Pilüge verliehen und das Yand der Aufien
von Plesfau bewohnten, indem fie dafelbjt den Männern allenthalben
auflauerten, fie tödteten und ihnen „Pferde, Vieh und Weiber"
fortnahmen.
Das Leben der Eingeborenen, joweit «6 nicht auf dem
Kriegopfade verbraht wurde, bewegte ih in bäuerlichen Geleifen.
Die Hauptbeihäftigung war die Yandwirthichaft. Wie alt der
Aderbau bei Finnen und Yetten it, läßt fi nicht nachweilen,
jedenfalls reicht er im jehr frühe Zeiten. Tacitus erzählt von
den Aejtiern, dah fie fleihiger Getreide bauten, als die trägen
Germanen’). Die finnischen Völkericaften fannten einen primi-
tiven Aderban wahricheinlic ihon vor ihrer Berührung mit indo-
germanifchen Elementen.
Es muß an diefer Stelle eine Bemerkung über das Studium
der prähiftoriichen Kulturgeichichte eingeichoben werden. Was wir
von der Nultur der Finnen in den Jahrhunderten bis zu ihrer
Ehriftianifirung wiilen, beruht größtentheile auf Vermuthungen
der vergleichenden Spradforihung. Cs it am Anfange diefer
Abhandlung ausgeführt worden, daf die von Thomfen und
Rosfinnen als germanifch bezeichneten Stammwörter die wichtigiten
Nulturbegrifie umfahten. Die Unterfuchungen Ahlqvifts bejtätigen
diejes. Daneben aber finden fid) unfır je der jlaviichen
und (ito-tettifhen Nationen, weldhe jedenfalls früher zu jehhafter
72.3.% v0. Vrand’s Neifen durch di
d, Yiefland, Plestovien ı. Welt, 1702,
Verbreitung der Cijen in Yin
Mark Brandenburg, Preufen,
gl. d. Lünie,
Dorpat, 1824.
Germania, Cap. Ad.
310 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Lebensweiie gelommen waren, alo die Finnen. Es liegt auf der
Hand, af; der Zeitpunft der Beeinffuflung ebenfo jhwer zu finden
üt, alo der Ort, am weldem fie ftattfand '). Und fchliehlich find
Jertjümer in der vergleichenden Sprachforichung gar nicht zu
vermeiden; das zeigen deutlich die jo Häufig auseinandergehenden
Meinungen der Ehpmologen über einzelne Wortjtänmne N.
Tiefe Erwägungen erjhweren der Gefhichtsihreibung die
Benugung der aus der Sprachforichung hervorgegangenen Nefultate.
Au) die gewiflenhaftefte fritifhe Unterfuhung Tann irren, wenn
ihre Grundlagen jchmwankend find.
Wir haben oben die Siedelungsart der Eingeborenen unter:
jucht und gefunden, dafı die finniihen Stämme in Dörfern lebten,
während die etten nad dem auodrüdlichen Zengnih; der lvl.
Heimchronif die einzelhofartige Ziedelung hatten. Ferner ült
erwähnt worden, da die Grenzen zwiichen den einzelnen Nationen
nicht fauber auseinander zu halten feien, weil wir gröhere Gebiete
mit gemifchter Bevölkerung annehmen mühlen. Auf foldhen (He
bieten wäre eine gegenfeitige Beeinffufiung der Nationen voraus:
zuiegen. Im der That lehrt die Spradhforihung, da; die Höhere
lettische Rultur die niedrigere liviiche ftarf beeinflußt habe; die
Liven hätten dann das Erworbene den übrigen finniichen Stämmen
weiter übermittelt). Da die Yetten ihrerfeits durd) die ver-
hätt alte Nultur ihrer Stammesbrüder, der Lithauer,
beeinfluht worden find, unterliegt wohl feinem Zweifel. Cine
genauere Unterfuchung diefer Beriniujfung würde uns aber zu
weit führen; ebenjowenig Können wir die Unterfchiede ywifchen den
Hochlerten im jegigen Yivland und den Niederletten im jegigen
urland jcharf hervorheben. Dah; die Semgallen ein ganz anderer
99 Vezjenberger meint, geftügt auf Thomjen, Beröringer sc. dal die
tihoniichelettifchen Aiiten fon in den criten Jahrhunderten m. Chr. fricolich,
neben finifcen Völleen in den jeinen 1 hätten. al.
Magazin d. Iendiuerit. Sch. NIX,
2) Nie, Anderfon Ipricht fich ge itettung von Entfehmngen
den finniicen Sprachen aus und meint, dafı fi Vieles
defchaft der mralsaliaiilchen und inde-germanifchen
wachen zurüctjühren Taffe. UBerh. d. Gel. Chin. Sei. IN. Torpat, 18791.
% Yal. Aplgpift, Aulturmörter. 153, ferner: EIN
10, 18,58, 61, 71,75, 17 u. %
Die Eingeborenen Liolands im 13. Jahrh. sıl
Menjchenichlag waren wie die Yettgallen, ijt mehrfach betont
worden; an diefer Stelle mu noch hinzugefügt werden, dah bie
mgallen jedenfalls and; dorfartige Siedelung gekannt haben;
ihre Dafelwverfe, welde die livl. Neimchronit jo häufig erwähnt,
waren ja befetigte Dörfer, nicht Einzethöfe ".
Wir haben nun den Landwirthichaftsbetrieb der Eingeborenen
zu unterjuchen.
Vorausgeichidt mu werben, bafı fi derfelbe bei Ankunft
der Deutjchen auf einer jehr niedrigen Stufe der Entwidelung
befand. Denn obgleid der Aderbau den Eingeborenen jeit vielen
Jahrhunderten befannt war, hatte er fid) nicht aus den rohejten
Anfangsgründen erheben Fönnen, da eine Neihe von ungünjigen
Faktoren feine Entwidelung verhindert hatte. Zunächit fehlte
volljtändig die nachhaltige Berührung mit einer abjolut Höheren
friedlichen Nultur, wie das weitliche Curopa fie durd) Nom erfahren
hatte. Aodann war die friegeriihe und wilde Lebensführung ein
Hemmnih für den normalen Ausbau wirthihaftliher Verhältnifie,
denn fein Wirthichaftobetrieb ift To jehr abhängig von friedlidyen
und geordneten Zuftänden als der Aderbau, da er dauernde Ans
fprüde an die Zeit und Arbeitskraft der Menjchen ftellt. Auch,
das Klima muß damals jehr ichlecht geweien fein; es hat lange
Zeit gedauert, bis die niederjächjiichen Nreugfahrer, die doc) wahrlich
nicht verzärtelt waren, ih an den endlojen nordiichen Winter
gewöhnten. Nach dem geugniife Heinrichs von Yettland, der fivl.
Neimcronit und vieler Urfumden, bededten im 13. Jahrhundert
riefige, oft undurcdringlice Wälder und Dioräfte das ganze Land.
Die Bevölkerung war daher nur fpärlich. Man hat früher
das Gegentheil angenommen, da nad) Heinrid) die Heere der
Eingeborenen meijt fehr jtarf waren). Aehnlihe Schlüfje find
au von den großen Germanenheeren auf die Vevöfferung und
die Intenfität der Landwirthicaft Deuticlands gezogen worden.
Scyon Noicer ?) Hat nachgewiefen, daß eine derartige Schluß:
%) Die alten Preufien deinen dorfartige Siedehung gehabt zu haben.
Il. 3. Yohmeger, Geicüchte von Tit- und Weftpreufien. Gotha, INS. &. 3.
2?) 3.2. Parrot, a.
3) . Hofer, Anfihten ver Loltswiihihat Leipzig, Pl,
312 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
fofgerung falich it, und Lietor Hehn jagt: „Gerade der umgefehrte
Schluß it richtig: je höher die Yebensform, die ein Volk erreicht
hat, dejto geringer der Prozentiag, den cs zu friegeriichen Zügen
verwendet; bei noch unjtäten Wölfen wandert und fümpft jeder
erwachfene Mann“ !). Die jtarfen Heere bei Yeinrid) von Lettland
deuten aljo weder auf dichte Vevölferung no auf lebhaften
Aderbau. Allerdings betont Heinrich mehrfach ?), daß die Dörfer
und Landihaften Chitlands, bejonders Jerwen und Wierland,
volfreich waren, und fpricht von der großen Zahl der Tänflinge,
doc) Haben wir allen Grund anzunehmen, dal; der eifrige Miffionär
die Zahl der Neophyten zur größeren Ehre Gottes übertrieben
hat, aud) wenn wir vorausiegen, dal; einzelne Theile von Jerwen
und Wierland im 13. Jahrhundert dichter bevölfert waren, wie
das übrige Yivland.
Die ununterbrodhenen Kriege forgten überdies dafür, baf die
Bevölferung nicht ammachien fonnte. Wir haben geichen, dafı die
Nrieger — und jeder erwachiene Mann war ein folder —
erichlagen wurden, fallo fie lebend in Feindeshand fielen; mr
felten theilten fie dos Loos der Weiber und Ninder: in die Ger
fangenfchaft geführt zu werden. Wie gründlid die Blutarbeit
verrichtet wurde, zeigt der Bericht Heinriche über das Jahr 1215:
„Die Yetten hatten nicht Ruhe, bis fie deifelbigen Sommers mit
nem Heericjaaren Ugaunien durch Werwüftung verftört und ver:
ödet hatten, fo dal fih weder Penfchen nod) Speifevorräthe mehr
fanden.“ (19, 9.
Diangelnde Nultweinflüffe böher gefitteter Völker, friedloie
Lebensart, rauhes Nlima amd fpärliche Bevölferung find die
Hanptfaftere, welde auf das Wirthichaftsieben der Cingeboren
bemmend wirkten.
Die mächtigen Urwälder bildeten im 13. Jahrhundert die
Signatur der livländiichen Yandichaft. Um den Wald drehte fich
der ganze Mirthichaftsbetrieb der Eingeborenen. Der Wald war
ihnen Alles; aus ihm gewannen fie durch Nodung den Ader für
Y sultuepilansen
2 Chran. Luyv.
Eigen 2.110 j.
INS.
6 ro zc Vgl. mh Lörwis,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Nahrh. 313
ihr Getreide, die Weide für ihr Vieh; er gab in unerichöpflicher
Menge fein Holz zur Fewerung !) umd zum Bau der Hütten; jein
Inneres barg unzühliges Wild, deifen Felle eidung und Tauich
mittel fieferten; und im alle der Roth boten die „büftern Ver
itede der Wälder“ die lete umd ficherfte Zuflucht,
Mitten im Walde ing der Hof oder das aus mehreren Höfen
bejtchende Darf der Eingeborenen. Die Neder entjtanden in der
Nähe, wie 0 das augenblidliche Bedlrfnih des Einzelnen gerade
erforderte. Das gerodete Stü Waldes, der Maldader, gehörte
feinem Pearbeiter nach dem natürlichen Rechte der erfien Vefit
ergreifung (jus primi oceupantis), Der Wald felbii, die aroe
Nährmntter Aller, war Kiemandes Eigenthum (res nullius), d.h.
er gehörte jedem, der ihm muyen wollte.
viel die Quellen uns erfennen laffen, eriftirten feine
toimmuniftiichen Einrichtungen 2). Abgeiehn von Wald und Waller
gab «6 fein Gemeineigenthum. Cs jdeint fogar fein gemein
ihaftliches Eigenthum der Kamilie im Zinne einer Dausfommmmion
gegeben zu Haben. Wir finden den Talibald und feine Söhne
auf geiondertem Pefi; auch erwähnt Talibatd jelbit ausdrüdlich
des Geldes jeiner Söhne’). In Urfunden des 13. Jahrhunderts
wird nicht felten individuelles Ghrumdeigenthum Eingeborener
erwähnt’), dagegen niemals anderer Gemeinbeig als an Wald,
Water und in jpäteren Zeiten an Weide und Mieien. Tai eo
Gemeinweiden gab, Läht fi dadurdı erklären, dal; urjprünglic,
yı Chru
ienorum) im Dorfe Garetben.
3%. Sjölin in Helfingfors jdein eine Art agrarifcien Kommunismus
bei den alten Ainnen anzunehmen, doch fagt cr ansdräclich: ein weinde»
verband wie der grofeufflice Mir beftand niemals. Lat. Meiten, Siedelung
1 h ir irgend eine joziale Vereinigung,
Genoffenichaft ud dgl. giebt cs nach Ahlaniit (Multurwörter
im Finnifchen wicht, blos pitäjt (irchipieh) „heint Die gewine Benenmang
irgend einer Kommune zu fei
DR
9 erwähnt der Haufen Bremuholz (runs
5 Ann.
1. auch Wittbeil,
tiot. Gef. 1 .
hereditas-Erbe. Lgl Liv. U. BL. 25 Tai audı die Si
den ehitnifcyen Dörjern jo hieien, geht deutlich hervor aus Yivl. U. B. I. 475.
314 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahrh.
der Wald jelbjt die Weide bildete". Marfgenofienichaft, Allmend,
Feldgemeinjchaft mit Klurzwang ober gar mit Verlofung der An:
theile, furz alle die Formen fommunitifcen Srumbeigenthums,
icheint es weder bei den lettiichen nod) bei den finnischen Stämmen
gegeben zu haben ?).
Die Tednit des Aderbanes war äußert primitiv. Cs
herrichte ganz allgemein die wilde Vrennwirthidaft, die man als
eine Art nomadijchen Aderbanes bezeichnen fann. Die Waldbrenn:
wirthichaft bejteht darin, da an einer belichigen Stelle des Ur
waldes die Yänme niedergefchlagen und an Ort und Stelle ver-
brannt werden, wodindh ein freier, Luft umd Ficht zugänglicer
Pag geichaffen wird, der dann zum Ader gemacht werden fann.
Der Wald wurde im Sommer geichlagen, im darauffolgenden
Frühling wurde das Holz verbrannt md der durch die Wiche
gedüngte Boden oberflächlich aufgerifien und nad) einem Negen
bejüet. Im Auguit fand die Ernte jtatt, dann blicb das Yand
den Winter über fiegen, um im Frühling abermals bejäet zu
werden. Das dauerte folange. bis der Yoden volljtändig erichöpft
war; alsdann wurde diefer Acer verlafien und eine neue Nodung
in Angriff genomme Das verlaffene Land, meldes fid,
allmählich) mit einer Grasnarbe und Gejträud bedeete, diente —
wie übrigens der ganze Wald - - als Weide, bis cs vielleicht
wieder einmal durd Rodung in Feld verwandelt wınde. An eine
Negelmäßigfeit der Aubung haben wir beim Ueberflujle jung:
fräntichen Bodens nicht zu denfen.
Eine Abart diefer einfachjten und natürlichjten Brennfultur,
welche im europäichen Norden jedenfalls die ältejte Wiethode des
derbaues daritellt, war das jog. Schwenden der finniichen Völfer.
1) Ueber die Ausbildung der Eigenthums- u
geborenen unter deutfcher Herrichaft wird an anderer
werben.
>) 8. Samprecht (Deutfche Firteratur + Zeitung. IND2. Nr. 6) feht bei
den Eingeborenen Alt-Livlands fommuniftifce Einrichtungen voraus. Cb bios
nad) Anologiefchlüffen oder auf Grund mir unbefanmer hüteriider Tuelten,
weiß ich nicht.
>) 2gl. W. Kocher, Nationalöfonomit des Aderbaus. Stuttgart, 1885.
&. 80 f. Weiten, Siodclung I. &. 60.
Vefitverhäftnifie der Ein:
le ausführlich gehandelt
Die Eingeborenen Yivlands im 13. Jahrh. 315
Diefe ebenfalls nralte Diethode der Brenmwirthichaft beiteht darin,
dah; das niebergeichlagene Waldholz, befonders da Straudwert,
in regelmäßigen Haufen über die Holzungsfläche verbreitet, mit
Erde oder noch beifer mit Nafen belent und dan angezündet
wird. Die verbrannte Gaasnarbe macht die Ajchendüngung nocd
intenfiver, jo dah es möglid) wird, bis 4 Ernten nacheinander zu
erzielen. Allerdings verwandelt fi der feiner Srasnarbe beraubte
Boden noch langjamer in Wuichland oder gar Wald als der
gewöhnliche Rodungsader. Da aber die Waldäder Mein waren
und fi) daher jdmell befanıten, jo fonnte aus ihnen in 20 bis
30 Jahren immerhin wieder Wald werben).
Die rohe ertenfive Brennfultur hat fi in Yivfand bis in
unjer Jahrhundert erhalten. Zie mul bei den Eingeborenen das
ganze Mittelalter Hindurd bis in die Neuzeit üblich gewejen fein,
denn viele Schriftiteller des 17. Jahrhunderts, wie Einhorn, Kelch,
Dlearins, Gubert ımd Hermann?) preden von ihr, ebenlo die
öfonomifcen Schriftiteller des 18. Jahrhunderts 9: Hupel, Friebe,
Füicher, und nod) in unferem Jahrhundert veranfaftte diefer Naubban
lebhafte Klagen *). Schluß folgt.)
1) Meiten, Siedehung. II. S. 132. Ahlai
und 264. Die alte finnüce Vegeihmung für den April it Suhwandmonat
Ebendaf. 3. 259. €. ©. Geiger, Gefchichte Sapwedens. I. Hamburg 1832. 2.191.
>. Einhorn. Hiftoria leticn x. (IM) Cap. 10. Seript. n
Livon. IL A818. G. Neid, Liefländiiche Hiftoria 1. Hevall 1095. &. 7.
Adam Tlearüi ausführliche Veichreibung der - Meile nach Mustan ıc. Schleswig
1663. 32. 101,105, 156. Salumonis Guherti Stra oniieuam x
Kiga 1688 43. Aufl.) S 101 j. Joh. Hermann von Neidenburgs Yejflindiicher
Landmann. Niga 169. ©. 14 f. 17.
9X. W. Hupel, Öfonomifches Handbuch. Kiga 1796 1. SE. 1 j
38. v. Filher, Yiol. Yandwirthiciftsbud. Halle 17. =. 4. W.
ner — Lerbefierung der Yandwirahigaft in Yivs
fand. Riga 1802. IV .
9 v. Sievers, „die Bufcpländer in Yioland durch Feuer verheert.” Yin.
Jafırb. d. Yandwirıhichaft Bo. VIIT 3, fl Upl. (N. v. Huch) Ta
fteitung der Tandwichidaitt. I, io» und Gurland. 1545
&. 77 ji. Yöwis, Eigen. SE. 113 5. BL.
Bolitiihe Norreipondenz.
Sejtatten Sie mir heute einmal, von den großen Ange
tegenheiten der Ztanten und Völker auf das Gebiet perfönlichen
Intevefjes abzuichwenfen. ch darf bei \hren Yefern gewiß warme
Theitnahme für den Verluft vorausfegen, welchen jeder Deutiche
in und auferhalb Dentichlands durd den Tod Heinrichs von
Treitfchfe erlitten hat. Und genau genommen, wäre fein Er:
eignif in Verlin, in Deutihland, aus der jüngiten Zeit zu ver:
zeichnen, welches von jo eminent politiiier Bedeutung wäre, als
diejer Todesfall. Welder Deutiche Fennt den Namen, die Werfe
tichke'o nicht! Aber nicht jedem ift es aleidh Mar, wie groß
der Einfluh diefes Viannes auf unfer Volf war; erit der Tod
wird Vielen feinen Werth für Denken und Fühlen der Menge,
für das ganze nationale Leben zum Bewuhtjein gebracht haben.
Denn wenn feine ichriftitelleriichen Werfe in weiten reifen mit
ihrem von Patriotismus geläuterten Stoff wirften, jo vermag
Niemand des reinen Feuers zu vergejfen, das ihn einmal von der
Hand Treitjchtes jei 09 im Hörfaal, fei cs bei gelegentlichen
Neftreden, oder aud im privatem Verkehr vorangeleuchtet Hat.
Andere mönen feine Schriften beurtheilen; für mid) jland der
Denich höher als feine Schriften, und je länger je mehr empfinde
ih) die Yücke, weldhe mir perfönlich dort Hafft, wo ich feit nunmehr
etwa zwanzig Jahre gewohnt war, ihn zu jehen.
Tas Donnerstag Nränzchen! Einft unter Führung von
Julian Schmidt, dem Yitterarbiftorifer, in der Potsdamer Strahe
bei Schulz, ein Stelldichein von etwa 20 Männern verichiedenen
Varufs, meift Gelehrten, Nünjtlern, Beamten, aber and Offizieren,
Jonrnalijten, Abgeordneten, oft bejucht von Pr ven und
Nünjtlern von auswärts, eine zwangloje Geiellichaft, die fi Abends
Politische Korreipondenz. 317
an jedem Donnerstag, zwiihen 9 umd 12 oder 1 zufammenfand.
Welche bunte Mannigfaltigfeit! ben der feine wortfarge, bibige,
derbe, frz entjcheidende, treue, biedere, Srog trinfende, fnorrig
torannifche „Julian“ mit den großen Brillengläfern und dem
wie eine Perrüde den Kopf umgebenden Haar; daneben der
alatte Berliner Hermann Grimm; bejien Bruder Nudolf; der
ichneidige Vürgermeifter und fpätere Viinifter Hobreht und fein
Bruder, der Baurath; Meigen, der Nationalötonom; Tiedemann,
der Zefretär Bismar!'s; G. Schmoller, 3. Hehn, Brunner, der
Germanit, MWehrenpfennig, N. Nösler, Mar Weber, Zünmer
mann, Treitichfe; der Dichter Heinrich Nrufe, von Guny, ber
Stantsredhtler, gelegentlich auch der Maler Dengel, B. Auerbach,
g. Pietid), furz, eine Neihe von Männern von lang, die wieder
andere Hinbrachten, Abgeoronete, meilt nationalliberale, etwas
antifemitifch angehaucht, auswärtige Profeffore während der Ferien.
Rad Schmidts Tode jehmolz der reis jtark zujammen. Demm
jo anziehend die mun führende Perjönlichfeit Treitichte's war, jo
fehlte die jammelnde, bewuhte, leitende Hand Sı midt“ 's, und io
fand man jeit Jahren wenige Nejte von dem früheren Nreiie
draußen im Albrechtshof am Kanal. Aber jobald um Ysıı Uhr
Abends fi die Ihür öffnete und Treitichte's hohe, volle Gejtalt
mit einem freundlichen Lächeln und warın tönenden „guten Abend“
beseintrat, beiunfte es nicht neuer Säfte mehr. Die fonnige
Heiterkeit, der imerichöpflihe Quell der Erzählung, der Zauber
diejes Mannes war uns Allen genug um Stunden bei Wein oder
Vier zu plaudern, bis der Wirth die Yausthür den legten Gäjten
aufichliefen muhte. Wie Viele ihrer da feit zwanzig Jahren
verfehrt haben 8 war Neiner, der an Treitichte — für mein
Empfinden — heranreichte. Plaudern! Ja, das fonnte man
dod) im eigentlichen Sinne nidyt mit Treitichke, denn im fechiten
Lebensjahre hatte er alo Folge eines Scharlady's das Gehör ver-
toren, und jobald er an den Tiidy hertrat, framte er vor Allem
aus mehren Tajchen Blocdpapier und Vleiftifte heraus, die raid)
fi) über den Tiih hin vertheilten: wer ihm mas jagen wollte,
frieb hajtig einige Zeilen, ihob fie iym hin, er warf einen Blic
drauf, und dann nicte er mit einem langen „Ah” dem Schreiber
zu, oder antwortete lebhaft, oder brad) in lautes, herzlides Kachen
318 Politiihe Norreipondenz.
aus, oder die Jaujt dröhnte auf den Tiid) und day erflang ein
Kraftwort, wie „Diefe verftuchten Bierphilifter, die fenne ih) von
‚Heidelberg her“ u. 1. m. Die ganze Mraft des Mannes, und
die ganze Tiefe und Zartheit dieles Gemüthe und die ganze
fonnige Heiterfeit diejer Seele und die ganze fryftallreine Schönheit
diefes Herzens das Hang Icbem aus jedem Mort, jedem
Lachen Treitichtes entgegen. Welde Fülle des Willens, und
dod) wie fern allem Dünfel, aller Zalbung, aller prunfenden
Lehrhaftigkeit! Welder Schag angeborener Größe ud anerar-
beiteter Erfahrung! Welche Fülle des Wohlwollens und welcher
Gruft der Yeidenichaft für das Schöne wie gegen das Hähliche!
Wie unnahbar war ihm das den Tauben jo leicht bejchleihende
Vißtrauen! Wie feuchtete aus ihm die Wahrhaftigkeit! Wie
fpürte man immer und in Allem den Mann, edel, hilfreich und
aut! Wie unverwüftlid der Humor, ein teter Quell ergöglicher
Sefchichten aus Vergangenheit nnd Gegenwart, ein dantbarer
Hörer und Lader für den Erzähler. Treitjchle hat fange geglaubt,
zum Dichter berufen zu fein, er hat eine Eammlung von Ge:
dichten herausgegeben und erjt als reifer Mann und unter dem
Sturm der umwälzenden Politif Bismards fid) der Gejchichte
ganz zugewandt. Er war fein fritiid”zerfegender Geijt; meta-
phnfüichen Haarjpaltereien hat er ic) ficher nie gern hingegeben.
Er war vor Allem ein fchaffender GSeift, darum verneinte er
ungern und bewunderte er gern, darum ift jein Geidjichtwert
fo veal bauend, jo perjönlich darjtellend, und aud) jo leicht und
jtürmifch über Fehler und Zweifel Hinwegblidend. Er war Port
und wäre er co nicht gewejen, jo wäre er nicht der iächtig
wirfende Hitorifer geworden, deiien Schriften erheben durd) die
Kraft der Darftellung, deifen Nede aber fortrii in der Wucht des
nationalen, des filtlichen Empfindens.
Er fchrieb, wie er oft tagte, fer, mit Anjtrengung, aber
das lebendige Wort floh ihm leicht von den Lippen, und padte
darum mehr als die Schrift, ob es num in ben bichtgefüllten
ilen der Univerfität oder an fröhlider Tafel in humorvollem
jermon erflang. Und dabei welche Veicheidenheit, welche ein
fache Natürlichteit! Vor Jahren jah id an einem der Donnerjtage
einmal B. Auerbad) gegenüber, der ohne viel zu reden id) ‚damit
Politische Norreipondenz. 319
beichäftigte, auf Papierfegen immer wieder etwas hinzufrißeln ;
endlich fragte fein Nachbar ihn: „Auerbad, was jchreiben Cie
da?" — „Ich fchreibe Autographen“ (richtiger wäre wohl Auto:
gramme geweien) — „wollen Sie eins haben?“ mud jdob ihm
einen der Zettel Hin. Das it das Gegenjtüc zu Treitichfe, wie:
wohl die Eitelfeit Auerbad;s zu oberfläclidnaiv war um mehr
als ein Yächeln hervorzurufen, um feine herzlih-gutmüthige Natur
zu verderben. Von folhem Wahne aber Mlebte an Treitichte aud)
nicht der geringite Tropfen. Bei gefunden Selbitbenußtfein feine
Spur von Eitelfeit; umd was das beoentet, wuhte Wismard als
er meinte, man müfje, wenn man den Werth eines Wlannes
wiffen wolle, alle guten Eigenihaften jummiren und die Summe
gegen feine Eitelfeit abwägen: was dann nachbleibe, das fei jein
realer Werth. Bei Treiticfe wäre faum etwas von der Tugend-
funme abzuziehen gewejen. Er hatte nichts Meinliches an nod)
in fd, weder jene bemumderungsfücjtige Citelfeit, noch felbjt die
tleinen Bewegungen des Körpers; er dachte, fühlte groß, er be
wegte fich, trug fi in großen und einfaden Formen. — Treitichfe
war bei derber, guter Einnlichfeit ein froher Zecher, ein enicher
ohne jeden Schein noch Zimperei, ein ftets veger Beobachter, ein
Haller des leeren Zwanges, der Heuchefei, jeder Art von Muderei;
zugleid) aber ein Mann von tiefer Neligion, ein Ndealift in allen
Dingen, ja mehr nod,, ein Schwärmer. Aber feine Schwärmerei
war mie auf eitle Dinge, ftets auf Grofies und Schönes md
Edles gerichtet, und wo er in jeinem MWirfen irrte aus diejen
Trange der Leidenschaft, da irrte er in dem Wege zum Guten,
nicht in dem Guten jelbft. Er war das Gegentheil von einem
Dofteinär und Hat deshalb feine Meinung oft geändert — ein
Nuhm, der ihm vor nur zu vielen großen Namen unjerer Zeit
auszeichnet, und der eben mr dem blüht, dem cs möglich iit, die
Eitelfeit des einmal gefälten Urtheils dem Sctbftbefenntniß der
geläuterten Einficht zu opfern. Sein Jdealismus, fein flürmender,
ruhig und fcarf zeraliedernder Beurteilung nicht sehr geneigter
Geift waren nicht immer dem praftichen Urtheil günftig. Co
3. B. wenn auf Engländer und engliche Yolitif die Nede fanı.
Heringsfrämer, Heuchler, und wie er fie nannte — jtets war &&
der unideale, auf Geldgeichäfte zielende Sinn, den er in der
Politiiche Korrefponden;-
engliichen Politif mit zormig-laenden Worten traf; und in
diefem gerechten Zorn achtete er oft nicht derjenigen Cigenfchajten
der Engländer, welhe dieies Volt jo gro gemacht Haben und es
auch) Heute vor Andern auszeichnen. Pit weld jugendlicher Yicbe
und Verehrung hing er anderjeits an Deutichland, an den Dohen-
zollern, vor Allen an Wilhelm dem Alten; mit welcher Begeifterung
an den großen Männern von 1870, an biefen Zeiten und Vor
gängen! Aus einem alten fächiüichen Soldatengeichlecht entiproiien
und als Rind für den Nriegsdienft bejtimmt, Iebte die Soldaten
natur bis zulegt in ihm. Mit Begeijterung fprach er von ber
Verrlichfeit des Nrieges, er Telbjt durchglüht von den edlen und
erhebenden Yeidenichaften des Nampfeo, der Schlachten, des Helden:
ums, der Aufopferung für eine große und edle Sache, unfühig
der feinen, jentimentalen Friedensfeligfeit unterer Tage, welche
im Nriege nur immer den Verhuft an Gut und Blut nach Pfennig
und (Gramm genau zu berechnen weiß. Darum it Niemand da,
der ihm erfegen Fönnte in dem ftürmiichen Schwunge, mit dem er
die Jugend zu Selbitlofügleit, Dingebung, Gröhe binriß, in dem
veredelnden Einfluf, mit dem er Taujende emporhob aus bem
Tagesjiaube. Um die Summe zu ziehen: ich bin nicht von denen,
die leicht oder gern die Fehler bei Anderen überjchen oder ver
dedten; ich weiß; aber nichts, was ich bei Treitichfe hätte miljen
oder zulegen mögen. Und das ijt mehr al ich von einem andern
Danne jagen Fönnte,
„Er war ein Dann, nehmt Wlles mur in Allen,
I werde nimmer jeines Gleichen jehn.“*)
Wenn id) heute nod) einige Zeilen der qroßien Politif glaube
widmen zu dürfen, fo wünfche id) das Bild feitzubalten, weldes
in ungewöhnlidem Viaahe einheitlid geichloiien die gefammten
Beziehungen der europätichen Mächte in diefem Augenblid wieber:
giebt. Die Nrönmgsfeier zu Mosfau mit ihrem Prunf amüfirt,
intereffirt Viele; es it wohl das großartigite Feit, welches jemals
"1 Dieier Tage wird ein Mufruf zu Sammlungen für ein Denkmal
itichte'S ergeben.
Politiiche Norreipondenz. 321
in der Melt gefeiert wurde. Denn war in Wien zur Zeit des
grojen Kongreiies aud) die gefammte politiihe Macht Curopa’s
in feinen Fürften verfammelt, jo hat man doch nie eine joldhe
Menge von huldigenden Vertretern fremder Völter des Erdenrundes
beifammen geliehen, als im heutigen Mootau. Aber nicht das
üt 08, mas meine Gedanfen nad Moskau fliegen Kieß, nicht in
der Aurcole des äußern Scheines liegt die heutige Bedeutung
Nuflands, jondern in der at dentlichen Konzentration großen
Ginffufies auf die gegenwärtig wichtigiten Fragen der europälicen
und außerenvopäifchen Politit. Das Vewußtfein hievon drüdt id)
allenthalben in der Meinung aus, dab die Entwidelung der poli-
tijchen Beziehungen heute jüille jtehe, weil man in Moskau mit
der Krönung bejchäftigt jei, umd dal nad) der Krönung eine neue
Aera beginnen, oder wenigitens wieder Leben in die erjtarrte
politifche Welt fommen werde, Man hat da jo unrecht nicht.
Von dem Willen Nuflands hängt e3 ab, ob irgend ein Staat
weiter in Frieden leben oder in den Namıpj um bie wichtigften
Interefien geftürzt werden joll. Ein Wink genügt, um die
Franzofen gegen Deutjhland zu entfejleln. Gin fräftiger Griff
in Cftafien wirft dort Chinefen, Japaner, Engländer durcheinander;
ein fedeo Vorgehen in Periien entfacht einen englifch:ruflichen
a die armenifchen Gräuel Tönnen jdhnell und ficher nur durcd)
tuifiicheo Eingreifen beendet werden; eine rufiiche Flotte braucht
in aller Stille fi vor stonftantinopel zu legen, und die
Türtei fliegt, fobald die bulgariich-ierbiichen Vinen angezündet
werden, in die Luft, Byzanz wird ruifich; an zehn Punkten fann
Tefterreih von Nufland verwundet werden, ohne dai; «s Ti,
wirtfam auf friedlichen Wege dagegen chügen Tann; in Aegypten
wartet man auf das ruliiche Nommando um gegen England vor:
zugehen. Dieje Fragen find der Hauptinhalt der Politif im heutigen
Europa, und jie Fönnen alle durd Nuland zur Enticheidung
gebracht werden, aud wenn andere Mächte « nicht dazu
wollten kommen lajien. Niemals jeit Napoleon 1. ijt eine folde
Dienge politischer Interefien, politiichen Stoffes in einer Hand
vereinigt geweien. Umd co giebt darunter Interefien, welde zu
einer Enticheidung drängen. In früheren Norreipondenzen habe id)
darauf hingewiefen, dab nachdem Auhland in jo feite Verbindung
322 Politiiche Rorveipondenz.
mit der Pforte gelreten it, die Mirfung davon jid bald in
Agppten werde jpüren laffen, und ba; die meilten färmenben
Nımdgebungen, die England zu Haule und auerhalb, in Europa,
Afrifa, Afien veranflaltet, nur oder großen Theils dazu dienen,
mm jeine Furcht vor einer Nataftraphe in Aegypten zu verdeden;
daf; endlich der Feldzug in Dongola dazu dienen werde, die Streit:
fräfte in Aegypten zu verftärten. Das trifft nun ein, man fann
in Paris die Veendigung der Nrönungsfeite faum erwarten in der
Ungeduld, die ägyptiihe Szene zu öffnen: indiihe Negimenter
werden nad) Zuafim geworfen, die Dort frei werdenden
Truppen an den NE vorgefchoben, und in Paris wird das mit
Vergnügen auf die große Nehnung geiekt, die, wie man hofft,
vedht bald den Engländern wird präfentirt werden. Dieie Aus:
fichten wirken wieder zurütt auf dao Verhalten zu Deutichland
und erleichtern co dem neuen Minifterium gemähigter Männer,
die Veziehungen zu Berlin nicht von ber jteten Nüchicht auf
galliichen Chauviniomus md Nevanchelujt trüben zu Iniien.
Diefes hat eine erhebliche Veruhigung der Gemüther diesfeits
und jenfeits des Wasgau's zur Folge, Nimmt man hinzu, dal;
Malien mit überrafhendem Glüd und wohl aud) Gejchid zu der
Ausficht gelangt üt, ans dem leidigen Sumpf des Krieges in
Abeiignien berauszufommen, und da; co ihm ebenjo glüclich
gelungen it, feine Finanzen in Ordnung zu halten, fogar zu
befjern, jo verjteht man die Veruhigung auch auf jener Seite der
Alpen und die Stille, welde im Ganzen in Europa jegt bericht.
Freilich darf man fi darüber nicht täuihen, dal dieie Stille
weniger durd) allgemeine Befriedigung der Wünche, als durd, die
Erwartung diefer Befriedigung herbeigeführt wird. Co fit die
Spannung, mit der man, der Ruhe des Maffenjtillitandes fd)
bingebend, der Eröffnung entjceidender Kämpfe entgegenficht.
Und für diefe Zukunft bahnen fi) Wandlungen in den Beziehungen
der Mächte an, die vielleicht dauernd die alten inatlichen Kombis
nationen verändern werden.
Verlin, den 25. Mai 1896. E.v.d. B,
2
zeitgeift und Bolfögeiit
in der naturalifiihen Pihtung.
Das naturalijtiihe Wahrheitspringip, das von je her mit
dem ibealifliichen Schönheitsprinzip um die Herrichaft über bie
Dicytung gekämpft Hat, ift in diefem Nampfe niemals jo fiegreich
gewefen, wie in unferer Gegenwart. Hat aud) die litterariiche
Partei, die den Naturalismus im engiten und ftrengiten Wortfinne
vertritt, den Höhepunkt ihrer Macht und ihres Anfehens bereits
überjchritten, jo dauert ihr Einfluf dod) immer noc) fort und zeigt
fich namentlid) darin, dajs jelbjt die vorwiegend idealiftiihe Dichtung
der Gegenwart mehr als die irgend einer früheren Seit mit
naturaliftiichen Vejtandttheilen Durchiegt ift. Ohne Zweifel gewinnt
baburd) der dichteriiche Naturaliomus eine Fennzeichnende Bebentung
für den gegenwärtig herricenden Zeitgeiit.
Nun find aber die Träger der geiftigen Eigenthümlichfeiten,
die wir unter dem Worte „Zeitg sufammenfajlen, nicht bloß
menfehliche Einzelwejen, die durd) irgend eine Art geiftiger Ueber:
fegeneit ihre Zeitgenoffen beherrichen, fondern in noch) höherem
Grade menichlihhe Gefammtheiten, namentlic) tonangebende Völker,
bie in Vezug auf irgend einen Nulturzweig oder aud) auf ı
zugleich die Führung und Vertretung der gefammten zeitgen
Kulturwelt übernehmen. Das gilt von der Kunjt faum weniger,
als von der Nleidermode, und nicht am wenigften von der Dichtung.
So hat im Zeitalter des modernen Klajfizismus das fran-
zöfiiche Volt für die gelammte Aumjtbichtung Europas den Ton
1
324 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung.
angegeben, während im darauf folgenden Zeitalter der Neuromantif
das beutiche Volt den übrigen Litteraturvöffern tonangebenb voran:
ging. Wie verhält es fi) num mit unferer Gegenwart? Welches
Volt Hätte darauf Anfprud, in Bezug auf den Naturalismus, der
die ihr eigenthfimlice Dichtung tennzeichnet, als tomangebend zu
gelten?
Befanntlicd ift diefe Rumftrihtung bei den verjchiedenjten
Völkern fait gleichzeitig zu Tage getreten und hat bei mehr als
einem von ihnen fo hervorragende und einflufreiche, zugleich aber
auch fo eigenartige Vertreter gefunden, dah die Entfcheibung
darüber unmöglic, ericheint, welches diejer Völker den andern
gegenüber die Führerrolfe fpielt. An eheiten nad) haben die
Franzojen Anfpruch auf die Ehre, wenigitens im zeitlihen Sinne
des Wortes an der Spige der modernen Naturnliften zu jtehn,
denn auf franzöfifchem Boden find fchon im Zeitalter der Neu:
romantif eingelne Schriftiteller aufgetreten, die neben entichieden
vomantiichen Zügen fdon eben jo entidieben naturatiftiidhe auf:
weifen, und von Diejen hat namentlich Yalzac einen weit über
fein Yatertand Hinausgehenden Einfluß; auf die Folgezeit ausgeübt.
Aber der Naturalismus diejer Folgezeit untericheidet fich
von dem aller früheren Zeiten nicht blof dur, eine viel weitere
Verbreitung, jondern and) durch eine viel rücjichtstofere Folge:
tichtigeit in der Anwendung feines Nunftprinjips, und zu den
entichiedenjten Vertretern diefes rücjichtslofen Naturalismus gehören
and Angehörige joldher Völker, die alo Gefanmtheit von je her
eben fo enticiedene Vertreter eines idealiftiihen Nunjtprinzips
gewefen find.
Sollte der Nationalgeihmad diefer Völter jo veränderlich
fein, daß er im Stande wäre, einer modifhen Nunftrichtung zu
Liebe feine ganze Vergangenheit zu verleugnen? Ober jteht ber
Privatgeichmad der einzelnen Vertreter diefer modiihen Runjt
richtung in einem ausgefprochenen Gegeniag zum Nationalgeihmad
ihrer Völker? In feinem diefer beiden Fälle hätte der nationale
Gejammtgeift irgend eines Volkes darauf Anipruch, alo Veherricher
und Vertreter bes weientlich natwraliftiichen Zeitgeiftes der gegen:
wärligen Litteraturperiobe in bemjelben Sinne zu gelten, in welchem
der franzöfifche Wolkögeift während der nentlaffijchen und der
Zeit: u. Volfsgeiit in der naturaliftifchen Dichtung.
beutiche während der neuromantiichen Litteraturperiode den Geiit
der Zeit beherrichte und vertrat.
Wird aber der Geift unferer Zeit, fofern er in der Dichtung
Sich offenbart, nur dur) die Einzelgeifter der naturaliftiichen Dichter
aus verjdiedenen Völkern vertreten, wie läht fich dann die Ueber:
einftinmung zwifhen ihnen in Vezug auf die allen gemeinfame
Runftrichtung erblicen? Das überall gleihmähig gefühlte Bedürfnih
nad) einer Neaftion gegen die Ausfchweifungen der Neuromantit
wäre nod) fein ausreichender Erflärungsgrund für diefe Ueber:
einftimmung, da eine folde Reaktion jehr mannigfaltig gedacht
werben fann. Eben fo gut wie zum Naturalismus hätte fie die
Franzofen zum Naffizismus zurüd, die Deutfcen zu einer neuen,
geläuterten Art von Nomantif vorwärts führen fönnen. Warum
führte fie nun die Dichtung beider Völker, den nationalen Ueber-
lieferungen beider zum Trog, gerade der Nunftrichtung zu, die
der Haffiichen wie der romantiichen gleich entichieden widerfpricht?
Hierauf fäht fi Folgendes antworten: Der Zeitgeihmad, d. b.
der Zeitgeift, jo weit er auf äfthetischem Gebiete zu Tage tritt,
wird nicht nur durd) ben Nationalgeichmad tonangebender Völter
in feiner Eigenart bejtimmt, fondern zugleich durch die Gefammt
fultue der Zeit, da alle Nulturzweige unter einander im Verhältnii)
der Wecjlevirfung jtehn. Ja der Gefammtkultur der Gegenwart
aber fpielen Wiffenfhaft md Gewerbe, die in vafhem und jtetigem
Fortihreiten begriffen find, eine viel maßgebendere Rolle, als die
ichöne Kunjt, die ihrem Wefen nad nur langjam und fprungweile
fortzuichreiten vermag, jofern die zeitlichen Veränderungen, die mit
ihr vorgehn, als wirflide und nicht als blos iheinbare Fortichritte
gelten fönnen. Demgemäh hat dev Zeitgeichmad einer Wandlung
unterliegen mühjen, die dem innerften Wejen der fchönen Stunjt
weniger gerecht wird, als denjenigen ihrer Seiten, die ihr mit
der Wilfenichaft und dem Gewerbe gemeinfam find. In der
That fäht der dichteriihe Naturalismus nicht nur dem Wahrheits-
prinzip, das die tunjt mit der Wilenihaft teilt, jondern and)
der fünftleriichen Tednit, d.h. dem Handwerfomähigen an der
Nunft, eine größere Würdigung zu Theil werden, ale dem
Künftlerifchen im engften und eigentlihjiten Sinne des Worts,
d. H. der Ichöpferifchen Thätigkeit der Phantafi
je
326 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung.
So richtig aber das alles ill, — cs bleibt dabei immer
noch unerflärt, warum der moderne Naturalismus im Gegenjab
zu dem aller früheren Zeiten jo weit geht, geradezu das Hählidhe
vor dem Schönen zu bevorzugen, und zwar in ber Wahl feiner
Stoffe eben jo gut, wie in deren Behandlung. Weder im Wejen
der Wilfenfhaft, noch in dem des Gewerbes läht fihh etwas ent:
deden, mas zu einer folhen Bevorzugung des Hählichen in der
‚„Ihönen“ Kunft verführen Fönnte. Sollte fie auf einer bloßen
füntleriichen Willfür der modernen Naturalijten beruhen, d. h. eine
übermüthige Sefchmadslanne fein, wie fie hier und da fchon bei
einzelnen Neuromantifern, namentlich jranzöftihen, in allerlei
fragenhajten Gejtaltungen fich gefiel?
In diefem Falle wäre jeder weitere Verfuch, den modernen
Naturalismus piycologiich zu erklären, völlig ausfichtsles; denn
die reine Willfir fäht fih eben fo wenig piycologiichen Gejegen
unterordnen, wie den Gejeen des Staats.
Oft aber ift das, was uns als bloie Willfür ericheint, nur
ein Gejegmäßigfeit, bie als folde von uns ned) nicht erfannt worden
üt, und bei näherer Betradytung dürfte eo jid) erweifen, daß aud)
an den Ausicweifungen des modernen Naturalismus das freie
Belieben der einzelnen naturaliftiichen Dichter wenigitens nicht allein
bie Schuld trägt, fondern zum Teil auch die zwingende Gewalt
äußerer Umftände, wie fie den gelammten Gang ber Fulturgeichichtlichen
Entwidelung — bald hemmend, bald fördernd beeinfluffen.
Um das zu veranfhaulichen, mag der Hinblid auf den
normalen Entwidelungsgang eines Nufturzweigs dienen, ber mit
der jhönen Numft zwar wenig, aber doch das gemein hat, worauf
es hier anfommt.
Wenn auf jungfräufichem Voden Aderbauer fich anfiedeln,
dann nehmen fie den danfbarjien Theil diejes Bodens zuerft in
Angriff. Exit fpäter, jobald die Zunahme der Bevölkerung und
ihrer Behürfniffe fie dazu nöthigt, wird aud) das weniger Danfbare
Aderland bearbeitet; dann aber dringt der Vodenanbau immer
weiter und weiter vor, bio er in irgend einer Wüjte feine natürliche
Grenze erreicht.
Einen ähnlichen Entwidehungsgang, wie die Kultur des
Bodens, nehmen and die übrigen Glieder des Nulturganzen,
Zeit: u. Voltsgeiit in der naturafiftiichen Dichtung. 327
Selbjt die jhöne Kunft — die Blüthe der Geiftesfultur — zeint
hierin ihren Zufammenhang mit dem Aderban — der Wirzel
aller Kultur überhaupt.
Je weiter wir die Entwicelung der Nunft in dev Nichtung
nad) ihren Uriprüngen Hin verfolgen, um jo danfbarer erweilen
fi uns trog aller Schwankungen des Zeitgeihmads — die
von ihr bearbeiteten Stoffgebiete, d. h. um jo weniger widerftreben
dieje der fünftleriichen Vearbeitung im engiten umd Höchiten Sinne
des MWorts: der fünftlerichen Jdealifirung.
Ganz beionders deutlich zeigt fih uns das in der Gefdjichte
der Dichtung, die als die zugleich uriprünglichite und entwidelungs
fäbigfte aller jhönen Künfte für deren Gejammtentwidelung am
meiften impiiche Bedeutung hat.
Aus der identen Wunderwelt der ältejten Volföpoefie, deren
Helden Götter und Halbgötter find, fteigt die Dichtung der europäilchen
Völfer überall auf weientlich gleiche Weile in die weniger ideale,
aber immer noch) vornehme und feiertägliche Welt herab, der nicht
nur die Höfen Dichter des Alterthums, des Wittelalters md
der Nenaiffanee, jondern ad) die Haffüihen und remantiü—hen Kunit
dichter der Neugeit ihre Stoffe entnahmen, —- dann aus diejer in
die bürgerliche Alltagswelt, die erit lange um ihr Dafeinsredht im
Neiche der Tihtung fämpfen muß, ehe fie in der nadroman-
türen Zeit -- zu vorwiegender Geltung in ihr gelangt. Zeit
diefer Zeit aber, d. d. etwa jeit den dreifiiger Jahren unjeres
Jahrhunderts, fucht die europätiche SKunftdichtung in fortwährend
jteigendem Mahe flat des Tüchtigen und Gefunden, das fie
anfangs aud) in diefer Stofjwelt aufzufinden weil, lieber das
Schwächliche und Nrankhafte, das Niedrige und Rohe aus ihr her:
vor, bis fie in der Welt des profetariichen Elends und des gemeinen
Verbreherthums bei einem Stofigebiet anlangt, wie es dichteriich
undanfbarer wohl faum gedacht werden fann.
Diefer Entwidelungsgang der Dichtkunft läht fih aus den-
jelden Urfadhen erklären, wie der entiprechende des Aderbaus. Die
fortwährend wachienden und wechfefnden Vebürfnifie des Menichen
möthigen biefen zu immer wieder erneuten erfucen, bisher
unbeachtete, weil als undanfbar geltende Stofigebiete zu ihrer
328 Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung.
Befriedigung zu verwertben, und zwar der äfthetüichen Bedürfnifie
eben fo gut wie der leiblichen.
II ein derartiger Entwidelungsgang als ein Fortichritt zum
Befleren zu betrachten? je Frage darf man nicht vorichnell
verneinen; denn an dem Werthe von Kulturerzeugniffen jeder Art
bat die menfchliche Arbeit feinen geringeren, an dem Werthe von
Kumftwerfen fogar einen unvergleichlich viel höheren Antheit, als
der naturgegebene Nohitoft, - und gerade die zunehmende Undanf-
barkeit der noch umbearbeiteten Nohitoffe bildet einen Hanptanreiz
für die menfehliche Kulturarbeit, ihre Leiftungsfähigteit fortwährend
zu fteigern, nm den fich fortwährend exhöhenden Schwierigfeiten
gewachfen zu bleiben. In Folge defien wird die Grenze des Ader-
fandes immer weiter in Urwald und Steppe vorgeichoben, md e6
tät füch nicht abfehn, 06 nicht einmal and Sand: und Stein-
wühten gezwungen fein werden, bem Herrn der Erde ihren Tribut
zu entrichten.
Sollte auf dem Gebiete der Kunft nicht etwas Achnliches
der Fall jein? —— Sollte die fortwährende Verfchlechterung des
Nosftofjs nicht in der Dichtung eben fo gut, wie im Aderbau,
eine fortwährende Verbeiferung der Arbeit im Gefolge haben?
In der That ift dies bis zu einem gewiien Grade der Fall.
Die dichteriche Technit ann fich einer fait eben fo tetigen Fort
entwictelung rühmen, wie die Tednit des Aterbaus, und nur
dadunch ift es der Dichtfunft möglich geworden, immer weitere und
weitere Stoffgebiete für fich zu erobern.
Wenn es nun dem Dichter gelänge, die von Natur abflohenden
Gegenftände, die der moderne Naturalismus bevorzugt, durch feine
Arbeit jo weit umzuichaffen, daß fie einen gewifien Grad äfthetifcher
Anziehungsfraft gewinnen, dann dürfte er fi) eines ähnlichen
Erfolges vühmen, wie der Adderbauer, dem cs gelungen ift, eine
e urbar zu machen.
Diefer jchwierigiten aller dichteriichen Aufgaben ift aber die
bloße Tecnit der Dichtkunft — jelbft auf der denkbar höchten
Stufe ihrer Entwicelung — nicht gewachien. Wenn irgendwo,
jo bedarf es hier der fpesifiich fünftleriichen Fähigfeit des Dichters
d. h. der jelbftichöpfertichen Dichterphantafie. Diefe aber ift — im
Gegenjag zur techniichen Fertigkeit jeder Art — weder erlernbar
Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 329
noch entwicehmgsfähig im geihichtlihen Sinne des Wortes; —
fie iit ein freiwilliges Geichent der Natur, das fid als joldes
gerade mit ben uriprünglichiten Zuitänden der Sejammtkultur weit
beijer verträgt, als mit den höchitentwidelten.
Im Jugendalter der Wölfer wie der Eingelmenfchen vent die
Phantafie am freiften und am fräftigiten ihre Schwingen;
ipäter wird fie durd) den immer mehr erftarfenden Wirklichfeits-
und Nüglicfeitsfinn immer mehr in ihrer Flugbahn beengt und
in ihrem Aufichwunge gehemmt. Es ftände daher jchlimm um
die geicichtliche Fortentwideung der Dichtfunft, wenn nicht auch
der Schönheitsfinn unter günftigen Bedingungen fid) zu entwicteln
und genugfam zu erjtarfen im Stande wäre, um die didhteriiche
Phantafie in feinen Schu und Dient nehmen zu fönnen. Was
aber die Technif der Dichtung anlangt, fo erfüllt fie nur dann
ihre Aufgabe als fünjtleriiche Technit, wenn fie eben fo gut, wie
die dichteriiche Phantafie, der ealifirung des Darjtellungsgegen-
itandes und damit dem Echönheitszwede dient, durch den fich das
dichteriiche, wie jedes andere Nunjtwert, von den nichtfünjtleriihen
Nufturfchöpfungen unterjcheidet,
Die Jpealifivung felbft folder Gegenftände, wie fie der
moderne Naturalismus in die Dichtung eingeführt hat, ift nicht
undanfbar; aber fie erfordert nicht nur ein um jo größeres Mai;
ichöpferifcher Phantafie, fondern aud) einen um jo höher entwicelten
Schöndeitsfinn, je leichter die hodhentwicelte Technik der Gegen
wart den Dichter dazu verführt, mit ihrer Hilfe unfünftleriiche
Zwede zu verfolgen.
Die modernen Naturaliften machen daher nur aus der Naoth
eine Tugend, wenn fie grundfäglic) auf jede Jdealifirung ihres Gegen-
ü ichten und in der Theorie die Anficht vertreten, dab
ice Wahrheit in der Kunft mehr als hinreihenden
Erjag biete für den Mangel an idealer Schöndeit.
Mögen fie aber hierin aud) irren, — darin haben fie Necht,
daß eine gemwiffe Art der Wahrheit ein wejentliches Element in aller
Kunft ift, und es läht fich nicht Teugnen, daß der moderne Naturalismus
durch jeine entfhiebene, wenn auch einfeitige und übertriebene
Geltendmachung des Wahrheitsmoments in der Nunjt fi ein jehr
ihägenswerthes Verdienjt um deren Kortentwidelung erworben hat.
330 Zeit: u. Volfsgeift in der natwraliftiichen Dichtung.
Zur äftbetiichen Bedeutung des Naturalismus gefellt fd aber eine
auferäfthetiihe, die vielleicht noch höher anzuichlagen it; feine
Vebeutung für die Völkerpiochologie.
Zwar üft der Dichter immer und überall das Glied irgend
eines Volfes und nod) vieler andern Gefammtheiten, von deren
Seifte er mehr oder weniger beeinflußt wird, und jchwerlid, dürfte
fich ein folder finden, in deifen Werfen fid nicht Spuren diejes
Ginflufjes nachweiien liefen. Aber zwiihen dem idealiftiihen und
dem natwaliftiichen Dichter ift in diefer Beziehung dod ein
wejentliher Unterichieb vorhanden. Während jener in der Wahl
wie in der Behandlung feiner Gegenftände zunädjit und vor Allem
feine Perjönlichfeit zur Geltung zu bringen fucht, drängt dieier
die jeinige zurüd, um möglichit fachlich zu verfahren. Er verzichtet
darum auf frei erfundene Stoffe ganz und beichränft fid am
tiebjten auf jolche, die einer ihm genau bekannten Wirklichfeit
entnommen find. Die Folge davon ijt, daß jeine Dichtungen in
der Negel auf dem Boden jeiner Heimath fih abipielen und die
in ihnen auftretenden Perfonen und Verhältnijje feinem eigenen
Wolfe umd feiner eigenen Zeit angehören. Da ihm zugleich das
Wahrheitsprinzip feiner Rumftrichtung dazu drängt, allen von ihm
geicjilderten Perfonen und Zuftänden eine möglichjit typiiche Bedeu:
tung zu geben, jo gewinnen diefe in demjelben Mafe in weldem
ihm feine Abfiht gelingt, ein zunächjit ethnographiiches Interefie
für alle diejenigen, die dem Lande und Xolfe des Dichters ferner
ftehen als er jelbit. Dies Intereffe aber vertieft fid) zum völfer-
piochologifchen nicht mur in Folge des Umftandes, da der Dichter
als Xolfsgenofie der von ihm geidilderten Perjonen einen tieferen
und unmittelbaren Einbli in deren feeliides Innere befigt, als
ein Fremder, fondern aud in Folge beifen, dah er in alledem,
was er bei der Darjtellung feines Gegenjtandes wider Willen
von feinem eigenen feeliihen Innern verräth, nicht fowohl feine
perfönlihe Eigenart zur Anfdauung bringt, als vielmehr die
Gefammteigenart feines Volkes und feiner Zeit. Er jdjildert alio
nicht nur nationale und zeitgenöffiiche Typen, fondern ex jildert
fie aud) von einen nationalen und zeitgenöfiihen Standpunfte
aus und in nationaler und zeitgenöjjiicher Färbung und Ber
deutung, To ehr er dabei aud) bemüht fein mag, feinen Dichter:
Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung. 331
werten bie objeftive Wahrheit eines willenigaftlihen Wertes zu
verleihen.
Zwar fennt aud) die Kunft eine Wahrheit und eine Objektivität;
aber dieje beiden Bezeichnungen bedeuten für fie etwas ganz anderes,
als für die Wiflenihaft, da fie fih nicht, wie bei diejer, auf den
Inhalt, jondern nur auf die Darjtellungsform des Werkes beziehen.
Die Wahrheit des wiljenfhaftlihen Werkes beruht auf der Ueber
einftimmung feines Inhalts mit dem Wefen feines Gegenftandes,
die Wahrheit des fünftleriichen dagegen nur in der übergeugenden
Sharafteriftif, mit welder die Aunftform nicht fowohl den Gegenjtand
jelbjt darftellt, als vielmehr dejien Auffallung durd) den Künjtler.
Diefe aber ift ihrem MWefen nad) immer fubjeftiv. Wenn trogdem
von fünftlerifcher Objektivität die Nede it, fo meint man damit nur
jene tebendige Anfchaulichkeit ber Darftellung, welde die Perjön-
fichfeit des Nünjtlers allerdings zurüctreten läßt, aber nidıt Hinter
das Wefen feines Gegenftandes, fondern nur hinter die Runftform
feines fertigen Wertes. Eine jolde Art von Wahrheit und
Objektivität verträgt fic) aber and) mit einer idealiftiipen Auffaffung
und mit einem märdenhaften Stoffe, wie nicht wenige der Balladen
Soethes beweiien.
So ift 3. B. Goethes Fiiherballade ein Mufter von fünftleriicher
Wahrheit und Objektivität. Das Wafer ericeint hier allerdings
in mpthiicper Perfonififation als Nire; aber was der Dichter in
diefer Ballade darftellen will, it nach feiner eigenen Angabe aud
nicht das Wafjer in feiner finnlihen Griheinung oder gar in
feinem inneren, nur willenichaftlic erfahbaren Wejen, jondern nur
der Neiz, mit dem das MWaffer an einem heihen Sommertage die
Menichen zum Bade ladet, ben Vlenichen d. H. zunädjit ben Dichter
felbft. Diefer lodende Reiz num fann mit dichteriihen Mitteln
unmöglich überzeugender haratterifirt und lebendiger veranschaulicht
werben, als dadurd, dal; fid) das Wafjer in den Nugen des
Fiihers zu einem jdönen MWeibe vermenfc)licht, welches zu ihm
wie zu jeines Gleichen fpricht und jingt, und zwar mit dem
berüdenden Wohllaut Goethe'idher Verje und Neime.
Wenn nun der naturaliftiiche Dichter, jtatt nad) ber Ipezifiich
fünjtlerifchen Wahrheit und Objektivität eines Goethe, nur nad)
Sadligfeit im Sinn der Willenihaft jtrebt, fo bfeibt er bad)
332 Zeite u. Volfsgeift in der natmwaliftichen Dichtung.
hinter diefem Ziele um jo weiter zurüd, je mehr er Künftler d. h.
je mehr er geeignet und geneigt ift, jeinen Gegenftand mit dem
Gemüthe und der Phantafie, jtatt bloj mit dem Verftande auf-
zufaien. Wenn cs ihm auch bis zu einem gewiffen Grade gelingen
mag, bei der Auffafung und Darjtellung feiner nationalen und
zeitgenöflüchen Typen die perfönliche Theilnahme zurüdzudrängen,
die er jedenfalls für oder wider fie empfindet, jo geidieht das
doch nicht zu Gunften der falten, weil rein verftandesmähen Unpartei:
lichfeit, die der Wiffenihaft eigen it, Tondern mur zu Gunjten
einer Parteinahme, die ihm jelbit verborgen bleibt, weil fie nad)
tiefer wungelt, als in feinem perlönlichen Semüthe, nämtich im
Sejammtgemüthe eines Ganzen, von dem er jelbt cin lebendiges
Glied ift, das chen deshalb von allen Hegungen desielben mit-
erregt wird, ohne «9 zu willen und zu wollen.
Wo die naturaliftiiche Dichtung den Namen einer Dichtung
wirklich verdient, da it ihre Wahrheit und Objektivität weientlic,
derjelben Art, wie die Wahrheit und Objektivität der Volkspoefie,
in welcher ebenfalls der individuelle Geijt der einzelnen Dichter
hinter irgend einem Gejammtgeifte verihwindet.
Was aber diefe beiden Arten der Dihtung in völferpipd)o-
togicher Beziehung von einander untericheidet, it zunächft die Art
ihrer Entftehung. Das Erzeugni der Volfspoeie ift wirklich das
gemeinfame Werk irgend einer menfchlichen Sefammtheit; denn
viele einzelne Dichter, vie nicht felten durch Zeit und Naum weit
von einander getrennt und nur durch den Geift einer alle gleidy-
mäfig umfajfenden Gefammtheit vereinigt find, haben an feinem
Entitehen, wie an feinem MWacothun und feinen jonjiigen er:
änderungen, ihren Antheil. Das naturalittiche Dichterwerf Dagegen
ft nur das zeitlich beidhränfte Werk eines Einzelnen, weil der
Dichter mit bewufter Mbficht fchnweigen Läht, was jein Geift an
perfönlicher Eigenart befigt. Dieje Art von Selbftverlengnung it
aber für ihm bei Weiten nicht in dem Grade erreichbar, wie fie
für die ungenannten Dichter der Lolfspoefie nicht nur möglich,
fondern fogar unvermeidlich ift. Denn in den jugendlichen Kultur
zuftänden, die dns Entjichen der Volfspoefie vorausiegt, iteht die
perfönliche Individualität des Tichters no auf einer zu tiefen
Entwicelungsjnfe, um fih der Herrichaft des Gefammtgeiftes, der
Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 333
ihm in Sitte, Recht, Neligion und Sprade verkörpert entgegen
tritt, jo weit entziehen zu fünnen, wie das die hodentwidelten
Kulturzuftände, aus denen der moderne Naturalismus erwacien
it, dem Einzelnen nicht nur gejtatten, jondern bei einem gewillen
Vildungsgrade desjelben jogar zur Nothwendigfeit machen. Was
aber beide Arten der Dichtung nad) weiter von einander entfernt,
üt der Umitand, dah die Volfspoefie als Erzeugnif; eines jugend-
ficen Kulturzuftandes mich die Vorzüge der Jugenblichteit an fich
trägt, indem fie zu einer phantafievollen und wefentlich optimeiftiihen
Auffaffung der Dinge neigt und demgemäh lieber die Lichtieiten
ihrer Gegenftände hervorkehrt, als deren Echattenjeiten, während
bei der naturalijtifchen Dichtung als dem Erzeugnih einer phantafie-
armen, zur Vertandesfritif und zum Pelimismus neigenden Alters-
periode der Nultur das Umgekehrte ber Fall ült. Der gröfte
völferpipchologiiche Begenjag enblic, der wenigjtens die aus alter
Zeit ftammende Volfspoejie von der naturaliftiichen Runftpoefie der
Gegenwart trennt, fiegt darin, daf; jene als das Erzeugniß vieler
verfchiedener Generationen einer und derjelben Gefammtheit mehr
deren bleibende Grundzüge d. d. den Lolfsgeiit, biefe dagegen als
das Erzeugniß einer litterarifchen Partei, deren Nunjtprinzip in
unferer rajchlebigen Zeit — wie jede andere Mode — fdhnell von
einem Volfe zum andern übergeht, mehr nur eine Eigenthümlichfeit
des überall herrichenden Zeitgeiftes zum Ausdrud bringt.
Dod) da die nationale Gejammtheit des Wolfes als die
durdicnittlid am jhärfiten abgegrenzte und am vollfommenften
organifirte auch die widerjtandsfräftigite aller menichlihen Gefammt-
heiten üft, To läßt fich der Volfsgeift nur ehr unvollfommen vom
geitgeift zurücdrängen. Menigitens gilt das von allen den
Aeuferungen des menjcjlichen Geifteslebens, in denen die Zub:
jeftivität eine enticeidende Nolle fpielt, jo namentlich von der
Kunjt im Gegenjag zur Wiffenihaft. Wie diefe wejentlid, inter-
national it, weil ber Verftand fid bei allen öltern gleicht, jo it
jene wejentlich national, weil das Gemüt, die Phantafie und felbit
der Geichmad bei allen Völkern verjcieden find. Mag die
naturaliftiiche Theorie als wihenichaftlihes, aus dem natura:
liftiichen Kunftprinzip logiich entwideltes Snftem bei den ver:
idiedenjten Völkern Europas gleihmähige Anerkennung finden, —
334 Zeit: u. Volfsgeijt in der naturaliftiichen Dichtung.
die Prario der naturaliftiichen Nunft fäht überall die nationale
Eigenart mehr oder weniger deutlid, hervortreten.
In diefer Beziehung ift es bezeichnend, dal diejenigen natura
liftiihen Dichter der Gegenwart, deren Namen man am hä
und meijt zufammen nennt, um mit innen zugleich drei ver
Mobififationen des Naturalismus zu bezeichnen, nämlid) Zola,
Ibfen und Leo Tolftoi, nicht nur drei veridhiedenen Völfern, fondern
zugleich den drei ariichen Hauptvölferftämmen Europas angehören,
und in den verfchiedenen Modiftfationen ihres Naturalismus zugleich
die Verihiebenheiten ihres Volts- und Stammescharakters vertreten.
Wenn ımter diefen Dreien der Franzoje Zola bisher den
jtärfiten Ginfluh auf die ewropüfche Kitteraturwelt ausgeübt hat,
To ift dies nicht etwa die Folge fünjtlerifcher Weberlegenheit über
die beiden Andern, jondern mr des Umftandes, dah ev dus
natwalifiihe Pringip mit vüdjichtöloferer Folgerichtigfeit vertritt,
als fie, und zwar nicht blof als Dichter, fondern mehr mod) als
Theoretifer und Aritifer. Hierin aber zeigt er einen echt fran-
zöflihen Charafterzug, der den internationalen Einfluß Franfreichs
aud) auf andrem, als dem äfthetiihen Gebiet erflärt. Gr beiteht
in der Neigung, jedes für richtig gehaltene praktische Prinzip in
togiicher Geradlinigfeit anf die Spige zu treiben. Wird cs dadurd)
auch nicht jelten ad absurdum geführt und in diefen Falle nur
allzwleicht mit dem entgegengejegten Prinzip vertaufcht, das dann
ebenfo anf die pipe getrieben wird, jo imponirt doch die ogi
Folgerichtigfeit, jowie die Entichiedenheit und Najchheit eines folden
Vorgehens überall den Mafjen des Volkes mehr, als ein mahvolleres
Vorgehen, das auf das geichichtliche und natürlihe Ned)t des
Veftehenden Nüdjicht nimmt und deshalb langjamer und auf
gewundeneren Wegen fein Ziel verfolgt. Welonders it dies bei
romanif—en Völkern der Fall, die fi alle mehr durch logiüchen,
als durd hiftorischen Sinn und dur Naturfinn auszeichnen, und
deren politiidjeo Leben deshalb, aud) unabhängig von franzöftichen
Antrieben, mur allzu leicht zwiihen den entgegengeiegten Ertremen
der Pöbelerrichaft und der Säbelherrichaft fich hin und her bewegt.
Die Nachfolge, welde die vericiedenen franzöfiichen Nevolutionen
auch aufierhalb der romaniichen Länder gefunden haben, und die
Weltgerrihaft der franzöfiichen eidermoden, beweifen allerdings,
Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiihen Dichtung. 335
dai; die moderne Nulturmelt überall für die Reize der Abwechielung
empfänglich ift, aber zugleich audı, dab fic dabei dem Einfluß der
veränderlichiten aller großen Stulturnationen unterworfen bleibt,
weit diefe in der pratifchen Initiative mit der fie allgemein gefühlten
geitbedürfniffen abzuhelfen weih, den übrigen Völfern immer um
einen Schritt voraus üt.
Auf dem Gebiete der Litteratur zeigt fid) diefer tonangebenbe
Einfluß Frankreichs, owie der nationale Charakterzug, auf dem
er beruht, chen feit dem Zeitalter der Krenyzüge, aljo ungefähr
fo fange, als das franzöfiiche Volk überhaupt befteht, — am ent-
Ichiedenjten aber im Zeitalter Ludwigs NIV. Nirgends erreichte
die Höftfehe Nonvenienz der neuklaffiihen Geichmadsrichtung einen
fo hohen Grad engherziger Beihränktheit, wie in der franzöfiichen
Eitteratur diefer Zeit. Dafür aber waren die Whantaftereien der
neuromantifhen Dichtung auch nirgends fo ausjhweifend und
unmahr, wie in Frankreich, alo diefes fi) endlid) entichloi, mit
dem Prinzip des Klaffiziomus zu breden. Die Uebertreibungen
des romantischen Prinzips aber haben, eben jo gut wie die des
Haffüchen, den Litteratureinftuß Frankreichs auf das übrige Europa
eher gefördert als gehemmt. Ganz dajfelbe ift nun aud) mit den
Ausichweifungen des Zolajchen Yaturaliomus der Fall. Dieje
itammen zum nicht geringen Theile geradeswegs aus der franz
zöffichen Neuromantit, von der Zola jtärfer beeinflufit ill, ale er
eingeftehen will. Selbjt in Bezug auf feinen Kultus deo 5
find die franzöftihen Neuronantifer feine Vorgänger. Während
aber dieje das Hählidhe vorwiegend zu rein äfthetiihen Kontrajt:
wirfungen benugten, jtellt Zola daffelbe meift ohne jeden Gegen-
fag hin, der im Stande wäre, es äfthetiich zu ergänzen. Er thut
dies im Intereife der „objektiven Wahrheit” jeineo „erperimentalen
Romans,“ und jucht diefem durch den trodenen Exrnjt, mit dem er
in igm natur: und fozia-philofophiihe Lehrmeinungen verbildlicht,
einen „wiffenfchaftlichen Charakter” zu geben, weil ber moderne
Roman „das moderne Leben wicderjpiegeln® mühe und „die
Wiffenfaften die Führung des Jahrhunderts übernommen haben.”
Was aber Zolas Romane an unzweifelhafter Wahrheit enthalten,
ift nicht wiffenfchaftliche, fondern höchitens fünftleriiche Wahrheit,
and von diefer entyält Ihon das altfranzöfiiche Nolandsfied, trag
336 Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung.
feiner mittelaltertichen Wundergeidhichten, wenigitens cben jo viel.
Für den franzöftichen Volkogeift aber ijt dies alte Wolfsenos noch
weit darafterijtiicher, als die Nomane Zolas. Aud) diefe berichten,
indem fie den Verfall der franzöfiihen Gefellichaft unter dem
zweiten Kaiferreich jchildern, nicht jowoht IThatjächliches und Be:
weifendes, als fie vielmehr den niederihlagenden Einituh befunden,
den das Unglüd Frankreichs im deutid-franzöfihen Kriege auf
das franzöfiiche Volt hervorgerufen Hat. In feiner muthlojen
Schwarzieherei zeigt Zola Hier zugleich den Einfluh des modernen
Pellimismus, während dod) die unaustottbare franzöfiiche National
eitelfeit fi barin bei ihm äußert, daß er gleich der Mehrzahl
feiner zeitgenöffiichen Landsleute für alleo nationale Unglüd der
legten Zeit nur einzelne Verräther verantwortlid) macht. ud)
das Rolandslicd zeigt jchon diejen echt franzöfiihen Charafterzug.
Ohne Verrat; wäre jhon zur Zeit der Nrengzüge eine Niederlage
der „großen Nation“ ein für biefe undenkbares Ereigniß geweien.
Aber die unbekannten Dichter des Nolandolicdes jtanden unter
dem Einfluß des mittelalterlihen Jdealismus und der religiöfen
Begeifterung der Nreuzzugszeit, und das franzöfiiche Volt, das
damals wirklid) und in vollerem Sinne des Worts, als jemalo
fpäter „an der Spige der Zivilifation” marfdirte, hatte zu dem
muthvollen Glauben, die vereinzelte Niederlage bei Nonceval durd)
eine ganze Reihe glänzender Siege rächen zu können, um jo mehr
Veranlafung, als jeine Nationalfeinde zugleich die Feinde der
ganzen Chriftenheit waren. Seitdem haben fid) die Zeiten jehr
wejentlich geändert; der franzöfiihe Nationaldharakter aber it jid)
wefentlich gleich geblieben. Auch heutzutage it der Glaube an
eine glorreiche Zukunft Frankreichs und an einen fiegreichen
Nachekrieg gegen den Nationalfeind im franzöfiichen Volke wadı,
und die fittlicen Zuftände Franfreids find feineswegs To fhlimm,
wie fie in der peflimiftiichen Daritellung Zolas ericeinen. Im
Grunde ihres Herzens find die Franzofen, als Gejammtheit
betrachtet, and heutzutage noch eben folhe Optimiften, wie im
Zeitalter der Nreuzzüge, und eben folhe Xerehrer Hlarer und
geichmadvoller, wenn aud) vein konventioneller und damit unwahrer
Formen, wie im Zeitalter Ludwigs NIV. Am frangöftichen
Naturalismus der Gegenwart aber iit nichto franzöffch, als die
Zeit u. Volfögeift in der naturaliftiichen Dichtung. 7
rüdfichtstoje Folgerichtigfeit in der Anwendung des natualiftiichen
Kumftprinzips. Der franzöfiiche Kormenfinn verfeugnet fi aud)
bei ihm nicht ganz; aber an die Stelle des älthetiichen Formalismus
der franzöfiichen Nlaffifer tritt bei ihm ein bloß Logiicher, und
wenn ihm im Gegenjag zu diefem die Wahrheit mehr gilt als
die Schönheit, fo gilt ihm doc) die Narheit noch weit mehr als
die Wahrheit.
Wenn Zola unter allen Gattungen der Dichtung den Homan
am höchften ftellt, mährend er in der Fprif nur „eine Mufik für
nervöje Frauen“ ficht, „eine dichteriiche Ueberipannung, die Feine
Anatyje geitattet amd an den Wahnfinn grenzt,“ io befindet: fid)
hierbei jein naturaliftiiches Glaubensbefenntniß nod im Einklang
mit dem franzöfiihen Nationalgeichmad, denn die zugleid) beliebiejten
und bedeutendjten Erzeugnüfe der franzöfiichen Yitteratur gehören
der Broja und innerhalb diefer dem Nomanc an; zugleich aber
verräth er damit die Grenzen feiner perjönlichen Begabung für
die Dichtkunft, denn nur der Noman gejtattet das aufergewöhnlid)
große Mah epiicher Breite, mit der Zola jeine Stoffe behandelt.
In den oft nur allyu weitläufig ausgeführten Schilderungen, die
nur zum Theil dem „wiiienfhaftlichen“ Zwede feiner Nomane
dienen, tritt Die mehr maleriiche als dichterifche Kunjtbegabung
des franzöfiichen Volks hervor. Dagegen hat Zola von dem
franzöfiihen Zinn für das Thentraliiche nur ehr wenig an fid.
Das Drama weil; er allerdings zu jchägen; aber jeine Neigung
zu breiten Analyien jteht mit dem Wejen der dramatiichen Technit
allzu jehr im MWideripruc, als dah er auf der Bühne Hätte
heimiich werden fönnen.
Um jo beffer it das dem Norweger ofen gelungen, deiien
internationaler Einfluß aber viel beichränfter als derjenig
Zolas. Auherhalb der jfandinaviichen Yänder Hat er nur in
Deutichland groije und nachhaltige, wenn aud nicht unbejwittene
Erfolge errungen, jonjt überall nur blohe Achtungserfolge. Sein
Publikum ijt alfo ein vorwiegend germaniiches. 5 aber hängt
damit zufammen, daf; er trag mancher Cigenheiten, die er mit
Zola theilt, 3. B. der Neigung, moderne Vererbungstheorien
dichterifch zu verwertgen, eine durch und durd) germanijce Natur
ift. Dies verrät fi) namentlic) in der eigenfinnigen Selbjtän-
338 Zeit: u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung.
digfeit feines Wefens wie feines Dihtens, die beide weniger burd)
den Verjtand, als durd) den Willen bejtimmt erfheinen. Auch er
verfolgt in feinen Dichtungen mehr Ichrhafte als fünjtleriiche
Zwede, aber jeine Lehrhaftigkeit ift weniger willenshaftliher als
ethiiher Natur; denn cs handelt fi in ihr nicht um eine wifjens
ihaftliche Erklärung der phyfiiden und moraliihen Schäden, an
denen die moderne Gefellihaft frankt, jondern um die fittlihen
Probleme, die aus dem Vorhandenjein diefer Schäden für den
Einzelnen erwachien, dem beven Heilung, oder falls diefe unmöglich,
fein follte, feine eigene Gefundheit am Herzen liegt.
Für die Darftellung des Gegenfages zwiichen dem Einzelnen
und der Gefellichaft, auf die er in Folge diejer Abficht angewiefen
it, eignet fid) aber feine Dichtungsart jo gut, wie die dramatifche,
für die Jofen nicht nur ein großes tedhniches Gehdhie, jondern
wenigitens eben jo viel natürliche Begabung hat, wie Zola für
den Roman. Während bieje epifdhe Litteraturgattung das gröhte
Ma breiter Schilderung aller Auhenfeiten des Lebens verträgt,
verlangt das Drama den höchiten Grad ftraffer Nonzentration.
Liegt eine jolde dem Willensmenichen an fi) ihoen näher als dent
Verjtandesmenichen, jo wird fie doc) zugleid) nicht wenig durch) den
Latonismus des Ausdrucs begünjtigt, den Ibfen mit der Mehr:
zahl feiner norwegiichen Landsleute theilt, und der innerhalb
weiterer Grenzen eine Cigenheit der germaniichen Völfer über-
Haupt ift. Nicht nur die echtgermanifhen Dramen Sheafespeares,
des größten Dramatifers der Neuzeit, fondern aud) die englifchen
Volfsballaben die chenjo wie die Gejänge der altnordiihen Edda
einen wejentlic dramatifden Charakter haben, verbanfen ihre
energiiche Wirkfamfeit zum nicht geringen Theil der bünbigen
NRürze, mit der in ihnen das äußere, wie das innere Gejchehen im
Wechielgeipräch der dabei betheiligten Beronen blof; angedeutet
wird. Diefe Kürze aber ift nur eine Aeuferungsform der germa:
nifchen Innerlichfeit und darum bem rein Iprif—hen deutichen Kiede
nicht weniger eigen, als der engliihen Ballade. Cine andere
Aenperungsform diefer Innerlichfeit ift die Neigung Ibiens und
feiner Dramenhelden zu grübleriic—her Verfenfung in das eigene
Id, um fih eine individnelle Weltanfhaung und ein jelbftändiges
ethiihes Prinzip zu erringen, Sie beruht wefentlid) auf derjelben
Zeit u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 339
Geiftesrichtung, aus der auf wiflenjchaftlichem Gebiete die deutiche
und die fehottiiche Philofophie, auf religiöfem der germaniiche
Protejtantiomus eriwadhfen it, und wurzelt gleich diefer in dem
germanifcen Vehitrfnif; nach individueller Unabhängigkeit, einem
Bedürfnii, welches nur allzu feicht zum Sonderlingsweien, zu
jelbjtfüghtiger Enghergigfeit and zu jpiehbürgerlichem Partikulariomus
führt, aber auch zu ächtefter Charaftergröhe und zur höchjten fitt:
lichen Ihattraft führen kann. Dieje germanifhe Neigung zu ver:
einzelnder Unabhängigkeit, die auf den einfamen Hocebenen Nor:
wegens einen eben fo günftigen Woden gefunden hat, wie die
germanishe Schweigiamteit, steht im entichiedenjten Gegenfag zur
tomanifchen Gejelligfeit und Gefpräcigfeit, die in Franfreid) eine
geradezu Fünitlerifche Ausbildung gewonnen haben und auf die
franzöftiche Profalitteratur einen faum geringeren Einfluf ausüben,
als die entgegengeiegten Eigenheiten der germanifchen Wölfer auf
deren Lyrit und Dramatik. Derjelbe Gegenjag trennt aud Joien
von Zola.
Der norwegüiche Dichter behandelt die geielfichaftlichen Zu
feines Vaterlandes nicht weniger natwwaliftiih und peflimiftifch,
als der franzöfiiche diejenigen Frankreichs; beide fümpfen für die
Waprheit, md gegen die Füge, die das moderne Geiellfichaftsleben
überall beberricht, und beiden gelten mur die Schattenfeiten der
Wirklicleit als Wahrheit. Aber Zola fucht durch) ausführliche
Schilderungen zu wirken, die an derber Deutlichteit nichts zu
wünfchen übrig Lafen, Jofen dagegen durch eine fehlichte und
bündige, oft bezeihnende oft aber aud) dunkle Auodrucoweile.
Bola, der in oder bei Paris, dem Zentrum der franzöfiichen Gefell:
ihaft lebt, beurtheilt alle Einzelericheinungen derjelben vom Stand-
punft bes gefellihaftlichen Ganzen aus, während Xbjen im der
möglichten Wahrung der individuellen Freiheit gegenüber der ver-
fogenen gefellichaftlichen Convenienz das einzige Heil für den filt:
lic, Strebenden erblit und, getreu diefer Ueberzeugung, zerfallen
mit der Gefellichaft feines Vaterlandes, meilt im Auslande lebt
und in Folge beffen immer tiefer in die Gefahr geräth, ein fub-
jeftives Zerrbild der vaterländifchen Zuftände, wie co unter dem
Einfluß peffimiftiicher Verbitterung in feiner Phantafie fi) malt,
für deren wahrheitsgetrenes Bildniß zu halten.
340 Zeit: u. Volfsgeift in der naturalitifc—hen Dichtung.
In Bezug auf dieie eigenfinnige Vereinzelung jtcht Ibien
nicht nur zum Sranzofen Zola in einem entichieenen Gegeniab,
fondern aud) zum Nuffen Tolitei, der in jeinen dichteriichen Werten
eben jo gut, wie er, ethifch-didattiiche Ziwedte verfolgt. Aber das
ethische Prinzip Tolftois ift im Gegenfag zum individualiftiichen
Ibjens ein entichieden fozialiftiiches. Nicht in der freien Eelbit-
bejtimmung des Einzelnen ficht er das filtliche Jdeal, jondern in
der Verleugnung des eigenen Selbit zu Gunften eines gejell
ihaftlichen Ganzen, deffen Nrbild er in der altchriftfichen Gemeinde
zu finden glaubt, und da unter allen jozialen Gebilden der Gegen
wart die vujfiiche Torfgemeinde diejem Urbilde am nächjiten fommt,
fo ftcht fie auch feinem Herzen unter allen am nädjten. Deohalb
lebt ex, nachdem er die Zuftände feines Yaterlandeo in verichiedenen
Stellungen fennen gelernt, und die nichtigen Freuden der vor
nehmen Welt, der er durd Geburt und Erziehung angehört, zur
Genüge gefoftet, ihen jeit geraumer Zeit fern von diefer Welt
auf dem Yande mitten unter feinen Bauern, wie ein Vaner mit
niedriger Handarbeit beipäftigt, und feine Schriftftellerei beichränft
fich jeitdem fajt ausihlichlic auf das Abfalen voltsthünlicder
Lehrichriften, die immer mehr den Gegenfag hervortreten Iafen,
der ihn von allen übrigen, namentlich aber den nichtruffischen
Vertretern des modernen Naturaliomus trennt. Der volfsthüm
lichen Wirkfamfeit zu Liebe Heidet cr feine Zittenlehren am liebjten
in die Form von Legenden, die mehr durch Wunderberichte als
durch Vernunftgründe oder did Berufung auf das Gewiflen zu
überzeugen fudyen, und in fester Zeit Hat jeine Ethif ein Ent
michelungsziel erreicht, das mr jceinbar mit der Schopenhauer:
ihen „Verneinung des Willens zum Leben“, in Wirkliceit aber
mit dem deal möndiidher Aofefe übereinftimmt. Dierin aller
dinge jteht er jelbjt unter jeinen ruffschen Yandsleuten und deren
ilaviicen Stammverwandten vereinzelt da, jofern diefe nicht durch
die Küche zu ähnlichen, wenn aud) weniger folgerichtig ausgebildeten
ethiichen Anfchanungen erzogen find. Dagegen zieht er in der Art
jeines gemeinnügigen Wirfene nur die äuferiten praftifchen Nonie
auenzen einer Zinnesrichtung, die von je ber die Eigenart der
ivezifiich Hlaviichen Ethit beftimmt hat. weitherziger
Nechtsfinn, der Jedem das Zeine läßt, giebt für diefe den Ton
Zeit- u. Volfsgeift in der naturaliftiichen Dichtung. 341
an, jondern ein warmherziger Gemeinfian, der im Gegenfat zum
weitenropäifchen, fid) weniger in verjtändiger Erwägung deo für
das Ganze der Geielfichaft Nütlichen äufert, alo vielmehr in der
unmittelbar natürlichen Nächitenliebe eines mitleidigen Derzens,
welches auch die jelbjtverjchuldeten Leiden des Armen und Unglüc-
fichen (ebhaft mitempfindet, während co ‚die eigenen Leiden als
wohlverdiente Strafe geduldig erträgt.
Wie die EihiE Tolfteio ans allgemeinflaviichen Neimen ent:
inrofien it, jo wurzelt fein vefigiöfer Ölaube im VYoden des ruffiichen
Volfes. Tbgfeih er ein Gegner alles orthodoren Nirchenthums
üt, und fein Chriftenthum, das auf jelbjtändiger Bibelforihung
beruht, wejentliche Elemente mit dem weitenropäiichen Nationalismus
gemein hat, jo fteht er doc, im Gegenfag zu Diefem, außerhalb
aller Fühlung mit der Sefammtentiwickelung der modernen Wiffen-
ihaft und hat eine entfchiedene Neigung zum MVyftigienms aus
den Firchlichen Ueberlieferungen feines Volkes ih bewahrt. So
tief mgeft Tolitei in feiner Heimat) und in feinem Lolfsthun,
dafi er troß der weitherzigften Sumanität der Gefinnung, in feiner
Leradhtung der weitenropäiichen Nultu und in feinen Vorurtheilen
gegen den Weiten übergaupt, den er nur jehr oberflächlich, Fennt,
wejentlich mit den Slavophilen übereinftimmt. Je mehr er aber
nicht nur in den Kräften, Tondern and in den Schranfen feines
Wefens ein echter Vertreter feines Volfeo ift, um jo beifer ift er
im Stande, aus dem Herzen feines Volles heraus zu dichten, wie
zu fühlen und zu glauben.
AS Künjtler it er Fowohl bien als Zola weit überlegen ;
aber er verdanft diefe Ucberfegenheit viel mehr jeiner angeborenen
Begabung, als feiner äftpetiichen Bildung. Auch er befennt fich
mit aller Entfchiedenheit zum naturaliftiichen Wahrheitprinzip und
bleibt diefem Prinzip auch in feiner dichteriichen Praris jo treu,
also es einer hodbegabten Dichternatur überhaupt möglich iit.
Aber er darf fi cher an die dichteriiche Daritellung abjtojender
Gegenftände wagen, als Zola und Jbfen, weil er jenem an
ethiichem, diefem an äfthetiichem Takte, beiden aber an Schöpfer
fraft der Phantafie überlegen it. Nicht mr im der Behandlung,
fondern fchon in der Wahl feiner Gegenftände bewährt
fünjtleriiche Ueberfegenheit ; denn neben den Schattenfeiten ruflüicher
342 Zeit: u. Vollsgeift in der natnraliftifchen Dichtung.
Zujtände und BVolfotypen det er aud deren Lichtjeiten auf, und
wenn wir von der Leftüre feiner Dichtungen eheiden, fo geihieht
das nicht mit dem bitteren Gefühl der Hoffnungsfoiigleit gegen
über einem materialiftiichen Jatum, oder mit dem bitteren Gefühl
der Unzulänglichleit and) des edeliten md tatfräftigiten Cingel-
menjchen gegenüber der Engherzigkeit, Nurzlichtigteit und Gemein
beit der Menge, fondern mit der Dofinung auf die allmähliche
Entwidelung des Edlen und Guten, deiien Neime er gerade in
den niedrigften Schichten feines Volkes zu entdeden und hervor:
zufchren weiß. Go lönnte deshalb fraglich ericeinen, ob die
Runfteichtung, der er als Dichter huldigt, nicht cher den Namen
einer ibealiftüchen, als einer natnraliftiichen verdient ? Jedenfalls it
dieje Art des Naturaliomus die Fünftleriich am meilten bereahtigte.
Sie ift aber zugleich die wölterpfchetogich bebeutfamfte,
weil fid) in ihr die charafteriftifchen Eigenschaften der alten Volls
pocfie mit denen des modernen dichterifchen Naturalismus vers
einigen. Das gilt in ganz bejonderem Mafe von Totfteis großem
Homan „Steieg und Frieden.“ Man hat diefen Noman, der zur Zeit
deo ruffiich Franzöfifchen Nrieges von I812 jpielt, alo „die rujjüiche
Jliade“ bezeichnet, und infofern treffend, als der Noman in der
That viel vom Gharalter eines alten Volfsepos an fidh hat; nur
daher fich noch weit beifer mit dem Nolandeliede als mit der
‚Jliode vergleichen läht, weil ev eine nicht bloß; nationale, jondern
zugleich eine Humane Bedeutung hat. Wie Jranfteid in jenen
mittelalterlichen Volksepos den Glauben der gefammten Chriften-
heit gegenüber den Völfern des Jolam vertritt, To vertritt Nu:
land im Tolfioifchen Noman die Unabhängigfeit Gefammteuropas
gegenüber feinen franzöfiichen Unterdrüdern. Freilich wie dort
zunächft mr um ben Kuhn deo „fühen Krankreich” getämpft wird,
jo Hier zumächt nur um die Freiheit deo „heiligen Nuhland.“
Aber ein heiliger Namıpf ift and dieler; denn co Handelt fich au,
in ihm um eine Vertheidigung alles deffen, was nur immer einem
Volle heilig fein fan. Und aud) in diejem friege geht «6 nicht
ohne Wunder ab, —- wenigitens in der Darfielung Toljteis.
Die allgemein herripende Ueberzeugung, dal weniger die Deere
Nußlands, als defien Klima den mächtigen Feind bejiegt haben,
ergänzt Tohtoi dahin, dab nicht die Nriegafunft der wu
zeit u. Volfogeift in der naturaliftiichen Dichtung. 313
herren, jondern der frandhafte Ipfermuth der rufiichen Soldaten
das Vaterland gerettet, und dah Mutulom gerade wegen feiner
perjönlichen Unthätigfeit der größte Feldherr Diejes Mrieges war
weil er als echter Volfsmann den Keldenmmtb des gemeinen
Soldaten ruhig gewähren lieh, wie ein verirrter Neiter den Anjtintt
feines Nofies. Er überlich damit das Schidjal Nuflands mit
fataliftifcher Ergebung einer höheren Wacht, md da dieje dem
ruffiihen Volke wos aller Planlofigkeit der Kriegführung den
endlichen Zieg verlieh, fo faun di eg mur auf einem Wunder
beruhen, - wenn nicht auf einem blofen Zufall.
Tofjtoi, der alo ehemaliger ffisier das Striegsleben aus
eigener Erfahrung fennt, schildert 06 mit einer Iebendigen und
überzeugenden Anfhaulichfeit, wie fie nirgends in der modernen
Yitteratur ihres Gleichen hat. Zugleich aber fchildert er das
vuffiiche Geiellichaftsteben in allen Schichten des Lolts mit einer
jo ergreifenden Macht der Darftellung, wie fie nur ein Dichter
entfalten kann, der feinen Gegenjtand nicht bloi Fennt, fondern
aud) von ganzem Herzen liebt. Die Theilnahme feines Herzens
für die gefchitderten Begebenheiten, Zufände und Perjonen, Ipricht
in feinem geidichtlien Noman, dem naturafiftiichen Prinzip zum
Troß jogar noch viel lauter, als das Verftandesinterefie an ihrer
wiffenichaftlihen Wahrheit. Allerdings äußert fie fich nicht im
Igriicher Unmittelbarkeit, fondern mit der füntleriichen Chjettivität
des echt epiichen Stils nur in den Gigenthümlichteiten der Kärbımg
und Beleuchtung, der Anordnung und Deutung aller der
heiten, aus denen das Ganze des Gegenftandes befteht.
geichichtliche Wirklichfeit wird unter dem Einfluß einer derartigen
Vehandlung zur wunderbaren Sage ganz wie im Volfoepos
und ganz wie in. biejen it der Dichter nicht nur im
Glauben an die Wunder, die er berichtet, Tondern in der ganzen
Auffaffung feines Gegenitandes dinhaus national, d.h. «0 tritt
in diefer Muffafiung wicht mar feine perfönlihhe Herzenstheilnahme
an dem dargeitelften Gegenitande zu Tage, fondern zugleich die
Herzensftellung, die derartigen Gegenfländen gegenüber dem ganzen
Wefen des ruffifchen Volfes am meiften entipricht.
Eben deshalb hat diefer Noman Tolitois eine größere völfer
piohologüiche Vedeutung, als irgend ein anderes DVicyterwert,
314 Zeit: u. Volfogeift in der naturaliftiichen Dichtung.
welches der moderne Naturalismus hervorgebracht hat. Und eben
deohalb hat er zugleich eine größere Vedeutung für die Welt:
(itteratur, als irgend ein anderes Merk der ruffiichen Nunfiperfie,
die fonjt nirgends in dem Grade, wie hier, von fremdländiichen
Einjlüffen frei erjcheint.
Die romanifhen Völker haben bereits im Zeitalter
der Nenaijiance diejenige Stuntrichtung eingeichlagen, die ihrer
gemeinfanen Cigenart am meiften entfpricht, weil fie in der allen
gemeinfamen Vergangenheit des römifden Alterthumo wurzelt;
und die Franzofen haben in ihrer flachen Yitteraturperiode diejer
Nunftrichtung eine ipezifiich-franzöfiiche Gejtaltung aegeben, die
deshalb allen Wandlungen des jeweiligen Zeitgeichnads zum
Troß dem ern des franzöftichen Wollo auf die Dauer
am meijten zujagt, wenn au nur in einer zeitgemäßen
Mobififation.
Tagegen ift die Nunftrihtima der germanischen Völfer
jeit deren Auftreten in der Weltliteratur immer eine vorwiegend
tomantiihe gewefen, Tofern ihnen am Kunftwerte die Tiefe und
der Neichtgum eines über alle nm hinansfirebenden jeeliichen
Iapalts von je her wichtiger erihienen ift, als die Schönheit der
finnlihen Form, welche von den romanüichen Wölfen, auch abge
iehen vom halt, fon um ihrer felbit willen geichäbt wird.
Die romantiiche Dichtung im engeren Zinne ift allerdings yumächit
eine Schöpfung des deutichen Volks, aber wie jehr fie auch dem
Gefammtgeifte der germaniichen Völterfamilie entipricht, offenbart
fich in der Thatfacdhe, dab die Sfandinaven dem Nunfiideal diejer
fpesifiich-deutichen Nomantit fogar länger treu geblieben find, als
die Teutichen jelbit.
Vei den vomanichen Völkern bildet die Serricaft der
deutichen Romantif, bei den germanifhen die des frangöfüchen
fizismmus nur eine vorübergehende Epifode der Nationallitteratur,
weil fie als litterarifhe Fremdherrichaft empfunden wurde, jobald
der Neiz ihrer Neuheit feine Wirffamteit eingebüht hatte. Ebeno
icheint 5 nun beiden Völferfamitien and mit dem gegenwärtig
bei ihnen herridenden Naturalismus chen zu wollen; denn icon
vegt fich genen defien Herricaft überall bei ihnen eine jehr that
kräftige Cppofition, die unter veridhiedenen Vezeihnungen, wie
‚Zeit n. Volfsgeift in der natural
hen Didylung. 345
„Zymbolismus", „Indivibunlismus“ u. j. m. fortwährend an
Anhang gewinnt.
Anders aber verhält «8 fich in diefer Beziehung mit den
Hufen md 6is zu einem gewilfen Grade mit den Slaven über-
haupt. And) fie Find der allgemeinen Herrichaft des Haiüichen,
wie des romantiichen Jdealismus unterworfen geweien, aber weder
Haben diefe aus dem Mejten ftanımenden Nunftrichtungen bei ihnen
in den tieferen Volfofchichten Wurzel falfen önnen, noch ift cs
den aus ihrer Mitte entitandenen Klaffifern und Nomantifern
gelungen, eine nenmenswerthe Nüchwirfung auf die nichtilaviiche
Litteraturwelt auszuüben. Der Naturalismus dagegen, der in
der modernen rufiichen Literatur ichen fi tig eine eigenartige
Gejtaltung angenommen hat, die fünjtferiich um fo berechtigter ült,
je weniger fie fid) von theoretiicher Prinzipienreiterei beirren lüht,
hat alle Ausficht hier länger fortzudanern, als irgendwo anders.
Erjt jeitdem diefe Geihmadsrihtung in Nufland zur herrichenden
geworden ift, hat die ruffiiche Novelliit den gewaltigen Auf-
ichwung genommen, der ihr eine allgemeine Hocdichägung in der
itteraturwelt und einen bejtimmenden Einfluß auf die Welt-
fitteratur erobert hat. Neinem Erzengni ilavifcher Kunjtpocfie
bisher Aehnfiches gelungen. Nur die alte ferbiihe Volfsepit hat
icon früher die Bewunderung nichtilaviicher, namentlich deuticher
Nenner erregt. Diefe aber ijt mit der modernen ruffiichen
Novellitit durdaus wejensverwandt. In Folge des Umitandes,
dal; die legtere nicht nur durch ihre national-flaviicen Stoffe,
fondern auch dadurch, dal fie den echt epüchen Stil, d. b. die
ruhige umd anichaufiche Plajit der Erzählung und Schilderung,
mit der jerbiichen Volfsepif teilt, und mm durch tiefere piycho
togiiche Charakteriftik fich über fie erhebt, hat fie allen Anjprud
darauf, eben jo als ipegififch-laviiche Nunftpoefie zu gelten,
wie die jerbiche Wolfsepif als ipezifiich- jlaviihe Rolfsporfie.
Deshalb wird die Diacht des Einfluffes, den fie durch eine Neihe
alängender Vertreter gewonnen hat, innerhalb des ruffüichen Volfes
und der Siavenwelt überhaupt, fih vorausfichtlic nod) viel jlärter
aeltend machen, als in der weftenropäfchen Litteraturwelt. Dann
aber würden die jlaviichen Völker durch Toljtoi und feine Genofien
mit ähnlicher Gewalt im Vanne einer vorwiegend naturaliftiichen
316 Zeit: 1. Volfsgeift in der natwraliftiichen Dichtung.
Sefchmadsrichtung feitgehalten werden, wie die Homanen durd)
die größten ihrer Dichter in einem wejentlich Haffiichen und die
Germanen durch Shafespeare und Goethe in einem wejentlich
romantiichen Jdealiomus bis in die Gegenwart hinein fejigehalten
worden find.
Die dichteriichen Höhepunkte der Weltliteratur find immer
zugleich Höhepunkte der verfchiedenen Nationallitteraturen, aus
denen fie emporgewachlen find. Deshalb haben die Dichtungen,
welche folde Höhepunkte bezeichnen, überall eine völferpipdelogiche
Bedeutung, die national und international zugleich ift und mit
ihrer fünftleriichen Bedeutung innig zufammenhängt; denn die
böchjten fünftlerifchen Vorzüge, deren eine Dichtung fäbig Üüt,
ftanımen aus den fiefften aller Quellen menfchlichen Dichtens,
d.h. nicht aus dem Herzen des einzelnen Dichters allein, jondern
zugleid) aus dem Herzen feines Volks und aus dem Herzen der
Denfchheit. i
Banane Woldemar Mafing.
Nom.
I au
Die ingeborenen Alt = Livlands
im 13. Jahrhundert.
Welche Getreidearten die Cingeborenen vor Ankunft der
Deutichen fultivirten, wien wir nicht genau; jedenfalls die den
nordiichen und finnischen Völkern von Alters her befannte Gerjte;
ferner den Noggen, welchen Heinrich von Lettland an einer Stelle
ausdrücklich erwähnt (10, 12), während er jonjt nur ganz allgemein
von Getreide, Santen und Aedern Ipricht.
Tab Heinrid) aud mit Getreide (annona, frumentum),
Hoggen meint, it wohl anzumehmen, aber nicht gewiß. Unter
Getreide oder Storm wird volfsthümlid) immer bie Hauptfrucht des
Landes verjtanden. So bezeichnet der Nomane damit den Weizen,
der Deutihe den Noggen, der Schwede die Gerfte. Je nad) dem
Vorherrichen einer Getreidegattung fann aljo unter Getreide oder
Korn etwas Verichiedenes verftanden werden!).
Die eigentliche Frucht des alten Germanen, aus der er Brod
amd Brei gewann, war der Hafer mit Haben wir uns unter bem
frumentum bes Tacitus cher Hafer als Weizen oder Sommer
Roggen zu denfen®). Der Hafer blicb in Deutichland das Haupt:
jedens I.
1880. T.
%) Lt. Hehn, Kulturpflanzen. 5.490. Geijer, Geld
A Rat & Hanfien. Nararhütoriiche Abhandlungen. Yei
318 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr.
aetreide bis ins 13. Jahrhundert, befonders im Norden und Dften').
Cs wäre alio möglich, daß Heinrich mit frumentum Hafer meint,
wenn er ber deutichen, oder Gerte, wenn er ber jandinaviidh-
finnüichen Vorftellung folgte. Aber das einzige Mal, wo er eine
Setreideart bei Namen nennt, gebraucht er den Ausdrud siligo,
was unzweifelhaft Nongen bebeutet, und da eo fid) in biejem alle um
eine Getreideabgabe, einen Aderichofi handelt, jo Fünnen wir wohl
annehmen, dafi and) Tonft bei Getreidenbgaben unter frumentum
und annona Noggen verftanden Hi Jedenfalls wurde 1206 von
den Liven Noggen gebaut.
Aus Urfunden der erfien Hälfte des 19. Jahrhunderts
erjehen wir, dai; in Fivland Noggen, Hafer, Gerite und Weizen
gebaut wurde. Cs fragt fich aber jedes Mal, ob nicht vielleicht
der Einfluß der deutjchen Einwanderer, befonders der Giftercienfer,
vorauszujeten it. Moggen wird in den Nerträgen mit den Nuren
1231 und mit den jelern 1241 erwähnt?) Beide Stämme
batten zu der Zeit nad) feine deutiche Veeinflufung erfahren,
mühlen alfo den Noggen chen gehabt haben. TDasfelbe gilt aud)
vom Dafer, den die Nuren laut einer Urfunde von neben
Rogaen und Gerfte ihren Pfarrgeiftlichen zu liefern hatten®).
Auch) Weizen wird jchon und zwar im Stifte Dorpat, alle
in Nord Yivland erwähnt’; wir fünnen aber nicht genau willen,
ob hier nicht Schon denticher Einfluß mitgewirft hat. Nosfinnen®)
behauptet zwar, dal; die weitfinnifchen Stämme den Weizen jchon
feit Urzeiten Fannten, doch jcheint das ein etymofogiicher Irrtum.
Auch Ahtgvift hat zwerit das finnijche Wort für Weizen: nisu
genuin gehalten und erjt Ipäter für ein jlavijches Lehnwort
ärt?),. Der Weizen üt aber eine Getreideart, welche erit ipät
d. uam» Sternegg, Teutiche Wirthihaftsgeihicte II.
Yeipzig 13
3) Chrom. Lpv. 10,73: si 1 1, 18a 2a
224 2; 30,5: fuumentum. Vgl. Het, Nulturpflanzen.
beitefi. Worte bei
3) Yiot. Urt.
9 Ebendai. 1, 2
9 Ebendal. 1.
& Finnifche ON
*) Aulturwörter. &. 36.
annona 9,
un
E91 und die
. 105, 169. TIL, 169 a.
Die Eingeborenen Yivfands im 13. Jahrh. 349
aus dem Süden in Vitteleuropa eingedrungen it und, wie Hehn
nachweijt!), feinen Weg von Gallien zu den Deutichen und von biefen
zu den Lithanern genommen hat. Yei den alten Sfandinaviern
war der Weizen blos Gegenftand des Handels, aber im Weit
gothengefeg (1160) wird bereits ein Zehnte vom Weizen ver
ordnet?). In Deutfchland galt er noch im 12. Jahrhundert als
eine Lurusfrucht, die mehr im Züden alo im Norden gebaut
wurde’). Da die Eingeborenen Alt-Livlands, befonders die finni
schen Ztämme, den Weizen vor dem 12. oder 13. Jahrhundert
gebaut haben, ift nicht anzunehmen, immerhin ift es nicht unmöglich,
dai fie ihn vor der deutichen Groberung fannten.
Soweit die Nörnerfrüch Von den Hülfenfrüchten ipreden
unfere Onellen nicht. Cs jei bier nur erwähnt, dal Erbfe, Yinfe
md Bohne nad) Ahlaviit?) von den Yetten zu den Liven umd
von diefen zu den übrigen weitfinnifchen Stämmen übergangen find.
Eine uralte Frucht der finnischen Völfer it die Nübe, welche
bejonders gut im Aichenboven der Waldäder gedeiht und mod)
jegt bei den Ehiten und Finnen jehr beliebt ift’).
And) Flads und Hanf werden in unferen Unellen nicht
erwähnt. Vermutungen auf ethymologiicher Grundlage würden
faum zu pofitiven Ergebnijen führen; die lettifchen und finnifchen
Vezeihnungen für lade Fönnen fowohl deuticher als indo:
ermaniicher Herkunft jein. Victor Hehm meint, daf die deutichen
Eroberer den Klachs einführten. Das lettiihe Wort Hanf
kannepes fdjeint das griediih römiihe eanmabis zu fein amd ift
nad Ahlgviit aus dem Vettiihen in die weitfinnifchen Spraden
übertragen worden"). Yon den Wejtfinnen willen wir, dab fie
leinwandartiges Gewebe aus Nefeln verfertigten, wie € bei den
80,
hwedens 1.
3) Auftnepflansen.
107 md
*) Ebenda 65 und. Helm, Nulturpflangen. &. 196 f.
Vgl. auch Blumberg, Ueber den Culturzuftand der Ejten x. Siyungsber. d.
gel. eftn. Sei. 13
9) Kultuewörter
33 5 Hehn, Aufturpflanzen S. 165.
350 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Halbnomaden auf der Grenze zwifchen Afien und Guropa feit
Urzeiten üblich it).
Die Eingeborenen fultivirten alfo vor Ankunft der Dentichen
Gerite, Hoggen und Nüben, höchft wahriheintid and) Hafer, viel
feicht Weizen, Erbjen und Bohnen, dagenen faum Flachs und Hanf.
&s fragt fi wm, ob die Eingeborenen ausichlichlid Sommer:
oder aud) Wintergetreide bauten. Die Waldbrenmwirthichaft Ichlicht
Lepteres nicht aus; andererfeits braucht der Umftand, dah Noggen
und vielleicht auch Weizen gebaut wurde, nicht nothwendig Winter
getreide vorauszufegen, denn beide Gietreidearten fünnen Zomme
frucht fein. In den umliegenden Yändern : Deutichland umd
Skandinavien ijt Wintergetreide feit Jahrhunderten befannt. In
Yivland finden wir in einer Urkunde von 1226 einen Aderichoh
von Winterfrücten?). Dieje Abgabe wird aber von den in der
igaichen Stadtmart auf fiviihen Boden ungejiedelten Celonen
entrichtet, 05 ift alfo der Einfluß; deutfcher Kultur nicht mur möglich,
fondern jehr wahricheinlich.
Zieht man den ganzen Nultwzufiand der Cingeborenen in
Betracht, jo mühte man eher annehmen, dai; fie vor Ankunft der
Deutichen nod feine Winterfrucht bauten.
Von landwirthichaftlihen Geräthen erwähnt Heinrich von
Yettland bloh des Piluges, welchen er jaljcher Weile den Namen
des Möderpfluges aratrum giebt”), während er ihn eigentlich
uneus Dufenpflug nennen mühte. In den Urkunden des
13. Jahrhunderts dagegen wird der Klug fait immer uneus
genannt, bejonders in feiner BYedentung als Stenerbafis ’.
Der Plug des 13. Jahrhunderts war ein einfacher Farft:
artiger Hafen ohne eiferne Schaar, wie ihn Herberitein noch im
5. Jahrhunderte in Yithanen fand’). Der jegige baltiihe Hufen
33 1.u.266.. Hehn, Aulturpilangen.
Kol. Urt. W180.
10,
1, 105 und neus. als
dagegen aratrum: TIL, 101 a.
Fat. Seht, Nulturpflangen. &. 13 j. A. Meiten, Der Boden und
hichajtl. Verhältifie des preuhifchen Staates. IL. Berlin 1800.
und desielb. Siebelung 1.
8. werbafis: sbendaf. I,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 351
pifug ift zweiihanrig, doc) wird in einigen Gegenden Ehjtlands
noch der einichanrige Haken, der jog. Schweinsrüfiel gebraucht I.
Außer dem Piluge hatten die Cingeborenen die Egge, ohne
Zweifel das Urdild der jet noch in vielen Gegenden gebräudjlicen
hölzernen Egge, welche aus mehreren geipaltenen Ficytenftänmden
mit daranhaftenden Aitenden bejteht. Die Enge wird in dem
Vertrage mit den Auren von 1231 als Stenerbafis erwähnt ?).
Co Hafe und Schaufel befannt waren, mag dahingeitellt
bleiben, e9 jei hier nur erwähnt, daß nach Abhlavift die Yiven
und Ehjten ihre Benennung für Hafe dem Lettiichen entlehnt
haben, und den weitfinniihen Bezeichnungen für Schaufel ein
lithauijches Wort zu Grunde liegt’.
Zum Mähen deo Getreideo und Grafes bedienten fi die
Eingeborenen der ZSenie, welche in Urkunden mehrfach erwähnt
wird, und cbenfallo als Steuerbafis diente?) Von der Sichel
iprechen unfere Quellen nicht; au diejes Geräth deinen bie
Liven und Ehften von den Yetten erhalten zu haben’). Mert:
würdiger Weile gebramhen jebt die Yetten die furjitielige Senie
zum Wähen deo Hetreides, die Ehjten die Sichel.
Das Getreide wurde nach der Ernte, ganz wie heute, in
Hanfen oder Boden auf dem Felde zufammengejtellt, um bei
gelegener Zeit gedörrt und dann gedroichen zu werden ®).
e Zitte das Getreide vor dem Drejdhen zu dörren, üjt
außerordentlich alt, jowohl bei den fito-jlavifchen, als bejonders bei
den finnijchen Völkern. Sie jcheint mir mit der Zitte der Halb:
nomaden, das Getreide in unterirdifchen Zilos aufzubewahren,
zufammenzuhängen. Die fuftdichten Exdfilos fepten das Getreide
leicht der Gefahr aus, fi zu erbiten und zu verfaulen, daher
muÄte 08, um widerftandsfähiger zu werden, vorher gedörrt
1. Hucd, yandwirthihaft. 3. 84 f. Abbiloungen in
Topographiicie Nachrichten von Yiv: und Efthland I. Niya
SYD L 1m
3) sufturmörter.
tip: lopeta. Warm nicht aus dem
3 Yiol, Urt BA, 20S,
= Ablguit, Kulturwörier.
% Heine, Chron. Lyv.
jet chf. Iahicus, hapja. Tin. Mhli
tüichen, wo Schaufel Jahpste heilt?
IL 128.
[E
352 Die Eingeborenen Fivlands im 13. Jahrh.
werben. In der That Fönnen mir das Dörren wie die Eilos
auf die Zeit der Halbnemadiiden Yebenoweife der finniichen Wölfer
zurücführen. Als Dörrfammer wurde das Haus benupt. Wir
finden bei den Weftfinnen die Pirte, bei den Tjtfinnen die Hola
und die Gamme dazu verwandt '). Das Dörren muß aljo älter
fein als das Eindringen des Pirten-Tupus bei den Wejtfinnen.
Uns interefirt mm die Dörrmethode der Weit
getten. In der Pirte waren in Mannshöhe ftarte Stangen quer
gelegt; auf diefe wurde das Getreide in Garben bis an das
Dach gelagert. Alsdann wurde der mächtige aus runden Feld
fteinen über einer vertieften Fenerjtelle erbaute Tfen ftark geheizt,
fo dai er cine gewaltige Dige ausjtrönte; zugleid Idloh man
die Thüve und etwaige Fenitertufen. Did) die Hige und den
Rauch wurde das Getreide in verhältniimäfig furger Zeit genügend
gedörrt ?).
Das Haus in diefer Zunftion heist Nie. Tieje Bezeichnung
kommt mit geringfügigen Veränderungen bei den Woten, Chiten
und Yiven, fowie bei den Yetten, Yithauern und uffen vor.
Hacı Aplqvift ift das ift das finniiche riihi auf das jandinaviiche
ri guriidzuführen, was eine Volzilange bedeutet, auf welche Getreide
zum Trocnen gehängt wird. Ahlgvift meint, daf; die Lito-ilaviichen
Völker das Wort und den Gebrand der Nije durch die finniichen
ölfer überfommen hätten; Thomjen läht diee Frage offen,
DVielenftein führt Hypothetiich eine genuine Ableitung des lettijchen
Wortes rija an?)
Jedenfalls war und ijt der Name wie der Gebraud) der
autochthonen Norudarre, der Nije, in den Ojtieeprovinzen üblich.
Während das Haus der Ehjten fehon fange nicht mehr als Yaditube
benupt wird, dient eo noch jebt jehr Yäufig als Nije. Yud) bei
den Yetten im füdlichen Yivland findet man nach dazıwiicen
Wognjinde und Nie vereinigt; in Murland dagegen mul die
Trennung derielben jchon jeit fo langer Zeit vorfihgegangen fein,
get.
Die Eingeborenen Pinlands im 13. Jahrh.
dab jest nicht einmal eine Erinnerung daran übrig geblieben zu
ein jcheint").
Das gebörrte Getreide wurde im Haufe oder im freier
gedroichen; eine befondere Dreichtenne, wie man fie jeßt meift mit
der Nie unter cinem Tache findet, gab cs nicht. Das Korn
wurde von Finnen und Velten auf einer Sandmühle vermahlen ®
Die landwirthichaftlihen Arbeiten: Adern, Zen, Ernten
und Treichen mwinden wohl in erjter Yinie von den Weibern,
befonders ZSllavinnen, dann auch von Yansiklaven und erit in
legter Linie von freien Männern betrieben. Desgleihen war das
Trehen der Handmühle eine Weiber- und Sflavenarbeit ’). Der
freie Mann befahite fih) lieber mit den angenehmeren Theilen des
Wirthichaftotebens, mit Pferde, Xieh- und Bienenzucht, mit Jagd
und iicherei, Beichäftigungen, die ihm jederzeit erlaubten, dem
Ariegerufe feines Stammes zu folgen. Auch jest noch finden
wir in einigen Teilen Cefelo und der übrigen, dem Kigajchen
Meerbufen vorgelagerten Jnieln die AFeldarbeit von MWeibern
gethan, während die Männer Küchfang md Schiffahrt treiben,
oder fih als Erd: und Holzarbeiter auf dem Feitlande verdingen.
Eine ungleid wigtigere Stelle als der Aderbau, deinen
Pferdes und Viehzucht im Wirthichaftsbetriebe der Eingeborenen
eingenommen zu haben. n Hauptreichthum bejtand cben in
den Heerden, die ihnen Nahrung und Nleidung boten und ihren
greifbaren Bejip vepräientirten. Während fie bei feindlichen Weber
fällen genöthigt waren ihre Nerter preiszugeben, unter Umftänden
auch das geerntete und verfiechte Getreide, Fonnten fie ihr Vieh
mit fih nehmen in die Burgen, welche daraufhin eingerichtet
waren, oder in die Waldverftede. War das Nriegsweiter vorüber
geranicht, To eriienen die Flüchtlinge wieder bei ihren Hütten,
brachten diefe mit leichter Mühe in den vorigen Zuftand, retteten,
was von der Ernte zu retlen war, und begannen won Neuen
den Kampf ums Dafein. She wichtigfter Bejik, den fie dem
Y) Lpl. Yeuningen, fett. Has. .
le Ahlgviit, Aulturwörter. 3 IS. Bamingen, Ict. Haus.
A Bgl. Hehn, Nuktwroflanzen. I. 49. „Die Mühle zieh
der Selavin im Weitgntpengeig 1100. Ceijer, Bed. Scwdens L
354 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahr.
Verderben entzogen hatten: Pierde und Vieh, unterjtügte jie darin
wirffam,
Heinvid) von Lettland berichtet Häufig von der grofen Menge
der den Nrenzfahrern afo Beute anheimgefallenen erde und
Viehheerden; fo werden j. 3. 1209 in Sontagana 4000 Ochien
und Nühe, ferner Pferde und Aleinvich ohne Zahl erbeutet, des
gleichen in Harrien unzählige Ninder und Schafe; 1211 fielen
den Deutfchen bei Thoreida an 2000 Pferde des chjtniichen Heeres
in die Hände, eine gleiche Anzahl 1217 in Zaccala.') Auch
font wird betont, dah die Veute an Vich und Pferden in den
ehjtniichen Yandichaften fehr bedeutend war.
Von Hansthieren werden, aufer dem erde md Ninde,
Schafe, Ziegen und Hunde erwähnt”), dagegen erfahren wir nichts
von Schweinen und Geflügel. Cs it jedoch anzunehmen, daf; den
Gingeborenen das Schwein und vom Geflügel jedenfalls das Huhn,
vielleicht auch die Gans befannt war’). Ja einer Urkmde von
1242 werden Jinshühner der ptichen Ehiten erwähnt‘).
An eine sielbewute Züchtung deo Nindviche haben wir
nicht zu denfen; eine foldhe hat in den Oftieeprovinzen überhaupt
exit in moderner Zeit begonnen. Wielleicht haben foldhe Stämme,
welche meift zu Pferde ins Feld zogen, wie die Yithauer, Jenvier,
Mierländer md Oejeler, einige Zorgfalt auf die Aufzucht guter
Pferde verwandt”). Im Allgemeinen muß; im Auge behalten
werden, daf, entiprechend den rohen wirthichaftlichen Voritellungen
jener Zeiten, ein größeres Gewid: auf Cuantität als Cualität
der Nugthiere gelegt wurde.
33 Chrom. Byv. Dh go 2a 2a 30, 5
>) Ebenni. 16, 1
>) Ahlqvit, Kulturmörter. & 20 f.aber 3.22 Unım.! Das Schwein
üt eing der ätteiten und beliebteften Dansthiere Miustenropas. gl. S- Yampreiht,
Wirthidiaft und Net der Aranfen zur Zeit der Voltsrchte. Sifter,
buch ed. W. Maurenbrecher. Leipzig Bf. Ebenio
Vgl. Hchn, Aultuepilangen. 3. Nach Plinins wurden in Nalien Hänie
federn aus Teuticpland eingeführt. pl. Meigen, Boden 1. Verlin ISIN. &. 31.
DER
a
Tentichen
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 355
Von befonderen Vichweiden ijt nicht die Nede. Es herrichte
die fog. wilde Weide, wie das ja bis anf unjere Tage geblieben
üt. Pferde und Vieh weideten meilt ohne Hirten, wo jie wollten,
bauptjächlid) wohl auf den durch Naubbau gewonnenen Buich-
fändereien und überhaupt im Walde. An eine Beichränfung des
Weideganges dachte man das ganze Mittelalter hindurch nicht,
höchitens wurden die jungen Zaaten durch Zäune geihügt. Ebenfo-
wenig fand eine Pilege der natürlichen Wald» und luhwiefen
ftatt, obgleich die Heugewinnung bei den fangen Wintern für den
zahlreichen Piehftand von großer Vedentung fein mufte. Auch
die Wicjen galten, wie alles übrige Yand mit Ausnahme der
ungemähten Neder, als offenes Weidegebiet; nod) in unferem Jahr:
Hunderte fie man die Wiejen bier zu Yande abiichtlid abweiden,
„damit das Moos durchgefreten werde”).
Schr alt und beliebt, wie bei fämmtlichen Völkern des
Nordens, war die Vienenzuct.
‚Heinrich berichtet uns von den Vienenbäumen des Caupo,
welche die Yiven zerbroden Hatten (10, 1), ferner über einen
Aufitand der Yetten von Antine 1212 wegen Yeder und VBienen-
bäumen (16, », 0). In ipäteren Urkunden finden wir unzählige
Zeugniffe über die fehr auogebreitete Vienenzucht der Eingeborenen.
Stets ijt von Bienenbäumen die Nede; die Bienen wurden alio
im Walde in hohlen Bäumen gehalten. Diefe waren im Gegen:
fage zum Walde jelbjt, der Jedermann gehörte, Privateigentbum.
In fpäteren Zeiten wurden fie ausdrüdlic als foldhes anerfannt
und vererbt?). Noch jegt finden wir nicht felten in laubwaldreichen
Gegenden Spuren folder urwüchfigen Vienenzucht.
Die Produkte der Vienenzuht: Honig und Wachs, waren
für die Eingeborenen von bejonderer Bedeutung, denn fie jtellten
nicht nur einen Gebrauchswerth, fondern aud) einen Taufchwerth,
einen Handelsartifel dar.
Dafi die Kiven den Honig zur Vereitung von Meth gebrauchten,
geht aus Heinride Chronik hervor’). Tb die Cingeborenen nod)
%) Hucd, Yandwirthichaftl.
BT. 1 4. V12760, pl, Nosfinnen, Kinn.
Rp. d, | und Hchn, Aulturpflanzen. 36 {.
356 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
andere beraufchende Getränfe gefannt haben, fönnen wir unferen
Quellen nicht entnehmen. Wulfitan berichtet, da die Aiften Meth
und gegorene Stutenmilch getrunfen, Bier aber nicht gefannt
yätten. Dagegen verfihert Ahlquiit, dah die Finnen feit Urzeiten
ein aus Malz ohne Hopfenzufat gebrautes Bier fannten; aud)
giebt «6 genuine ehftnifche und liviiche Yenennmgen für Malz
und Dünnbier, dagegen ift der fithauifd)-lettiiche Name für Vier
alus dem Altnordiichen entnommen, wie aud) der gewöhnlidhe finniiche
Name olut!). Bom Gebrauche der den meiften Nomadenvölkern
eigenthümlichen Stutenmilh finden wir bei den Cingeborenen
feine Spuren.
Neben Aderbau und Viehzucht jpielten Jagd und iidherei
eine große Rolle.
Die mächtigen Wälder und Vtoräfte, die das ganze Land
bededtten, nur umnterbroden von den infelgleihen Ciebelungen,
bargen einen reichen Mildftand: Bär, Wolf, Luchs und Fuchs
lieferten warmes Gewand, der mächtige Elch unübertreffliches
Keber?), Eichhorn, Marder, Filholter und Biber ihr wundervolles
Pelzwert, den von Nufen und Nordmännern eifrig gefuchten
Handelsartiel, den wictigiten Taufchwerth, das Geld ir Ein:
geborenen. And für die Nahrung war die Jagd von Bedeutung,
wenn auc) nicht in jo Hervorragendem Maafe wie die
an der langgeftwedten buchten- und injelreihen Wieereofüfte, in
den unzähligen Scen und Flüfen des Anlandes.
Dem Häring und defien Vettern, den an der Livländifchen
Nüfte bejonders heimiichen Strönlingoarten, dem Lacjo und deiien
Familie, fowie den unzähligen übrigen Fiichgattungen wurde eifrig
mit ep und Angel, mit Fichwehre und Sepkorb nachgejtellt?).
Wir fommen mın zu der Frage, wie weit von einem Handel
der Eingeborenen im 13. Jahrhunderte die Nebe jein ann. Diefe
Frage hängt mit einer andern, in der Cinleitung erörterten,
zufammen, welder Art nämlich die Vezichungen der Norbmänner
% Ebendal. &. Ahlgeift, Aultrwörter. S. 30 f.
= Die nunft Zelle zu bereiten und zu färben, it von Alters den Ainnen
befannt. Ugt. Aplgvüt, Ault. 1. auch X U. DI 008.
» Urkunde von tv. 1330, Sept. 7). Mikeil,
a. d. fiot. Geih. NIS
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 357
zu den Bewohnern der ojtbaltiichen Küjten waren, ob blos Friege-
rifcher oder auch wirtbichaftlicher Natur. Wir haben dieie Frage
offen gelajfen. Cine Thatfahe it, dah eo Gegenftände bei den
Eingeborenen Alt:Livlando gab, die ihren Nachbarn begehrens
werth erfchienen umd welche diefe auf die eine oder andere Weife
zu erlangen fuchten. Die gewöhnliche Art folder Verjuche beitand,
wie wir gefehen haben, in räuberiichen Neberfällen. Dieje tonnten
zu vorübergehender oder dauernder Abhängigkeit eines Elammes
führen, welde fi in Tributpflictigfeit d.h. in regelmähiger
Lieferung der begehrenswerthen Gegenftände äuferte.
Die Gegenftände deo Tributeo waren daher aud) zugleich
Handelsartifel, fie wurden gegen andere Waaren eingetaujcht.
An einen Handel im gewöhnlichen Zinne haben wir feinenfalls
zu denfen, jondern nur an Tanjchhandel.
Die gewöhnlichiten Tributgegenjtände und Dandelsartifel waren
Honig und Wach, fowie die mıf der Jagd erbeuteten Felle wilder
Thtere. Wir haben oben das Pelzwerf alo Geld der Eingeborenen
bezeichnet. In der That if das Wort Geld jowohl bei den
Finnen als den Velten von finnifhen Bezeichnungen für Fell amd
Pelz abzuleiten"). Heinrich von Lettland nennt das als Geld
gebrauchte Pelzwert nagatae, er jpricht von ma rum.
Die tehnüche Bezeichnung nagatae it aud) bei ruifiichen Chroniften
zu finden, jie ftammt vom fivifchen nagad - - Felle; ihr ganz
analog üt der rufiiche Begriff Nuny enyınd gedacht, der eigentlich
Dlarder und übertragen Geld bedeutet
Ferner erwähnt Deinrid einer zweiten Geldforte, welche wie
bie Nagaten den livländiichen Cingeborenen eigenthümlich it,
nämlich der Tferinge.
!) Im Finmifchen und Ehftnifchen heiist Geld raha. was wriprünglich
Bel des Mobiires bedeutet. Ahlzit, Mult, &. In f- Ausfinnen, Finn.
Seid, &. 17. Ym Leihen het Bed nauda, weites Wort auc im Ehtniiten
orlommi (eleipoig, 11, 782) und von nahık, Pur. nahad
= Fell jtammt. Bpl. Mplgpi 98 und Pabit,
finnen, Zinn. Geich.
fiol. Geld. U,
358 Die Eingeborenen Sivfands im 13. Jahrh.
Von den Oferingen wiffen wir nur, dab fie Silber waren,
wohricheinfih ein vielgebrauchter Schmucgegenitand, vielleicht
Bruftipange oder Hemdidnalle. Ihr Werth wird von Heinrich
einer halben Mark Sitbers, aljo gegen 8 Loth reinen Silbers
gleichgeiegt'). Der Dfering wäre aljo etwas der alten Griwna
der Rufen Analoges, welche ebenfalls uriprünglid einen Schmud,
wahricheinlid) einen mit Münzen behangenen Halsichmud bedeutete?).
Beide Geldjorten, Nagaten und Oferinge, find Fultwehiitoriich
äußerjt interefiant. Wir finden in ihnen tppiiche Geldformen
einer gewilen Nulturjtufe: den hervorragenditen Gegenjtand des
Austaujces mit fremden Völkern und einen Gegenitand, welder
einen wichtigen Theil des beweglichen veräuherlichen Yeiigthums
bildet. Der Ofering entipricht hen einer weiteren Entwidelung
des Gefdverfehrs als die Nagate, da er durd feinen Metallgehalt
einen jtabileren Werth darjtellt als Pelzwerf. Wir finden ihm
daher in Livland das ganze Mittelalter hindurch, am Längiten in
Nurland, wo er nod) in einer Yanerverordnung des Meijtero Frey:
tag v. Yoringhof 1492 vorkommt’).
Da wir feine geprägte Plünze fennen, die Ofering genannt
wird, jo müffen wir annehmen, dal; damit jtels ungeprägtes Silber,
wahricheinlich Schmud, im Gewichte von 8 Loth gemeint üt.
Im Lande felbjt gab es feine VBergwerfe, in denen Metalle
gewonnen werden fonnten, fie mußten aljo auf dem Wege des Taufc-
verfehrs eingeführt oder durch Sceraub erworben werden. Zahlreiche
Hräberfunde haben Münzen der verichiedenften Nationen zu Tage
gefördert, neben römifchen, fufiichen, bnzantinichen, angelfächfiiche,
Fabit, Bein. v.
6. SE. 11 und 28.
oder Alteribümer Ki
Torpat 1812,
a Kiol VL 160, 550, BO 1
des Meifters Jobann Ärentag von dem Yorinthove d. d. Aecı
Neichs Arch. Stocholm. 1 mv. 10. Up. € Schirren,
int. Urt. in fchnwed. Arch noch ungedructe Urt. verdanft Lerf.
der Yicbenswürdigfeit des Germ T. Stavenhagen. Tferinge fonmen auch wor
im Kalewivoög VI 387 und im jog. für. VauerNecht, abgedrudt in N ©. d.
Dunge, Veiträge zur Aumde der Five, ejth: und Furländ. Rechtsqueiten. Miga 1832,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 359
fandinavifche und deutiche, dem Alter nad) einen großen Zeitraum
umfahend, die jüngjten aus einer Epoche, welche mit der deutichen
Eroberung zujammenfüllt.
Der Neichtgum an Edelmetallen iheint nad) unieren Quellen
iehr bedeutend geweien zu fein. Die Summen, welde der Chronift
Heinrich als Tribut, Strafzahlungen oder Beute anführt"), rufen
durch ihre Höhe unfer gered)tes Erfiaunen hervor. Den aufftändiihen
Aa-Liven wird 1212 eine „mähige” Geldjrafe von 100 Oferingen
oder 50 Mark Silber auferlegt; der gemarterte Talibald verräth
den Chjten einen Theil feines Baarvermögens: 50 Tferinge, aljo
25 Mark; die Söhne des Talibald erbeuten in drei Tagen in
Notalien (Wiek) allein an Silber drei liviiche Talente, was nad)
den Berechnungen Ktaranıfins 180 rujliihe Pfund, nad) denen Ktrufes
fogar 204 Pfund, zum mindeften aber, wenn man das livijche
Talent mit dem Kichpfund identifizirt, 60 Pfund wären).
Bedenfen wir nun, daß außer den Söhnen Talibalds das übrige
6000 Mann jtarfe Heer gervih auch nicht unbedeutende Beute an
Gelmetall gemacht haben , jo fünnen wir eine Vorftellung
von dem Heichtum der Chiten in der Wiek gewinnen. Won
vielen fonjtigen Veihpielen jei dann noch angeführt, da die Yithauer
geld für den Häuptling Lengewin 500 Lferinge, alio
md Silber zahlten?) und daii das Strafgeld der Ein-
geborenen für verfagte Heeresfolge von den Nreuzfahrern 1207 auf
3 Mark, alio anderthalb Pfund Silber, pro opf fejtgefegt wurde?).
Bringen wir die Zeugnffe unferer Chroniften mit der That:
fache in Zufammenhang, dafi fid in den Gräbern der baltiidhen
Indigenen jehr häufig Münzen und Schmucgegenitände finden,
fo ift unfere Annahme von dem Neichthum der Eingeborenen an
Edelmetall gewiß berechtigt.
}) Chron. Lyv. 1 19,
2) Lgl. Raranıjin, Alf. Geich.
Soontagana xx. Xerh. d. gel. Ehitn. Ge
Pabit, Heine. v. X. &. 74, Anm. 10 und Mm. I7 meint nach Arndt,
Lot. Seid. IS. 177, Anm. dahı unter einem lvifchen Talent ein Lid,
DO.) zu verftchen jei. Terjelben Meinung it Aplqvit, Aulturwörier,
& Neufe, cher die Burg
360 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Wie weit ihre Fertigfeit ging, das geraubte oder eingetaufehte
Nohmetalt fünjtleriic zu behandeln, fann an diejer Ile nicht
entidieden werden. Es ift eine der Aufgaben der prähifteriihen
Forihung durd) Vergleihung der Funde feitzuitellen, ob es ein
antochthones Nunitgewerbe gegeben hat. Da ein jehr großer Theil
der bisher gefundenen Gegenjlände unftreitig in fertiger Zorn
von fremden Nationen geraubt oder erhandelt ift, jo wird eine
Vejtimmung der einheimifden Erzengnüffe nicht leicht fein. Wenn
wir überdies nod) in Betracht ziehen, daf; die Siedelungs-Gebiete
und Perioden der germanifchen, litoflaviicen und finnifcen Nationen
wiffenichaftlich keineswegs ganz feitftehen, To fann vor übereitten
Schlühjen und haltlojen Hypotheien nicht genug gewarnt werden?).
Was bier von den Edelmetallen gejagt worden ift, mufz auch
auf die gewöhnlichen Metalle, vor Allem das Gifen, ausgedehnt
werden. Wir willen, daß die finnijchen Wölfer jeit Alters die
Gewinnung des Sumpf: oder Najeneifens verftanden, und daß fie
in der Bearbeitung desjelben eine hohe Gejchidlichleit erlangt
hatten?). Sie waren wegen ihrer Schmiebefunjt bei allen nordifchen
Völkern berühmt: finniiche Schwerter werden in den isländiiden
Sagen häufig erwähnt; der berühmtefte Schmied der Edda ijt ein
finniicher Rönigefohn. In der finnischen Sage jelbft ipielt die
Sıhmiedetunfl eine große Nolle: eine alte Nune jingt von der
Geburt des Cifens aus Sümpfen ımd Seen?), der vergötterte
Heroe Ilmarinen der Nalevala war ein Schmied.
Die Ehften und Yiven aber deinen die Runft der
gewinnung nicht in ihre neuen Zige an der baltischen Küfte mit:
gebracht zu haben. Die Namen für Schmied, Schmiede und
Schmiedegeräthe haben fie zum größten Theil von ihren lettischen
Nachbarn übernommen*). Vezeihinend ijt aud, da der ehitniiche
Nationalperos Kalewipoög fid) jein Schwert in Finnland fÄhmieden
9) Bat. 3. Girgenfohn, Pemerfungen über die Erforidung der fivländ.
Worgefchichte. ige IS. S. 15 f.
2) Bl. Ablovift, Rulturwörter,
jögren, Gejammelte Schriften 1.
631, MT.
®) Salenala IX.
+) Ahlgvift, Aulturwärter,
GSeijer, Gel. Schwedens 1,
Wetersburg u. Leipgig 1801.
Se. 6;
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 361
läßt. Wir mülen aljo annehmen, da die Cingeborenen das
Eifen, welches fie für Geräthe des täglichen Gebrauds und befonders
für ihre Waffen benöthigten, ebenfalls aus der Fremde und zwar
Hauptjächlich durch Raub bezogen haben.
Gegenftände der friedlichen Einfuhr waren, wie aus einer
Stelle in Heinrichs Chronif geichloiien werden fann, das durch
Seeraub mur jehr icwer zu erlangende Salz und gothländiider
Wadmal, ein fefter dunfelev Wollenftoff, der im Großen nnd
Ganzen in dem heutigen, denjelben Namen führenden, Wollenzeuge
der Letten und Ehfien wieberzufinden ift!). Man fönnte nun mus
dem Bebürfnifie nach fremdländifchen Wollenftoffen den Echluf;
ziehen, dal; die Gingeborenen — wenigiiens die finnifchen Völfer
die Behandlung der Wolle noch nicht fannten. In der That
waren die ältejten Stoffe der Finnen ein Gewebe aus Neffelfäden
nnd der bei allen mongolifden Hirtenvölfern gebräuchliche Filz
aus Kuh oder P erdehaaren; die Behandlung der Schafwolle Fam
erjt viel fpäter auf, die Werkzeuge dazu: Scheere und trage find
hen und Ghitniichen dem Deutichen entlehnt?). Dagegen
fann aber angeführt werden, day die ältejte Wollgewinnung durd
Ausrupfen nicht durch Scheeren vor ih ging, ferner dai; die
Kalevala (23. V. 388 fi.) das Weben der Schafwolle tennt.
Die Frage muf alfo offen bleibe
nrid) von Lettland erzählt (27, «), dal die unterjochten
Harrier im Winter 1223 den Nrengfahrern Tribut und unzählige
pas“ fchieften. Das chitniihe Wort Yaip bedeutet Dede,
Umjchlagetuch und ift dem Altnordiihen entlehnt, wo veipa eine
Tede as grober Wolle oder Kuhhaar bedeutet’); cs ijt nicht
unwahrfcheintid, da bei Heinrich darunter die altfinnifchen Filz:
deden verfianden find, welche den Deutichen auf dem Winterjeld-
zuge die beiten Dienjte leiften mußten; wären «6 gewöhnliche
Wollendeden geweien, jo hätte der Chronift faum die autochthone
Vezeihnung gebraucht. 5
%) Chrom. Lyv. In Vgl. Pobit, Seine. v.Y. 3.9. Ahlgoit, Rulturs
wörter &. 8.
2 Bol. Whlgvit, Kulmmmörter, &. 50 j. 81, 206.
%) Ebendai. &. 155. Tas Wort finder fi) auch, Liol. U. 3. 1 603.
362 Die Eingeborenen Livlands in 13. Jahrh.
Ein weiterer Handelsartifel, den Heinrich ausdrücklich bezeugt"),
waren Sklaven.
Es ijt oben wiederholt geichildert worden, wie auf den Naub-
zügen der Cingeborenen die Männer meift niedergemacht, bie
Weiber und Kinder aber in die Gefangenichaft geführt wurden.
Tifenbar jdeute man id davor, allzuviel männliche Sklaven zu
halten, da fie bei der häufigen Abweienheit aller friegstüd)tigen
Männer leicht gefährlic, werden fonnten. Die Cflaven und bejon-
ders Sflavinnen wurden theils verkauft, theils in der Wirthicaft
als Hausjklaven verwandt.
Bis zur Einführung des Chriftenthums ift das Inflitut der
Sklaverei in allen Nüftenländern der Titjee und in Nukland
allgemein verbreitet). Später wurde der Menichenhandel als
unvereinbar mit den Grundideen des Chriftentyums eingejchränft,
wenigjtens foweit er Chriften betraf, während Heiden nad) der
Anichauung des Mittelalters in diejer Hinficht nicht als Denfcyen
betrachtet wurden. An anderer Stelle foll gezeigt werden, da
der Handel mit Nriegsgefangenen und die damit verbundene
Sftaverei bis gegen Ausgang des Mittelalters in unjerer Heimath
angetroffen wird und eigentlid) nur aufhört, weil eo feine Heiden
giebt, die befriegt werden fünne!
Die Handelsartifel der Eingeborenen bejtanden alfo in Honig,
Wachs, Pelzwerk und vielleid)t gegorbenen Häuten als Export, in
Goelmetall, Eiien, Salz und Wadmal als Import. Dazu fam
der Handel mit Kriegsgefangenen. Der Handel fann beim Mangel
von Ztäbten, alio gröferen Verfehrszentren, fowie jeder Organifation
nur jehr geringfügig gewejen fein. Cs war ein Taufchhandel ohne
jeven Markt, wie er bei unzivilifirten Völkern üblich it; Begierde
und Zufall beftimmten die Preife. Meift aber wurden fowohl
Ginfubr- wie Ausfuhr-Artifel ohne jede andere Gegenleiftung als
Mord und Brand beichaiit.
Naramjin,
Nach, Reitors Chronif
wjätostam Pelzwert, Wade, Donig
nde der ruifiichen Ausfuhr bezeichnet. Ugl. Löwis
Is.
Seid. Nuflands 1.
ihen Anno ’ vom Groisfüri
als. Segen
Val. ebendai,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 363
VI
Der schwierigfte Theil unferer Unterfuchungen über die
vordeutiche Nultur der Eingeborenen it unftreitig derjenige, welcher
fid) mit Neligion und Ethit derjelben befaiit. Denn hier
bewegt jid) der Hiftorifer nod mehr als font auf gleichiam
fchnanfendem Boden. Er fann nicht unternehmen, eine volljtändige
Vipthologie aufzutellen; dazu gehören weit tiefergehende Studien,
die in das Gebiet der vergleichenden Völfer- md Spradhfunde
fallen. Auch darf er die Gefahren derartiger, meijt retrofpeftiver
Forichungen nicht gering anfdylagen. Ihatiaden im Sinne hilto:
rifher Wahrheit Laffen fh auf diefem Gebiete nicht leicht feit:
ftelfen, denn ©6 ift unendlich fchmwer, ja oft unmöglich, die
urjprünglichen religiöfen und ethiihen Vorftellungen von jpäteren
fremden, fowohl heibnifchen als chriftficen Ginflüflen zu reinigen.
6 laufen bei allebem mehr Supothejen unter, als ein Hillorifer
verantworten darf; zudem fünnen fich jelbft die Wipthologen von
dad in jehr vielen Frageı nicht einigen.
Daher bleibt dem Hi von übrig, fi, mit den wenigen
maften IThatjachen zu begnügen, welde ihm die geichichtlichen
Quellen bieten, wodurd feine Darftellung Targer und nüchterner
wird, als es ein Stoff von jo allgemein menfchlihem Intereffe
verdiente.
Das Gebiet der religiöfen Vorftellungen ift feit uralten
Zeiten ein befiebter Tummelplag für die Phantafie der Chronijten
und Neifenden geweien. So fünnen wir von den märdenhaften
Berichten eines Wulfjtan und Adam von Bremen abjehn. Lesterer
erzählt, daß die Nejtuer Drachen und Vögel angebetet hätten.
Shroniften des 16. Jahrhunderts: Crasmus Stelle, Simon
Grunau und nad ihnen Lukas David haben auf Grund der
fpärticen Verichte des Peter von Dusburg für die alten Preuhen
eine fompfizirte Neligion erfunden. Wit Zuhilfenahme freier
Phantafie haben fie einen ganz ausgebildeten Nultus mit einer
Göttertrins, unzähligen Nebengöttern und einem hierarhiichen
Prieftertgum zu Stande gebracht !).
1891. 6. Vertyolz, Il
zichs) Baltiice Monatsicheift Bd.
wifche Urgefgichte. (ed. ©. Diedee
1856.
364 Die Eingeborenen Livfands im 13. Jahr.
Vis in die neweite Zeit find diefe Fälfhungen geglaubt
worden; bedeutende Hifterifer, wie j. DB. Johannes Voigt), haben
fie anf Tren und Glauben angenommen.
6 lag nahe, Netigion und Kultus der alten Prenfien auf
die finmmverwandten Letten zu übertragen. Das ift im vorigen
Jahrhunderte mehrfach geihehen. Männer vom Scjlage eines
Diertel?) haben jolche Fälihungen, als ihren Zweden entiprechend,
wiederholt und erweitert. So ift es gefommen, dal; heufzutage
die fogenannten gebildeten Ketten glauben, ihre heiniichen Vor:
fahren Hätten der Göttertrins Perfunos, Rotrimpos und Pifolos
geopfert, chrwürdige Waidelotten hätten im DTunfel der heiligen
Haine myftiiche Handlungen vorgenommen, Widewut der „Mojes
der Yetten” hätte Worte des Yebens verkündet umd Anderes mehr.
Thatjache ift, daß wir von den Neligionsvorjtellungen der
alten Petten jo qut wie Nichts wiifen. Das phantaftiidhe Gebäude,
welches jchriftitelleriiche und nationate Citelfeit errichtet hat, fällt
in fi felbjt zuit
Unterfuchen wir nun, was der Hiftorifchen Kritif Stand Hält.
Wir fünnen wohl annehmen, dal die ganze lithauifc) lettiiche
Völferfamifie diejelben Grundzüge religiöfer Vorftellungen gehabt
hat. Dusburg jagt von den heidnifhen Preußen: „Die Preußen
hatten feine Kenntnif von Gott. Weil fie einfältig waren,
fonnten fie ihn nicht mit der Vernunft erfaifen und weit fie feine
Vuchjtaben hatten, fonnten fie ihn aud) nicht in Schriften
erihauen -- darum verehrten fie in ihrem Jertjum jede
Kreatur als Gott: Sonne, Vlond umd Sterne, Donner, Vögel,
vierfühige Thiere, jelbit die Nröte. Cie hatten auch heilige Haine,
Felder und Gewöhler, in denen fie nicht wagten, Holz zu fällen,
zu adern oder zu flchen.“ Es ift aljo ein Natur- und Elementar-
dienjt, welden die Preußen ergeben waren. Die Namen von
Gottheiten führt Dusburg nicht an; daf die eingelnen Natur:
gewalten in Gottheiten verförpert, wenn auch nicht vergeiftigt,
gedadht wurden, it anzunehmen. Aus einer Urkunde von 1249
1) Seicichte Preußens von den älteften Zeiten x. 1 Gap 9.
2) Qgl. defien „Die Vorzeit Kieflands.“ Berlin 1789,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
erfahren wir vom Dienfte eines Gögen Nurche, der ein Gott des
Feldbanes geweien zu fein fweint. Die Namen der Götter
Patollus und Natrimpe ericeinen erft im 15. Jahrhunderte’).
Die Nachrichten über die Neligion der alten Letten
nod) jpärlicher. Der Chronijt Heinrich, den man felbjt für einen
Letten gehalten hat, berichtet uns nicht das Geringite darüber.
Er erzählt nur, da Semgallen und Ketten durch das Loos den
Willen ihrer Götter erforicht hätten). Dierfwürdiger U
holten die Yettgallen den Nath und die Einwilligung ihrer Götter
ein zum Uebertritt zur hritlichen Neligion, wobei fie ihnen blos
freiftelften, id für den römifchen oder griedifchen Glanben zu
entjcheiden. Die Neimchronif fpricht ebenfalls mr ganz allgemein
von dem Heidenthume und den jalihen Göttern der Yetten und
ihrer Stammesgenoffen; blos einmal erwähnt fie des Perfim als
Abgottes der Lithauer ?).
Es unterliegt wohl feinem Zweifel, dah auch die Lithauer
und &etten gleich ben Preußen, entipredend ihren bäuerlichen
Lebensgewohnheiten und Anfchauungen, einem einfachen Natur
bienfte gehuldigt haben werden. Verichte Geiftlidher aus dem
16. und 17. Jahrhunderte über die Nefte des Heidenthumes unter
den Letten weifen deutlid darauf hin. So jagt Salomon Henning
(1589) „Vorzeiten fich diefes undentiche Wolf, wie and noch wohl
einestheils heimlich, großer Abgötterei gebrauchet, die Sonne,
Stern, Diond, Feuer, Waffe, Ströme und jchier alle Kreaturen
angebetet.” Auch der Verehrung „böler Nöten" als Mitd:
fpenderinnen erwähnt Henning *). Aehnliches erzählt uns Paulus
Einhorn (1636 md 1649). Die Yetten hätten Zone, Mond,
Donner, Blig und Winde verehrt, daneben hätten fie Natur:
!) Vgl. Lohmener, Gefch. v. Tit- und Weitpreufien. S. 26 fi.
# Chron. Lyv. U: 1a
2. 1356.
Wahrhaftiger Bericht, wie 68 bisher —- in Neligionse
jachen Fürftenthumb Churland — ift gehalten worden. Nojtod 1580 S.
Rgl. IH. Kallmeyer, Die Yegelndung der enang.chuth. Nirhe in Kurland ıc.
Wittheil. a. d. Til. Geld. VI. S. 80.
366 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Götter gehabt; er ipricht von Müttern md Göttinhen des Meeres,
des Acers, der Wälder, Wege, Gärten !).
Dem Elementar: und Naturdienjte entiprechend, fand die
Götterverehrung im en jtatt, meilt wohl im Malde. Mir
finden in mittelalterlichen Urkunden mehrfad) Heilige Haine und
Wälder auf lettiihem Siedelungsgebiete ?). Noch bis in das
17. Jahrhundert haben fid Spuren Heidniicher Opferfeite erhalten,
fo berichtet uns Einhorn, dah die Yetten zur Zeit der Belt 1602
und 1625 ihren Göttern Vieh geopfert und dabei Trinfgelage
abgehalten hätten.
Derartige Trinfgelage mit religiöfem Charafter wurden
wohl auch bei der Feichenbeftattung q invid) von Lettland
befundet e8 von den Lithauern ?). Diejelbe Sitte findet fih, wie
wir jehen werden, auch bei den finniichen Wölfen. Die Form
des Vegräbniffes bei den alten Yetten ift uns nicht überliefert
worden. Die alten Preufen pilegten ihre Todten wie die finnifden
Qölfer zu verbrennen *); auf lettiichem Siedelungsboden haben fich
aber bisher — meines Wiffens — feine Brandgräber gefunden.
Es ijt Höchjt wahricheinlih, da die Ketten an ein beiieres
Ienfeits und ein Fortleben in demfelben geglaubt haben. Die
Preußen thaten 6 nach Dusburg; und Heimid) von Lettland giebt
uns den Vericht eines in Yithauen gefangenen Priejters, der Augen:
jeuge davon war, wie fi) 50 lithauifche Weiber nad dem Tode
ihrer Männer erhängten, „fintemal fie glauben, daf; fie mit diejen
bald in einem andern Leben wieder [eben werden“ 5).
Dah die Yetten gleich den Ehiten und Yiven ihren Göttern
Dienjchen geopfert Haben, wird nicht ausdrüctlich berichtet, iit aber
nad) ihrem fonfligen Nultwzujtande wahriheinlih. Die Kithauer
312. Eichhorn, Histo
Tesielben „Keformatio
abgedrudt in Seript, ver. Liv. II. ISIS,
>) Yiol. U 9. 1540. VI 20115 and 1230 und 248, wo die heiligen
Wälder aber wohl auf furiich hen Yoden.
9 Chron. Lupe
ner, Gefih. v. Preufen. ©,
Ganz dasietbe berichtet chen Maurieius Strute-
Ag. Müllendoff. Deutjge Aterthumstunde I.
Dorpt in ı nd. 1619. Cap. IL.
is Lettieae 2 Mige 1636. Weide Schriften
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 367
von Medenife verbrannten nad) Dusburg (Cap. 331) nod) 1320
den Vogt von Sambien, Gerhard Nude, indem fie ihn ihren
Göttern opferten.
Ueber die fittlichen Vorftellungen der alten Leiten erfahren
wir aus unferen nellen mr jehr wenig. Was über ihr Kamilien-
leben berichtet wird, jtammt von Chroniten des 16. und 17. Nahr:
hunderts; Hiän und Einhorn behaupten, dah die heidniidhen Yetten
weder Polygamie noch Nonfubinat gekannt hätten !). Das üt
nad) der niedrigen Rulturftufe, auf der fie nod im 13. Jahr:
hunderte jtanden, nicht anzunehmen. Aus ihrer Poefie gebt
hervor, dab Naub: und Naufehe herrichten, wie bei den jtamms
verwandten Preufen?). Bei diejen war das Familienleben jo
wenig entwidelt, „dab Vater und Sohn fi aus dem gemeinfamen
Vermögen eine gemeiniame Frau fauften.”
Wenn wir den Nationalharalter der Yetten beleuchten wollen,
wie er den Deutichen im 13. Kahrhunderte erichien, haben wir
den oft hervorgehobenen Unterichied zwiichen den thatfräftigen und
tapfern Niederletten und den Hodhletten im Auge zu behalten,
welche nad) des Ehroniften Ausdrud „demitthig und verachtet“
waren. Während die trogigen Semgallen in erbitterten Nämpfen
fait ein Iahrhundert hindurd) ihre Unabhängigkeit zu wahren ver-
ftanden, unterwarfen fh die Lettgallen ohne ©: it
hwertflreic den
Deutichen, in der richtigen Worauofegung, dal fie in diefen einen
ftarfen Schuß gegen die Berrüdungen ihrer alten Feinde finden
würden ?). Der Chronijt Heinrich) ijt den Yetten wegen ihrer
Demuth und Unterwürfigkeit jchr wohlgefinnt, ihm erfhein 18
diefe Nationaffehler als crijtlihe Tugenden. i
die Letten geht jo weit, daß fie feine jonft unparteiiiche Schit-
derung beeinflußt *); wie wir ja überhaupt fein direktes Urtheit nur
mit Vorbehalt aufnehmen müjfen, denn ex erfcheint in feinen Ge:
9 24. Hiärn, Ehft,, Yyfs und vertlindifce Gefchiehte. &. 42. Me
Livon. 1. Niga, 1855. %. Einhorn, Hist. Lett. Cap. NL.
h Lgl. M. Winter, Ue geitsbräuche der Yeiten. Werh. d. gel.
XL 3, Torpat 1 Y ohimener, Gefch. v. Preuf i
3) gl. Heine. Chrom. Lyv. I; 12, sau 10,4 13,
sv Hy 16. Dale Hildebrand, Ehron.
und 169. Pabit, Hein. d, 5, Anm,
368 Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh.
fühlen und Anfchauungen jtets als ein Nind feiner Zeit. Dagegen
fprechen die Thatiachen, die Heinridy meijt wahr und ungeichminft
mittheilt, eine deutliche Sprade. Die Vorwürfe der Treulofigfeit
und Heimtüde, die der Chronift den übrigen Heiden oft macht,
und die er alo tenfliche Verjtoctheit und Arglijt auffaht, evipart er
den Letten völlig. Der Grund ijt jehr einfad. Die Letten hielten
fich tren zu den Deutichen, nachdem fie einmal die Vortheile des
Griftlichen Schuges eingeiehen hatten; nur ein einziges Mat
erfahren wir von einem Konflikt zwüchen den Ketten von Autine
und den Drbenobrüdern von Wenden. In dem Seere der
Kreuzfahrer finden wir das Aufgebot der Yetten immer wieder,
die grobe Arbeit den deutjchen Kerntruppen überlaffend, auf Flucht
bedacht, jobald der Feind einen Vortheil erringt, anderenfalls zur
Verfolgunug and Plünderung des geidhlagenen Feindes bereit ?).
Der Kulturjiufe aller Eingeborenen und dem ununterbrochenen
KRriegszuftand entiprady es, dal; fie blutdürftig und granfam gegen
ihre Feinde verfuhren. Wenn Heinrich an einer Stelle die Liven
und Letten graufamer nennt als andere Völfer?), jo brauchen wir
darauf fein beionderes Gewicht zu legen. Dajelbe jagt er an
anderer Stelle von den Lithanern *), und die Ehjten ericheinen
uns in Nicyto menichlicher.
Was endlich die geiftige Vildung der Leiten betifft, fo
fehlt uns gleichfalls fait jeder Anhaltspunkt zu Nenntnifz derfelben.
Xon den vielen uno überfommenen Volfsliedvern wird gewih;
mand)es in die heibniiche Periode reihen; ein nationales Epos,
wie die Ehjten, befigen die Yetten aber nicht. Die Nunft des
Schreibens werden fie nicht geübt haben; vielleicht it ihnen die
Hunenfehrift nicht ganz unbefannt gewefen, wie Harder fchon 1764
behauptet °). Der Gebrauch, von Nerbhöfzern an Stelle von Schrift
3) Chron. Lyv. 16, a 0
2) Ebendal. I, x
%) Ebendal. IS,
# Ebendal. II,
>) „Unterfuchung des Gottespic c. der alten Seiten
aus ihrer Sprache" im Winklers Gelehrten Beiträgen zu den Rigichen Anzeigen
aufs Jahr 1764 ©. 51. Ueber rakstit dgl. aud, Winter, Hoczeitsbräue.
2.
Die Eingeborenen Civlands im 13. Jahrh. 369
üden findet fih das ganze Vittelakter hindurd) bis in die neueite
Zeit; vermittelit Nerbhöfzer oder gefnoteter Niemen haben nad)
Dusburg die alten Preufen ihre Zeitrechnung angejtellt ").
Welcher Art die Kenntniß; der Jahreszeiten und Monate jowie
überhaupt der Zeitrechnung war, mul einer bejonderen Unter:
fuchung überlaffen bleiben. Was Einhorn über die Monate der
Leiten jagt, kann aud) einer jpäteren Nulturentwidelung angehören.
Die Namen der Wochentage jtammen jedenfalls aus päter Zeit.
Wenden wir uns num zu den finnif—en Völferfchaften. Die
uriprüngliche Religion der Finnen war das allen
ölfern gemeinfame Schamanenthum *). Die
lagen aber in ihren nenen Sigen an der Lftfee dem Einfluß der
ariihen Nachbarn joweit, daß fie nicht nur neue VBenennungen,
jondern auch nee Begriffe in ihre Neligionsvoritellungen auf-
nahmen; e3 jei hier an die reiche chitniihe Sagenwelt, die poetiiche
Schöpfungsgeichichte und den Nult des Allvaters Tara erinnert.
€ ijt fogar behauptet worden, dal; die heidnifchen Ehiten Mone-
theiften gewejen feien 3); das ijt aber nicht der Fall, wir finden
in ihrer Religion jogar noch Spuren von Fetifchiomus.
Hier ift wicht der Ort, näher auf diefe Fragen einzugehn,
wir wollen uns auf eine Darjtellung der religiöfen Gebräuche
beichränfen, wie fie unjere Hifteriichen Onellen bieten.
Heinrich von Yettland ipricht jtets im Plural von Göttern
der Ehiten, Yiven und Kuren ®), dod nennt er uns and einen
Sott bei Namen: Tarapita oder Tarapbita. Er erzählt, dah die
Kreuzfahrer in Wierland einen idönbenaldeten Berg fanden, auf
weldem nad) Ausjage der Eingeborenen der Gott der Dfilier
Tarapita geboren jei (24, 5). Bei der Eroberung der Burg
Mone (1227) rufen die Ehriftien Jelum an, die Tfilier aber den
!) 2gl. Parrot a. a. 0. ©. 101.
2) al. Aplgvit, Kult... Peterjon, Ehre. ©
Toomasions Finnitche Mythologie a. d. Schwed. in Kojenplänters Beiträgen
zur — Nenntnif; der chitn, Sprache. Pernau 1 Sl.
3) von Aühfmann im Anhang zu Voccler, der - Ehiten abergläubifche
Webräudhe 2. 3 Vgl. dal. @d. von F. N. Sreute
370 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
Tarapita. Schon der alte Kelch hat darauf aufmerfiam gemacht,
dai in dem Feldgeichrei der Tefeler: Tarapita der Schlüfel zur
Xerftümmelung des Namens des Gottes zu fuchen jei, denn awita
Heißt ehftnifch: HF! Aus dem Hufe Tara awita! kann durch Wit:
verjtändniß; leicht Taraphita oder Tarapita werden. Es it alio
der Alvater Tara gemeint ').
Na) dem Zeugniiie Heinrichs war aber diefer nicht der
einzige Gott der Ofilier; er jagt ansdrüdlih: die Priefter ver-
trieben den Tarapita und die übrigen Götter der Heiden (30, 3).
Auch dort, wo der Wald des Tarapita erwähnt wird, ipricht
Heinrich von den Bildern der Heidengötter (24, 3).
Der Aultus des Tara und wohl auch der übrigen Götter
fand offenbar im Freien und zwar in heiligen Yainen ftatt, denn
außer dem bewaldeten Berge des Tara in Wierland wird nod)
ein heiliger Wald bei Garetjen in Jerwen erwähnt; und ganz
wie bei den fettiichen Stämmen finden wir aud) auf finnifchem
Siedelungsboden im jpäteren Mittelalter ja bis auf die neuejte
Zeit Spuren von Hain: und Yaumkultus ®
Ihre Götter haben fid) die finnifchen Völker materiell gedacht.
Heinrich jpricht von den „Bildern und Gleichnifien” der Ehjten-
Götter. As die Chriftenpriefter diefe umbieben, wunderten id
die Heiden, dal; fein Blut herausfloß (24, 3). Die Gögeubilder
waren wohl in die heiligen Yäume hineingejchnigt. In einem
alten chitmiichen Voltsliede, das vom Untergange deo Heibenthumes
Handelt, findet fid) der Stabreim: „tapper tabbas Tara tamme*.
das Morbbeil verfepte Tara's Cie’). Wie einjt Vonifaz die
Sacjieneiche, fo füllten nun die Sachienprieiter die Gölterbäume
vH
Welches Unheil di
vgl. bei Rarrot a. a.
theifungen über das Heidenthum ber Eften und Yiven.
2} Heinr. Chro 2 In statafter
wird ein heiliger Hain beim Dorfe Waerkaela angefi
Der Liber vonsus Di Dorvat INS. Ferne
jern geben der Ehen. Petersburg 1
9 und Sietifch a. a. €.
Fählmann, Seript. rer. Liv. I &
4 Nelh, Licfl, Hifterio 10
jrapilla (bei Öruber, Origines)
Heinrichs v. Yeıtland Mit
Peiersburg INS. &.9.
er Diöcefe Neval (c. 1240)
it. pl. 6. d. Bremen,
Niebemanıt, Aus den
S. 113. Areupwald,
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh. 37
der Ehjten, und hier wie dort jtaunten die Heiden in abergläubifcher
Furcht ob des jtummen Unterganges ihrer Ndole.
Daf; die Yiven denjelben oder einen ähnlichen Aultus hatten,
geht aus mehreren Stellen bei Heinrich hervor!}; von den Kuren
ift dasfelbe anzunehmen, aud bei ihnen finden wir im Wittelalter
heilige Wälder.
Den Göttern wurden Tiere und Menihen geopfert?).
Heinrich berichtet (15, 3), daß die Ehjten Ninder und anderes Vieh,
und daß die Liven Hunde und Vöcke ihren Göttern opferten (16, 4).
Menichenopfer werden ausdrüdlich bezeugt’); Togar einen
Fall von Nanibalismus finden wir bei den Ehjten: die aufjtändiichen
Saffalaner fingen den dänifchen Vogt Hebbe und feine
Begleiter, peinigten diefelben mit graufamer Marter, und riijen
dem noch lebenden Vogt das Herz aus dem Yeibe, brieten es am
Feuer, vertheilten es unter fih und frahen es, „damit fie ftart
würden wider die Chriflen*). -
Von der Graufamfeit der Cingeborenen it jdhon bei der
Darftellung ihres Nriegswefens gehandelt worden. Piartern der
Rriegsgefangenen aller Art, theils als Folter um Gejtändnifie
zu erpreifen, theils als Form der Hinrichtung und Tpferung
waren im Gebraude, wie wir das bei den meiften Völfern auf
ähnlicher Kulturitufe finden.
Von den Götterorafeln it gleichfalls die Nebe gewefen.
Die Götter wurden vor friegeriichen oder überhaupt wictigeren
Unternehmungen um ihren Math, beziehungsweile um ihre Ein-
willigung befragt. Die Art der Befragung fdeint verihieden
geweien zu fein. Der Ehronijt Heinrich jpricht meilt allgemein
vom Befragen der Götter durd das %009°); an einer Stelle
4) Chron. Ly
el;
Bere
*) Neber Opfer und Cpferfteine opt. Areugwald, Vorter. SS. 2 und 15.
Wiedemann, Yeben der Ehiten. =. fl Werhandt. d. gel. Ein.
Ge. I 3.
® Heinr. Chron. Lyv.
&. 24 und Pererfon a. a. D.
4) Hein. Ohran. Lyve 20, 0
3) Ebendal. 14,520, 2 2, Bpl. Neimsronit. 2. 4080 fi. Auch
die Standinavier erforiten durchs Yoos den Willen ihrer Götter. Bgl. Rim-
berti vita Anscharii. Gap. 30.
loyo dr ne 16,5 Ngl. Sielieih a. a. D.
18. Zaliche Angaben bei Hählmann a. a. D.
4
372 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jabrh.
(5,3)
führt er dann die ihen erwähnte Schlachtung der Opfer:
thiere an; fallen dieje beim tödtlihen Diebe nad) rechts, jo find
die Götter dem Unternehmen 9 gefinnt. Aber nod eine
zweite Art Orafel finden wir jowohl bei den Liven als den Ehiten.
Die Yiven von Thoreida wollten den Mifjionär ITheodorid) ihren
Göttern opfern; zuvor aber erforihen fie den Willen derjelben;
man jet den Priejter auf ein No und führt diefes über eine
vorgehaltene Lanze; zweimal fchreitet 08 mit dem vechten Fuße,
dem Fuße des Lebens, über die Lanze und rettet fo feinem Neiter
das Leben). Derartige Pferdeorafel finden fi) aud bei andern
QVlfern, jo bei den Wenden im nordöftlihen Deutichland"). Ein
ähnlicher Vorgang, wie die Nettung des Theoderid, wird vom
Ghroniften aus dem Jahre 1223 berichtet. Der Priejter Hartwich
foll von Dorpater Ehiten geopfert werden; zuvor aber befragen
die Heiden ihre Götter und jeben den rieiter auf einen jehr
fetten Ochien, weil, wie fie in biutdürftiger Jronie fagten, der
‘Priejter ebenjo fett fe. Der Vorgang mit der Lanze wird nicht
erzählt, au hier vettete das Lrafel dem Priefter das Leben’).
Dem Willen der Götter, welden fie durd; das Orafel fund-
geben, wird aber nicht unbedingt gehorcht; jo ftürmen die Ehjten
1211 die Burg Gaupos, obgleid das Drafel dagegen war ®).
Ueber das MWefen der Götter fehlen uns nähere Aufichlüfie.
Die Neite des Heidenthumes, weldhe fih in abergläubiihen Ge:
bränden in ipäterer Zeit finden, deuten wie bei den fettiichen
Stämmen auf Elementar- und Naturdienit, jo die Wald-, Yaum-
und Quellenverehrung, ferner Gottheiten, weldhe die Ehiten Waldes
vater, Waijer, Windes, Nebelmutter nennen, dod) alles diejes
gehört bereits in dao Gebiet der vergleichenden Viythologie.
Dah die finniihen Volferihaften an ein Keben nad) dem
Tode geglaubt haben, it aus ben hiteriihen Quellen nicht
erichtlich; aber vielleicht dentet der hartnädige Widerftand gegen
> 10 Von demfciben I
fi, da er die Sonne
. Barder aa. D. ©.
3. Grimm, Teurfche Mythologie. Ed. sec. &.
inr. Chron. Ly
eodorich glaubten die
. bie. Bot. Pabit,
Die Eingeborenen Fivfands im 13. Jahrh. 373
das chriftliche Begräbnih, welder uns jowohl in Heinrichs Chronif,
als aus Ipäteren Zeugniffen überall entgegentritt, darauf bin).
Auch der Gebrauch der jog. Seelenfpeiiungen, gegen welche das
KRirchenjtatut von 1 eifert, pricht für den Glauben an das
Fortleben der Seele).
Die Form der Bejtattung war bei Ehjten und Nuren Leichen-
verbrenmung; das geht aus Heinrichs Berichten deutlich hervor ®);
von den Liven wird nicht ausdrüdlich gelagt, dal fie ihre Todten
verbrannten, it aber jedenfalls anzunehmen. Auf die Beitattung
fcheint Gewicht gelegt worden zu fein, denn die in einer Schlacht
Gefallenen werden forgfäftig gelammelt, andererfeits werden bie
Leichen der Ghriften auf die Felder geworfen, den Hunden
zum Fra *). Auch der Umjtand der forgfältigen Todtenbeitattung
weilt auf den Glauben an ein Jenfeits. Die Keichenverbrennung
fand in feierlicher Weile ftatt, unter lauten Wehklagen und Trink:
gelagen.
Ob die oben in der Schilderung des Nriegwefeno ange
führten iymboliicen Handlungen, wie das Treten der Schwerter,
die Meberfendung des Speeres u. j. w. einen religiöfen SBinter-
grund haben, bleibe bahingeftellt, desgleichen, ob auf der grofen
Jahreoverfammlung in Raigele fulturelle Handlungen vorgenommen
wurden.
Von berufomäfigen rieftern erfahren wir aus unferen
Quellen nichts.
Die fittliden Vorftellungen der finniihen Völker werden
ähnliche vielleicht noch niederigere geweien fein, als die der Lithauer
und Yetten.
Von dem Familienleben meint Ahlgviit, daß fi ein folces
in geordneter Weife bereits bei den Urfinnen annehmen lafle, da
in verfdiedenen finnifchen Jdiomen zahlreiche genuine Venennungen
") Heinr. Chron. s Nreutwald, Boccher, SS.
116. Peterfon, Thomasjon.
» riof AD. VII 60.
inhorn, Mist. Lett. Cap. 13. Desicib.
Reform. zent, Lett. Cap 6 1. 7. 5. Amelung. Baltiihe Aulturfiudi
Dorpat 1885, &. 2al ii.
3) Chron. Ly oh.
4 Ebendi e
374 Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrh.
auf dem Gebiete der Familie nachzumeilen feien; die baltijchen
Finnen hätten dann Vieles von den lihaniihen Wölfern
angenommen !).
Volfsfiedern und Hochzeitsgebräuchen entnehmen wir, dak
die Form der Eheichliehung wie bei den Yetten der Frauenfauf
oder :raub war?) Aus Heinrichs Chronit erfahren wir, dah bei
den Ehjten Polngamie geherriht Habe’). Won den Dejelichen
Seeräubern hätte Mancher jich aus den geraubten Sfandinavierinnen
zwei, drei oder mehr Frauen beigelegt. Es bier angedeutet,
welchen Einfluß auf Weien und Sitten eine jolde Blutmiihung
haben mußte, zumal wenn fie, wie wir annehmen Fönnen, häufig
vorfam.
Was den Nationaldaralter der finniichen Völker anbetrifit,
fo erjcheint er allenthalben ausgeprägter und, man fünnte jagen,
männlider alo der der Ieltiichen Wölfer. Qor Allem zeigt fich
Liebe zur Freigeit und Unabhängigkeit. Gegen die Chriftianifirung
wehren id) Nuren, Yiven und Ehjten, bejonders die Yepteren, mit
aller Macht. Das Urtheil des Chroniften Heinrich it in Folge
befien jehr abfällig, er nennt fie falih, treuloo und verjtodt ?).
In der Schladi find die Ehiten auierordentlid tapfer, gegen ihre
Feinde von großer Graufamfeit; wie den meijten Völfern auf
ihrer Nulturftufe it ihmen jedes Mittel zu Vernichtung ihrer
Feinde recht. Den deutichen Groberern waren fie wegen ihres
Tropes und ihrer Vlutgier, befonders aber wegen ihrer Tüce
und bodenfojen Treulofigfeit verhaft. Co hat Jahrhunderte ge:
dauert und viel Blut gefoftet, bio die Ehjten ihre trogigen Naden
unter das Jod des Chrijtentyums beugten.
Neber den Intelleft der finniichen Stämme fönnen wir uns
hier nicht verbreiten. Dieje Frage wäre wohl einer näheren
Unterfuchung wert). Die Voltspoefie der Finnen hat wunderbar
Ächöne Ylüthen gezeitigt, Towohl anf dem Gebiete der Lyrif, als
der Epif; es fei bier an die Heldengefänge der Kalevala und bes
uhe der Ejten. Werd. d. gel.
2 fi
Gin. © Dorpat 188.
3) Chrom. Lav. 26, 430
+) Ebendal.
1 10, 5 I 5 Ceiven) ID, gg 2 24,3 26. (Ehiten).
Die Eingeborenen Livlands im 13. Jahrb. 375
Halewipoög erinnert. Zwar haben wir aud) auf diefen Gebieten
eine jtarfe germanifche Beeinftuflung voranszujegen, dad) it c6
unzweifelhaft, dah die finniiche Naite grofie Fünftferiiche Begabung
zeigt
An Intelligenz aber fcheinen die Yelten den finnischen
Stämmen überlegen, ih Verftand ift beweglicher, leichter fallend,
bildungsfähiger. Der Kette mit feinem biegfamen Charakter war
den Einflüffen einer höheren Kultur weit leichter zugänglich als
der jtarre Ehite.
So ift eo gefommen, dai es den verachteten Letten in Yiv-
land und Nurland gelang, ihre finnischen Vedrüder in friedlichen
Rulturfampfe zu ichlagen, fie allmählich zu entnationalifiren, fie
enblic) fajt ganz aufzuiangen.
Die finnischen Nuren in Nunland find beinahe, die Yiven
in Livland ganz und gar aus der Gejchichte geichwunden, fie find
Leiten geworden.
Aitaf von Traniche.
!) Lt. Ahlgeift, Kultunwörter, &.
Anm. d. Ned. Lorliegende Abhandhung it der einfeitende Theil einer
gröheren Arbeit des welche denmädht in den Mittheitungen aus der livlän.
Geichichte erjipeinen fol.
ds“
Rolitiihe Korreiponden;.
Seit dem Herbjt vorigen Jahres habe ic über die Dinge
in der Türkei Ihnen gegenüber jchweigen Fönnen. In Armenien
erlofch der Aufitand allmählich, die Nräfte hatten fich erichöpft,
nachdem der Tod vieler Taujende —- man jagte bio zu 25,000,
bis zu 40,000 Menjchenleben — und weite Verwüftungen gezeigt
hatten, wie jtarf au drüben in Afien die nationalen Yeidenjchaften
die ftaatlichen Zuftände beherrichen. Aber Europa gewöhnt fich
allmählich an den Anblid folder SGränel. Wo find die Zeiten
bin, da man es für eine chrüfliche Piticht hielt, die Unglänbigen
aus Europa zu verjagen, da man Khilbellene wurde und die Lieder
vom granfamen Palca ud dem edlen Najah bio in die Hänfer
furtändifcher Edelleute hinein jang; die Zeiten der Vefreiung von
Wallachen, Numänen und Serben, endlich die Zeiten der „bulgas
tiichen Gränel” und des legten ruiftichen Vefreiungsfampfes!
on Jahrhundert zu Jahrhundert fühlte fi der Cifer ab, von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt, und in unjerer Zeit von Jahr zu Jahr
ftumpft die Leidenichaft ab, die in ihrem erjten Aufflammen einft
ganz Europa zum erften und legten Mal in einem großen ver-
bündeten Heerlager vereinigt hatte! Wir ziehen nicht mehr ano
zur Befreiung des Heiligen Grabes, wir hören feinen Auf mehr
durch Europa gehen zum Vertreibung der Ungläubigen, und doch
wäre heute jo leicht, was vor 800 Jahren und vor 200 Jahren
nicht gelang. Was denn hat fid geändert, wer hat fi geändert,
Politiiche Norreiponden;. 377
um es dahin fommen zu laffen, dafi heute jelbft ein Gladftene
machtlos zufchen muß, wie wieder geidicht was vor 20 Jahren
ihn in Flammen feste? Eind die Gräuel des legten Jahres
minder jchlimm gewejen als die „bulgarian atroeities*, die den
alten Schwärmer gegen die „unspeakable* Türfen auflodern
lieh? ind wir rifkfiche Europäer andere geworden, ober ift
der Türke ein Europäer geworden? Nun, die Gränel find chlimm
genug, und gäbe «8 ein Gemeinbewuhtfein in Europa wie dasjenige
war, welches die Areuzfahrer begeifterte, jo
türfijchen Herrichaft Fehr bald und ficher gezählt.
jehr toferant geworden nicht bloß gegenüber dem Halbmond, jondern
auc gegenüber „Gräueln“, wenn fie an fremden Unterthanen
geübt werden und wenn joldhe Toleranz uns vor der Etörung
unferer Ruhe bewahrt. Der Türke hat ih nur darin geändert,
daß er uns Europäern nicht mehr bedrohlich it. In feiner
ethiichen Art hat er id) wenig geändert, jein religiöfer Fanatiomus
it der alte, die ftarren Gebote des Jolam beherricen fein Denken
und Fühlen wie ehedem, er ijt noch immer der Gegner unferes
hriftlichen Kulturlebens. Und er wird c6, wie es fcheint, bleiben
fofange ein türfiich-istamitiiches Neich beitehen wird, Tolange das
ftaatliche Oberhaupt dort zugleich der Nachfolger des Propheten
ift und folange die Sagungen des Noran das Yeben feiner Be
fenner ordnen.
Aber das Leben des neunzehnten Jahrhunderts bringt von
allen Zeiten in die nichttürfiichen Fundamente diejes Reiches und
ditdet bald hier bald da Zentren treibender Kräfte, die zu gelegener
Zeit ausbredend diefen und jenen Meiler jlürzen oder erichültern.
Ohne Hinderung von außen, wie im vorigen Jahre in Armenien,
ift die traft des Türfenthums noch immer ausreichend, um die
Auftände gewaltfam nieberzuwerfen. Und das ijt ja die Signatur
der heutigen Drientpolitif, dah; die Sroßmächte jtillichweigend an
der Direftive der Nichtintervention feitzuhalten entichleifen Find.
Wie fie heute verftanden wird, ijt die Nichtintervention ein Prinzip
des nationalen oder jtnatlihen Egoisms, in den Diantel des
Hechts nothdürftig gehüllt. Die Gemeinfanteit fulturlicher Inter:
silen, wie fie bis vor wenig Jahrzehnten zu den Fundamentalfägen
der europäijchen Kolitit gehörte, ijt aufgegeben worden zu Gunjten
378 Politijce Norreipondenz.
des Strebens, die eigenen Kräfte nur für unmittelbar eigene
itantliche Intereffen zu verwenden. Es ift ein Produkt der Furcht,
eine Folge der übergroßen Einfäge, weldhe jede Cinmiichung in
Verpältnifie fremder europäifcher Staaten und ein daraus hervor-
gerufener Strieg von jedem Ztaat fordern. Die Gewaltfanteit
heutiger Nriege läht das Verlangen nach Erhaltung des Friedens
jo jtarf werden, dah Niemand fi ohne äuferite Noth oder Leibe:
{haft entichlieit, für allgemeine Iutereifen der Humanität, der
Kultur, des Glaubens, ohne die möglichite Sicherheit dafür zum
zu greifen, da; er auf diefem Wege nicht einer cben-
bürtigen Staatsmacht begegne. Darin liegt der Schu, deifen die
Türfenherrichaft Heute genieht. Was auch die verborgenen Zwede
der Engländer im vorigen Jahre gewejen feien, fie hätten ohne die
Abneigung der andern Mächte vielleicht verfucht, wieder ein Stü
türtiichen Erbes von dem lud) tünfiicher Herrichaft zu Löfen.
Die Hoffnung anf England hat den Nufitand genährt und die
Täufhung das Elend nur verdoppelt. Seitdem hält fi England
zurüd und überläft das Feld den Diplomaten Europas. Und
wenn durch Diplomaten, durch Noten und Mahnungen den Wöltern
der Türkei fönnte geholfen werden, fo wäre vielleicht nie eine Zeit
für die Lölung der Drientfrage güntiger geweien, als cs die
gegenwärtige it. Als Zar Nitolaus vor 45 Jahren dem Yord
Seymour vorihlug, Aegypten für England zu nehmen, und England
es ausiclug, da wuhte man nad nicht, welden Werth das Nil-
fand für England in jid barg. Seit die Engländer den Werth
erfannten, würden fie fh mit Negupten wohl begnügen aud) wenn
die Übrige Türfei aufgetheilt würde, Gin Hauptinterefient it
damit auogefchieden joweit die Yaltanhalbinjel und Steinafien in
Frage fonmen; es bleiben Rußland, Dejterreih, Franfreid, in
geringeren Grenzen des Intereiies Ntalien und in zweiter Linie
Deutjchland, Griechenland und die Donauftnaten. Führend und
überragend ift dabei doc) nur die Stellung von Nuhland und von
Orfterreih. Wie Nufland feine Politif fi vorgezeihnet hat,
haben wir neulich aus dem Munde des Srafen Golucowoti gehört.
Diefer Minifter fagte am 9. Juni vor den öfterreichtichen Delegirten,
Nufland habe fih gegen jede Abweihung von dem Parier Ver:
trage, aud wenn fie in einer Aktion aller Vertragsmächte beitehe,
Äche Rorreinonden. 379
Poli
erflärt, und Teiterreich nehme mit Befriedigung von dieler Ertiä
rung Renntniß. „So fange“, fuhr der er fort, „die rufliiche
Regierung auf dem eingeichlagenen Wege verharrt, kann fie auf
unfere unbedingte fonale Unterkügung zählen, denn Ceiterreih
firebt nichts anderes an, als die Nonfolidirung der Zuitände im
Trient, die Erhaltung der Türfei, die Unabhängiafeit, die
fung und die freie Entwideling der einzelnen Balfanitaaten,
freundichaftliche Beziehungen zu denfelben und endlich den Aura
ill; des prädominirenden Ciflnfics irgend einer Svohmant
zum Nachtheil der übrigen.“ Und am 11. mi fante vor der
felben Telegation der Verwalter von Boonien und Herjeneming,
Ninanzminifter Baron Nallay, durh die Tffupation von Wosnien
und Herzegowina fei Telterreich ein Balfanftaat geworden. Tie
ganze Sefchichte dev Habsburger deute darauf bin, dal; Teiterreiä,
Ungarn einen Stügpuntt im Balkan juche, Sowohl mm die beiden
Ufer der GSrenzflüiie Zara und Donau beherrichen zu fünnen, ats
auch um fich in dem ganzen Völfergebiet des Balfan's zur Geltung
zu bringen. Darum habe Deiterreich Bosnien md Herzegowina
offupirt md die nordweirliche Balfanete ih gefihert, von mo cs
die politiichen Jnterefien des Valfans zu den feinigen machen
fönne. Darum wolle und dürfe Leterreih auch nicht ein Mehr
an Vefig in jenen Gegenden anftreben. Neder Nachbar müfle
mwifjen, daf; die Stellung Oejterreichs in Bosnien nicht ohne Gefahr
berührt werden fönne, weil diefelbe ein Yebensinterefie Teterreichs
enthalte. —— Hiernadh fdheint es flar zu fein, dal; fowohl Nuhland
als Teiterreid entichloffen find, den äußeren Beltand der Staaten
auf der Balfanyalbinfel aufreht zu halten, folange eine dieler
Mächte nicht einen ausichliehenden Einfluß dort gewinnt oder
anftrebt, wobei es freilich mod) fraglid) bleibt, in wie weit das
Streben Teiterreichs, die Bildung neuer Balfanftanten zu fördern,
mit den Wünfchen Auflands übereinitimmt. Und da diefe beiden
Staaten bei ihrem refpectiven Verhältnih zu Frankreich und Italien
im Ctande find, anderweitige itörende Ginflüije von aufen her
fernzuhalten, jo wäre die Türfei in der ungewohnten Lage, ruhig
für ihre inneren Zuitände forgen und jich innerlich fräftigen zu
fönnen. Ohne Zweifel wäre das genau das Ziel, welden ber
Sultan am liebften zuftreben wollte. Leider aber ilt i
380 Politifhe Korreipondenz.
Grenze der Wiacht Towohl des Sultans als der fremden Staaten.
Nicht von außen, jondern von innen herans fommt die Gefahr.
Dan hat für Armenien vor einigen Vionaten Neformen, beruhigende
und das Wohlergehen der chriltlichen Bevölterung angeblich) fihernde
Inftitutionen durdgefeßt. It eo dadurch dort anders geworden?
Haben nicht jüngft wieder Mebeleien in Wan ftattgefunden? Xft
in Eyrien der Stamm der Drufen nicht im Aufftande? Daben
wir nicht Areta wieder im fieber vor ung trog aller dort früher
icon von den Mächten verorbneten Heformen? Den Zultan zur
Durchführung der im Sinn von freiheit, von (leichitellung des
Moslem mit den Ghriften entworfenen Neformen zwingen, heift
die Türkei zum Selbftmord zwingen. Mit Neformen hat jtets
die Abtrennung von Provinzen der Türfei begonnen, To im
Argnpten wie an der Donau, umd wenn wirfid in Kreta unter
chriftlicem Stabthalter europätihe Verwaltung eingeführt werden
jollte, fo wäre damit eben Kreta für die Türkei verloren. Werden
die Neformen aber nur defretirt, nicht von den Mlächten durcdje
geführt, jo bleibt alles beim Alten wie in Armenien. Religion
und Gefchichte dulden Feine Sleichftellung der Chriften und Türken
in einem türfihen Staat. Der Türke it der Staat und der
Staat ijt der Jolam, umd das Andere ijt geboren, dem Türken
und bem Propheten dienjtbar zu fein: fo ftcht's im Noran und fo ift
«5 immer gewefen feit den Zeiten Wiohamed’s. Cine Keligion ift um
fo unfähiger fih dem Gange der Kultur anzufclieien, je pofitiver
fie das ftaatliche und bürgerlihe Leben in Sapungen md Bor:
fhriften regelt. Darum vielleicht giebt es feine jühiihe Kultur,
darum ijt zum guten Theil die Fulturlihe Plüthe islamitiiher
Neiche ftets jo furz gemweien. Alle Snmpatbie, die wir für den
Türfen als Einzelnen empfinden im Gegenjaß zu andern Völkern der
Türkei, fann uns nicht vergeffen machen, daf er und jeine religiöfe
Verfnöcherung bisher wenigitens die Urfahe waren der Zeritörung,
des Verfalles ehemals blühender Länder. Bisher! Aber es giebt
eine große Partei, die jungtürfifce, welde meint, das braude
nicht immer jo weiter zu bleiben, welche Neformen verlangt nicht
für die Chriften, fondern für die Türken. Vor 50 Jahren jchen
gab es türfiihe Fortihrittler, türfiihe liberale Minifter jogar,
und man hat aud ichen parlamentariihe Diasferaden gemadıt.
Volitiiche Rorrefpondenz. 381
Aber eine wirkliche freiheitlihe Verfafung und Verwaltung unter
dem Septer eines islamitifchen Herrichers das it mwenigjtens
in Ländern mit chriftliher Grundbevölferung, wie mir deinen
will, ein innerer Wideripruc. Der Ralif fann jo wenig ale der
Paicha und der fete Mollah den Chrijten als Seinesgleichen in
Neht und Rang anjehen, das erlaubt die Neligion ihm nicht,
dazu wird man ihm nie erziehen, dafi widerftreitet feinem Herricher-
bewußtfein. Und das türfiche Veamtenthum ift fo verrottet, jo
unfähig für jede feineren Formen des Lebens ih anpaljende, die
Kultur fördernde Art der Verwaltung, dai es fehr zweifelhaft
bleibt, ob eine von liberalem Geilt geleitete und von der Stat
beit des Jolam abweichende jungtürfiiche Neform im Stande wäre,
mit diefen Kräften, wie fie jegt allein zu haben find, etmas Lebens
fähiges wenn nicht zu ichöpfen, fo doc) zu erhalten. Darum glaube
ich wohl, daß dem Sultan aus den Jungtürfen heute mehr Gefahr
droht, als von den Wlächten Europa's, nicht aber, daß wenn die
Herricaft des Sultans gebrochen würde, ein türfiiches Neich beitehen
fönnte, in dem die Maiie der Chriften frei, ficher, als Gleiche
unter Gleichen leben Fönnten; der Jolam jelbjt mühte denn refor-
mirt werden. Und jo it und bleibt diefe türkiiche Eke der Brander
Europa’s. In Nreta, Winzedonien, in Sprien, Armenien, in
Stambul jelbjt flafert er auf, und die 6 diplomatiichen Sprisen-
männer fommen täglich zufammen und bereden fid und berathen
den Sultan über die Neformen für Kreta wie fie es für Armenien
gethan haben: eine Danaidenarbeit. Die leuten Berichte melden,
der Auftand habe fich über die ganze Injel ausgebreitet. Wird
er von den Türken niedergeworfen, jo find wieder Wiegeleien wie
in Armenien zu erwarten, und bieje wird man nicht wie dort
ruhig geichehen lafien fönnen. Im Jahre 1878 wurde zwiihen
der Pforte und den fretiihen Nebellen der Vertrag von Haleppa
geichlojfen. Darin wurbe veriproden, eine Verbefferung der Ver-
failung des Landes, ein chriftlicher Vali mit Yeftätigung durch die
Mächte, Unterbeamte aus der Religionsgenoffenichaft, welde im
betreffenden Bezirk die Mehrheit bildet; Verbefferung der Gefepe
und Sicherheit gegen Eingriffe der N forte in die Juftiz; Veichrän-
fung ber militäriihen PBefagung; Verwendung der Hälfte ber
fretiichen Einkünfte zu Gunjten der Infel; Ernennung von Friedens»
382 Kolitiiche Korreipondenz.
tichtern; Nenntaih des Griehiichen bei den Beamten; Auftellung
won Chriiten im Zolldienit. Wäre das Alles Durchaeführt worden,
jo wäre jegt vielleicht fein Aufitand da. Aber Nreta wäre berei
jo gut wie unabhängig geworden durch den Gieift, in dem Diele
Neformen wären gehandhabt worden. Umd nun it man aud)
mit dieien Reformen nicht mehr zu befriedigen, man verlangt
mehr, man will eben (os von der Türke. Meta wird vielleicht
jebr bald mit Sriechentand vereinigt werden — das ift das Wahr:
fcheinfiche. Und das Weiipiel wird Nachahmung hervorrufen.
Diefes Zerbrödeln, diefes fd Auflöien, das bilder die Gefahr für
Europa. Denn fällt die alte Nuine trog aller Ztügen einmal
in fich zufammen, dann Find dab die einander widerjtreitenden
Intereffen Nuhland’s und Tejterreicbs zu avof, um auf die
Mögficteit eines frienfichen Ansaleichs fcher zu rechnen. Man
mag, nit andern Dingen grade beichäftiat, den Moment der
Teilung noch fo eifrig Hinausidieben, er wird doch einmal Fommen
und er ann Fehr plöglich eintreten. Und noch ein Moment ver
mehrt die Gefahr: che Enaland fi aus Aegnpten hinansdrängen
läßt, wird cs lieber den Zerfall der Türkei befhlennigen und
feinen Antheil in Nenvpten vorweg nehmen. E.v.d.B.
Drudfchlerberihtigung. Auf ©. 317, Zeile 7 von oben
mufs c5 ftatt „jchneibige” heihen „Ihmeidige.“
Beiträge zur Beihihte der Unterwerfung Aurlands,
vornehmlich nad den Alien de& preufiichen Staatsarchivs.
Das für die Gechicne der Unterwerfung Aurlands wichtigfte Wrchio ift
natürlich das rufflihe Staatsarchiv. Demnächft aber dürfte fein Staatsarchio
für diejen Gepenjtand intereffanteres Material enthalten als das preuhliche, und
zwar deshalb weil Preufen längere zeit fich bemühte, der dauernden Aeitiehung
Ruhlands in Aurland fich zu widerfeten. Cs wird einigen Yelern dieler gets
Ährift befannt fein, dafı Preufen zwiichen den Jahren 1790 und 1794 einen
eigenen Nefidenten, den Deren von Hüttel am Mitauer Hofe benlaubint Hatte.
Ih beabfichtige Xuszüge aus der Norrejpondenz Hüttel's mit feinem Dof
vomie aus andern einichlägigen Aten des preubüichen Stantsarchios an diejem
xt zu veröffentlichen, zu deren befferem Berftändnii id, mir erlaube, die wars
fiegende geichichtliche Hüichau über den Hergamg des politiichen Ningens jener
Jeit vorauszuienden.
Obwohl wir jüngit den Ablauf eines Jahrhunderts jeit der
Einverleibung des Herzogtdums Nurland-Semgallen und des Areiies
Pilten in Rufland eriebten, ijt die Gefchichte diefes Ereignifies
bisher nod) in jehr lüdenhafter Weije befannt geworden. Cs bat
nicht an dem Mangel an Material gelegen, wenn fein Difterifer
fich diejes Gegenjtandes in eingehender Weie bemächtigte, denn
das Wtaterial ift in zülle vorhanden. Aber es it zu einem Theil
in den Händen von Privaten oder von Norporationen verjtreut,
zum andern Theil in Stantoarchiven zu juchen, die, wie id) ver-
ı
354 Zur Geibicte der Unterwerfung Kurlande.
muthe, dem Foricher wohl zugänglich wären, aber leiter eben
feinen Erforicher gefunden haben. Was uns der alte Cruie,
Richter und neuerdings Bilbalfow, Zeraphim geboten haben,
erichöpft die privaten wie Ätaatlichen Quellen nicht. Und diefe
Neichhaltigfeit des Stoffes üt theilo aus dem Gegenjtande, um
den &o Sich bandelte, Aheilo aus den Eigenheiten jener Zeit vet
wohl erllärlich.
Der Untergang Nurlands war für große politiiche Mächte
von erheblich weiterem Antereiie als die geringe Ausdehnung diejes
Landes an juh hätte bieten Fonnen; jein Herzogoftuhl war materiell
fo reichlich genohtert, dal eine Schar won Prinzen jederzeit
Zehnmiucht verjpürte, ven etwa Leer werdenden Zip einzunehmen;
Die Unterwerfung fiel in eine Zeil, welche noch nicht wie heute
ihre politiühen Sedanten ftelo und ganz durch bejahlte Zeitungs:
sihreiber fich zubereiten jondern gewohnt war Telbit zu denfen
ad Biel zu Ibreiden. Diefe drei Umftände hatten zur Folge,
ai eine Menge von Yeuten fi mit Nurland briejlich oder amtlich
deihäftigten, die nicht nothwendig oder unmittelbar an dem Ge-
FhkE Nurlands betheiligt waren. Zugleich tobte im Innern des
Yındes ein Nampf der Parteien, der in einer jehr Ichhajten
Norteipondenz jwilchen den Kührern derjelben, in vielen öffentlichen
Zwreitjihriften, in langen Verhandlungen bei ben Oberinftanzen
und Sewaltpabern in Warfchau, in endlojen Verichten von Se
fandten und Bevollmächtigten ihren Ausdrud fanden. Diejes alles
fäht mich vermuhen, da wenn einmal die Ztaatsarbive von
Wostan, Berlin, Wien, Dresden, Zuodholm md mancher Meiner
deutscher Hofe, die Vriefladen und Archive in Nurland, in Polen,
in Wartenberg ibre Schäte hergäben, wir vor einer Menge an
geibichtlichen Nobitoff änden, die des Unterganges einer gröferen
Ziaatomacht würdig wire, als am fi dieies Herzogthum war. "
Tiefer Stoff bezieht fich nicht nur auf den furzen Proz
mit dem nach dem Verichtwinden der Yehnsmacht Polen der fm:
kindiiche Yandtag das Yand der ruifiichen Nailerin überantwortete,
fonern die Gefechte der Unterwerfung Nurlando hat mit dem
Ausfterben des Neitlerichen Derzogshauieo oder doch mindejteno
mit dem Tode Beter's IL. und der Vertreibung des Verzogs Narl
zu beginnen, als dem geitpunft, von welchem ab Natharina I.
Zur Gefchiehte der Unterwerfung Rurfande. 385
mit einer, wenn nicht in Niückjicht anf die ‚sorm der Ausführung,
fo do auf das Prinzip vollen Nlarbeit beichloien hatte, Nurland
gänzlich und dauernd in ihre Gewalt zu befommen.
Diejem Ausgange jtrebten die Dinge freilich jehr langiam
bereits jeit dem Veginne des 18. Jahrhunderte zu. Peter 1.
hatte zwar feinen Plan, das von ihm beiegte Medlenburg feit-
zuhalten und das dortige Fürftenhaus mit Nurland zu entjchädigen,
aufgeben mühe, aber er hatte Nurland weder militäriic noch
politiich aufgegeben, jondern jeine Nichte Anna Jmwanonma an den
Herzog Friedrich) Wilhelm verheirathet. 16 dieler geitorben war
und mit Herzog Zerdinand dao Grlöfchen deo Nettler'fchen Planes»
tammes bevorjtand, begannen fich die Bewerber um die Nachfolge
von allen Zeiten her zu melden, und man fan von da ab bis
1795 leicht anderthalb Tugend Fürften und Prinzen aufzählen,
welche zu verichiedenen Zeiten alo Kandidaten auftraten. Aber cs
fam doc) jtets auf die Wünfche an, welche die zunäcjit betheiligten
Mächte Polen und Rußland hegten, und wiewohl Polen als Yehns-
macht ohne Zweifel die erfte Stimme bei Veiegung des Herjogs-
ftuhls zuftand, fo war die wirkliche politiiche Macht doc) jeit 1717
bereits jo sehr auf die rulfiihe Seite verschoben, dal; co dem
fähfiich-polniichem Haufe nicht gelang einen feiner Prinzen gegen
den ruiiichen Schügling Viron durchjuiegen.
Yon 1763 an blieben die Birons, Vater und Sohn, bis
zum Schlau, in von außen ungeflörtem Befis des Herzogthums.
Aber diefe Herrichaft fiel in eine Periode auerordentlich heftiger
Gährung in den jtantlichen Lerbältnifien von fait ganz Europa,
die in umausgejeßtem diplomatifchem Ningen, in iteto wechlelnden
politiichen Nombinationen fich befundete und gelegentlich auch in
blutigen Nämpfen zum NAuodrud Fan. Große ftaatliche er:
änderungen drängten heran. Die jtaatlihe Macht war weder
durd) fonftitutionelle Seifeln beengt noch in Abhängigkeit von
nationalen Uebereifer; fie fuchte fc zu mehren, wo fie nur irgend
Raum fand und fragte noch wenig nach Neligion und Sprache in
den Yändern, welche fie zu erobern trachtete. Nachdem zu Anfang
des Jahrhunderts das übermüthig aufitrebende Schweden bei Seite
war geworfen worden, dann Nußland dur den Nrieden von
Nyjtadt und den Vertrag mit Polen von 1717, welder den Cin
*
356 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
fhuh Ruhlands dort feiliehte, an die Dina feine Grenze, an die
Weichiel jeine Macht vorgeichoben hatte, war Preufen mit großen
Aniprüchen hevvorgetreten md hatte fie eben mit dem Abichluß
des Hubertsburger Kriedens endgültig durhgeiept. Preußen war
als enropäiihe Gromacht, wenn aud willig, anerfannt.
Friebrich N. hätte fi dabei wohl berubigt und auf fernere
Kämpfe verzichtet, wenn nicht m eben die Zeit des Abichlufes
feiner langen Nriegsperiode Katharina den rujjüichen Thron bejtiegen
hätte und Jojeph I. bald daranf ihm in Tejterreid entgegen-
getreten wäre, zwei Serrichernaturen, die Zriedrid) das ruhige
Stillefigen bei beitem Willen verderben hätten, and wenn in ihm
nicht zufept doc) wieder eine recht Fräftige Neigung zur Vervoll-
jtändigung feiner jchlefüchen Eroberung fich gezeigt hätte. Denn
beide Nachbarn wollten erobern, wollten Viachtzumads und hinter
der neuen Gromadht Preufen drängte eine noch neuere, Nuhland,
gemaltam gegen Emvopa an, um alo joldhe Anerfennung und
feiten Boden in den europätfchen Antereffen zu gewinnen. Zwüichen
vi drei jtürmifchen Drängern lag in verhängnifweller Abge-
fiblofienheit und mod) unglüclicherer innerer Verfaifung Polen, wo
gleich nach dem Hubertoburger Arieden der füchjüche Auguit IN.
geitorben und der Schüpling Natparin’s Poniatowotn durch Wahl
vom 7. Zept. 1761 auf den Thron erhoben worden war. Es
war der Erfolg eines Vertrages, welchen riedrid am 11. April
deffelben Jahres mit Natharina geichlofien hatte und in welchem
die Nachbarn jich verpflichtet hatten, in Polen feine Träftige
Stantsmacht auffommen zu lafen. Beide wünichten dies, aber
freilich aus verichjiedenen Gründen, denn friedrich wollte Fein
ftarleo Polen, weil co ihm gefährlich werden Fonnte, Nutharina
wollte ein ichwaches, um eo dejto leichter in ihrem Anterefje leiten
zu fonnen. Daher wurde fein fremder Zürjt, fondern der geiftwolle,
glänzende, von beitem Wollen bejeelte, aber darakterichwache,
unangefehene, von den Parteien im Lande wie von dem ruljüichen
Hofe gleich abhängige Staniofans Auguft Nönig. Wie Natharina
in Nıreland vor Numzem „unjern eigenen Herzog“ dirdhgeiegt hatte,
To hatte fie num ihren eigenen König auf dem polnischen Thron,
dort einen Nurländer von geringer, wenn auch adeliger Herkunft,
hier einen Polen aus eingejeffenem einfahren Adel; fremde
Zur Gefehiehte der Unterwerfung Aurlande. 7
Fürftenföhne fonnten nur jtörend werden durch auswärtige Wer:
bindungen.
Die Meifterichaft, mit der Ratharina diefe Angelegenheiten
ic) nad) ihrem Emporfommen zur höchiten Stantsmacht durch:
gef rt hatte, weckte in Friedrich einerjeits Veforgnifte, mochte
aber andererfeits ihn in feiner Ginneigung zu einem Znjammens
gehen mit Rußland beitärfen Angefidhts der Molirung, in der er
fich damals befand. Der engliich-franzöftiche Strien war zwar
eben, 1763, durch den Parifer Frieden beendet worden, aber er
hatte die alten Allianzen Friedrics mit den Scemächten längjt
geföft, und jehr bald folate der nordamerifaniiche Vefreiungsfanıpf,
der die Weftmächte für mehr als ein Nahrzehnt in Athen hielt.
‚Hatte aber Friedrich zu Anfang gchofit, die zerbtiiche Prinzeffin,
die er jetbft auf ihre alängende Bahn geleitet hatte, auch ferner
zu leiten, To jah er fich jehr bald in die umgefehrte Lage verjegt.
Katharina griff in die inneren Zuftände Polens fräftig ein, was
Unruhe, Nonföderationen bervorrief, deren Folge wieder friegeriiches
Einichreiten von ruffiicher Seite war. Co befand fid Katharina
von 1767 an im Nampf mit der ihrem Drud‘ feindfichen polniichen
Partei umd feit 1768 in offenem Nriege mit der durch vuffiiche
Grenzverlegungen und franzöfiiche Verhegungen aufgebrachten
Pforte. In Wien aber fonnte man no den Xerluit von
Schlejien nicht verichmergen, und bot 1768 gegen Nücgabe dieies
Landes dem alten Gegner an, ihm zur Erlangung von Kreufiich-
Polen und von Sturland zu verhel Da hiermit nichts zu
imacdyen war, jo wartete man auf eine gelegenere Zeit, wurde
aber endlich genöthigt, die Blicte von Schlefien und den inner:
deutichen Zuftänden ab und wieder dem ten zuzuwenden. Das
Vordringen der ruffiichen Diadht in Polen, die Ausficht auf
ruffiiche Groberungen an der Tonan, das waren jowohl für
Friedrich als für Xojepd II. bedenkliche Anläufe, die Friedrich einer
Verbindung mit Tejterreic zutreben liefen. Und diefe Yage
überwand denn au zulegt die Abneiqung Varia Tberefin’s gegen
eine Einigung auf polniiche Roften: die erite Theitung fam 1772
zu Stande.
Tie nädten 14 Jasre dis zum Tode Friedric’s zeigten die
drei Tftmächte in einem Terhältniß zu einander, bas ziemlid) das
388 Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands.
umgefehrte war zu dem, in welchem fie jtanden, als Friedrich feine
Regierung begann. Das feurige, erobernde Drängen war auf
Defterreich und Nufland übergegangen, der alternde Preufenfönig
hielt fid ftets in der Tefenfive und batte alle Mühe fih in
derjelben zu erhalten.
Aufland ichloh 1774 mit der Pforte den rieden von
Rutichuftainardice ab, der ihr den Beiig der Nrim und die
Schupberrichaft über die Miofdau und Waladei eintung. Im
ahre vorher hatte es eine nene Lerfaffung in Polen durchaeiept
und übernahm 1775 die Garantie für diefe und die innere Nube
Polens, d.h. 6 jicherte fi eine fürmliche Handhabe zu fteter
Ginmiihung. Jofeph unternahm feinen erjteu Werfud zur Wer:
geöherung der Haboburgiihen Dausmacht auf deutichem Woden;
5 folgte der bairiiche Erbfolgefrieg und der Tejchener Frieden,
ber Katharina zur Sarantin nahm. Hatte Ariedridh fid) Tefterreichs
damit vo erwehrt, jo hatte er doc Nuland zugleid) zu
dem eriten Schritt auf dem Wege in die deutichen inneren Ver:
hättwifie verholfen, der nachher fonjequent weiter verfolgt wurde
und zwar mit preuhifcher Unterjtüßung. Denn 6 war ber
preußiiche Sejandte Graf Görz, der Katharina bewog, eine ruffiiche
Sejandtichaft in Kranffurt zu errichten zur beijern Nontrole der
von ihr garantirten deutichen Verfaftung”). Der 1780. erfolgte
Tod der Naiferin Maria Therefin gab dem flürmiichen Ehrgeiz
ihres Sohnes freie Bahn. Jofeph war von enthuitajtiicher Be
wunderung riedrich's ausgegangen, hatte dann diefen bemimderten
Freund id als Geqner gegenüber gejehen, und wandte fi nun
von ibm ab und Natharina zu, die vorläufig in Yolen feiner
prenßiichen Slfe mehr bedurfte, dafür aber um jo mehr Werth
auf Tefterreich leyte zur Durchführung ihrer auf die Türfei
gerichteten ‘Pläne. Natharina’s Deflaration der bewaffneten
Neutralität gegenüber den friegführenden Seemächten vom Jahre
1780 brachte ihr Joleph durd) feinen im folgenden Aahre erflärten
Deitritt näher, m Mai ITSL wnde ein Allionzvertrag abge:
ichlojien, der gegen die Pforte ofienfive Ziele entbi
Jofepb zum Mitgaranten der polniidien Xerfi
*) Görz, Dentwindigfeicen.
Zur Gejchichte der Unterwerfung Nurlands. 389
machte. Im September 1782 entwielt Katharina in einem Brief
an Jojeph bereits einen fertigen Wlan der Theilung der Türfei.
Tamit war das Vindnif zwiihen Nuhland und YPrenfien vom
Jahre 1764 zerriffen md Ariedrich wieder völlig vereinfamt. Er
muhte > vubig anjehen, wie Natharina 17 olme Umfchweife,
fogar ohne Wiverjtand jeitens der forte fidh der Nrim, Taman's
amd Ruban’s bemächtigte und wie Jojeph im Neich jeine Haus:
macht in der Bejegung von Visthümern und Erzbiothmern mit
jeinen Nepoten mehrie. Endlich wagte Joleph dann den alten
"Ban des bairiichen Yändertaufches doch wieder in Angriff zu
nehmen, und riedrid trat dieler Gefahr gegenüber aus feiner
Zurüchhaltung nothnedrungen herans. Xm Juli 1785 wurde der
Füritenbumd vorerst zwilchen Prenfen, Zachien, Hannover abge-
ichlojien, dem dann viele andere deutjche Fürften beitraten. Und
jonderbarer Weife ward diefer Yund mit dem Plane verfnüpft,
Frankreich oder Nufland als Garanten der Nerfafung des deutichen
Neiches heranjuzichen, während dafelbe Nuhland chen die feind-
lichen Vemühungen Joieph'o offen uuterftügte. Tas politische
Elend Teutichlands fand hierin einen Ausdrud, der mr nad,
durch die Schmad der napoleonifchen Heit übertroffen wide.
Aber Friedrich erreichte wenigitens was ev wollte: der bairiiche
Ländertaufdh wurde vereitelt.
Am 17. Auquit 1786 jtarb Nriedrich. 0 ungleich it
fein Neffe perfönlich war, jo wenig alich auch die Bott dejjelten
dem Spjtem Friedrichs. Der ehraeisige Bureanfınt Herbterg
bemächtigte fid) der Yeitung der äußeren Beziehungen. Er wohte
um jeden Preis das alte Yiündnij mit Huland heriellen. Aber
Katharina’s Münfche gingen über die Tonan nad Yuzanz hin,
ihr verbündeter für den Kampf, der 1787 fosbrad, war Folerb,
der ihr nüglich, der ihr ein bodbenabter Fürjt ichien, für ten
fie fogar ein wenin weibliche Neigung übrig hatte. Nichts von
alledem z09 fie nach der preußüichen Zeite bin, und die Lie
mühungen Hergberg's fie zu überzeugen, da fie mit preußiicher
Hütfe eher als mit öfterreichifcher ihre buzanliniicben Klüne hund
fegen werde, zerfchellten an der Thntiache, dal Natharina tie
preuhiiche reale Macht und Willenskraft vihtiger abidätte «l:
Herpberg jelbjt. Was fonnte Preußen bei Vertreibung der Tür.cn
390 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlande.
ihr nüßen? Was Eonnte es ihr in Polen jdhaden, wo ihr
Ambafiadeur” Stadelberg wie ein Vice-Nönig herrichte? Ihre
Ziele waren einfah und far, die Dergberg’s phantajtiid, ver:
widelt.
Denn was wollte Herkberg eigentlich? Er jirebte nad)
Mehrung der Vacht Preuhens, er war voll Nubmdurit für Preußen
und bejonders für jein Minifterium, wie Katharina jelbit es in
ihrer Weife auch war. Aber welcher Unterfehied in der Methode!
Gleid) 1787 jegte Hergberg 6 durch, da preußiide Truppen
in Holland einrüdten und den Aufitand zur Ruhe brachten, der
dort gegen die Statthalterichaft emporgefovert und die Gemahlin
Wilhelm’s V. von Oranien, eine Schmejter des preufiichen Königs,
genöthigt hatte, den Bruder um Hülfe zu bitten. Das Erjcheinen
der Truppen hatte genügt, um rantreichs Luft zur Unterfiügung
der Demofratie zu dämpfen md im Verein mit England den
Frieden herguftellen. Won da ab weint, als ob dieler Erfolg
Hergberg ihmwindlich gemacht hätte, indem er fortan wähnte, mit
Truppenmobilifivung und enblojen Depeidien die abenteuerlicjten
Wirkungen erzielen zu fönnen. Indeifen jollte man bei der Ber
urtheilung Hergberg’o nicht ihm alle Schuld aufladen. Vielmehr
fbeint mir wahricheintich, daf Vergberg red)t wohl aud) zu einer
Politit der That bereit geweien wäre, wenn ihm der Nönig nicht
die Hand gezwungen hätte. Jeyt wünfchte Hergberg eine Ci
neuerung des alten Yundes mit Aukland, und da Nukland biefür
vorläufig nicht zu haben war, jo verband er jid) mit dejien Feinden,
aber mehr um Nuhland dadurch zur Freundichaft zu nötbigen als
um ihm wirklich zu jchaden. Exit jollte England helfen, dann die
Pforte und endlid) ein großer Bund: England, Holland, Polen,
die forte, Schweden. Und mas wollte er durch die vuffiiche
Fremdicaft, die jteto feine tiefite Sehnjucht blieb, erreichen?
Anfangs jollte fe vielleicht gegen Gefahren von äfterreichiicher
Seite fügen; aber diefe Gefahr trat nicht ein, und 6 blieb nur
der Wunjd nad, von Polen mit Nuhlands Hilfe Thorn uud
Danzig nebjt zwei Palatinaten zu erobern. Jn diefem Yan der
Eroberung von Tanzig und Thorn ging bis gegen das Ende von
1791 die ganze Politif Preußens eigentlich auf. Vergberg arbeitete
mit allen Pitteln jür dieje Jwede; wo man ihn aud) thätig fieht,
Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlande. 391
überall begegnet man dem leidenichajtlihen Streben nad) ben
beiden Städten, für welde er weder einen Mrieg mit Nuhland
nod) mit Tefterreih jcheute. Denn allmählich wäcjt die Macht
Preußens in den Augen Hergberg’s immer jdneller an im Wer:
hältniß zu den beiden Naifermächten, die fid in Nampf mit den
Türfen jdwäcen. Und cs tauchen nun bereits großartige Pläne
einer Stellung Preufens an der Spige eines Yundes auf, ber
den Raiferhöfen den Frieden diftiren und dem Pinijterium Here
berg die Gejcichte Europas in die Dand geben joll.
Ein jtarfer Antrieb fh nad) Verbündeten umzuthun lag
freitic in der engen Nerbindung, die jich allmählich zwiihen
Katharina und Jojepd heransgebildet hatte. Nach dem Abichluß
der Allianz im Frühling 1781 trat Natharina mit ihren Abfichten
anf die Türfei dem Verbündeten genenüber offen hervor. Ju
einem Schreiben vom Sept. 1782 jdlug je eine Theilung der
Türfei vor. Tiefer berühmte Plan ging dahin, ein griediich:
byzantinisches Neich unter ihrem Enfel Konjtantin, und an der
Donau einen Zwiidenftant zu errichten. Wenn nun der Plan jegt
fallen gelafjen wurde, weil Jofepd für eine Wetheiligung an der
Vertreibung der Türfen zu große Entihädigungen forderte, aud)
fein Yuge weit ernfter nach der Seite Preußens und- feiner
deutichen Intereifen gerichtet war, jo hielt Natharina doc) jtets
an dem verlorendjten Biete feit, welches den Ehrgeiz eines
ruffiichen Herrichers je reizen fonnte. Sie unterftügte Jolepb in
feinem Projeft des bairijch-beigiichen Yändertaufches, fie {lo mit
ihm ein Jahr ipäter, 1785, den erjten rufftic-öfterreichiichen Dandels-
vertrag ab; jhen in demjelben Jahr iprad) man in Petersburg
von einer Vegegnung Natharina’o md Joleph's in Gherjon für
das Jahr 1786. Diefelbe fand um cin Nahr Tpäter jtatt, und in
demfelben Jahr erklärte die Pforte, von ven gegnerifchen Rüftungen
dazu veranfaßt, den beiden Nailerhöfen den Nrieg. Nm folgenden
Jahre, 1788, erflärte aud Sujtav IN. von Schweden an Rußland
den Mi Diefer doppelte tampf in Nord und Züd lähmte,
obwohl mit Dejterreid als Bundesgenojien und auf ruijiiher Eeite
mit Glüc geführt, doc) die ruifiiche Aftion gegenüber Rolen für
mehrere Jahre.
302 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlanbs.
Die Jahre 1788 bio I find für Preußen von jo ver-
hängnißvoller Bedeutung neweien als wenige Epochen feiner Ge:
Ähhichte. Noch galt das preußiiche Heer als das tüchtigfte
Melt, nod) lebten ihm erprobte Generale Kriedrich's, noch verfüg
der Rönig über den Schap von 60 bio 70 Millionen Thaleın,
den Friedrich hinterlafen hatte. Die beiden Oauptgegner lagen
im Kriege mit Türfen und Schweden; England hatte fich Preufen
wieder genähert und jchloi mit ihm am 13. Auquit 1786 ein
Defenfivbindnii ab, das Hilfe genen jeden Angriif veriprad).
Ein Verfud Natharina’s, diefem Bündnik durd eine Allianz mit
Polen entgegenzutreten, wurde von Her&berg durch Annäherung
an die Gegner der ruffiichen Freundibajt in MWarihau vereitelt.
Es lag für einen Mann wie Herbbera in der That nahe, den
Augenbfid zu erjafien um einen großen Wurf zu wagen. Und
jo reifte jenes weitichauende Projekt des Bundes der Scemächte
und der Mitteljtinaten heran, von dem bereits die Mede war.
Und wenn die Münjche Hergberg’s fi nad wejentlih anf einen
prenfiichen Landerwerb auf polniichem Yoden, vor Allem auf die
Erwerbung von Danzig und Thorn, und zwar womöglich ohne
a und mit Dülfe Nulands, beichränfte, fo flogen die Wünidhe
des jtürmijchen preufiichen Glefandten in Nonitantinopel, Diez,
längit höher; fie aingen auf nicht weniger als eine Niederwerfung
Tejterreichs und Ruhlands, eine Erhebung Preußens zur leitenden
Großmacht in Europa. Unermüdlic trieb er, feit die Tinten fh
fiegreid) zeigten, die Pforte zu energiicher Arieaführung und zum
Abjhluh eines engen Bündnifjes mit Preußen; umd jo ergab
ich's, da während der leitende Viinifter in Berlin auf einen
Sieg Nuhlands hoffte, der die Pforte zur Abtretung der Woldau
und Malladei an Tejterreih nöthinen follte, der Gejandte in
Konftantinopel einen Sieg der Türfen winichte.
Die Ereigniiie des Nahres 1789 nährten allerdings weiter
dns Vertrauen, welches Herkberg in die politiiche Stellung Preußens
bei feinen Mänen jegen durfte. Der reformirende Uebereifer,
mit dem Jofeph in alle Werhäftniffe feiner Känder eingriff, hatte
allmäblidy alle Volfoflajien auf's Aenperite verlegt und Widerftand
hervorgerufen. In Galizien und Ungarn war man zum Auf:
ftande bereit, in den Niederlanden war er bereits ausgebroden
Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlande. 393
und zu Anfang 1790 waren die Aufitändiichen Herren des ganzen
Landes mit Ausnahme zweier Städte; die öfterreichiiche nefammte
Heeresmadht jtand den Türken gegenüber; Aufland war im Nriege
nach zwei Zeiten hin md im Innern bereits durch bie früheren
Anftvengungen jo erichöpft, da Unruhen unter dem Adel
Fih bemerkbar machten. Wenn Preußen jegt einen großen Eins
fag wagte, jo mochte cs wohl gelingen, Dejterreich don damals
aus jeiner Vorherrihaft in Dentihland zu verbrängen und Auf:
land den Wen über die Duieprlinie für immer zu verlegen. Die
Lage hatte viel Achnlichteit mit der Lage Nuhlands von 1792
bis 1795. Was jegt die Türfei für Preußen, das war nachher
Franfreih für Nuhland. Wie Katharina die beiden deutichen
Mächte im Strieg gegen Frankreich fi hwäcen ließ und dann
Polen nad) ihrem Willen theilte, jo hätte Friedrid Wilhelm um
1790 mit jeiner friichen Atriegsmadt die beiden geichwächten
Kaifermächte in Böhmen, Polen, Nurland zur Annahme jchwers
wiegender riedenobedingungen wahrjcheinlich zwingen fönnen.
Hätte Natharina an der Stelle Friedrich Wildelm’s geitanden, der
Augenblid wäre fiher nicht ungenubt vorüber gegangen. Aber
freitic, mit Aufmarfchiren von einem Korps, wie 1787 in Holland,
war es nicht gethan, und Hergberg glaubte an die Nraft feines
diplomatischen Wolfenichiebens. Vergberg wünjchte von Tejterreid)
Abtretung Galiziens an Polen, von diejem Abtretung von Danzig
und Thorn nebjt einem Landjtreifen an Preußen; dann jollte
Dejterreich durdy Violdau und Walachei entjchädigt werden. Ten
Plan durchzujegen, war er im Dezember 1759 bereit 200,000 Dann
gegen denjenigen der intereifirten Staaten marihiren zu Laien, der
fi weigern würde, den Plan innerhalb vier Wochen anzunehmen.
In diejer Yage und <tinmung mußte Hergberg drauf ausgehen,
die Polen für fi zu gewinnen. Diefe fnirichten unter dent feiten
Griff, mit dem der ruffiiche Gejandte Stadelberg fie hielt, und
als an Stelle von Vuchholg der gewandte Kuchefini in Warichau
mit Verlocdungen eintraf, die Feileln abzuidütteln, warf fi die
große Michrheit auf die Seite Preußens. Der Neihstag tagte
in Warjchau bereits jeit 1787. Num bildete fi cine Partei,
welche unter dem Antriebe des ruffischen Trudes auf der einen
Seite, der von Paris herüberwehenden freiheitsideen andererfeits
04 Zur Gejhichte der Unterwerfung Nurlands.
den Plan fahte, im Bunde mit Preußen die Lerfaflung zu
veformiren und die Eelbjtändigfeit Polens wiederzuerlangen. Mit
feidenfchaftlichem Eifer wandte man fid der preußiichen Freundichajt
zu und am 29. März 1790 murde eine enge Allianz abgeichlofien,
die Polen gegen äußere Angriffe wie gegen Eingriffe in feine
innern Werhältnifie ihügen follte. Wenige Wochen früher, am
31. Januar, hatte Diez ein Offenfiv: und Defenfivbindniß mit
der Pforte abgeichlofien, das zwar über feine Vollmacht hinaus:
ging, aber von YHergberg dad nicht ohne Meiteres verworfen
wurde *). Vielmehr war man in Berlin zur Zeit des polniichen
Allianzabihluffes bereit, den Krieg genen die beiden Nachbarn zu
unternehmen; im Mai jollten die Türfen den Feldzug mit aller
Kraft eröffnen, die Polen jollten 30,000 Mann jtellen, der Nönig
würde mit 80,000 Mann in's Feld rüden.
Inziwiichen aber war Nofeph am 20. Febrnar geftorben,
und während Hergberg zum Kampf jtirmte, änderte Yeopold die
Stellung Defterreids völlig, indem er fein Hauptinterejie von ber
Donam ab und wieder den deutichen Dingen zimvandte. Im
Sommer 1790 erlifiete Leopold in perjönlicen Verhandlungen
mit Friedrich Wilhelm den Vertrag von Neichenbad. Diejer
Vertrag vom Juli 1790 gab den großen Plan Hergberg’s
auf und co bfieb von Allem num vor der Hand nur die hohle
Schale nad: die Forderung, da Nuland die Mediation Preufiens
zum Abichlufi des Friedens mit der Pforte annehmen jolfe. Die
jtürmiihe und verihnörfelte Politit Herpbera’s, der Ehrgeiz, Die
Vergrößerung Preußens — Alles wurde vom Könige unter dem
>) Die erften Neuerungen, privaten und of
trag ftinmen mit einander jalecht zufamman. Yan 13. März macht er Tiez hefsige
Vorwürfe: „Was haben Zir giwadk, ju veripreden, der ünig werde unohl
gegen Huhland als gegen Teiterreich ach
erwerbang der Atrim
Weich. 1,240). Aber am Tage vorher, 12. März, heit 16 in einem von ib
Fontrafigicen Grlofi dos Nünigs an den Sefandien Malt, in Peiershusn;
Habe eben Durch einen Nurier Yri di in Nontantimopel erhatsen
wonach «7. am 30. Januar cin Berran mit dr E orac aterjcignet hat, e
aue je puix I 5 Staansarabio). Tir Meinungen 105 Nöuigs
m all eben jo von einander abgerwichen zu fein
potnifche Konititution.
ei, Hertiberg's über den Were
m niederlegn .
als 3. 2. 1791 über die na
Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlande. 395
Eindrud der jchmeichelnden Nedekünfte Leopold’ und feines Naunik
bei Seite geworfen, Dit Drfterreich gemeinfam gegen Nukland
fi wenden, nachdem der Öfterreichtich-türfiiche Frieden wide
geichloifan fein; Ruhland den Frieden ohne alle Yanderwerbungen,
jelbit mit Nüdgabe der Nrim diftiven, den ruffchen Einfluß in
Xolen dauernd durd den preußiicen eriegen und Danzig und
orn auf friedlichen Wege des Vertrages von Polen erlangen:
das waren fortan die Abjichten deo 95. Und von nun ab
wurde der Wille des Nönige immer mahgebender in der Führung
der äußern Politif, und wenn man beobachtet, wie die Jagd na
dem Schein, der Eifer des Notenidreibens, die Neigung ben
Gegner zu erichreden ohne jelbjt etwas wagen zu wollen, nad)
wie vor in Berlin die hauptiächlicen Werkzenge der Politif
blieben, ja eher noch ftärfer als unter Kerpberg in Anwendung
famen, jo mu man, wie ich glaube, zu dem Schluh gelangen,
bai; der Nönig einen erheblichen Theit der Schuld dafür trägt, daf;
Hergberg von 1787-1791 vor lauter Jdeen und Worten nicht
zu Thaten Fam. Was nachher Fam, der franzöftiche Nrieg, waren
Taten, die jchlimmer waren als Nichtsthun, ımd der Cnell der
Worte floh dabei noch reicher alo vorher.
In dem Neichendadher Vertrage hatte der Nönig für bie
Friedenoverhandlungen des Naifers mit der Pforte den status quo
als Grundlage durdigeiegt, mao er fi ipäter zum Beruhigung
deo Gewiflens umd zum Troft für Miherfolge jchr hoc anrecjnete,
Preußen behielt jich die Mediation des wuflüid-türfüchen Friedens
gegenüber Defterreich vor, welches ji in diefen Handel nicht
mijchen, den Kuflen feine fe leijten follte. Preußen hatte
nidjto von all der Mühe, als von nun ab die jtete Schnjucht,
auch den Nuifen feine Fricenovermittelung aufumöthigen ohne
die Vortheile, die Hergberg ih davon chedem veriprochen hatte,
Auferdem freilich nad) die unerfreuliche Erfahrung, dal; Natharina's
ganzer Zorn. fich gegen Wreufen wandte und da; Oefterreidh jehr
bald die Abmacungen von Neicenbad) jehr gegen den Zinn
Friedrich Wilhen’s auszulegen begann.
Hergberg’o Einflul auf die prenfiiche PBolitif hatte von
m sehr an Boden verloren; indejlen führte er noch die
te weiter und arbeitete nach wie vor in der alten Micdhtung.
nun
Sie
396 Zur Gefdhichte der Unterwerfung Aurfanbs.
Im Auguft war ber ruficeichwebiiche Krieg durd den Frieden
von Merelö beendet worden; Nufland hatte in der Diftice die
Hände frei befommen und begann feine Streitfräfte gegen Prenhen
ud England zu wenden. Denn von diefer Seite drohte in ber
That jegt Gefahr. No am 30. Oktober 1 vbberg
ganz friegeriih. In einem Brief an den preuhtichen Yegations-
vatl) von Hültel in Petersburg meint er, im Yunde mit England,
Holland, Schweden, Polen und Türen den Frieden auf Grumb
des status quo zu erzwingen. Unter dem Berzogn von Yraunz
fchmeig jollten 100,000 Vlann gegen Nuhland vorgehen *ı.
Diefes ijt num der Moment, in dem Dergberg 6 für nöthig
hätt, einen eigenen Nefidenten nad) Pitan zu ididen. Die Lage
ergiebt, daf; dieler Nefident die friegeriichen Vorbereitnngen Nur
lands an der Düna und in Riga aus nächjter Näbe beobachten
follte; ferner aber follte das Herzogthum eben fo an Preußen
herangezogen werden, wie eo gerade jept mit ofen geichah.
Die Auszüge aus der Norreipondenz Küttel's mit jeinem Hofe,
welche ich weiter unten veröffentfiche, Tpiegeln deutlich) die Wand-
ungen wieder, melde von mm ab jowohl die rulliiche als die
preußiiche Politit durhmachen, und beleuchten zugleid) die hisigen
Rümpfe, die in Nurfand zwiichen den einander dort gegenüber:
jtehenden Mächten vollführt wurden. Zum Verftändniß derjelben
wird es nöthig fein, nochmals dem Gange der großen Politif in
ben näcjiten Jahren mit einigen Sinmweiten zu folgen.
Nuhland verhielt fh in Polen abwartend, jo lange c& jeine
Kräfte gegen Schweden umd die Pforte nötbig hatte. Der einit
allgewaltige „Ainbafladeur” in Warihau, Stadelberg, jah dem
Umfchwung im Lande zu Gunften einer Verfajluingsreform und
eines preufüchen Yündnifies Ntillichweigend zu, und wurde dann
im Sept. 1790 duch Bulgafow eriett. Gegen Ende des Jahres
Ächlof; Polen eine Allianz mit der Pforte gegen Nuhland. Während
aber jo Polen, Preußen und die Pforte num geeint Nuhland
gegenüber ftanden, während England Hülje veriprochen hatte,
Schweden nicht abgeneigt war den Nampf wieder aufzumehmen,
brachten die Polen einen argen Ni; in die preuhiice Freundichnft
°) Verliner Archiv,
Zur Geibichte der Unterwerfung Aurfands. 397
durch den PVeichluß, Danzig und Thorn nicht zu opfern. Am
9. Zcpt. 1790 beichloi der Neichstag, es dürfe fein Antrag auf
Abtretung polniichen Gebietes, an wen co and) fei, eingebracht
werden. Dieje Tporheit Treupte die preuftichen, and) nad) Neichen-
bach ‚feitgchaltenen Wünfce und rächte jih) an Polen schwer.
Katharina hatte die Polen itets zum Miberitande gegen ben
Munich Preufeno, Thorn und Danzig zu befiken, getrieben. Sie
ftügte fich Preußien gegenüber darauf, dah fie 1775 die Grenzen
Polens vertragsmäßig in ihren Schub genommen habe bei Ab-
ichluj; der Garantie der polniihen Verfajung. gab eben nie
etwas freiwillig ber, was fie irgend als Tauichobjeft brauchen
fonnte. Danzig, Thorn, das Gebiet zwiihen Preuhen und
Schlefien war 'andererfeite md ift noch heute für Preußen und
Deutjchland jo notwendiger Beiig, dah nur Bhantaften glauben
fonnten, denjelben auf die Dauer Prenjen vorenthalten zu Fönnen.
Der thörichte Trop der Polen hätte damals jede preuhiiche
Regierung zulegt zu gewaltiamen Mitteln treiben müjlen, um
Danzig und Thorn zu erlangen, md hat jehr weientlid) die
zweite Theilung gefördert. Jest, in der patriotiichen Gewitter:
luft des Neihstages, gelang co dem ruifiiden Gejandten leicht,
die Polen glanben zu machen, dab Rufland die Städte gegen
Preußen jchügen werde, und die jo betrogenen polnischen Bigföpfe
nannten co dann Xerrath, alo Preußen nachher Feine Urjadhe
fand, einem Nachbar beizujtehn ohne andern Gewinn als die Anss
ficht auf Hülfe in einem Nriege genen Nuhland mit einer noch
erit zu ichnfenden polniichen Armee.
Herpberg’o Stellung war unhaltbar geworden mit der Ver-
eitelung feines Hauptjädlichen politiichen Zieles, und wiewohl er
die beiden Städte mit Hülfe Nuhlands doc nad) zu erwerben
fih einen Augenblit voripiegeln mochte, jo verlor er immer mehr
die Leitung in der großen Politi. Zu Ende des Jahres begannen
nun aud die riedensverhandlungen zu Siftowa, die Tejterreich
aber jo jchleppend führte, dak Preußen zulept durch eine drohende
Deflaration den Naifer zur Cinhaltung der Neichenbacher Ab-
madjungen „an die Wand drücen“ *) mußte, um den Frieden
*) Ertah am Golt, Berliner Archiv.
398 Zur Geidjichte der Unterwerfung Aurlands-
herbeizuführen. —- In Zolen aber jtürmte man inzwiichen dem
völligen Bruch mit Nuhland m fo cifriger zu, md am 3. Mai
1791 Tamm die neue polniiche Verfaiinng zu Stande, welche Polen
zum Grbreich unter einem jühjtichen Prinzen machen follte. Dieier
Ausgang war nit mehr das Werk preußiichen, jondern öfter
reichiichen Einftufjes und verftieh jehr gegen Herpberg’s Politik,
der weder ein jtarkes Wolen noch eine jähliihe Dynajtie in
Warichau wünjchte. Aber auf die Stimme Hergberg’o wurde in
Berlin nicht mehr geachtet, jondern man beglücdwünichte die Polen
am ihrem pattiotischen Werk, um dann, wenig Ipäter, doc bie
Konjtitution vom 3. Mai zu verdammen und zu der alten Politit
der Erhaltung der polniihen Schwäche zurüdzufehren. War das
in der verfahrenen Yage aud) begründet, jo war die Exbitterung
nicht minder berechtigt, weldhe dieieo Ju-Stich-Yalien Preufens
bei den Polen hervorrief. Noch in den Verhandlungen zu Grodno
über die zweite Theilung im Jahre 1793 zeigte fi die Wirfung
diefes preußtichen Treubrude in dem Hal der Polen.
Es iit ein enticheidender Angenblid fir die gelammte poli-
tüche Lage, und wenn die Polen fich über Preußens Abfall zu
befhweren Urjadhe hatten, jo war diejer Abfall doc fein ganz
freiwilliger, vielmehr ein in den Umtänden jehr ftart begründeter*).
Nach) dem Keichenbadyer Vertrage hatte Preufen gegen
Rufland gerüftet umd mit England wegen der Unterflügung im
Kriegofall unterhandelt. Der General Möllendorff war als
fünftiger Nommandivender an die ruffiiche Grenze geichiett worden,
um die Nüftungen zu leiten. Am 28. Oftober 1790 legte Derb-
berg dem Könige einen neuen Man vor, der fih auf die Meldung
Golgens aus Peteroburg ftüßte, dab nad lange anhaltender
Spannung zwiichen den ruffischen Hofe md dem preußiichen Ger
fandten der Vice-Nanzler Graf Titermonn endlic) fi dem Sejandten
wieder genähert und ihin geiagt habe, dai, wenn Preußen jeine
Forderung der „Medintion” zwiichen der Pforte und Auland
fallen Iajje und fi mit „bons offiees- begnügen wolle, die
Sachen Äh in befriedigender Meile würden erledigen lailen.
Hergberg räth nun dem Mönige, Dielen Vorichlag anzunehmen;
=) Das Folgende nach den Alten des Berliner Arhivs,
Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 399
er möge feinen Verpflichtungen treu auf dem status quo beitehen,
aber die Pforte zur definitiven Abtretung der Mrim auffordern,
unter Sicherung der Nügabe von Oczafow. Für die Vermittelung
des Friedens folle Hufland helfen, den Tauic) von Danzig nnd
Thorn gegen einen günftigen Sandelovertrag und Heine Grenz:
berichtigungen in Polen durchpufegen. In diefem Sinne nurbe
denn auch Golg inftenirt. Aber icon war in Petersburg wieder
eine Schwenkung eingetreten; Oftermann wollte nichto mehr von
feinen friedlichen Verheifungen willen, feit aus Wien Nachrichten
gefommen waren, daf man dort nicht nur Nuhland Hülfe leijten,
Sondern den Neichenbacher Vertrag vernichten wolle. Die rufjüchen
Rüftungen in ivland nahmen ihren Fortgang und deuteten daranf
hin,“ Da man fid zu Yande defenfiv verhalten und nur zur See
angreifend vorgehen wolle. Jam Dezember fordert Nufland aufer
der Krim, die eo behalten will, Oczafow und das Gebiet bio zum
Dniejtr, d.h. mehr ale früher und mehr als Preußen bei der
Pforte durchjufegen vermag.
Am 10. Januar 1791 räth Golg, eine feite Vereinbarung
mit den Allirten, England, Holland, der Pforte, ‘Polen fi
und dann Rußland ein Ultimatum zu jtellen; der
nur gewinnen, wenn er zu rechter Zeit bredie und die Armee in
Kurland ernährt werden fünne. Admiral Tiehitihagew behalte
den Oberbefehl über die Xlotte, der Prinz von Nafjan den über
die Klotille; die Seemadht jolle 24,000 Dann Vejapung erhalten.
Die Landarmee in Livland md Weihrußland Tolle nominell
138,071 Dann, ohne die 10,000 Mann Garde betragen, wovon
aber ein Drittel abzurechnen jei für die Flotte und wegen unvoll-
sähliger Truppenförper.
Am Februar 1791 berichtet Golb, man iprehe in
Petersburg nur von Arieg gegen Preufen, auch da Rotemfin
ihn führen folle, der am 4. Februar von Jay jid) auf die Neife
nad) Petersburg begeben habe, wo er am 20. oder anfommen
mühe. Die Naiferin weile hartnädig alle Wediation anderer
Mächte in der türfiichen Zadje ab. Wenn der Nönig ein Korps
nach Weihrußland jenden wolle, fo werde er gutes Spiel haben,
denn nach allen Nachrichten warte dieje Provinz nur darauf, um
fich gegen Auhland zu erheben. Die Nüftungen werden unterbei,
400 Zur Gejdichte der Unterwerfung Kurlands.
fortgeiebt, und Golg treibt zum Angriff, da das Nima feinen
KArieg nad) dem September gejtatte. Soltylo fei von jeiner
Iufpeftionsreife nad) Yivland jehr niedergeichlagen über den Zu-
ftand der Truppen heimgefehrt. Der engliihe Gefandte Zir
Withwortt) habe erfahren, dal; Schweden mit Nuhland ein Yündnik
abgeichlofien Habe.
Am 14. März antwortet der König, er halte diefe Nachricht
für falih, da Nuhland den Schweren weder Zubfidien nod) die
Ausficht gewährt Habe, daf; co den jhwedifchen Forderungen gemüh
der Türfei den status quo einräumen werde. Die Naiferin fuche
aber den Nönig von Schweden durd) Nonzeffionen in Finnland
und Lorjpiegelung der polnifcen Nrone zu gewinnen. Aber ber
König wolle jeinerfeits nun Schweden durch Zubjidien gewinnen,
die er mit England gemeinjan zahlen würde. Kerner folle England
eine große Flotte in die Cities, eine zweite in den Pontus jenden;
dann glaube er, dah die N werde nachgeben mühen, da
auch die Türkei friegeeifrig fei. Und am 1. April meint ber
König tiumphirend, man müfle bad) fehen, ob „messieurs les
Russes ne deviendront pas plus traitables.“ wenn fie erfahren,
dah England 10 Yinienihifje nebjt entiprechenden regatten in
die Titiee und 12 Nriegsihiife in den Pontus zu fchicen jid)
entjchlofien habe; die holländiiche Gofadre werde fid den Engländrn
im Mittelmeer wohl anfchliehen. Aber Golg zweifelt ned immer,
dah die Nailerin fi durd) all diefe Androhungen zur Annahme
des status quo werde bewegen laflen. Er halte jede mittlere
Mahregel für verfehlt und ein Ultimatum für durchaus nothiwendig,
welches den Krieg oder Modififationen der Friedensbedingungen
anfündige, die ftarf genug wären, um zur Annahme des Friedens
mit den Türken zu nöthigen. Schweden feheine bereit zu fein, fid)
der Partei anzuichliehen, die ihm die gewinihten 12 Millionen
Subfidien verfpreche, die Nufland aber zu zahlen außer Stande iei.
Wenn man der Naiferin nicht die Dnieftr-Srenze einräume, fo
werde fie, wie Golg fürhtet, den Nrieg vorziehen, der zwar fehr
gefährlich für fie wäre, deifen größte Yafı und größten Anjtven
gungen jedod auf Preußen fallen würden. Juden fünne man
ohne Schwedens Mitwirtung uhland, troß deifen Schwäche,
nicht zwingen.
Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlande. 401
Inzwiihen hat Soligin den Auftrag erhalten, in Wien um.
Beiftand gegen die Aliirten amd gegen die Zeifion Danzigs an
Preußen, für die England in Warfhau wirkt, zu werben, was
bei der immer fraglichen Haltung Wiens zu den Neichenbacher
Abmadhungen Teineswegs auofichtolos ijt und den Nönig veranlaft,
durd) die bereits erwähnte energifhe Erklärung das Wiener
Rabinet wenigftens zum Aufgeben jeiner Verichleppung der Friedens-
verhandlungen in Siftowa zu drängen. In Petersburg aber
wuchs der Muth zum Widerftande, bejonders als es immer Harer
ward, da in England die Ausführung der Flottenjendungen wohl
fühn bejchlojjen war, aber auf immer entfciednern Widerftand im
Sande ieh. Yon dem Entichlufi Englande hing nun alles ab:
Schweden wartete auf die Flotte um fich anzuichliehen, Preußen
um feine Truppen mariciren zu laffen. Trop der Ungewifiheit
rieth Golg zu einer pofitiven dem ruffiichen Hof vorzulegenden
Erklärung; zugleich aber folle man der Kaiferin auch ein Mittel
darbieten um die Niederlage zu verjchleiern, die in der Annahme
des reinen status quo läge. Eine jdnelle Flotteniendung in's
Schwarze Meer werde auch PBotemfin’s ehrgeizige Pläne, die ihn
iumer wieder zur Vereitelung des Jriedens trieben, dämpfen, ımb
ihn für den Frieden fimmen. Der Gejandte betont inmer wicder,
für wie nothwendig er die Mitwirkung Schwedens Halte, befonders
der jchwediichen Flotte, welde eine Yandung des Prinzen von
Nafiau an der preußifchen Küfte verhindern Fönne.
Da trat der Umichlag in London ein: Pitt mußte feine
friegeriichen Pläne dem Miderwillen der Nation gegen den Nrieg
opfern. Es wurde beichlofien, nochmals einen friedlichen Ausweg
zu fücen und zu diejem Ziwed einen auferordentlichen Gejandten
mit ermähigten Friebensvorichlägen nad) Peteroburg zu fenden.
Preußen fchlieit ich fofort diefen Vorichlägen an und Sir Fawfener
macht fich auf den Meg nad) Petersburg mit Bedingungen, die,
nad der Meinung des 95, der Naiferin die von Colt
gewünjchten Dlittel bieten dürften, um mit Schonung ihres Nulımes
und ihrer Empfindlicjfeit zu einem Frieden zu gelangen, falls fie
die englifchen Schwankungen nicht zum Anlaf; nähme, um den
Ton wieder zu jleigern. Indeffen war man in Berlin dad) jo
wenig des Erfolges ficher, da man Golk den Auftrag gab, beim
402 Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands.
Xerfaften Petersburgs wegen Ausbruch des Krieges das Archiv
der Sejandtichaft zu verbrennen.
Der Muth der Naiferin war indejien jchon vor der Wendung
in England feineswegs erihüttert. hatte feinen Freund,
wenn man das unzuverläfiige Oefterreich nicht als jolden gelten
faien will: weder Sıhweden nad) Spanien, nad) Dänemark hatte
fie zum Veiftande emporreiien fönnen, Sie hatte Nrieg im
Süden, fie hatte eine elende Armee, leere Kajjen, ein über die
vielen Nefrutirungen, die bis zu einem Mann vom Hundert fort:
nahmen, mvendes Volk. Das in Maffen fabrizirte Papiergeld
wurde nur no mit 20, mit 25 Prozent unter dem nominellen
Zilberwerth genommen; Gold gab «6 nord) weniger als Silber.
Eine fchlechte Ernte war die Urfache großer Theuerung der Brod-
früchte, bejonders in Yivland, wo die Armee fid) jammelte. In
einem Lande von bis 28 Willionen Cinwohnern hatte die
Raiferin, wie man ihr in Petersburg 1786 nachredhinete, in den
legten 20 Jahren 700,000 Mann ausgehoben, und cs waren
jegt do nur höchitens 140,000 Mann unter den Waffen. Die
Fehlenden waren todt oder deiertiit”). Dao Land Hatte eine
Ausfuhr im Werth von etwa 10 Millionen Ruben ımd hatte in
fegter Zeit mehrere Anleiyen in Holland und Genua gemacht, bie
iehr hoch in Vietall muiten verzinjt werden. Die neu eingeftellten
Nekruten waren großentheils Nnaben und muiten entlafien werden
noch che fie gebraucht wurden. Die Armee in der Moldau hatte
jeit 9 Vionaten feinen Cold erhalten. Trog Alleın hielt Katharina
an ihrer jtolzen Unabhängigfeit feit, mit der fie feine Cinmiichung
in ihren Nampf mit der Pforte duldete. Zie fannte ihre Gegner,
fie vertraute ihrem alten Glüc. Ihre Mojeftät, fchreibt Golk
am 26. April an den Mönig, welder einige Glieder ihres Nathes
gewagt haben vorzuihlagen, dah fie den Umftänden nachgeben
möge, Toll geantwortet haben: „da der Schupgott Nuflands zu
groß fei, um nicht auf feinen Beiitand zu zählen.“ Vtan hielt im
April in Petersburg den Arieg immer noch für unvermeidlich und
iuchte durch) Bewilligung aller von Schweden gejtellten Bedingungen,
König Guftav auf die rujfiiche Seite hinüberzuziehen. Zugleich
) Bericht Hüttel's vom 22.
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 403
wurden neue 20 Millionen Papierrubet angefertigt und weiter
gerüftet. Golg erhält am 19. Wini den Auftrag, Tobald der
außerordentliche engliihe Gefandte Farmkener die Deklaration der
Aliirten überbracdht haben werde, behutfam die Dinge zur Ent-
iheidung zu drängen, damit Nuland nicht durd Verichleppung
5 dahin bringe, da die für den Krieg günftige Zeit von Preufien
verfäumt werde. TDah Schweden fi Nufland anjchlichen werde,
jei fehr unwahrfcheinfich, weil es dadurch ganz in die Hand Ruh:
lands füme und aud) Pommern an Preußen verlieren würde.
Ende April erwartet man in Petersburg die baldige Abreife der
Gefandten von Preußen und England.
Die von Fawfener überbradhte Deklaration ging mın dahin,
den Frieden mit der Pforte auf rund eines modifizirten status
quo zu empfehlen, wonad Natharina Orzafom und den gröhern
Theil feines Vezirfes behalten, aber die Feitung jchleifen, freie
fahrt auf dem für den pofnifchen Handel wichtigen Dnieftr
zufichern jollte. Katharina lieh fich aber nicht irre machen, jondern
forderte die einfache Tniejtrgrenge, im Geheimen auf die guten
Vezieungen zu Wien und die Stimmung in England bauend, wo
Pitt in Gefahr war, feine Stellung zu verlieren, wenn er eo zum
Kriege trieb. Eumorow ward nach Finnland, Zoltyfom nad Yiv-
fand abgeidjieft zur Nebernahme ihrer Kommandos. Das Yanfhaus
Hope in Amfierdam fie; fh bewegen, yu freilid harten Vedi
gungen nochmals 5 Millionen herzugeben, und jo entichloifen fi
die Gefandten denn doc, im MWejentlihen die Forderungen
KRatharina’s anzunehmen. Cie wurden in einer gemeinfamen
Dellaration der drei Mächte am 22. Juli n. Ct. feitgelegt.
Wehmüthige Vetrachtungen über den Viherfolg der mit
folcher Ausdauer verfolgten Intervention jtellte Ariedrih Wilhelm
an. Denn Rußland hatte mehr durcgefegt, als es anfünglich
gefordert. Die Scyuld jchob der König den Engländern zu. Und
er hatte infoweit ohne Hweifel Net, als die Engländer ihn bis
dicht vor den Nrieg getrieben und dann im Stich gelafjen hatten,
in einen Augenblid, wo alle Wahriceinlichteit dafür iprad, dai
der Nrieg ein fiegreicher fein werde. Bei der Ericöpfung Nuß-
lands und den gerade jeßt, dicht vor den Verhandlungen wegen
einer Intervention in Frankreid), ned) ungeminderten Kräften
404 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
Preußens, Tonnte unter Mitwirtung der engliihen Flotte die
Meberlegenheit der preuhiihren Stellung gax nicht angezweifelt
werden, was aud) Golp jehr Far war. Xreilic meinte er, das
Schwierige jei nicht das Siegen, jondern die Rufen zum Schlagen
zu nöthigen, fie zu finden. Aber Friedrich, Wilhelm wurde längjt
von den Engländern als Waffe gegen Rufland mißbraucht. Und
wenn man von dem verwidelten Taufcplan Herbberg’s abjieht:
welchen Nugen fonnte der König von einem Nrieg erwarten,
deifen ausgeiprochener Hauptzwed war, die Türkei gegen vuifiice
Eroberung zu ihügen? War das wicht eine Aufgabe, die im
Iuterefie Englands jo bamals wie bis in die neuejte Zeit hinein
lag, aber mit preußtihem Intereffe faum etwas zu hun hatte?
War es nicht der Vortheil Englands, für den der Nönig arbeitete,
während er fi) in der Rolle eines grofmüthigen Schirmers der
M orte gefiel? War es nicht diefelbe Nolle, welche ex jofort
nad anderer Seite hin wieder auf fi nahm, indem er für und
durch Defterreich und Aufland die Waffen gegen Franfreid) ergriff?
Als ob ein jaljcher, idealer Wahn ihn ergriffen hätte, in ber
großen Politif Heldenthaten vollbringen zu müilen, fieh fid) der
König bald von England, bald von Dejterreic, bald von Nufland
für ihre Zwede verwenden, ımd das mit einer Unbefangenheit,
die wunderbar it Angefichts dev Thatjache, da jeine Diplomaten
fehr wohl erfannten, wo die eigentlichen Triebfedern der preufiicen
Aftion lagen. Oft genug hat der König die Warnung vernommen,
Natharina triebe ihn gegen Franfreid, um beito ungeftörter ihren
polnifchen Gefchäften nachgehen zu fönnen. Und nicht viel anders
ftand Tefterreich zu diefem preußiichen Kreuzguge.
Möre 06 zum friege gegen Katharina gefommen, jo hätten
fich im Lauf defjelben fiher praftiiche Ziele für Preufien gezeigt.
Der strieg wäre im Bunde mit Polen geführt worden, der preuhiiche
Einfluß hätte ih dauernd in Polen befeftigt, die gewünschten Ab-
rundumgen hätten die Polen nicht verweigern fönnen. Die
Selbjtändigfeit Rurlands wäre erhalten worden. Auch nach An
nahme der Deklaration blieb die Yage geraume Zeit hindurch
Triegeriih. Potemtin tehrte feineowegs friedfertig zu feiner Armee
an die Donau zurüd, mit Schweden glüdte co Stadelberg zulegt
doc, einen Defenjivvertag im Oftober 1791 abzuichließen. Aber
Zur Gechichte der Unterwerfung Nurlande. 405
gerade jest ftarb Wotemfin, der ehrgeizige, fait jelbftändige
Vafall, der um jeden Preis fid eine Nrone im Süden zn erfämpfen
gedaht und den Friedensfchluß zu hintertreiben gewußt hatte.
Etwa drei Monate jpäter fonnte der Friede zu Jaffy auf der in
Petersburg vereinbarten Grundlage abgeichloifen werden, ohne
die Mediation oder die bons offices Preußens.
Von dem Tode Potemfin’s ab treten num die türkischen
Angelegenheiten zurüd und die polniihen und franzöfiihen immer
mehr in den Vordergrumd. Während Friedrich Wilhelm nach der
im Augujt von Pillnit aus erlajfenen Deklaration jid) gegen
Franfreich zu rüften begann, glaubte er feines Einfluffes in Polen
nad) wie vor fiher zu bleiben. Die Naiferin, meinte er, fünne
nicht Hoffen, ihren Einfluß in Polen wieberzugewinnen, welches ©,
der König, „a retire du neaut et dont le futur souverain
tiendra sa eouronne de ses (des Königs) mains“*). Wlan
mochte in Berlin nod die Nonjtitution vom 3. Mai für haltbar
unter preußiichem Schug anfehen; hatte man fie dod von Haufe
ans mit günjtigem Bli betrachtet") und die Nepublit in ihrem
Streben, fi von dem preußiichen Griff zu befreien, ermutbigt.
Jegt aber begann Nuhland, den Abichluh des Friedens in Jay
vorausichend, bereits in Polen gegen die Stonftitution im Geheimen
zu wühlen; Anzeichen mehrten ich, dai; eo dort zu ernjten Aus
einanderfegungen fommen müjle. Naum war der Frieden eine
Thatfahe geworden, jo erklärte man in Berlin, da man wohl
die Ummwälzung ruhig babe vor fi geben fajlen, aber feinerlei
Verpflichtungen noch Veripredjungen eingegangen fei. Stanistaus
Auguft und einige Magnaten fuchen nun die frühern Beziehungen
Preußens zu Polen dahin zu verwerthen, daß fie eine gemwilie
Garantie Preußens für die Nonftitution daraus geltend machen.
ucchefini aber wird fofort angewiefen zu erklären, dah da der
König nicht befragt worden noch ivgend Cinfluh oder auch nur
Kenntnifi von dem Projeft ver Umwälzung erhatten habe, er fid)
allen Urteils enthalte. Man werde hiernad) über die wirkliche
*) Erlafi an Golß vom pi. 191.
„de nal pu en eonscquene que la vair de trüs hon seil® heit
6 in einem Exlah an Goly vom 9. Mai.
406 Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurkınde.
Meinung des Königs nicht mehr im Zweifel fein Fönnen. Sofort
kann num aud Golg melden, da feine Beziehungen zum vuifiihen
Hofe fid) bejiern.
Bei den Tendenzen, die Natharina in Polen verfotgte, war
es ar, dah Preufen entweder mit den Waffen in der Hand
Polen vor ihrem Angriffe werde vertheidigen, oder Polen feinem
Scicjal überlajien müjlen. Im Begriff gegen Frankreich loszu:
brechen, von England im Stid) gelafien, des türfiihen Bundes:
fen durch den Frieden von Jafin, des jcwediichen durd ben
-ichwedifchen Defenfivvertrag beraubt: durfte, darf man «6
da Friedrich Wilhelm wirklicd verdenfen, dab er die Polen aufgab?
Man mag ihm vorwerfen, dal; er fich gegen Franfreich fortreihen
Vieh, und dadurd) verhindert wurde, feine Pilichten gegen Polen
zu erfüllen. Denn Plichten, fie vor Nufland zu jcüben, hatte
ev allerdings, wenn aud die evolution vom 3. Mai ihm das
formelle Recht gab, jih von den Veripredungen früherer Zeit
loszufagen. Yatte er einmal fid) gegen Franfreid) gewandt, fo
gab er den Ginfluh in Polen nicht allein, jondern aud die
Möglichkeit auf, Katharina’s Pläne zu vereiteln. Cs nügt heute
nichts, die Thatjache verjchleiern zu wollen, dal Polen von Preußen
im Stich gelajien wurde, wie diejes von England joeben war im
Stich gelaflen worden. Aber nicht jo jehr Hinterlt, wie die Polen,
und noch jüngit ihr Geicichtsichreiber Kalinfa, behaupteten, war
die Triebfeder der preußifchen Politit, Tondern Ungejchid, Unents
fchlofienheit — und die Treulofigfeit Englands. Und ging Statharina
einmal an eine neue Theilung, jo war Friedrid, Wilhelm voll
berechtigt, am ihr theifzumehmen md enblid jene Abrumdung
zu erwerben, die für Preußen num einmal eine Rothe
wendigfeit war.
Unterdefjen war aber beim Mönige der phantajtiichite
aller Pläne zur Neife gelangt: die franzöfiiche Nevolution jollte
niedergeworfen werden wie die holländifche im Jahre 1787.
Preußen hatte zwar nicht, wie Teiterreih, eine Tochter dort zu
retten, aber um der „guten Sache” willen jtellte «6 fi an bie
Spige derer, weldie der Monarchie, den vertriebenen Prinzen und
Shelleuten zu ihrem Nechte verhelfen wollten. Oefterreih ergriff
die Initiative für die Sade Marin Antoinettens, aber Preußen
Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlands. 407
wurde ihr eifriger Nitter, von Katharina mit jhönen Neben umd
füttlicher Entrüftung in den Nampf getrieben, der ihr freie Hand
in Polen geben joltte.
Hergberg wurde am 6. Juli entlafien, und am 29. Juli 1791
wurde der preufiiich- öfterreichiiche Wertrag geichloflen, der ben
unfeligiten aller deutichen Striege, den Feldzug gegen die fran-
söfihe Revolution einleitete,
Kaum hatte Rußland am 9. Januar 1792 zu Nafin den
Frieden mit den Türken abgeichloiien, jo trat es aus feiner Zurüd:
Haltung gegenüber Polen mit einen Proteft gegen die Konititution
vom 3. Diai heraus, dem ruffiiche Truppen auf dem Zuße folgten.
Zugleich ichwentte Katharina von Wien nad) Berlin hinüber. Im
jenem Vertrage vom 25. Juli 1791 hatten Preußen und Dejters
reich eine Vejtimmung aufgenommen, nad) der Nuhland jollte aufs
gefordert werden, mit beiden Mächten gemeinjam die Garantie
der polnifchen Verfaifung zu übernehmen, wobei auf dem polniichen
Throne fein Glied eines der drei vertragichließenden Negentenhäufer
jollte erhoben werden. Als nad) dem Tode Leopolds zu Anfang
1792 Franz II. zur Negierung gelangt war, theilte derielbe jene
Konvention mit Preußen dem ruffiihen Hofe zum Veitritt mit.
Die Kaiferin lehnte den Beitritt in zwei Briefen von 12. April
und 2. Mai (a. ©t.) ab, und zwar weil die Nonvention jenen
geheimen Artitel in Betreff Polens enthalte, welder nicht nur die
von Nufland übernommenen Verpflichtungen, fondern auch die
feierfidhen Verträge vernichte, welche fie mit Tefterreich verbänden.
Daher behalte jich die Maiferin das Necht vor, direft mit dem
Aönige von Preußen eine befondere Allianz zu fblichen*).
Das war deutlic; geiprochen: Der Einfluß, den Tejterreich
in Warjchau gewonnen, pahte ihr jo wenig ale die neue Erb:
monarchie, und die Folge diejer deutlichen Sprache war, daß
Franz II. jchleunig am 14. Juli 1792 ein Bündnif mit Natharina
abicyloh, als Verlängerung der früheren Verträge auf 8 Jahre.
ehe der Vertrag mit Tefterreid) abgeidhloiien war, ließ
Entwurf zu einem Allianz-Vertrage durd) den
träger Alopäus auch dem Verliner Hofe zugehen**).
*) Martens, Neruei
**) Berliner Archiv.
408 Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlands.
€s handelte fich wefentlich um die polnifchen Angelegenheiten, und
Oftermann lieh mm bereits in der ftrengen Zurücdhaltung über
die ruifiichen Abfichten auf Polen etwas nad. Der Entwurf
werde, fo jchrieb er, den Berliner Hof über die Ziele aufklären,
die man im Auge habe. An Berlin fand man, dab der Entwurf
ein Abklatich des preußiichruffiichen Vertrages vom 12. Oftober 1769
und jehr annehmbar fei. Wan bevollmächtigte alfo Golg zum Ab-
ihluh fait ohne Nenderungen an dem Entwurfe, und jo fam denn
der Vertrag am 7. Augujt 1792 zu Stande. Es war eine
Defenfivallianz, die man gegen jeden Angreifer abihlof, die aber
einige geheime Artifel hatte, einen über Kurland und einen über
Polen. Nichts war hier nody über territoriale Eroberungen von
ivgend welcher Seite geäuhert; ce follten nur die alten Zuflände
in Polen und in Nurland wieder bevgejtellt werden. Als wejentich
wurde betont, daß die beiden fontrahirenden Mächte niemals
zugeben würden, da man einen andern als einen Riaften auf ben
polnifchen Thron exhebe, noch da Polen ein Exbreich, nad) abjolute
Monarchie werde. Indeifen war dod die Freundfhaft damit
wiederhergeitellt, nad) der man jich in Berlin fo lange Jahre
gejehnt hatte, und man durfte hoffen, da; Katharina ihr aegebeneo
Wort halten, Preufen zu feinen Entichädigungen für die Söldner:
dienjte in Franfreid verhelfen werde. Um diefe Entidädigungen
ging fortan die Sorge und das Ringen in Petersburg, denn dort
war man nad) wie vor dod) jehr abaeneigt, die polniice Beute
ich durd) den neuen Freund um mehr als das Allernothwendigite
türgen zu fajfen.
Ditermann hatte Holy gegenüber bereits am 17. Febr. die
vuifüichen Pläne dargelegi: Wenn das Werk des 3. Mai fichen
bleibe und Nonfiltenz gewinne, jo werde ohne Zweifel das mit
Polen verbundene Sachen eine Macht werden, welde den einzelnen
Nadybarn jehr unbequem werden fönne. Nufland wie Preußen
hätten dann eine Lange Grenze zu jhügen, Preuhen aber auferden
in Deutichland einen fteigenden Einfluf, vielleicht Togar ein Ueber:
gervicht Sachiens zu beforgen. Daher mühten beide Mächte fid)
über die Mittel zur Sicherung ihrer Grenzen verftändigen. Hier
war die Teilung zwar noch nicht Klar ausgejprodyen, aber man
wußte nun in Berlin, dah eine jolde in Petersburg vorbereitet
Zur Gejchichte der Unterwerfung Kurlande. 409
werde. In einem eigenhändigen md eingehenden Griah an die
ifter vom 13. März erklärt der König den wuifiichen Theitungs-
plan für das im preußiichen Intereiie Günftigfte und Wünfchens:
werthejte, vorausgejeßt, dal Preußen dann die Weichfellinie
befomme. Pan ging in feinen Wünjchen aljo ion weit über
die erjte Abrundung hinaus.
Vald aber wehte der Wind an der Newa wieder anders.
Augenicheinlid) hatte der in Ausficht jtehende Kampf der beiden
deutihen Mächte gegen Franfreid, Natharina auf den Gedanken
gebracht, da, wenn bie beiden dort im Weiten Groberungen
machen würden, jie von Polen nids zu befommen brauchten.
Und die Wirkung diefeo Gedanfeus war, dah Oftermann von
Teilung fhwieg und Nuland- für volltommen tmeigennügig in
den polnijchen Händeln erklärte.
Dian war in Berlin davon unterrichtet, dab Stadelberg
fehr eifrig für eine neue Theilung wire. An Wien habe das
Minifterium eben dahin zielende njtruftionen dem rufiiichen Bots
ihafter Grafen Najumowoti gemacht, auch den Grafen Gobenzl
beauftragt, den Petersburger Hof in diefem inne zu fondiren.
Wenn, wie Holt berichte, die Kaiferin juche, Ceiterreidh von den
Verhandlungen zwiichen Preufen und Nufland über Polen möglichit
auszuchließen, jo wäre das jehr umangenehm, da cs Wreufien in
Verlegenheit gegenüber den mit Tefterreid) getroffenen Abmadhungen
fegen mühte. Aber Katharina wünfchte nicht nur, Tefterreid in
Deutichland abzufinden, und zwar durch den baierifchen Tanich,
den fie in Anregung gebracht hatte, jondern hielt ihre Tpeilungs-
pläne Preußen gegenüber noch immer verborgen, während der
König immer heftiger nad) Entihädigungen verlangte je geringer
die Ansficht wurde, fie, wie Natharina wünfchte, im Weiten zu
erhalten.
In einem geheimen Artifel des ruf] terreichiichen Vers
trages vom 14. Juli hatten beide Staaten die Garantie der
polniihen Monjtitution vom Nahre 1773 übernommen. Troß
diefes Vertrages aber arbeitete Defterreich dem ruffichen Einfluß
in Polen entgegen, was Katharina allmählich immer ftärfer auf
die Seite Preußens bingedrängt hatte. In Berlin war man
unterdefien trog- des Vündnifjes gegen Franfreid für Defterreid)
410 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands.
faum befier geitimmt als früher. Im jenem Allianzvertrage mit
Tefterreih hatte man fi im Voraus die Früchte des Sieges
über die Nevolution zugefihert: Preußen follte mit polnifhen
Gebiete entjhjäbigt werden, Defterreih endlich feinen belgiich:
baierifchen Ländertaufch vollziehen. Denn mittlerweile hatte
Friedrich) Wilhelm im Eifer, die Abrundung gegen Polen zu
gewinnen, politiiche Wrinjipien bei Seite geworfen, für welde
Friedrich I. die Gritenz Preniens drangeiegt hätte. Er mar
bereit, Tefterreich den baierifchen Taufch vollziehen zu lafjen, dem
Friedrich durch die Gründung des Fürftenbundes entgegengetreten
war. Er war fogar einen Nugenblict bereit, Anspad) und Vaireuth
mit in den Nauf zu geben, wenn ihm die ganze Laufig für den
Fall des Erlöihens des fächfiichen Mannesjtanınes zug
würde‘). Sehr bald freilich fand er das von Tejterreich geäußerte
Verlangen nad) den Markgrafihaften denn dad jo empörend, daf
er diefen Handel für immer von fi wies.
Aber die großen pfer des franzöfiichen Feldzuges muhten
dod) irgend wie gefichert werden. Alto ward Golk in Petersburg
angewiefen, die Nothwendigkeit hervorzuheben, zu feiten Ansichten
für die preußiichen Entfhädigungen zu gelangen. Tftermann, der
vorfichtige wuifüsche Vize-Kanzler, fpielte lange den Gleichgültigen
und bemühte fich Tefterreih von allen Plänen auf polniiches
Gebiet abzulenken. Indefien war Solg doc überzeugt, da man
in Petersburg ehr (ebhajt wünjche, den Wan einer neuen Theilung
Wolens auszuführen. Und er hatte allen Grund zu di
nahme, hatte er doch ichon im Kebruar 1792 dem Könige Kopie
eines Billets der Natferin an Subow über den beabfichtigten Ein-
marjc) der ruffichen Truppen von der Donau in Polen überjenden
fünnen, deijen Schluß lautete: „Si lAutriche et la Prusse
g’opposent. comme il est vraisemblahle, je leur proposerai
ou dedommagement ou partage.” Alfo Katharina wuhte längit,
e wollte, fuchte aber den Handel Fühl und zurüdhaftend jo
als möglich für fi) zu geftalten. So hoffte fie denn auch,
als Preußen den franzöfichen Feldyug Degann, auf preußiiche
Siege umd in Folge derfelben mıf die Möglidfeit, nicht nur
*) Erfah an Golg vom 11. Sept. 1792, Poitfriptum.
Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlande. au
Defterreich, Tondern auch Preußen von Frankreich für ihre Mühe
entichädigen zu lajien*). As es mit den Ziegen nun aber nichts
wurde, da begann Friedrid Wilhelm um feine Entichädigungen
durch Franfreid) beforgt zu werden. Vollends als er feinen eriten
Feldzug unzweifelhaft mihglüctt jah, und, von dem eigenen tief
verlegten Ehrgefühl auf der einen Seite, von der lauten Entrüjtung
Katharina’s über die preußiihen Niederlagen andererfeits aufg
ftachelt, fh zu einem zweiten Feldzug drängen lieh: da jtieg feine
Ungeduld, wenigitens der polniichen Entichädigungen ficyer zu
werben, auf's Hödjte. Nicht mehr blos Danzig, Thorn, die
Palatinate Önejen und Naliich fordert er nun, fondern von Groß:
Kolen das Fand zwiihen Prenjen und Schlefien, und zu Anfang
Dezember 1712 läht er die Naiferin durch Golg willen, dah die
vorgeichlagene Entihädigung in Xolen eine unbedingte Voraus“
jepung jei für fernere Friegeriiche Mahregeln, die man von ihm
gegen Frankreich erwarte. Hier wurde in naivfter Weife einge
ftanden, daf; man fid von Katharina alo Geihel gegen Frankreich
brauchen Iaffe, aber dafür feinen Kohn auch von ihr fordere.
Gegen die Tpeilnahme Tejterreichs an der polniichen Theilung
waren beide Mächte hödjt eiferfüchtig gefinnt, was auf der ruffiichen
Seite wohl erfläcticdh ift, weniger aber auf der preuhüiden. Denn
wie fonnte man in Berlin 09 vorziehen, Dejterreih zu dem Gr
werbe von Baiern zu verhelfen alo ihm eine Vergrößerung in
Polen zu gönnen? Darauf aber fommt co hinaus, wenn ber
König am 7. Dezember an Golg jhreibt: „Id fange an zu
hoffen, da; die Naiferin von Nuhland, einmal gefihert gegen eine
weitere Vergrößerung des Hanjeo Lefterreich in Polen, feine
Schwierigfeiten mehr machen werde, meinem Plan einer Ente
ihädigung zuzuftimmen und ihn gleichen Schritt mit dem von ihr
genährten einer Abrumdung ihrer Grenze nad) der Ufrnine hin
gehen zu Lajfen.” In fo beiheidenen Grenzen meinte man in
Berlin alio nod) die Gebietserwerdung Auhlands geplant, fo gerecht
nad) den im franzöfiichen Nreuszuge gebrachten und zu bringenden
;peiche Ttermann’s an Wlopäus in Berlin vom 25. Tejbr.
„Dailleurs si Ventreprise
nablement sen flatter, il est
frais aus Puissanees qui ont tracaille
vonronmee de see
que la Franee tienne
412 Zur Geidichte der Unterwerfung Kurlande.
Opfern vertheilt dachte man fi die fommenden ruffiichen und
preußüchen „Entichädigungen” in Polen.
Unmittelbar nad) diefer Neufierung des Mönigs erhielt derfelbe
von Golg die Forderungen, welche Oftermann dem Gejanbten
endlich mitgetheitt Hatte, und welche durchaus von den Hoffnungen
des Nönigs abwichen. Während Preufien jene oben bezeichnete
Abrundung zu erlangen münfchte, begrenzt durch) einen von Gjen-
ftohau über Narva nach Soldau gezogenen Norden, forderte Nuh-
land für fd dao ganze Gebiet, welches von Polen durch eine
oiichen der Südfpige von Semgallen und einem Punkt an der
Grenze von Galizien gezogenen Yinie abgelvennt wurde. Der
Nönig hatte feine gegen früher erweiterte Demarfationolinie durd)
die Opfer für gerechtfertigt gehalten, weldhe durd) eine Erneuerung
des Ntrieges gegen die Revolution ihm auferfegt wurden. Nun
war er doc) überrajcht zu jehen, welche Forderungen Ratharina
ftellte, die bisher mur mit Worten den Arieg gefordert hatte.
„I ya de quoi en etre effrayd.” fhreibt er am 27. Dezember,
„mais ce serait tout gäfer que de montrer de opposition.“
Golg wird aufgetragen, nur noch den Fegen Landes von Polangen
zu fordern, welcher zwiichen Nurland und Preußen liege und dejien
der König bedürfe um einer fiheren Pofteinrichtung willen fowie
um überhaupt freiere Verbindung mit Nuhland zu gewinnen.
Aber man war mım in Berlin auf der Eiedehise angelangt, ver:
folgt von der brennenden Angit, dal man im Weiten Dannfchaft
und Geld ohne Nuyen geopfert habe und im Often das Nath:
wendige nicht erreichen werde. Wie war man da von dem Hohen
Glauben an preufiiiche traditionelle Nriegsfunit und Staatofunit
Dinabgejtürgt worden! Dan fühlte den Boden unter fich Ihmwanfen
amd taumelte in die Arne Natharina’s mit geringem Lohn und
noch weniger Würde.
Am 6. Januar 3 unterzeidinete man eine Deflaration,
in der nicht blos die Polen, iondern zugleich and Wahrheit und
Zelbftahtung eineo unabhängigen Staates preisgegeben wurden.
Dan hat id) damals vor Nufland tiefer gedemüthigt als ipäter
vor Napoleon; denn Ichlimm ift eo, fü vor dem Sieger beugen
zu mühjen, weit fchlimmer, um eines Vortheils willen vor einem
ichwaden Gegner den Nücen freiwillig zu frümmen. Man wagte
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurfands. 413
in jener Deklaration zu behaupten, die Polen hätten den heilfamen
Abfichten des ruffien Hofes Hartnädigen Widerftand entgegen“
gelegt, während man fie doc) felbit jeit 1788 in diefem Wiver-
ftande jtets unterjtügt Hatte. "War man durd die Gewalt der
Umjtände gezwungen, die Polen im Ctich zu laflen, fo brauchte
man dod) nicht bis zu dieiem Grade vor Natharina fd) zu
demüthigen. Wenn man am Bof zu Berlin vor folcdhem Ber
nehmen nicht zurüdjchredte, jo darf das gleiche Vetragen, welches
man dem damaligen Furifchen Adel gegenüber der „Echugöttin”
vorgeworfen hat, doch wohl milder beurteilt werden.
Preußen nahm mun mit Dank entgegen was Hatharina ihm
zu geben geruhte. Am 23. Januar 1793 wurde dev Vertrag
geichlofien, der im Grunde bereits das Dajein Polens beendeie.
Nachdem Stanislnus Auquit genöthigt worden war, der Nonföder
valion von Targewitich beizutreten, wurde der Neihstag zu Grobno
verjammelt, der unter dem Druct ruffiicher Warten die verlangten
Abtretungen an Kufland, und dann, nach heftigem Sträuben der
mit vollen Recht über Preuhen erbitterten Polen, aud) die Gebiets-
erwerbungen Preußens gquthieh. Die beiden Mächte hatten in
iyrem Abfommen den Beitritt und die Theilnahme Oefterreichs
an dem Landerwerb offen gehalten.
Bald darauf brad die Erhebung unter Jofef Ponintowsfi
und Stosciufchto aus, welde zur legten Auftheilung führte. Auf:
land warf diefe Erhebung mit blutigen Schlägen nieder mb
forderte dann dafür in den gleichzeitig beginnenden Verhandlungen
mit Wien bei einer dritten Theilung einen feinen Opfern ange
meifenen größeren Antheil an der Entichädigung. Naum war
Warfchau von Smvorom genommen worden, jo lieh Kailer Franz
durch Thugut in Petersburg feine Vereitichaft erflären, zur An
nahme der von Katharina vorgeichlagenen Bedingungen der Teilung.
Schon am 22. Dezember 1794 begann die Verhandlung zwifchen
dem Gefandten Grafen Gobenzl und dem Grafen Tftermann. Cs
handelte fih bier um den Beitritt Dejterreihs zur preußiich-
ruffiichen Konvention über die zweite Teilung, der fich Teit
veid) bisher hatte fern gehalten. Natharina hatte mit grafiem
Geihid die Feindichaft der beiden deutichen Höfe zu benußen ver:
jtanden, um die zweite Theifung mit dem einen, die dritte mit
414 Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands.
bem andern Theilnehmer gefondert abzuichliehen und jo ftels die
Ueberlegene zu fein, die großmüthige Pertheilerin der Beute.
Die Lage war wieder einmal fo, dah Nufland und Teiterreich
fi) verftändigten und auf den Beitritt Preußens warteten, denn
auf den eriten gemeinfamen Konferenzen fchon hatte der preußüüche
Gefandte Graf Tauenzien erklärt, die geforderte Heransgabe von
Krakau und Sandonir an Teiterreih verweigern zu müen. Als
am 19. Dezember die Verhandlungen den preufiichen Widerjtand
micht bredien fonnten, entichloh fd Natharina Furzer Hand, mit
Sciterreih allein abzuiclichen. Am 3. Januar 1745 trat Dejter-
veidh der preuhiich-ruiftichen Nomvention vom 23. Janıar 1793
über die zweite Theilung bei; ferner winden die Vedingungen der
neuen Theilung fejtgejegt; endlid) wurde in einer geheimen Defla-
ration vom gleichen Datum das Defenfivbündnih, weldes Nuland
und Dejterreid) gegen die Türkei geichloifen hatten, auf Preufien
ausgedehnt: ein preuhiicher Angriff auf einen der Yundeogenofien
folfte alle Nräfte des andern zu Hülfe rufen.
So war Preußen im Nampf mit den Aranzojen, von Dejter-
reich auf dem weitlichen Nriegoi—hauplag verrathen, in jeinen
polniichen Interefjen jchwer bedroht; eo erntete die feit Neihenbach
heranreifenden Früchte feiner darafterloien Politit. Und nun
geriet «9 jofort weiter in die Enge. Die elende, die frevelhaite
Nriegführung in Frankreich brachte der Nevolution mehr Brenn-
ftoff, als alle demofratiihen Jdenle und Phantaftereien ihr jemals
hätten bringen fünnen. Preußen hatte feine jchönen Nräfte in
einer unglaublich örihten Weite erihöpft, "hatte fich mit Oeiter-
reich wieder verfeindet, und als eo num mit Aranfreich den
Frieden zu Bajel ichloh, da muhte eo erleben, dah Natharina,
für die co Alles dienftwillig getban, in hellem Zorn fich gegen
Preußen erflärte. England hatte j—hon vorher, beiorgt um den
Ausgang dieeo Ihmählichiten ingens der deutjchen Seere, fid)
von Preußen ab und an Nuhland um Veiltand gewandt. Aber
Katharina verlor feinen Augenblid den Nopf in einer Zeit, mo
fanm eine Negierung in Europa mehr wußte wo ihr der Nopf
itand. Zie erflärte gemächlid, nicht eher ihre Dülfe gegen bie
frangöjiichen Nebellen aufbieten zu fönnen, als bio ihr nächter
Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 415
Feind, Preufien, niedergeworfen wäre”). In London und Wien
fieß man fd indejien doch nicht jo leicht irre machen, jonder fchlof;
am 20. Mai einen defenfiven Alianzvertrag genen Frankreich ab.
Die nad) Abichluh des Baleler Friedens von Preufen her
vermehrte Gefahr bewog Thugut, dem Hathe Natharinn’s nad)
gebend, in die Vittheilung des ruftich-öfterreichiichen Theitungs
vertrages vom 3. Januar 1795 an Preußen zu willigen. Maum
war dies im Auguft geichehen, fo fiel König Friedrich Wilhelm
von dem Stoß nd) der andern Seite hinüber, platt in die Nebe
Katharine's, Er willigte mit einer geringen Einfcränfung in die
Abtretung von Nrafau und Sandomiv, welche Sebiete er lange
als nothwendig zur Sicherung Schleiiens gegen Ceiterreich für fich
gefordert und bereito beieht hatte. Co gelang endlich den ruhen
Bemühungen, die Iheilung nad) Katharina’s Willen durdhzuiegen:
in einer Deflaration vom 24. Oftober 1795 trat Preußen unter
den angegebenen Einjchränfungen in Bezug auf Nrafau und Heine
Grenzänderungen der dritten Theilung bei.
Inzwiichen war auch das Schidjal Kurlands herangereift.
Der öfterreihiich-ruifiiche Vertrag vom 3. Januar 1795 hatte die
neue ruffiiche Grenze bereits von Schlod nach Polangen verlegt.
28. März entagte Herzog Peter feinem Herzogshut und im
6 huldigten die Stände der neuen Stantomadıt.
Ih Habe eine Darftellung diefer Vorgänge fin nöthig
gehalten, einmal um dem Lefer der nachfolgenden Auszüge die
äußere politiiche Yage in Erinnerung zu bringen, in der fich Nurland
vor dem Untergang feiner Selbftändigfeit befand; ferner aber
aud) deshalb, weil diefeo Spiel der drei Mächte um die polnische
Maus höcit Ichrreich ift für denjenigen, der die furifchen Vor
gänge jener Zeit aus ihrer Zeit heraus gerecht zu beurtheilen
wünscht. Nur jelten hat cs große politifche Fragen gegeben, auf
deren Lölung fo wenig Blut und fo viel Tinte verwandt wınde,
als auf die Verfpeifung von Polen. Und in diefem diplomatischen
Kampfe wiederum find nur wenige gewaltiame Mittel der Art,
*) Depeiche Oitermann's an Oraf Nafumowsfi vom 2. April a. St. 179%
bei Martens, Necueil.
416 Zur Gefcichte der Unterwerfung Anrlande.
wie fie fonjt wohl üblid waren, 5. DB. weder offener noch geheimer
Mord, in Anwendung gefonmen; aber um fo mehr alle Mittel
der Lüge, der Untrene, des Betruges. Und vielleicht trug hierzu
bei, dal; die Führung, die meiterhafte Führung diefer Sache
in der Hand eines Meibes ag, welches zwar Hunderttanfende
feiner Unterthanen ohne Velinnen im Nriege opferte, aber fich
body auf jeine geiftige Wafie mehr verlieh alo ein Mann an
feiner Stelle gethan hätte.
Fit nun diefes diplomatiiche Spiel von Standpunkt privater
Morat aus als hödhjt unmoraliid zu bezeichnen, und find zu
andern Zeiten große politiihe Rämpfe zwar nicht ohne Xüge, aber
doc) mit mehr Nitterlichfeit erfolgreich durchgeführt worden, fo
jeigen die einzelnen Vienjchen, joweit wir fie auf jener Schaubühne
bemerfen, nod) weit deutlicher einen fittlihen Charakter, der ben
Anforderungen unferer Generation nicht genügt. Co war das
Zeitalter der Auftlärung, der Auflöfung der alten geiellichaftlichen
Eitte, die vorwiegend äußerlid war, durch Filtliche Vteinungen,
die mehr verneinend alo innerlich feitigend wirkten. Der fittliche
Wert ;. B. eines Voltaire it Faum Höher zu achten als der
Ludwig XIV. Ferner war trog der häufigen Nriege der materielle
Erwerb überall vorgeichritten, hatte aber der ungünjligen fiant-
lichen Stellung der unteren Nlaffen nicht nur in Kufland und
Polen, fondern verhältniimähig aud in dem damaligen Rultivirten
Europa, vorzugsweile nur wenigen, und darunter bejonders den
Fürften geofe Neichthümer zugeführt. Das Wohlleben von Verfailles
ober Dresden duftete nod) in allen fürjtlihen und adligen Winfeln
mach, und die leichten Sitten der Höfe waren aud) zu tieferen
Schidyten der Völker eingedrungen. Näuflichteit im Streit der
politiichen Interefen war daher ein jehr verbreitetes Uebel. Sahen
die meiften Fürjten in diefer Zeit deo niedergehenden Abjolutiomus
die Staatsgeihäfte zu erheblichem Tyeil ale periönfide Geld-
geichäfte an, jo war der Private um jo cher bereit, aus der
Politit eine Anjtalt Gelderwerb zu machen. Talleyrand ftien
um diefe Zeit zur Berühmtheit auf durch feine diplomatijchen
Talente und war für jeden Fäuflich; in Deutichland gab es jelbit
am preufiichen Hofe Keute wie Ynchefini, und die Heinen Staaten
wimmelten von Politifern, die bereit waren, jich ihre Meinung
Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 47
bezahlen zu lafen. Es Fam hinzu, daß nod) das nationale Prinzip
in einem Halbihlunmer (ag. Der Wahnfirn, welder als nationaler
Abjolutismns in der Nücfichtolofigkeit feiner Selbjtfucht in nichts
dem ärgfien füritlichen Abjolutismus früherer Zeit naditeht, follte
erit im Gefolge der revolutionären Völferbefreiung geboren werden.
Noch fochten große Generale bald in dem vaterländiichen Deere,
bald in dem gegnerifchen, nod) boten Diplomaten ihre Dienfte
dem Stante an, der fie am beiten bezahlte, mod war cs in
Deutichland nicht anftöhig, ich gegen deutiche Mächte mit Jeder:
mann in der Welt zu verbinden. Damalo war Katharina II.
jehr mächtig, und man eilte in Dentichland kann weniger als in
Kurland fie zu vergöttern. Friedrich II. jelbit, freilich in bedrängter
Lage, Hatte Ruhland in die deutichen Antereifen hineingezogen,
indem er die ruffiihe Garantie des Teihener Friedens und
mittelbar jogar des weitphäliichen Friebens annahm und aud)
fonjt dem ruffiihen Einfluh in Deutichland die Wege ebnete.
Auf dem Neichstag von 1781 rief Nurtrier geradezu Nuhland als
Bürgen des wejlphälifhen Friedens an. lo Katharina beim
Beginn des baierihen Erbjolgeitreites fi zur Veihügerin der
bentichen Neichstagsverfaifung aufıwarf, meinte ein deutfcher Politiker:
„das feien twöftliche Ausfichten für die Verfajlung, Freiheit und
Nuhe Deutjclands.”*), Nod ärger wurde die nationale Würde,
das nationale Einheitcbewutfein preisgegeben zu den Zeiten des
Aheinbundes, und zwar nicht allein von den Fürjten, jondern auch
von den Unterthanen derjelben.
An Aergiten wohl jtand co mit der öffentlichen Vloral in
Polen, zu dem Kurland alo dem Lehnsjtaate gehörte. Dort war
vom Nönige angefangen Alles Fäuflidh bis auf ein paar Dlänner,
die nicht in den vorderfien Reihen jtanden. Man tobte für
nationale Ehre und verfaufte fie jederzeit ımd an Jeden. Der
Staat wurde jeit Jahrhunderten vom Adel ebenjo geplündert wie
die Bauerihaft. Und diejer zügelloje und glänzende Adel war
Herr und Vorbild für den Adel von Nurland. Co war unmöglich,
dai; nicht etwas von den Sitten und Anidanungen ber Polen
nad) Nurland hinüber gefidert wäre. Dazu fameıi die eigenthümlich
unglüdjihen Zujtände im innern diejes Landes, wie fie bejonders
*) Häuffer, Deutiche Sejcichte.
418 Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlands.
feit 1711 fid) entwicelt hatten, und auf die wir mın einen furzen
Rücblit zu werfen haben.
Dis Heute ift in Kurland die Grinnerung an die jÄweren
Zeiten der ichwediich-polniichen Nämpfe des 17. und 18. Jahı
hunderts im Volfsmunde nod lebendig‘). Was der tüctigite
feiner Herjoge, Jafob, in mühevoller Sorge geihaffen hatte, ging
meift wieder zu Grunde ter der Lait fhwebiicher Durchzüge,
ichwediicher Offupation und Nriegsbeiteuerung. Sein Cohn,
Herzog Friedrich Naftnir, war ein prachtfiebender Herr, ber die
berzogfichen Landgüter mit Schulden belaftete, und jo war, als er
im Janıtar 1698 ftarb, die wirthichaftliche Yage des Landes feine
blühende. Sein Erbe war ein Nnabe von 6 Jahren, und cs
brach jofort eine Spaltung in der Regierung des Landes aus,
die von da ab, in den Perlonen und Kormen wechjelnd, fait
ununterbrochen bis 1795 das and nicht mehr zur Nuhe fommen
fie. Um die Vormmmdfchaft des Bringen ftritt die Mutter,
Elifabeth Sophie, die fi) auf ihren Föniglihen Bruder in Berlin
ftügte, mit dem Schwager Ferdinand, der fid) an den polnifchen
Lehnoheren Yuguft den Starken hielt; um die Negierung jtritten
der Oheim Prinz Ferdinand, die Schwägerin und das nad) den
Gejegen dazu berufene Viinifterium der Oberräthe. Prinz, fpäter
Herzog Ferdinand feble bio an feinen Tod in Danzig, verzehrie
dort feine Einnahmen und lieh feine Anfprüde und Vortheile von
Warfhau aus fügen. Jm Lande aber jtanden jeit Ausbruch
des Nordiichen Ariegeo wieder die Schweden, und 1710 wüthete
die Peit. Die Heirat) deo Ixjährigen Prinzen Friedrich Wilhelm
mit Anna, Peters von Nufland Nichte, die glänzende Pochzeit in
Petersburg, an deren Folgen der junge Herzog nach wenig Tagen
itarb, dao brachte Alles wenig Velerung in die Lage, fondern
nur eine neue Macdhthaberin mehr, die Wittwe Anna, und den
ruffüichen, fangfam fich auobreitenden Einfluß. Co gab es mm
mehr eine ganze Schaar von Gewalten, die im Lande haujten:
Herzog Ferdinand, der polnifche Yehnsherr, der polnische Reichstag,
Wittwe Anna, und endlich der Furiiche Adel mit icinen Freiheiten,
» Man hört z. 8. im
Sipmeden“ oder „Bat; Sahwedu
er noch den Mi Des Schredens „Sott's
Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 419
feiner Armuth, feinen Aniprüchen und jeiner in diejen Wirren
wachfenden Bedeutung. Die Schweden gingen, die Nuffen famen,
und als aud) dieje 1713 das Land geräumt hatten, lagen ich
Herzog und Adel bereits jo in den Naaren, das die polniiche
Lehnsmadht eingreifen muhte. Die polnische Stommilfion von
1717 entichied fo, dahi die Gewalt bes Herzogs jehr gefchmätert,
die Willfür des Adels nad polniihem Mufter neträftigt wurde.
Und mm fam noch die Frage nad Bejegung des Herzogituhles
binzu, welche für den Fall des Todes Herzog Ferdinands und des
damit bevorftehenden Ausfterbens des Kettleriihen Mannesftammes
entidieden werden mußte. Cs Famen die Prinzen alle, die Aurland
für einen „guten Bilfen“ hielten, die Morig von Sadıien, Sadyien-
Weihenfels, Brandenburg, Medlendurg, Württemberg, Holitein,
Heifen- Homburg, Heffen-Raffel, Menichikow*) unk wie fie ont
beißen mögen, die mit oder ohne die Hand der Mittwe Anna
ih danad) jehnten, unter diefen herzoglichen Hut zu fommen.
Am gefährlichiten aber ichien die Yehnsmacht Polen felbjt zu
werden, als fie durd) einfache Vernichtung des Yehnsverhältnifies
die Cinverleibung Rurlands in Polen in's Auge fuhte. Ieden
Prinzen hätten die Etände Nurlands lieber gewählt, als Dielen
Verluft der Selbftändigteit hinzunehmen, das Aufachen in einen
Staat, der in Nationalität, Kirche, Geichichle, Zitten ihnen fremb
und gefährlid, war.
Von jener Zeit ab, jeit 1727 etwa, da eine nene polniiche
Kommiffion den Landtag zwang, ih zu verpflichten, niemals einen
Herzog zu wählen, ijt die Drohung einer polniihen Einverfeibung
eigentlich niemals mehr von dem Lande gewichen und hat von
Anfang an und fehr weientlich dem ruffiihen Einfluß die Bahn
geebnet. Wie der fchwediiche Drud Yivland und Ejtland von
Schweden abwandte und zufegt in die ruifischen Arme brachte, jo
der pofnifche Nurland. Un die Sebftänbigkeit haben die Provinzen
bis zufegt gerungen.
Vorerit bei der Erhebung Ernit Johann Biron’s zum Herzoge
zeigte fich diefe Wirfung der polniichen Werluche. So abgeneigt
man im Lande grade diefem aus nicht fürjtlichem, nicht einmal
*) gl. Serappim, Gefd). Lior, Eit- und Surlands.
420 Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlands.
zum furiichen Adel gehörenten Stamme entiprofienen ruhen
Machthaber war, jo erfeichterte jeine Wahl grade der Umjtand,
dal das Yand oder der Landtag bei Aufland Schup gegen bie
polnijhe Inforporation zu finden hoffte. Trogdem hielt ber
polniiche Neihstag an diejem lan jowohl in Nüciicht auf Kurland
als auf das jüfularifirte und alo Adels-Oligardhie in Freiheit und
Zufriedenheit fi verborgen haltende Visthum Nurland, fpätere
Stift Pilten feil, und verfuchte ihn jebesmal durchjufeßen, fobalb
der Herzogitubl frei zu werden veriprac. Bejonders lebhaft
winden dieje Winiche nach voller Verihmelzung, als 1791 der
Reichstag glaubte fi der ruffüichen Gewalt ganz entwindeu zu
Tonnen und gegen die Einverleibung weder in Preußen noch in
Aufland Widerftand befürchten zu mühen. Er irrte freilich wie
in vielem Anderen jo auch hierin; damalo war nicht nur Nufland,
fondern aud Preußen diefem Plane fehr enticieden Feind, denn
and Ddiefe Mächte wünichten im Grunde daifelbe wie Polen,
nämlich auf irgend eine Weife Kurland für fich felbft zu gewinnen.
Auch fand man in Verlin rechtliche Bedenken gegen die Infors
poration Denn als der preußifche Nefident Hüttel von Mitau aus
feinen Hof auf die Gefahr der Antorporation aufmerfiam machte,
bielt man diejen Man in Verlin deshalb für jehr unwahriceinlicd,
weil er gegen den Vertrag von Oliva verjtoße*). Die Inforporation
aber war und blieb das am jchledhteften gewählte Mittel der
ofen, Nurland an fi zu feileln.
Einen Herzog hatte man nun wohl jet 1737 wieder; aber
wie der vorige in Danzig, jo lebte der neue in Moskau, wo er
den Mosfauer Staat zu regieren ih mühte, und feit 1741 fogar
in Zibirien, jeit 1742 in Jaroslam in der Verbannung. Das
dauerte bio 1758, und jo darf man jagen, daf; feit dem Tode
Friedrich Najimir’s im 3. 1698, aljo 60 Jahre bindurd, Nurland
ein Hergogthum ohne Herzog war, ein Zuftand, der feinem Lande
heilian gewefen wäre und in Nurland ehr chlimme Früchte trug.
ad der Verfaffung regierte in Abweienheit des Herzogs das
Kollegium der Cberräthe, oder in heutiger Sprache zu reden, das
Kabinet der vier herzoglichen Wiinifter als geordnete Negentichaft.
*) Vortrag der Viinifter vom 14. Mai 1791, Berliner Archiv.
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands, 421
Aber dieje „älteren Brüder“ waren als Glieder der Nitterichaft
ftets mehr geneigt ihrem Stande, als ihrem Herzoge zu nüßen,
und in diefen 60 Jahren befeitigte fi dieje Neigung jo jehr,
dab bio an das Ende des Herzogthums der Fürft in größerer
Unfreiheit feinem Nabinet gegenüberftand, als heute etwa ber
Monarch eines parlamentariid) vegierten Landes. An der Stelle
des heute minifterjtürgenden Parlaments jtand in Nurland damals
der Landtag, und der Landtag war die örperichaft des Adels,
der dem Lande mit Einjhluh der freilich unbedentenden und
wenigen Städte verfaflungsmäßiig feine Gejege gab, was in
Nücficht der Städte erit 1774 durch Abidhied des polniichen
Reichstages abgeändert wurde. In einem parlamentariic regierten
Staat unferer Zeit findet der Kürft in dem Weamtenthum und
dem Heer wenigitens meit fräftige Stügen: in dem herzoglichen
Kurland jener Zeit waren alle Aemter bis auf die vier Ober:
bauptleute als Cberrichter in den vier Hreifen, die vier Oberräthe
als Minifter, und die Hofämter, in der Hand des wählenden
Mdels, und die Nriegsmacht belief fd auf etwa 700 Gardiiten.
&s war eben faum mehr als eine Adelsrepublit, und dieje jtolzen
Goelleute hatten feineswegs Unrecht wenn fie, nad den wirklichen
Umjtänden urtheilend, den Herzog für nicht mehr als den eriten
von ihresgleichen anerfennen wollten. Hatten fie dod aud ihm
die Aufnahme in ihre Mörperihaft erit gewährt als er, ein
alfmächtiger ruffücher Günftling, das rufftihe Neid regierte.
Von zwei Seiten her ward in diefem Adel mit feinen durd Die
Verfajlung, d. d. die Negimentsformel und die Statuten von
1617 ihm icon gewährleifteten Freiheiten das Streben nad Erz
weiterung berjelben immer wieder angeipornt: von dem
Neichstage, der jeit lange an der Unterwerfung der föni
Gewalt arbeitete, und von Nußland ber, das bejonders jeit
Kutharina’s Thronbeiteigung bald den Herzog gegen den Mel,
bald den Adel gegen den Herzog in feinem Antereffe verwandte.
Vorläufig hielt Zarin Glifnbeth den Herzog in Jaroslam
gefangen und willigte 1758 in die Wahl eines andern fi
an feine Stelle, des Prinzen Karl von Sacjien, der in den vier
Jahren jeiner Negierung trog vieler Widerwärtigfeiten dod) ver:
Hältnigmähig icnell Wurzel im Lande fahte. Die jtarte Partei,
122 Zur Sejchichte der Unterwerfung Rurlande.
welche er alo Prinz von Geblüt ımd Sohn des Iehnsherrlichen
Hauies um ih gefammelt, war aber dad) nicht jtarf genug um
dem wachienden rufiihen Einfluß die Spige zu bieten, als 1761
‘Peter der Dritte den ruffiihen Thron bejtieg und fofert, wie in
Rubland jo ud) in Kurland feinen holjtei preufiichen Neigungen
folgte. Ein rufftiher Generaladjutant überzeugte die Mehrheit
des Landtages, dah Narl von Sadien als Natholif nicht für das
proteftanttiche Yand paife, dafi Ernit Johann der rehtmähige Herzog
fei, dab; diefer feine Nechte dem heim Peter’s, Prinzen Georg
von Holitein-Sottorp, abgetreten habe und aljo diefer preuftiche
General zum Herzog zu erwählen fei. Die Vedingungen der
Wahl follte der Yandtag feitegen, Nuizland werde jeinen Schug
und der König von Preußen feine Garantie der Wahl gewährleiften*).
Rod) che die Wahl zu Stande fam trat an Peter’s Stelle Katharina,
und zu ihren eiligiten Staatogeihäften diefer Tage gehörte «6,
jowohl Narl von Sachien alo Georg von Holitein bei Seite zu
ihaffen und rnit Johann Piron wieder einzulegen. Das gelang
ihr denn aud troß des Wideritandes des Herzogs Karl und feiner
Anhänger im furiichen Kandtage vermöge der Anwendung mili:
tärifcher Machtmittel. Dan darf jagen, daf Diele jpätere Beherriderin
der enropälfchen Politit ihre Thätigkeit auf diefem Gebiet in
Nurland begonnen hat. Nebenher fing denn nun auch der ruffiche
Nudel an, feine Kraft zu erproben. Natharina hat überall ein
gut Theil ihrer Erfolge der rücjichtslofen Verwendung von
Mienichenleben und Geld, aud zur Vejtehung, zu verdanfen
gehabt; hier aber lag ihr dieles legte Mittel ganz befonders
nahe zur Hand, da fie ohne badeutende Ausgaben aus dem
eigenen Züdel, mır mit den zahlreichen Landgütern freigebig zu
fein brauchte, welche als Nettleriicher Nadılab jegt das herzogliche
Domanialgut ausmacte, aus dem die Ausgaben Tomohl des
Ztaates als des Fürften beitritten wurden.
[5 berzogliche Domanialgut oder Yehngut war jehr groß.
&o waren all die Güter, welche ehemals von dem Deutichorden
nicht verlehnt, fondern in eigener Verwaltung behalten,
gung Kurlands mit Nuhland. „Baltifche
Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlande. 123
dann, nad Aufhebung des Ordens, an Herzog Gotthard Kettler
und jeine Nachfommen im Lehm gefallen waren. Ju diefen Yehn-
gütern waren von den Herzögen neue Güter als Ntettleriicher
Allodialbefig hinzu erworben worden. Die legten Kettlers hatten
viele diefer Güter pfandweile an Edelleute und Bürger verlehnt,
und dieje verpfändeten Güter wurden af Betreiben des Adels
durd) das Allodififationsdiplem von 1776 definitiv vom herzoglichen
Zehn abgeihieden und den derzeitigen Inhabern zu Allod über:
lajfen. Wenn man nun erwägt, daf nad) Ausjterben der Kettlers,
aufer jenen 1776 allodifizirten Yiegenjchaften, wohl einige Güter,
wie Irmlau, Grendjen, Mefothen, Neubergfried, aus dem Yehn
ausichieden, um in den Vefig von Privaten oder der Nitterichaft
überzugehen: da auch mehrfach, bedeutende Güter, wie Grenzhof,
Fodenhof, Nubenthal durch Donation Natharina’s und ihrer Nad)
folger von dem Yehn abgeichieden wurden, aber meineo Mifieno,
feine Güter jeit der Unterwerfung von der ruffichen Negierung
hinzu erworben wurden; dah troßdem biefer von Herzog Peter
auf den ruffiichen Staat übergegangene und jtarf geihmälerte
feudale und allodiale Bejip heute noch fait den dritten Theil des
ganzes Yandes ausmacht: jo ergiebt id) ein für die Größe des
Herzogthums und zwar ohne das Stift Pilten — allerdings
gewaltiger, in der Hand des Herzogs liegender Grundbejig. Und
derjelbe war feineswegs von geringem Ertrage. So berechnet
3%. der preufiiche Winifterrefident Hüttel im 3. 17
wenn die Nachteile bejeitigt würden, welche aus der
furijchen Konvention von 1783 dem Yen wie dem ganzen Lande
vermöge des Zwanges, die Erzeugnife eineo Theiles des Landes
über die Zollgrenze von Niga zu verfciffen, erwacien feien, die
Einnahmen aus dem Lehn um 40 bis 50,000 Tufaten jteigen
würben.
Nun hatten jich jeit dem Nordiichen Kriege die wirthichaft:
lichen Verhältniife des Yandes wieder gehoben. Der Landbau
lidy*), die Ausfuhr über die beiden furiichen Häfen
war bedeutend, che jene unfelige Konvention von 1783 die Furiichen
*) Hierfür price die Angabe Hüttels, da das dem Herzog gehörige
Altopinkgut Mürzan jährlich 25,000 Tufaten trage.
12 Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands.
Häfen zu Gunjten Kiga’s arg ihädigte. N den wenigen Stäbten
und auf dem platten Yande hatte ein zahlreicher, vorwiegend
niederdeuticher und platt vedender Handwerferitaud fd) angejebt,
und wenn and trog wiederholter Anläufe, die im Widerfpruc zu
der Negimentsformel, dem Grundgeieg des Yandes, einge:
fchmuggelten Juden des Yandes zu verweilen, id) doch eine völ
Vertreibung derjelben nie durchführen Lich, To ift, wie cs fheint,
exit unter Herzog Peter dem erjten Juden der Aufenthalt in Pitan
förmlich geitattet worden“). Aber trob diefes Fortichreitens der
Gejammtheit gebradı es dem jid) mehrenden Adel an Erwerb und
Unterfommen auf dem ihm nad) der Sitte der Zeit nun einmal
zufagendeu Voden des Yandbaueo oder des Stantsdienites. Die
Mehrzahl des Adels war arm und geneigt, jeine große politische
Vlachtjtellung zu eigenem Nugen zu verwenden. Und alo der
Som Ernjt Kohann’s, Herzog Peter, jeit 1786 begann, die Lehnz
güter, ftatt fie wie bishin zu mäigen Preifen an Gdellente zu
verpadhten, in große Defonomien zuiammenzulegen und dur,
Veamte zu verwalten, beichränfte er damit die Nahrung des Adels
wiederum beträchtlich. Der Adel tagte bei der Tberlehnsherricaft.
&5 begann damit der Nampf zwiiden Herzog und Adel um die
Wiederherjtellung der alten Ordnung, der erit 1793 durd eine
Kompofitionsatte zu Guniten des Adelo entichieden wurde. Ein
Rampf, in dem Eigenug, materieller Gewinn beide Zeiten leitete,
die Berechtigung wirklichen Bedürfniifes aber ohne Zweifel auf
der te des Models lag, und in dem auf beiden Geiten die
politifche Nugheit nicht zu ihren Nechte fam. Denn diefer Menge
der armen Ghelleute fand ein Herzog gegenüber, dem «6 dad) vor
Andern oblag, perfönliche Wortheile hinter politiiche Pflichten
qurüctveten zu laifen, um jo mehr ale er ein jehr reicher Fürft
war. Obwohl Herzog Peter bei und nad) feiner Abdanfung im
lange nicht voll für feine Allodialgüter von Katharina
ädigt wurde, blieb er immer noch fehr reich. Seine Töchter
nennt ein nenerer Schriftfteller die reichiten Erbinnen des damaligen
Europa*’). Sowohl Ernjt Johann als fein Sohn Peter verjtanden
*) Rady mündliche Meberlicferung.
**) Walijgemsti, autour d’un tröne.
Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 425
65, Schäge zu jammeln. Glängende Schlöfier entitanden in Aurland,
die von ihrem Neichthum zeugen, und daneben fonnte Ernft Johann
die Herricaft Wartenberg in Schlefien*), dann Herzog Peter um 1785
Sagan und Friebrihsfelde bei Berlin und 1792 Nadyod in Böhmen
taufen. Beide mochten an die Wöglicpfeit benten, dal; fie ihr Herzog:
thum verlieren könnten, und brachten die eriparten oder ermorbenen
Gelder in Preußen in Sidjerheit. Aber je mehr befonders Herzog
Peter für die Zukunft feiner Töchter zu jorgen juchte durch foldes
Sparen im Lande nnd Anlegen im Auslande, um fo jtärfer wurde
ihm zum Vorwurf gemacht, daß er dao Geld aus dem Lande
jiehe. Und man fann cs biefem armen Abel faum verbenfen,
daß er einem Fürften hart entgegen trat, der fein Land wie ein
Pacıtgut für Lebenszeit behandelte und wiederholt auf dem Sprunge
itand, es mit gefüllten Sädel für immer zu verlaifen. So trugen
nicht nur die perjönlicen Motive des Cigennuges auf beiden
Zeiten, jondern aud) die ungfüclihen, einer äußeren Umwälzung
zutreibenben politischen Verhäftniffe dazu bei, dab Fürft und Stände
vielfad, außerhalb des Yandes ihren Interefien nachzugehen juchten
und damit den Mächten in die Hand arbeiteten, die längit fid)
in den Befig diejes Landes zu jegen wünichten.
Der Adel wurde durd Armuth, Kriegsiuit, Tradition nach
Preußen gewiefen, wie die benachbarten Livländer und Ehjtländer
ihr Glüc in Nußland zu fuchen pilegten. Die Söhne von Ebel:
leuten und Bürgern bezogen deutfche Univerfitäten, viele Anaben
wurden auf deutiche Schulen geididt. In Schaaren traten junge
KRurländer in fremden Dienft, vornehmlich in Preußen, fochten in
den Nriegen Friedrih's des Großen mit und jtanden ınter
Friedrich Wilhelm 1. und IN. im Zivil wie im Kriegsdienft bie
in den Anfang diejes Jahrhunderts hinein**).
Die nahen Beziehungen zu Preußen waren jo alt als
Vreufen und Kurland jelbjl. Won dem Deutjchorden wurden beide
*) Der Herzog nannte
Sojchüg‘
geweien
h feitdenn „Herr zu Wartenberg, Bralin und
ip habe nicht feittellen Tönmen. ob Goichüy je in feinen Wejih
=*) Bei einer Durcreife Friedrich Wilpelm’s IM. dur Hitau (wohl im
3. 1818) follen nach einer Meberlieferung, fid) an 120 Aurländer dem Könige
vorgejtellt haben, die in preußiichem TDienft tanden oder geitanden hatten.
426 Zur Seichichte der Unterwerfung Rurlande.
Länder folonifirt, unter ihm jtanden fie gemeinfam, bis Preußen
5 polnüiches Fehnsherzogthum ward. Wenige Jahrzehnte ipäter,
1, folgte Nurland deifen Veilpiel und befam die gleiche Ver:
fallung mit Herzog, Oberräthen und Landtag, wie fie in Preußen
bejtand. Sogar die Handlungsweie des erften Herzogs von
Kurland war derjenigen leider jehr ähnlich, durd welche Albrecht
von Brandenburg fih Preußen gewann, Wie der Herzogshut
von Preußen der Preis war für den Untergang des großen
Ordensjtantes, fo der Herzogshut von Nurland der für die Unter:
werfung des Livländiicen Theites diejes ftolzen Yaues unter das
polnifche Szepter. Was der Hochmeifter getan, das that mun
auch der Landmeifter von Livland. Das Bisthum Kurland Fan
fogar, nachdem cs jäfularifirt und zum Streis Kilten geworben
war, für furze Zeit in den Pfandbefih des Markgrafen Georg
Friedrich von Yrandenburg. Preußen wie Nurland waren zu
gleicher Zeit proteftantiich geworden, und als Preußen mit Brandens
burg vereinigt wurde, jegten fih die Beziehungen fort durd)
wiederholte Verfchwägerungen der Fürftenhänfer. Der große
Kurfürft und fein Schwager Jakob von Nurland jtanden beide in
Waffen gegen Schweden, jener freilich mit Glüc, diefer zu feinen
Unheil. Beide wetteiferten im Streben nad Kolonieen, nad)
Scchandel, nad Induftrie. Der Nınfürft machte den Verfuch,
durch die Heirath eines feiner Söhne mit einer Erbtochter der
Kadziwils das ungeheure Landgebiet diejeo Geichlechts zu großem
Theil an feinen Stamm zu bringen und damit dauernden Einfluß
auf den der Lehre Calvin’o folgenden Theil von Litauen zu
gewinnen, welcher an das proteftantiice Nurland grenzt*).
Friebrih 1., Nönig von Preufien, beiuchte feinen Schwager
Friedrich Rafimiv in Grobin, und beide haben den Ruf ihrer
‘PBradhtliebe hinterlafien. Nach Ausiterben des Kettlerihen Drannes-
ftanımeo um 1737 fuchte Preufien einem der zahlreichen Vettern
des verjtorbenen Herzogs den Furiichen Herzogshut zu verichaffen,
was freilich nicht gelang. Friedrich der Große bemühte fich, dem
Umfichgreifen des ruffüchen Einfluifes entgegenzutreten, was ihm
ENT
Geigichte", Wo. IN.
jiemann in „Forihungen zur Brandenburgiihen und Preuh.
‚Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands. 427
wohl aud) gelungen wäre, wenn die Erhebung des preußifchen
Generals Georg von Holftein Vejtand gehabt Hätte, von der oben
die Rede war. Aber im enticheidenden Augenblid forgte Katharina
eilig dafür, dah, wie ein vuffticher Schriftiteller jagt, „wir recht:
zeitig Preußen zuvorgefommen find und mit der Einverleibung
Kurlands auf der Tjtiee jenes Ucbergewicht extangt haben, das
diefes Heine Herzogifum demjenigen feiner mächtigen Nachbarn
geben mufste, der zuerft fi in ihm feitiegte”*). Und in der
That fcheint zwei Dial dieies Zuvorfommen gegenüber Preufen
eine enticheidende Holle in der ruifiichen Bolitit in Nücficht auf
Rurland geipielt zu haben. Wie Natharina 1762 den zwiiden
Peter 11. und Friedrich dem Grofen geihloffenen Qertag zu
Guniten „ihres eigenen Herzoge“, Viron, umftieh, jo rangen
Katharina und Friedrich Wilhelm 11. vom Tode Friedrich's I. an
um Kurland bis zuleht, und als die Enticheidung zu Gunjten
Ruflands fiel, da wurden die Schritte Natharina’s wejentlid)
von der Sorge beichleunigt, dab Preußen durch den Herzog oder
deffen Erben im Yande Boden gewinnen fünute. Denn aus
„unferm eigenen Herzog“ war unterdejfen ein Freund Preufiens
geworden, über defjen Undanfbarfeit die Haiferin ebenjo entrüftet
war, als fie mit Verachtung, Widerwillen und Spott diejen ihrer
fenrigen und groß angelegten Natur unfpmpatbiichen, Fleinlichen,
höfgernen Fürjten betrachtete.
Diefes Ringen der beiden Nachbarn ipiegelt fih lebhaft in
den Norrejpondenzen 5 mit feinem Hofe, die ich weiter
unten auszugsweile veröffentlicde. Denn dieje Jahre von 1790
bis 1792 waren für das Schidjal Nurlands die enticheidenden,
weil fie für die gefanmte Politit Preußens gegenüber Ruhland
enticheidend waren.
Nachdem Ernit Johann im 3. 1769 abgedanft hatte, war
ihm fein Sohm Peter zwar im Herzogthum gefolgt, jah fich jedoch
von Haufe aus im danernden Bejig feiner Stellung bedroht *").
*) Mofiolom, zitirt von Bilbaffow a. a. O.
**) Schon um 1767 hatte Stanistaus Anguft jeibft den Wunfih gräubert,
feine unbequeme und unficere polnifche Arone gegen den Herzogshut von Nurland
für ich und feine Famitie zu verrauichen. (alinfa, Der wi voimiiche Neichstag.)
428 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlanbs.
Erit trat im Lande jelbit wieder die Nandibatur des vertriebenen
Herzogs Karl von Sadjen hervor; dann gelüftete es einige
Jahre jpäter dem Fürften Potemfin nach dem Herzogthum.
Potemfin, der einzige Mamı unter den Areaturen Natharina’s,
der ihr über den Mopf gewachien ift und den fie fürchtete, mochte
88 nicht jhwer werden, die Jarin für jeinen Plan zu gewinnen,
und jo lieh fie in Marichau die Abdanfung Peters und die
Wahl des Günftlings betreiben. Bald aber wurde diefer Plan
wieder fallen gelaifen, mm, wie es jheint, einem andern Kandidaten,
dem Sohne Natharina’s Grafen Bobrinofi, Naum zu geben).
Aber auch diejer verihwand wieder, und jeit im. 1790 der
einzige männliche pro Herzog Peter’o geitorben war, traten in
den Vordergrund alo die nädjften von Natharina in’o Auge ger
fahten Anwärter auf den Herzogoiuhl die Söhne des Prinzen
Karl, des jüngeren Bruders des Herzogs; alo älteiter der Prinz
Suftav.
Von aufen duch dieje wiederkehrenden Spekulationen
Ratharina’s auf fein Herzogthum, jowie durd) die jeit Eröfinuug
des langen Neichotages in Warihau im I. 1787 immer ftärfer
Hervortretenden Gelüfte Polens nad) Aufhebung des Herzogthums
und völliger Einverleibung Nurlande bedroht; im eigenen Lande
perfönlich mifiachtet, gehaht, dachte Herzog Peter zu Zeiten an
Abdanfung. So 1785 und 1786 zu Gunften des Prinzen Ludwig
von Württemberg **), der ja Natharina verwandtiaftlicd nahe
fand; dann, alo ihm ein Sohn geboren wurde, 1787, ließ er
diefen Plan fallen und warf ih nun dem Hofe in die Arme,
auf welchen ihn die Tradition Nurlands hinwieo und von welchem
allein er nod) Schuß erwarten Fonnte. Sowohl Friedrich der Grohe
als deijeu Nachfolger beeiferten ji, den Yerzog an Preußen
zu feileln. Jriedrid) Hatte mod) furz wor jeinem Tode den
Herzog und deilen Semahlin in Berlin mit auszeichnender
Freundfhajt empfangen; die großen Befipungen in Schlejien, der
furiiche Palaft unter den Linden zu Berlin **), das Schloh
*) Bericht Hüttels aus Pereroburg vom 1. Juni 1780.
*r Hütte a. a. C.
”r) Die heutige ruifiidhe Vorihaft, I. d. Yinden Kr. T.
Zur Gejchichte der Unterwerfung Aurlands.
Friedrichsfelde — Alles das lieh vermuthen, daß Herzog Peter
es vorziehen Fönnte, Vafall Preußens zu werden, als länger die
biffigen Angriffe zu ertragen, denen er von allen Zeiten ausgeiegt
war. Bejonders jo lange er hoffte, jeinem Sohn das Herzogthum
zu hinterlaffen, war ev, und mehr noch die Herzogin Dorothea,
bemüht, in Berlin Schup zu finden. Als der Prinz 1790 geitorben
war, drängte fidh die Sorge herbei, das Herzogtfum einem fünftigen
Schwiegerjohne zu fihern, und diefen Schwiegerfohn hofite wahl
Preufen aus feiner Sippe zu jtellen. Vor Allem aber wünjchte
Peter für fh und feine vier Töchter den Befip an allodialen
Gütern in Sicherheit zu fehen, der ihn in Verbindung mit der
gewaltigen Maije der Yehngüter zu einem der reichften deutjchen
Fürjten machte. Vorübergehend dachte man an eine Heirath feiner
ältejten Tochter Wilhelmine mit einem preufifchen Prinzen; dann
tauchte ernitlicher der Plan auf, fie und das Herzogthum einem
Neffen des Nönigs von Preußen, Friedrich, jüngiten Prinzen von
Dranien, zuzumwenden. Der Plan hing mit der ganzen damals der
Krifis zutreibenden Politif Preußens eng zufammen und fcheint
befonders von den beiderfeitigen Müttern, der Herzogin Dorothea
und der Fürftin von Orauien, Gemahlin des Statthalters der
Niederlande und Schweiter des preußiihen Königs, mit Eifer
betrieben worden zu jein. Wir werden aus den Berichten Hüttel’s
feben, wie dur eine Jndiofretion im Haag die Verhandlungen
geitört wurden und Natharina zlett auch diejen Ausweg zu ver
legen wuhte. Bor di and aber war um das Jahr 1790 die
immer Ichärfer fi zufpigende Haltung PBrenfens zu dem ruffiichen
Nachbar wohl geeignet, den Herzog in der Hofinung zu feiligen,
durch) einen fiegreichen Nrieg Preuhens fich aus allen Schwierigfeiten
gerettet zu jehen.
Die Anlehnung des Herzogs an Preuen und die damit
verbundenen Heirathepläne hatten eine ge Wirkung auch auf
die inneren Zujtände Nurlands. lo der Herzog im Veginn von
1787 nach zweijährigen Neijen nad) Nurland heimgefehrt war,
Hatte er gefunden, dah die nach der Verfailung in feiner Ab:
wefenheit regierenden Diinifter fh mancerlei Cigenmächtigfeiten
auf feine Koften hatten zu Schulden fommen laffen. Die vom
Herzog eingerichteten großen Tefonomieen waren aufgelöft, eva
430 Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlande.
60 Lehngüter an Gegner des Herzogs bill
die Schuld des Yehn’s, die vom Herzog af 73,000 Thaler Alb.
war herabgemindert worden, hatte man ducd) freigebige Outsfäufe
une andere Vergünfligungen einzelner Edelleute auf fait eine halbe
Million gebracht. Die zum Witthum der Herzogin bejtimmten
Hüter Bershof und Ziegelhof hatte man dem ruffüchen Nefidenten
Meftnacher arrendefrei überlafien *). Außerdem Hatte der Yandtag
fich das Necht angemast, feine Zigimgen ohne Zuftiimmung des
Herzogs oder der Negierung, einfeitig von fih aus anzuberaumen
und zu „Limitiren“, wodurd er fich der herzoglichen Macht ganz
entzog, und Anderes mehr. Der Derzog faifirte Alles, was die
Hegentichaft beichlofien Hatte und gab damit den Anjtoh zu dem
Prozeh vor den Nelationsgerichten und den Keichstage zu Warichau,
der erit im. 1793 beendet wurde und deilen gewaltige
Koften der Herzog am Ende bezahlen muhte. Zeit aber Preußen
mit dem Plan umging, ich die Auriiche Erbiehaft durd eine
Heicath zu fihern, lag es in feinem Intereiie, das herzoglice
Lehn, das Erbe des fünftigen Herzogs, nicht ihmälern zu laffen,
und der Sejandte in Warfchau ward angewielen, aud in diefen
Händen den Herzog zu unterftügen. Damit trat num Preußen
in Gegenjag zu dem Furiihen Adel, deiien Antereiie gerade hier
in Ddiejer Frage won Nahrung und Erwerb bejonders groß; war.
Wie Mieitmacer, jo nugte nah ihm Nüdmann als vufliicher
Nefident jtets erfolgreich diejen Gegenfab aus, um den Adel von
Wreufen abzulenfen und fich mit einer ruffiichen Partei zu umgeben.
Beide vergahen fid) felbft dabei nicht, denn Nücdmann fieh ich
ipäter ebenjo wie Mejtmacher mit Gütern anoflatten. Co if
wohl zu beaditen, daß in diefem Nampf der prinzipielle Vortheil
anf ruifiiher Seite lag. Denn während PBreufen zu erheblichem
Theil private Intereffen, die Mitgift der Brinzeffinnen, welde
nad) ‘Brenfen follten verheirathet werden, habgierig vertheidigte,
trat Nufland, eben jo Habgierig, dod in weit höherem Grabe
für politiiche Ziele ein, indem co diefelben Güter, nad) denen
man in Berlin lüftern war, freigebig dem Adel anbot alo Lohn
und Sold für Dienfie und für ruffiihe Sefinnung. Wollte
verpachtet worden;
*1 Nichter, Gelb. ber Ditieeprovingen I, Th. I, p. 21.
Zur Gefcichte der Unterwerfung Aurlands. 431
Freuen feine Grenzen, oder au nur feinen Giufluh dur Er
werbung von Nurland oder durch Erhaltung jeiner Selbjtändigfeit
erweitern, jo mufzte co nicht nur den Herzog, jondern aud) den
Adel zu gewinnen fucen. Das war denn auch eine der Herrn
von Hüttel geftellten Aufgaben; aber dann durfte man nicht
zugleich für die Geldgeihäfte des Herzogs eintreten, nicht Geld:
ipefulationen für die eigene Tajche nachgehen, die auf Nojten der
Interejfen des Adels gemacht warden, jondern muhte e6 eben
madjen wie Natharina, die fremde Güter gern fortgab, um
fremde Länder zu gewinnen. Die Politik Friedrich Wilyelm’s
war fleinlid), die Natharina’o groß, jene war unficher, dieie feit,
fo auf diefem feinen Schauplag wie auf dem großen, wo während
fait der ganzen Anweienheit Hüttel’s in Nurland die beiden Nachbarn
bereit jchienen, endlich doc nod) von Worten zum Schlagen überzugehen.
Die Korreipondenz zwilchen dem Verliner Hof und Goly in Reters-
burg giebt das merhvirdige Wild eines diplomatiiden Nampfes,
der nur allzu jehr der Striegführung des Herzogs von Braunfchweig
in Franfreid) gleichficht. Wie Braunichweig dort mit Vlandvriren
die Franzofen befiegen wollte, jo meinte man hier mit Noten und
Truppenaufitellüngen Katharina gefügig madjen zu fönnen. Aber
wie die veracdhteten Jafobiner fih durch die tiefburddachten Wläriche
des Gegners nicht bepwingen ließen, jo lag das noch weniger in
der Art Natharina’s gegenüber Drohungen, deren geringe Trag-
weite wohl durchjichaute. Die Nanonade von Dlalmy wieder:
holte fich hier in anderer Form.
Als Preußen am 7. Augujt 1792 den Vertrag in Petersburg
ihloß, der die Konititution von 1701 ummwarf, und mit bem co
fid) auf den ruffiichen Voden gegenüber den Polen jtellte, glaubte
5 nod) Nurland als abgeiondertes Fürftenthun vor dem Echidial
Polens bewahren zu fünnen. In einem geheimen Artifel diejes
Vertrages heit eo:
„Les deux Hautes Parties eontractantes s’interessant
ögulement ä In tranquillitö de ka Courlande et sonhaitant
d’&carter tout cequi pourrait Valterer. sont convenues et
eonviennent par le present Article. de maintenir ce Duche
dans V’etat, qui lui a et& assigne par les Diettes de Pologne
anterieures a l’epoque de Tannde 1758 et garantie par a
4
132 Zur Gefcdichte der Unterwerfung Nurlands.
Cour Imperinle de Russie. et de ne point permettre quil
y soit döroge sans leur aveu et consentement....."®).
Ich jche feinen Grund anzunchmeh, dah Katharina andere
Pläne auf Aurfand ihon damals hegte, al in dielem Bertrage
fid) Tennzeichnen: fie wollte in Nurland befehlen, aber nicht vegieren,
und hielt an dem Prinzen Guftav als Nachfolger feit. Aber
offenbar hatte Preußen durch diefen Artikel ein Recht als Garant
der damaligen Verfaflung Nurlands erworben. Wollte Katharina
sulegt doch veine Sache machen, Nurland einverleiben, fo lag die
Wahricheinlichfeit vor, dab Preußen proteftiren oder eine Ent-
idjädigung verlangen werde, was denn auch deutlich in verihiedenen
Grlaiien des Königs aus der folgenden Zeit und endlich aud) in
der Inftruftion QTauenzien’s von Juli 1794 angedeutet üit,
in welder derjelbe Rufland an der Erwerbung Kurlands, und
insbejondere des Yibauer Hafens auf jede Weile zu Hindern den
Auftrag erhielt.
Inzwiihen drängte man in Petersburg von Yaufe aus,
nachdem jener Vertrag eben geidhoffen war, Heftig gegen den
preußüchen Einfluß in Nurland. Am Dezember 1792 weilt Ofter
mann jedes Cingreifen Preußens in die furiichen’ Dändel, zu dem
«5 dod) durch jenen Artifel des Vertrages berechtigt war, fir
urüd und fordert die Mbberufung Hüttelo aus Mitau, welchen
er zur Ueberraihung des preußifchen Gejandten einen grofien
Theil der Schuld zur Lajt legt an dem Streit zwifchen dem Herzog
und dem Adel**). Umd während Preußen von jeher darauf aus:
gegangen war, die Nechte des Herzogs zu ichügen und zu mehren,
um dadurd) die Möglichfeit geordneter Zuftände wieder herzuftellen,
fepte Katharina die Nompofitionsafte vom 18. Dezember 1
dur, die den jeit 1787 zwiichen Herzog und Apel tobenden Streit
zu Sunften des Adels entichied und ungefähr eben jo haftloje
*) Diefer Mtifel, der, fo viel id) jehe, bisher unbeadhtet gehlichen it,
bejtätigt Die Bermuthung Wilbafjow's, def Nutbarina mit der Cinverleibung
Nuelands durch freiwillige Unterwerfung ciwaigen preuhiichen Eimwünden vor
beugen wollte. Usbrigens bemerfe üb, dab bi den yitaten Bilbaffon's aus
dem Perliner Archiv der Auhalt wmeift richtig, die Tatirung oft falidh und Die
Rummsen der Berichte fters falich Find.
+, Colt, Bericht vom 21. Teyamber 17
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 133
Zuitände im Lande fchuf, wie fie unter ruifüicer Leitung in Polen
berichten. Die adligen „Äreiheiten“ waren in Polen wic in
Nurland die Bürgicaft für Unordnung und Schwäche, deren man
in Petersburg bedinfte. Co war dh) nicht Freiheit, jondern
Anarchie, was man förderte und fügte. Die rufjiiche Garantie
diefer reformirten Verfaflung blieb fir urland nicht aus, wie fie
feit 1775 für Polen war errichtet worden, und danıit war Katharina
auch der Leitung fher. Was Stadelberg chedem in Warfdau,
das war Nücmann in Mitau.
Der Abichluh des zweiten Tpeilungsvertrages jtand unmittelbar
bevor. was Preußen zu einer angjtvollen Sorge veranlafte, Natharina’s
Wohlwollen zu bewahren. Die jchroffe Ablehnung Oftermann’s,
über die furiichen Angelegenheiten überhaupt zu verhandeln, wurde
mit dem Entihluß des Nönige beantwortet, die Sache ruhen zu
laffen, „da bei den gegenwärtigen wichtigeren Negoziationen man
nicht zu viel Gewicht auf einen Gegenftand von jo geringer Be-
deutung legen“ dürfe”). Und obwohl Holy weiter meldet, dah
man in Petersburg Nurland bereits wie eine abhängige Provinz
aniche; dafi er zu bemerfen glaube, wie man fih dort zu idämen
beginne der in Nurland begangenen Gräuel („horreurs“), jo
bleibt der König dabei, dab man die furiihe Sache vorläufig
mühe ruhen fafien. Er behalte fih jedod vor, zu gelegener Zeit
darauf zurüczufommen, da das Benehmen der Naiferin gegen
den Herzog bis zu Maflofigfeiten (extremites) getrieben worden
jei, die mit dem geheimen Artifel des Allianzvertrages nicht ver:
einbar feien **).
Zwei Tage nach dieiem Erla des Hönigs, am 23. Januar 1
werde der zweite Theilungsvertvag in Petersburg unterzeichnet. Am
28. Janıar wınde das Abberufungsichreiben Hüttel’s nad) Mitau
abgefertigt. Diefe on war beendet, die Furiiche Sache, wenn
auch nur „vorläufig“, fallen gelaffen.
Ernjt von der Vrüi
3.
Januar I
« Jannar I
*) Erlai an Goly vun
»>) Ela an Sol vom
434 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
AUnszüge
aus der Rorrejpondenz des preußiichen Nefidenten Hüttel in Mitar
mit feinem Hofe, Towie aus andern Alten des preußiicen Geh.
Stnats-Archivs, betreffend die Angelegenheiten Nurlands in der Zeit
von 1790 bis 179
Der preufüiche Kinanzrarh Karl Yudıwig Düttel war jeit 1766 mit geringen
Unterbredjumgen bei der preufiichen Gejand in Petersburg angeftelt, von
feinen Vorgeiegten wegen feiner genanen Nennimiffe der Verhätimihfe am ruffifchen
Hofe jehr geihäbt, und bei dem Groffürften Paul in Gunjt ftchend. Auf
Unterlegung Herpberg’s wurde er am 27. September 1790 vom Aönine als
Geh. Yepationsrath für den Poiten eines Nefiventen in Mitan, mit 4000 Thl,
Gehalt und 1 Th. Noften der Meberfiedefung. auserichen. Die Aniteltung
genad zur Veobadptung der Bewegungen der Nuffen, unter dem Bormande, mit
Kurland cin Kartell Gerzuitcilen und in Ucbereinftimmung mit dem Wunfche des
Derzogs von Aurland.
Zur Orientirung des neuen Nejidenten opt der Minifter Dertberg demfelben
in einem Briefe von 30. Oktober I790 in Lurgen Siriden die politiidhe Lage
Preußens dar: Er, der Minifter, hoffe auf einen Frieden zwilden den Haller:
mäczen und der Korte auf Grundlage der preufiichen Loridhläge; cr hofie auf
Erwerbung von Danzig umd Thorn mit wuifliher Hilfe. Dadurch werde cr
wielleiht noch getröftet werden men Vertrag, den man ihm in
Reichenbach zu Ächliehen geywungen Habe, umd die ungeheuren Achler, die man
dort gemacht Habe, würden weientlich verbejfert werden. Cr bofle anf eine Alianz
der Türkei, Prenfiens, Polens, Schweoens, um Nufland zum Srieden auf Grund
de5 status quo zu bringen. Er Hoffe aud auf eine englilc-holländiiche Hülfs:
flotte von 30 Sa Hundertsaufend Mann unter dem Herzog von Bram:
fomweig würden gegen Nuhland vorgehen.
An 11. Zamwar 1701 wird d’Urreft zum Sefreiären bei der Mitauer
Kogation ernannt,
Ablürzungen: 9. 3 Nejlript. 9. = Hüttel,
1. 8., 9. Jan. Ankunft 9.5 in Mitan am 4. Januar;
am 7. Audienz beim Herzog in Würzau; 9. bittet um Sendung
der Nreditive.
2.3, 12. Jan, enthält Angaben und Tabellen über bie
militäriichen Verhältmiile Nuflande.
R. des Könige, 21. Jan. Der Nönig findet in jenen An
gaben die Vejtätigung, daß Nuhland Vorbereitungen gegen
Vrenfen treffe.
Zur Sejchichte der Unterwerfung Nurlande. 435
3. 3. 20. Jan. Offizielle Audienz beim Herzoge.
4.2, 23. Jan. An: legten Donnerstag habe 9
Antrittsoudieng beim Herzog gehabt und die Areditive überreicht.
erfährt vom Herzog, da Preußen auf privatem Wege den
Herzog um Verfauf von Roggen und Hafer gebeten habe, was
der Herzog zufagte. Dies wird geheim gehalten, um das Mih
trauen Nuhlands nicht zu weden. In Neval und Nogermpt
eine ruffüiche Flotte ftationirt worden, größer als im Xorjahre.
3.3, 27. Jan. Zoltyfow, Chef der Truppen in Linland,
jei in Niga angefommen; unter ihm jollen Dolgeruti, Jgelftrön,
Numfen, Michelion jtehen.
6. 8, 30. Jan. In Riga werden eilig Kanonen-Schaluppen
gebaut.
7.3, 3. Febr, berechnet die ruiflihen Streitkräfte in Liv
lano auf 15--16,000 Dann, in Weihruhland auf 20,000 Mann,
jo da miht mehr als 35 -40,000 Mann bier unter Soltyforo
gegen Preußen jtchen.
8. 3. 10. Febr. Da der Herzog nur mehr das Haupt als
der Sonverän der furländiichen Ariftofratie fei, jo wäre es müglic,
wenn das NMinifterium durd ein Schreiben die Negierung in
Vitan von der erfolgten Affreditirung &.'s beim Herzog in
Kenntnih feste. Man jehe von Seiten des Adels icon icheel auf
ihn und wittere eine Unterjtügung des Herzogs gegen die Ritter:
ibaft. In Waricau jei die Inforporation von Pilten wieder im
Gange, die für Preußen wegen der doppelten Grengälle nad)
theitig wäre. bittet darüber um Inftruftion.
9. 8, 13. Febr. Die Prinzeffin Marl Yiron intriguire in
Warjchau, um ihren Kindern die Zueceffion zu fihern. Sie juche
auch) in urland unter den Unzufrieenen Anhang zu werben und
werde von dem ruffiihen Mlinifter unterftügt.
10. 3., 20 Xebr. Aus den Vorbereitwugen der Nufien
ichtießt D., daß fie nur an eine Defenfive denfen. Den lan
der Düna anzufertigen habe er dem Grafen von Trucr, Kapitän
im (Gefolge des Herzogs, gerathen, umd zwar unter Beihilfe des
Grafen Kteyferling-Vlieden, Fönigl. Nammerherin. Er habe dem
zum Kommandirenden der an der Grenze fih fammelnden
preußiichen Truppen ernannten General Henfel allerlei Ausfünfte über
436 Zur GSejcichte der Unterwerfung KRurlands.
die Wege zwifcen Libau und Mitau geliefert. Er Habe empfohlen,
Scyrunden als Depot leidht zu befeitigen. Dann fönne Frauen:
burg als Entrepot dienen, und in Mitau werde der Herzog das
Schloii gern zum Depot hergeben. In der Stadt Habe der Herzog
das zum Theater dienende Gebäude ausräumen lafien, damit der
König darin die Munition unterbringen fönne. Unter der Hand
lofie der Herzog foviel Setreide mahlen als möglid, md Faufe
‚Hafer auf, der billig jei. Die Yajt von 60 Lof zu
In Riga hervihe Unordnung, General Numjen jei unzufrieden.
11. 8, 24. Febr. Der Yandtag habe ji) verfammelt.
Die Streitpunfte feien: Trennung des Allod’s von den Yehn-
gütern; Yimitation des Yandiages. „Antrigante Yeute md joldhe,
deren Juterefie eo üt im Trüben zu filhen, wie z.B. der Herr
von Heyfing in Warichau, jhüren das Feuer der Zwietradt und
die Nuifen biajen gleichfalls hinein, weil fie unter den gegen-
wärtigen Nonjefturen nicht wagen, in Nurland Die deipotiiche
Sprache zu führen, deren fie gewöhnt waren id) hier zu bedienen,
und suchen ihren Einfluß durch Ermunterung der Unzufriedenen
und Ausiweuen der Zwietracht zu erhalten.” Cr warne den Adel,
den günftigen Augenblid nicht zu verläunen, um fh dem durch
die Konvention von 1783 von Nufland dem Yande auferlegten
Jocje zu entziehen. Man jei in Sorge wegen dev MWarjcaner
Planes, Pilten und jpäter Nurland zu inforporiren.
8, 27. gebt. Die turländiihe Nitterihaft habe die
Erlaubniß erhalten, ihre Sadje vor dem Neichotage in Waridau
zu vertheidigen. Der Herzog Ditte um NAnweilung an den
preußiichen Gefandten in Warichau, dal er den Einfluß; paralvfire,
den Heyfing über Graf Votodi erlangt habe‘) Hüttel unterftügt
die Bitte, weil Heyfing einer der Pfeiler Nußlands in diejem
Lande jei. Er empfiehlt, um die Nurländer zu gewinnen, deren
Wunjh nad Aufpebung der verhafsten Konvention von 1783 durd)
Golg**) in Warihan zu umterftügen. Herr von Bolten, ein
*) Sana; Poiodi, Aronmarihall und ein Kührer der patriotiic-liberalen
Heformpartei
”*) Arieorid, Aerdinand Graf von der Colt,
Seichäftsträger von 179m bis Ende 1791 dan 0
deffen Aufenthalt in
sionscanh, vertrat als
Luchini während
Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande. 437
aufgeflärter Mann, der eben nach Warjchum gehe, fei bereit die
Satpe dort zu betreiben, wenn Golg ihm unterjtübe.
In einer Nahichrift berichtet 9. im Erfüllung eins»
Vefehles des Nönigs über den Hof des Groffürften Paul in
Petersburg Folgendes: Die „linison* zwiiden dem Großfüiten
und Fräulein Nelidow habe bei 9.’ Abreiie aus Petersburg
fortbejtanden. Sie fei von Seiten des Prinzen eine Art plato-
nifcher Liebe, zu der der Prinz von
einer andern Perfon neigte. Der Grohfürft fei für Preuhen beifer
gefinnt als die Grohfürtin, auf die Frau von Venfendorif einen
ihlimmen Einfluß übe.
13.8, 3. März. Die Hufen Haben bei Kreugburg ein
Lager für 18,000 Mann abgeitedt; an der Cwit werden Schanzen
aufgeworfen. Nuffiiche und prenfiiche Offiziere erfunden das Land.
Einer der fegteren, Napitän von Thnmen, vathe, in Goldingen
ein Entrepot anzulegen. In Niga gehe der Yau von Schaluppen
wegen Mangel an Material nicht recht vorwärts. Die anfommenden
Nefruten jeien Anaben von 14 bis 15 Jahren; das Negiment
Re un daher nad) Empfang von 300 Nefruten nur 400 Dann.
8,5. Mär, Die Nuffen fahren fort die Grenze zu
MEN werfen bei Schlod zwiichen Aa und Meer Nedouten
auf. In Warfchau agitire Prinz Karl dafür, dah dns Teftament
Ernjt IJohann’o umgejtoßen werde. Die Herzogin bitte um An-
weilung an Golg, dahin zu wirfen, daß Benling von der Mitt
ichaft aus Warichau abberufen werde. Yenking jei jehr gefährlich;
er reihe feine Auftraggeber weit über ihre Abjichten hinaus fort.
Am 4 März babe 9. fein Affreditiv bei dem Yandtage auf der
Kegierung abgegeben.
Privatbrief
augenscheinlich an
des fegteren vom 1 Februar:
„Agreez. monsieur le comte. mes remereiments tr
humbles de ce ae Vous avez bien voulu me confier au
sujet de een eis de suecession”. Herberg’s ‚der,
bei Potemfin den Beitritt zu dem Plan der Abtretung von Danzig
und Thorn zu betreiben, halte er für ausfichtstos. „Personne
ne saurait etre plus persunde que je ne le suis du peu de
5 vom 5. März 1791, ohne Aufichrift,
1 gerichtet al Antwort auf 2 Briefe
438 Zur GSejchiehte der Unterwerfung Kulande.
Profit que nous portera une guerre avec la Russie. J'en
eongois tous Jes risques. J'ai constamment souhaite que
nous ne nous commettions pas trop avec cette puissance.“
Gleich nad dem Neichenbader Vertuage hätte man Natharina
gewinnen fönnen, indem man ihr eine Lermittelung wegen
Dtihafow anbot. Jebt, nachdem man ohne Najt gegen Rufland
gearbeitet und die Mihftimmung der ftolzen Katharina verdoppelt
babe, werde jedes Entgegenfommen von preußüicher Seite mit
Vorurtheil aufgenommen werden. Natharina würde eo für Schwäche
halten, würde ihr Yemühen, Preußen zu ioliren, verdoppeln; für
fange jei an eine Umfehr Nuhlande zu Guten Preußens nicht
zu denfen. Prenfen werde durch eine Schilderhebung allerdings
nicht viel gewinnen; aber ein großer Theil der Ausgaben für die
Nriegsvorbereitung fei gemacht; die preufüichen Truppen befigen
nod) die alte Energie, Preußen habe ausgezeidhnete Generäle.
„La Russie au contraire est &puisee. ses mesures portent
Y’empreinte de son blissement interne. son militaire ne
saurait se comparer au notre. Dans le eveur de cet Empire
il fermente un mecontement general. En frappant de grands
eoups vigoureux nous aurons bien des chanees en notre
faveur. et pour peu que la fortune nous seconde. nous
reussirons au moins A mater cet ennemi redoutable. ä
diminuer son influence . et raffermir nos allianees.
J’avone que dans la situation actuelle des choses ces raisons
me semblent de Ia plus grande foree. et si d’autres plus
preponderanfes «dussent nous defendre de les accepter pour
rögle de notre dötermination. je gemirais sur lavenir qui
nous attend“. - In den Verhandlungen mit Schweden hofft
9, dei die preuhiihen Anerbietungen über die Verfprechungen
des General Pahlen fiegen werden. Der Baron Arenjeldt jtebe
in ruffichen Solde.
3, 13. Mär. Der Berzog fehide dem Herrn von
Mardefeld in Warfhau einen Nechtogelehrten zu Dülfe; der Adel
Ädjiete als dritten Delegirten Grotthuh. Er, D., werde von der
Herzogin jehr gewandt unterftügt. Cr beklagt fid über den Herzog,
„dont Ja marche tantöt brusque, tantöt timide gate les
meilleurs eauses.” Howen arbeite mit Drohen und Veripreden
Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlands. 439
für Anhland. Alle Melt gebe den Drud deo ruilifdhen Noches
zu, Niemand aber wage die Stimme zu erheben. Dennoc) bemerfe
er eine Unruhe bei dem ruffiichen Minifter wegen der Möglichkeit,
dab man zulegt gegen die drüdende Konvention von 1783 reflamire.
Er beeifere fi) die Aufmerfiamfeit der Geifter auf die innern
Streitigkeiten zu richten und biejelben mehr und mehr zu ver-
wirren. Der nad) Warichan geiandte dritte Delegirte Grotthuß
joll nebenbei Heyfing füberwadyen, dem viele Leute anfangen zu
mißtrauen.
16. 3,, 16. März. Vei Witebsf werden ebenfalls Schaluppen
gebaut. Die Bejejtigungen längs der Düna find nichtsjagend,
blofie Ausbeijerung ichwediicher Schanzen. ©. bittet den Nüönig,
den im preußiichen Dienft ftehenden Nurländern einige Zeichen
feines Wohlwollens zu gewähren, was gut auf die Verwandten
wirfen werde. Er jebe fidh mit Herrn von Kölferfahm im äuferften
den von Nurland in Verbindung, um Nachrichten über die
ruffiichen Nüftungen zu erhalten. Den Nornauffauf in Semgallen
haben die Nuffen plöpfid) eingeftellt. In Moskau follen Unruhen
ausgebrochen fein infolge der Neftutirungen; dort ftehe der
Dufaten bereits über + Nbl. Papier, der holländiiche Thaler
über 2 Rubel.
R. vom 25. März billigt den Plan 9.6, den Frieben
zwiichen Herzog und Adel zu vermitteln. Die furifhen Stände
hätten den Herren von Wolff nadı Berlin geidiet um zu erwirfen,
dal; Goly in Waricau nicht gegen fie arbeite, worauf er in
Berlin eine unbeftimmte und nichtefagende Antwort erhalten Habe.
17. 3., 19. März. Besborodfo ijt nad Moskau geichict
worden wegen der dortigen „revolt aber die Dosfauer bleiben
bei ihrer Erfürung, dab das Land ruinirt werde, wenn der Friede
nicht geichloffen und neue Auchebungen angeordnet würden. Die
Pringeffin NApollonia Viron intriguirt in Warfchan heftig gegen
das Tejtament Ernjt Johann's und den Familienpaft von 1771.
Da der Herzog mu drei Töchter habe, jo macht fie für ihre Söhne
Anspruch auf die Nachfolge in Wartenberg, Berlin und Goldüg.
Nac einer beigefügten Nechmung hat Prinz Karl jet 1771 im
Ganzen erhalten 277,833! 3. Rh. Die Herzogin wird am 5.
April nach Warihau reifen um der Schwägerin entgegenzuarbeiten.
5.
410 Zur Gedichte der Unterwerfung Rıurlande.
A, 28. März. Golg berichtet aus Warihan, da die
furiiche Niterihaft „est eflarouchde de Votre apparation A
Mitau, et eraignant mon appui trop influant pour le Due
suivait plus que jamais Fimpulsion du Ministre de Russie
et commengait ä parler d’une soumission totale a la Russie”.
18. 3, 26. März. Verjchiedene militäriihe Nachrichten.
Man spreche beim Grafen Brown in Niga von einem
Vorfhlage zur ITheilung Polens, der von Preußen dem Wiener
Nabinet gemacht worden fei, was eine ftarfe Erregung in Warichau
hervorgebracht habe. — Howen erhist die Gemüther gegen die
Heife der Herzogin, welche er beichuldigt, die Binger gegen den
Adel unterftügen zu wollen. Cs jei richtig, dah der
Gunften des Würgertfums zu neigen icheine, „moins
eonvietion que par raneume-. Aber er, D., glaube, dal die
‚Herzogin nicht derjelben Anficht jei. „En effet. Sire, je regarde
cette marche comme mauv: ceque je trouve
les pretensions des bourgeois et outrees. de
K’autre parceque ce n'est pas la hourgeoisie en corps. mais
seulement les legistes et les marchands qui les forment.“
Auch follte der Herzog fih nicht qründlid) von dem Adel trennen,
defien Mitglied er durch feine Alodien fei. Die Nitterihaft
fönnte ganz auf die Seite des Prinzen Narl gedrängt werden.
N, 4. April. Wenn der vulfiihe Minfter, wie 9. berichtet
habe, meint, dah die preufiichen Truppen feinenfalls Auhland
angreifen witrden, jo Fönne er deifen nicht jo ficer fein; „du
moins jusqu’iei mes vues sont plutöt guerriöres que
pacifiques“. 9. Tolle dem Herzog und der Herzogin rathen, den
Adel nicht zum Aeuferiien zu treiben. — 5 Gerücht von einem
neuen preußiichen Theilungsplan jei eine jcredlihe Lüge, die der
öfterreichiiche Minifter erfunden und verbreitet habe, und die dur
König feierlich Habe dementiren lajlen.
19.8, 31. März. Wlan it am furifchen Hof überraicht
von ber Neife des Herrn von Wolff nad Berlin zur Unter
ftügung des Prinzen Narl. Grotthuß hat fih mit Henfing ver:
feindet, als er in Warfchau von der Neife Woljf's hörte; die
Mehrheit der Nommittenten hat nichts davon gewußt und Wolff
und Henfing haben ihre Vollmachten wahriheintid überichritten.
Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlande. 4
Sie juden nur immer die Dinge weiter zu verwirren, und man
bat den Verdacht, dah fie daran arbeiteten, Nunrland in Polen
einzuverleiben. Wahrscheinlich jtede Nuhland dahinter, weldes die
Zwietracht zu mehren jtrebe; Wolff gelte für einen Rußland
ergebenen Mann; er fei vulfücer Deajı Nichts würde dem
Frieden mehr dienen, als die Abberufung diejer beiden Intriganten
aus Warjdau, wozu eine briefliche Anregung deo Königs bei bem
Nönig von Polen jehr dienlid wäre.
In einem privaten Schreiben vom 9. April antwortet
Hersberg: Herr von Wolff jcdeine ihm zu fein „un petit
sujet fort peu fait pour l'intrigue et pour lau nögoeiation“.
Er jei mm ein paar Tage in Berlin geweien, jei bei ihm nur
einmal geweien, um ihn zu bitten, da Sraf Golg in dem furiichen
Streit id) neutral halte. Co wäre allerdings beifer wenn Preußen
fi) der uriihen Jntereffen jtärker annejme, „mais javone que
je n’en ai ni le temps. ni le credit. ni la eonfiance du
Souverain, qui se defie de moi plus que de tout dtranger.
Je me eroirais fort heureux si je pourais seulement diriger
les grandes aflaires d’une maniere sistematique. Avanthier
nous etions sur le point de deelarer la guerre ä la Russie.
sans attendre l’arrivee de la flotte anglaise dans la Baltique.
et em nous exposant aux avances du Prince de Nassau.
Heureusement que la cour d’Angleterre, qui d’ailleurs nous
regente en tout, nous a denne encore un petit räpit,
Cependant on pröpare iei dejä le tout pour la eumpagne.
ce quon ne me Iaisse ponrtant savoir que par la voye
du public“.
N, 11. April. Golg werde angewiejen werden, bei dem
Könige von Polen die Entfernung von Heyting und Wolff zu
eriwirten. Der Nönig Fönne in den furifchen Angelegenheiten feine
genaueren Vorjchriften geben; er Habe dort nur indirefte Inter
ejfen als Nachbar zu vertreten, damit das Yand weder von Polen
nod) von Nuland unterjoht werde.
8, 7. April. Der Nönig von Polen habe jeinen
Rammerherrn von Holtey nad) Mitau geihidt, um die Herzogin
und Fran von Necte zu begleiten, welde am rüh nad) Warihau
abreijen. Der Herzog babe 9. eine Note in Abichrift geichidt,
42 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlande.
welde Wolff im Namen der Furl. Nitterihaft dem preußiicen
Minifterium eingereicht habe. „La toumure de eette acte est
trop adroite et trop insidieuse pour ötre louvrage de ce
Baron. et il est aise d’y reeomnaitre l’esprit du Sr. de
Heyking”. 9. Habe wegen diefer Note Aufklärung von dem
Kandesbevollmächtigten von Mirbach verlangt.
N, 18. April. 9. joll jest hauptfächlicd, darauf achten,
was die energichen Maahregeln, die England ergriffen Habe, für
Wirkungen in Petersburg hervorbringen; ob der Prinz von Nafiaı
in Niga angekommen, die Flottille dort fertig jei; ob die Kufjen
fid) auf eine Offenfive vorbereiten?
21. 8., 10. April. Howen tritt immer mehr in den
Xordergrund: „Cet homme. In meilleure tete du pays. oriente
dans le labyrinthe des loix Courlandaises. fin. rus6 et
adroit. est trop interessö A fermenter les troubles. dont il
est la premiere cause par les depredations commises A son
profit sur les deniers du Due pendant les voyages de ce
Prince. Il est trop interesse encore A maintenir influence
Russe. vu que eest par elle quwil est devenu conseiller
Supreme et qu’il a aequis des sommes immenses. Or ces
ee Howen. qu’on reconnait gendralement pour un roue
mais quon admire et quon eraint. qui dirige le parti
antiduer.“ Den Gegnern fehle es an Energie und Wiuth.
Visher fenne er nur einen Mann, den man Howen entgegen
ftellen fönne. Cs fei ein Herr von Vringaen (sie), ehemals
Nivale Howens; man halte ihn für einen Mann von Ehre und
Feitigfeit. Er habe ihm jehreiben Laien, um mit ihm anzufnüpfen;
aber leider jchwer erfranft. —- „Du eote du Duc
je n’ai aueune resource A esperer. Ce prinee constamment
vetire A sn eampagne. ne vivant quavee deux ou trois
adulateurs. qui le flattent et le trompent au milieu de son
pays. sans talents. gatant ses meilleures causes tant par
son inenpacite que par sa defianee. ne siehant ni depenser
ni donner ä propos. negligeant ceux qu'il devrait menager.
timide vi de eeux qui le menacent, soupgonne de
duplieit@ et ne fournissant que trop de sujets A de pareils
soupgons, — ce Prinee. dis-je —. n'est pas susceptible
Zur Gejchichte der Unterwerfung Nurlands. 443
meme d’impulsion. si ce n'est peut-etre de celle de Ia
erainte. Sa nullit& et son entetement empechent meme
Madame la Duchesse de Courlande, d’operer tout le bien
que sa dexteritd. ses vertus et ses graces pourraient
preduire. Je dois A wette Princesse le t@moignage.
qw'elle fait tout son possible. qu’elle aurait des partisans si
l'on haissait moins son epoux ou si on l’estimait davantage:
quelle est avec cela devouee a V. M.. et que durant mon
sejour dei elle m’a donne des preuves jourmelles de ce
devouement. C'est avec elle seule que j’ai pu parler
d’aTaires, dest elle seule qui ait pu me donner des
renseignemens et ui ait entame ma besogne. Maintenant
qu 'elle est partie et que le Grand Eenyer Comte de Solms
est aussi sur son depart pour Berlin. celui nt ögalement
un serviteur ardent et fidöle de V. M.. je nal personne
parmi ceux qui entourent Je Due. ä qui je puisse me fier-.
&s jeien Gerüchte in Umlauf, Nurland jolle fi Außland
unterwerfen, und diefe Gerüchte gingen von der antiherzoglichen
Partei ano. Howen jei allerdinge aud) dazu fähig. Vorläufig
aber glaubt 9, «0 fei nichte zu fürdten. Wollte Yonen einen
iolhen Lorichlag machen, jo werde er von der Vichrzahl feirer
Genojjen verlaffen werden.
Gemäh Neftript vom 18. April berichtet 9. über die
ruffiichen friegerifchen Vorbereitungen: Alles deute auf eine
DTefenfive hin, und dah der ruffiche Hof noch nicht an einen
Krieg mit Preußen glaube. Die Streitkräfte an der Düna jeien
nicht bedeutend. I der That fürchte der Mel eine ftarfe Unter:
jtügung des Herzogs durch Preußen und fei deohalb über jeine,
5, Sendung aufgebradht. Der ruffihe Minifter Nüdmann
jtachele diefe Gefinnung weiter an, und gegenüber dem ein
gewurzelten ruffihen Einflujie habe er in drei Monaten nad)
wenig ausrichten Fönnen.
P. Mirbad Habe die jhriftlice Verfiherung ertheilt,
Wolff fei in feiner Weile bevollmächtigt geweien, nad) Verlin zu
gehen, nod) für die Fürftin Karl Bivon zu follisitiren, nocd) eine
Note an den Mönig zu richten. Darauf Eommt Holtey, Bruder
des polniichen Kammerherin zu D., ftellt ihm vor, daiı Dirbach,
444 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
durch die Anfrage Ds ehr in Lerlegenheit gelebt, fich mit
Howen beiprodien Habe, mit dem er verwandt jei, und wahr:
icheinfich fuche Iegterer nun durd) die angebahnte Norrefponbenz
9. mit Mirbad) beide mit einander zu verfeinden. Darauf geht
Holten zu Mirbad) und bringt ihm zu &., worauf eine Unterredung
fattfindet. 9 jagt, er halte Mirbad), in den die Herzogin
Anfangs einiges Vertrauen gelegt habe, für völlig durd, Howen
geleitet.
3, 14. April. Weift auf die drohende Gefahr der
Inforporation Hin. 9. wünidt vom Könige beauftragt zu werden,
dem Herzog folgende Natbichläge zu ertheifen: 1. da; die Fragen
wegen der Macht der Negentichaft in Abweienheit oder Wiinder:
jährigfeit deo Herzogs; wegen des Pimitationsrechte des Land:
tages; wegen Trennung des Allods von den Lehngütern — von
der fouzeränen Macht entichieden werden; 2. dal; der Herzog ic)
im Uebrigen nachgiebig erweilen möge, die durd den Etreit
Geichädigten entihädigen, den zahlreichen, aber wenig wohlhabenden
Adel unterftügen möge did) Vergebung von Domänen in Pacht,
durch Darlehen anf Hnpothefen, jtatt das Geld im Auslande an
zulegen, ferner durch Gewährung von Gehalt (abonnement) an
die Affefore der Hauptmänner, welche jegt unengeltlic arbeiteten,
weshalb die Juftiz langiam und fdjlecht je. Anderfeits mi
die Nitterfhaft ihre Anfprüche mähigen; dayn würde dienen, wenn
der König von Polen ihr nahelegte, ihre Vollmachten den Herren
von Heyfing md von Wolff zu entziehen, von denen der erite
fei „un intriguant dangereux qui ne cherche qu' ä prolonger
los troubles pour des vues purement personelles“. und der
andere „un cerveau brule
23. 8, 17. April. Pilten schicht Korff nad Warfcau mit
einem teit. bat den Lerdadt, dah Denfing die In:
forporation begimitige. Ein Brief Jobanns von Neyferling, Cbrift-
leutenants in der polnifchen Garde, an feine Yandoleute, beichuldige
offen Heyfing und Wolff der Yemühung zu Gunften der Infor:
poration von ganz Nurland nach dem Ableben des Herzogs. Graf
Neyferling erbiete fh, Peweile beizubringen. Die furiiche
Oppofition, Howen und Dirbad), geftände eo zwar nicht öffentlich,
hege aber doc) die Wleinung, dah die Inforporation für Rurland
Zur Geichihte dev Unterwerfung Aurlands. 445
wäre, Die Herzogin überjendet 9. einen Brief des Königs
von Polen, worin derjelbe die Abficht Fund giebt, einen feiner
Neffen mit der äÄlteiten Tochter von Nurland zu verheirathen und
dann zum Nachfolger im Serzogthum zu madyen. SHüttel meint,
die Herzogin jei gegen Ddiejen Plan und würde die Oraniiche
Nachfolge vorziehen.
248, 21. April. Der Herzog theilt S. mit, er habe
aus Petersburg die Anzeige erhalten, dab Potemfin, nachdem
feine Pläne anf Moldau und Walladei geidieitert feien, feine
alten Abfichten auf Kırland wieder aufgenommen habe, und dab
Kufland fd) um die Zuftinmung der Nitterfchaft bemühe. Aehnlich
babe Nüdmann gegenüber dem Herzog fid) geäußert. Er, 9, jei
zwar gegen die Quellen deo Herzogs mißtraniich, aber Howen
erwarte jeine Vortheile nur von Kufland, und co fönne fein, daf
er von Potennfin für feine Pläne gewonnen fei, und daf; er amd
Mirbad) von der Inforporation nur redeten, um die Aufmerfiamfeit
von ihren wahren Zielen abzulenfen.
N. Herpberg'e vom 29. April. ©. jolle offen erflären,
Preußen fei gegen jede Inforporation, Er zweifle an dem Gerücht
über die Pläne Lotemfins. Er nennt Heyfing „intriguant
et hardi.”
3, 28. April. Enthält Einzelheiten über die wufitichen
Nüftungen auf der Düna und jenjeito derjelben. Generalgeuverneur
Brown leugne das Vevoriichen eines Nriegeo. Jn Nurland ver:
breite man das Gerücht, als habe der König in Berlin dem Kern
von Wolff veriproden, ich den berzoglichen Händeln ganz fern
zu halten,
A, 9. Dioi. Dies von furiichen im rufen Solde
ftehenden Leuten ausgehende Gerücht jei falich. Der polnische
Reichstag Habe beichloifen, den Nurfüriten von Sachen zum
erblicen Nachfolger, feine Tochter zu Infantin von Polen zu
machen. Das jei von den Wohlgefinnten ins Werf gefept worden,
um den Wirkungen der rufftichen Intriguen zuvorzufommen.
„Cette importante resolution ne peut que m’etre agreable,
et C'est ce que vous pouvez temoigner sans affeetation
dans la maniere de vous expliquer sur et objet”. D.
446 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands.
folle berichten, wie man Ddiefe Nejolution in Nurland aufge
nommen habe.*)
26. 3, 1. Vai. Militäriiches aus Auhland. Der Herzog
thue nichts als jagen, höchitens denfe er an feine Streitigfeiten
mit der Nittericaft. Die Herzogin habe ihre Hoffnung auf den
König Stanislaus Augut und auf den Fürften Sapichn geiekt.
In Warfhau jprede man noch immer davon, der NMönig von
Preußen fei nicht gegen eine Inforporation oder eine Weberlaifung
NRurlando an Potemfin unter der Bedingung, dah Danzig und
Thorn an Preußen abgetreten werde.
N, 11. Vai. Die antiruffüde Partei in Polen werde
gegen das Projekt Potemfin’o auf Nurland jein; die Furcht vor
Inforporation jei übertrieben. Cs jei Sehr falich, diefe Zacde mit
dem Könige in Verbindung zu bringen, Von der Erwerbung von
Danzig und Thorn fei im Augenblid nicht mehr die Rede. „ai
resolu de laisser tomber entierement (se. dieje Frage) comme
une affaire peu importante et qui ne vaut pas la peine de
fournir aux Russes un nonveau pretexte A des insinuntions
insidieuses dans toute l’Europe. telles qwils en ont dejä
faites A plusieures reprises“.
27.3, 5. Mai. Die Rufen Tegen ihre
zur Weberichreitung der Tüna fort: 60 Nanonen-Schaluppen find
fertig, man arbeitet an Galiots. Ju Niga lerie angelangt.
Man fpriht von der Verhaftung zweier preußiicher als Naufleute
verfleideter Offiziere in Riga. In Nurland drohen die Feinde
des Herzogs um Inforporation zu bitten, wenn die Nommillion
in Warjhau, die für die Turländiichen Händel niedergeiegt Üt,
gegen die Nitterichaft enticheiden follte. Ter Herzog hält den
Maricall Potocdi für jeinen Gegner und für ein Förderer der
Iuforporation.
R, 16. Dei. Graf Sol in Wariban it angewiejen
ebereitungen
*) Dieieg Neffript üt von allen vier Miniftern (Verhberg, Findenftein,
Scputenburg. Abeusieben) wnterzeidmet. u einem dem Aönige unterlegten
Giagpen der Binifter ohne Dergberg vom 7. Mai findet fih won dei
Siyulenbucg und Abensleben eine Nanpbemerkung. nad) welcher Diele Meinung
über die polnifche Refokaion an Du Gefandten Jatobi in Wien mirgetbeitt
war und mn zur Auformaion ud D. mitgerheitt werden folle
Zur Gefchichte der Unterwerfung Rurlande. 447
genen die Auforporation zu wirken. Diefelbe ift aber nicht wahr:
iheintich, da jie den rieden von Tliva verlege und jomit die
betheifigten Mächte in den Stand jepen würde, zu wideriprechen.
28.3, s. Mai. Yebhafter Austanich von Mittheilungen
über die ungen der Nuifen zwißchen Mitau und General von
Hendel in Initerburg.
3, 12, Mai, Da die frage der nforporation in
Polen durch den Hinweis auf die Unzufriedenheit der Nitterichaft
mit dem Herzog, unterftügt wird, jo hat ©. dem Herzog vorge
ftellt, wie nothwendin es Tei, feine Anhänger zu jammeln und
og auch fi bereit erklärt bat,
neue zu gewinnen, wozu der
Die fepten Depeichen über die ruiftichen Nüftngen berichtigt
dahin, dal in Niga blos 20 Nanonen-Zchaluppen mit je 1 GSeichüt
und 20 Auderern and 40 Mann Eguipage, ferner 20 Yollen mit
je 1 Geichüg, endlidh > „Eriteries“ «eine Art regatte) mit je
14 GSefchüggen vorhanden feien. Co fehlt an Matrofen und die
Schiffe find schlecht gebaut.
30.8, 15. Mai. Die Gerüchte von der Abfiht der in
forporation verftärfen fi, Die Polen in Warfkau follen darauf
ausgehen, Preuhen durch Abtretung von Thorn und Danzig de}
zu gewinnen. 9. bittet den Nönig, in Warfcau feinen feiten
Willen fund geben zu laflen, die Jnforporation nicht zu geitatten.
vtifel der polnischen Konftitution vom 3. Mai, welcher
jagt, dab Neder, der die polnifche Grenze überfchreite, auch wenn
er Leibeigener ji, dadurch, ipso facto frei werde, habe in Nınland
große Erregung verunfacht und wird hier unendliche Schwierigfeiten
nach Polen und nad Kufland Hin hervorrufen.
dur 9
R, 21. Mai. 9. Toll offen die Gerüchte dementiven, welde
die Krage der nforporation mit Danzig md Thorn in Ver
bindung fepen, wm deren Abtretimg co fid gar nicht mehr handele.
de ne m’etais prötd que malgres moi et par vomplaisanee
pour l’Angleterre ä la proposition que celle-ei avait fite
de la eession de Danzig. et qui avalt mis cette affaire en
mouvement pour favo ses vues de eommeree: jai
ement remis cette cour de Iaisser tomber cette
. comme cola c'est fait aussi aetuellement..... On
38 Zur Gefchichte der Unterwerfung Sturtande.
peut done se rassurer entiörement sur ce sujet et etre
persuad® que je nahandonnerai pas les interets de la
Courlande“.
31. 8,, 19. Mai. Die Nachrichten aus Warihau lauten,
da die Frage der Anforporation immer mehr Boden gewinne.
Die Gegner in Nurland wollen tropden einander nicht die and
reichen und fürchten fih auch in Warihau gegen die Inforporation
aufgutreten, um den Neichstag nicht in den fchmebenden Händeln
gegen ich zu erzünmen. 9. freut fih, aus dem N
9. Mai zu hören, dah der König ihn autarifire, die Me
vom 3. Mai als den Anichauumgen des Königs günftig dar-
teilen zu dürfen. Er jhlägt vor, nun aud Kurland von Nufland
ju emanzipiven und zu diejem Zwecke in Warfchau die Neiilintion
der Konvention von 1783 zu betreiben, und zugleich dahin zu
wirten, dal; Polen und Auiland die Erbfolge des jüngiten Prinzen
von Oranien bei Schluß; des Friedens anerfennen mögen.
X, 29. Mai. Es fei jept nicht gelegene Zeit, um die Erb:
folge zu ordnen, da diefe Frage im Polen vorerft durd) die An
erfenmmg des Nurfürften von Sachfen geregelt werden mühe.
32.8, 22. Mai. Der anferordentliche en; lüche GSefandte
Fawtener (mit einer Vermittelung des ru
auf Grund eines status quo moditie für Betersbug beauftragt)
ift am 19. durch Dita gekommen. jtellt ihm vor, dal cs
nöthig wäre, aud) über Polen und Nurland zu verhandeln, weil,
fobald Natharina die Ellbogen werde frei haben, fie ohne Zweifel
wieder anfangen werde Polen zu quäfen und zu veigen. 9. bemerft
ferner: bisher fei eine der mächtigiten Triebfedern des in Polen
hen Tespotiomus der Einfluß des ruffiichen Synode
auf die nichtunirten griechifchen Priefter in Bolen gemeien; durd)
den Spmod habe Katharina Ufafe in das Land gefdiet; der
griechiiche Merus muhte ihm einen weiteren Cid alo dem Nönig
von Polen leilten. Der Neichstag Habe vor zwei Jahren einige
Maafregeln dagegen beichloifen, deren Erfolg D. nicht fenne.
Dan müjie den Neihstag mahnen, aufmerfiam zu fein.
33. 3, Die Frage der Inforporation tft wieder
in den Border und. gefreten jeit Korff (Delegivter in Warfdau
für Pitten), aus Warfcau heinfehrend erzählt Habe, da; Holy
Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands. 4
ihm erflärte, er habe feinen Auftrag, gegen die Jnforporation zu
wirfen. Nücmann läßt dem Adel gegenüber verjiehen, dah, wenn
der Adel auf Nevifion des Vertrages von 1783 in Petersburg
antragen wollte, man eo gut aufnehmen werde.
P. S. Was die Dieinung der Nurländer über die polniiche
KRonjtitution vom 3. Mai angehe, jo fürchte man bier, dal; diejes
Gebäude nicht eher auf fiheren Boden werde geitellt werden, als
dis der ruffiich-türfiiche Arieg beendet jei, und dab mur die Inter:
vention Preußens helfen fönne. Plan wolle an die Begünitigung
der Hevolution durd) Preußen nicht glauben, halte aud) dafür,
dah es eine Undanfbarfeit der Polen gegen den Nänig von
Preußen bedeute und man ihnen in der Neigung für Preußen
nicht trauen dürfe. Die Partei des Staifers dagegen made in
Warfchau allerdings Forticritte. Der Herzog habe in diefer An:
gelegenheit faum eine eigene Dteinung, er fei gewohnt „de voir
au jour la joumnder,
R. 7. Juni. Golg üft in der That beauftragt, in Warihau
gegen die Anforporation zu Äpeden und Dat pofitive Ordre,
diefelbe zu verhindern.
348, 2. Juni. Dan will in Nurland nicht an eine
dauerhafte Proteftion Preußens gegenüber Nurland glauben. Die
Herzogin hat ihm, 9., furz vor ihrer Abreiie aus Warichan ge:
ichrieben, daß troß der iönen Veriprediungen des Nönige fie an
einem Erfolge, wie er ihren Intereffen entiprechen würde,
verzweifle, weil zu viel Widerfadher gegen fie arbeiteten während
nur zwei oder drei Helfer ihr zur Ceite ftänden. . habe dem Herzog
gerathen, zu veranfajfen, dal; die S Nirchfpiele, die dem festen
eichluh wegen einfeitiger Yimitation des Yandtages nicht zu:
geftimmt, vereint mit den Wohlgefinnten der andern 16 Stirchipiele
nad) Warihau einen Proteft gegen das Vorgehen der Majorität
abjenden mögen. Er möge ferner viele Einzelne durd) Nad)
giebigfeit in Geldfaden verfößnen. Es fei aber zweifelhaft was
der Herzog Ahum werde, obwohl er allerdings zugeitimint habe;
denn er jei „inapplique, versatil et pareimonieux“.
3, 5. Juni. Seit 8 Tagen wird von den Hufen
wieder an den Ewfr-Schangen md anderen Nüftungen eifrig
gearbeitet.
450 Zur Gejchichte der Unterwerfung Rurlands.
36.3, 9. Juni. Die Arage der Anforporation ijt in
Warichan vorläufig vertagt. Allein die Nitterichaft gewinnt an
Feld in dem mit dem Herzo ie Herzogin hat 9. ge
Ä‘hrieben, er möge dem Könige den Züriten Sapieha empfehlen,
der bereit fei, fic) Prenfen anzufchtiehen, nur aus Giferfucht gegen
den Vlarichall Botori nicht den eriten Schritt thun wolle. Potori
fei mit feinen einenen Interefien jo beichäftigt, dah er mehr ver:
fpreche als er halte; and) habe die Herzogin ihn im Verdadıt, mit
dem Heren Bulgafow*) im Einverftändniß zu fein. Narl Biron
bat der in Warichau in dem Progehi zwiichen Herzog und Nitterichaft
eingejegten Nommilfion eine Neflamation gegen das Teitament
feines Vaters und die beftätigende Konjtitution “von 1775 eingereicht.
37.8, 16. Juni. Die Pilten’iche Sache it bis zum 20.
Auguft 1791 verichoben worden.
35. 3, 19. Juni. Nacrübten aus Warichau: Zoltyt*)
habe am 3. Mai darauf angelragen, dal man in Petersburg
darauf dringe, dal and die weifiihen Soldaten, die in Mitar
die Wache des Gelandten bildeten, entfernt werden; ferner dal;
ein Vertreter Poleno nad Mitau gelandt werde, um dort den
ruffiihen Einfluß zu zeritören. Diele rujliichen Soldaten find ein
Detachement eines Sarnifonsbataillons und dienen dem rufjiichen
Minifter dazu, die Jurisdiftion aufrecht zu halten, welche er hier,
mabhängig von den Yandestribunalen, über die ruffiichen Unter:
!anen ausübt. Die Nonvention von 1783 will man vernichten.
39. 3, 23. Juni. Der Nönig von Polen hat beim Herzog
angefragt über die Zahl der vuiftichen Soldaten in Ditau, über
die Konvention von 1783 und die Errichtung der ruifiichen Boit
in Nurland; jerner ob ein polnifcer Neident in Wiitau dem
zog genehm wäre. St. habe fidh dem Herzog gegenüber für
einen polnichen zeitweiligen Nefidenten ausgejprocen. Nücmann
hat dem Herzog in einer Unterhaltung geiagt, Nufland Fönne
England feine Feindietigfeit wohl vergeben, nicht aber Preußen.
(Su dem Neifript auf diefen Bericht wird Diele Anihanung als
sehr wahricheintich bezeichnet).
9 Auffiiber
**) Die Beichlüfe des polaifchen Heisiag“s wurden Nonftitwtionen genannt,
Süchet von Srafan.
Zur Gefchichte der Unt jung Nurlanda. 451
PS. ad 40. 8,30. Juni, Der Yandtag ift am 27. Juni
net worden und hat die Eröffnung dem ruffiichen Nefidenten,
wie üblich, dur eine Depntation angezeigt, dem preufsiichen
Hefidenten jedoch nicht, und zwar weil legterer nicht in gehöriger
Form bei der Nitterichaft affreditint jei. X. ichreibt dieje feind
felige Haltung rulfiicher Intrigue zu. Cine Norpphäe der ruljüicen
Partei, der Tberhauptmann Schöpping, ein Zchwienerfohn des
Grafen Stadelderg, Habe gelangt, man mühte Tel ins Neuer
gießen. molin, jagt ©, Tei bloo beim on affreditirt
geweien, md erft um 1753 habe Kufland angefangen, in den
Nreditiven au von der Nitterihaft zu ipreden, damals alo über
die Konvention von 1753 verhandelt wide, durch welche Nurland
unter die wnijfiiche Gewalt gelangte. Wirbady hat auf den Tiich
des Landtages den Entiomf zu einer Notififation an die Negierung
niedergelegt, in der erflärt wind, daf die Nittericoft wegen der
Nichtbeobachtung der üblichen men von Zeiten , Towie
auch) von Zeiten der Negierung bei Gelegenheit der der Nitterihaft
gemachten Anzeige von der Aereditirung beim Derzoge, mit dem
preußüchen Nefidenten nicht in Verhandlung treten fönne, Die
Annahme diefes Entwurfs it wog vielen Widerjpruchs durch die
Heine, aber lärmende ruffiche Partei durchaefegt worden.
ichlägt vor, jtatt auf jene Beichuldigung mangelhafter Beglaubigung
zu antworten, zu erflären, dab da der gegenwärtige Yandtag mod)
nicht im Warfchan anerfannt worden jei, und da derielbe blos
aus den Teputirten von 20 Nirchipielen bejtele, der König vem
Verlangen der Notififation nicht entiprechen fönne. Cr fchlügt
ferner vor, in Warichau die Diagnaten darüber aufzuflären, dal
während fie ans Sumpatbie für die Furiichen Ariftotaten Diejelben
ibügen, dieje mit Nuhland fonipiriren. Ganz anders benehme
fi) der Mreis PBilten, dejien Vertreter jtets die höchjte Danfbarkeit
gegen Preußen fund thäten.
10..8,,.30. Juni, 9. entichuldigt N) wegen der von ihm
an Golg in Petersburg gefandten Vorichläge zu einem „aete
obligatoire” Nuflande, der die Nabe in Polen fichern Fünnte,
N, 10. Juli. Der Zwiicbenfall wegen der Afveditirung
9.5 jei jehr mangenehm, denn die Stände jtügten fi auf
frühere Prari Zimolin jei am 10. Tegember 1762 bei Herzog
452 Zur Gefcichte der Unterwerfung Nurlande.
und Ständen ohne allen Zweifel affreditirt worden. Dah D.
nicht ebenfo affreditivt worden, jei ein Verjehen. Man müfe die
Sadje in Crdnung bringen ohme den Nönig zu fompromittiren
und ohne daß das Vertrauen der Stände in die guten Abfichten
‘Preußens gemindert würden, welde darauf gerichtet feien, Die
Intorporation Rurlands zu hindern. D. möge fid) darüber äußern,
ob nicht ein zweites Nreditiv, wie die Stände es wüniden, ihm
geichiett werden follte. Co handle fid bejonders darum, das
Vertrauen der Stände zu erhalten.*)
41.8, 3. Juli. Die Notififation des Landtages ift von
der Negierung troß den Yemühungen Howen’s nicht an D. mit:
getheitt worden, jondern es iit beichloifen worden, fie den Ständen
zurüdzufdiden. Der Landtag ift jocben auf unbejtimmte Zeit
limitirt worden.
42. 3, 7. Juli. Seit man erfahren, daß die preußiicen
Truppen in ihre Garnifonen zurüdtehren, glauben bie vuffüicen
Generäle in Yivland mehr als je an die Erhaltung des Frieden.
Die Rüftungen zur See werden läfig betrieben. Der Yandtag
hat an das Minijterium ein Entfchuldigungsichreiben wegen des
Verfahrens gegen Yüttel gerichtet.
R, 16. Juli. Die Konferenzen in Petersburg geben Hoffnung
auf guten Ausgang. Die Verhandlungen in Siftowa jind auf
Rath und auf Grund der preuhiihien Vorichläge von Oeiterreid)
wieder amfgenommen worden, nachdem fie bereits abgebrochen waren.
13. 8., 10. Juli. An der ruffiihen Grenze Alles till.
it entzücht über das Schreiben des Nönigs an ihn vom
Iumi, worin ihm angetragen wurde, den Yojten eines
Voticaftsrathe im prenküicen Auswärtigen Amt zu übernehmen.
Er und fein Vater, der Starojt, werden bald in Berlin eintreffen.
‚14. Juli. Graf Holy hat 9. angezeigt, ein gemiffer
St. Heniers werde durch Polen reifen, um ein fchrectliches Nomplot
in Holland und England anzuzetteln. Für die in Livland
ütchenden 30,000 Wann ruificher Truppen follen Magazine
errichtet werden. Der Herzog it feit Wochen unthätig im Bade
9) Zeit eva 2 Juli zeichnen mr Schulenburg md Alvensleben die
Reikripte.
Zur Geihichte der Unterwerfung Nurlande. 453
zu Libau. Dan jpricht, dai; cin Graf Matufjewitic als polniicer
Kommilfär nad) Nurland werde geichidt werden.
45. 8, 17. Juli. An dem fort an der Ewit wird langjam
fortgebaut; 40 Nanonen find dort angefommen, weitere werden
erwartet. danft dem Könige, dal; er anf jeine Bitten den
jungen Korff (Sohn des piltenihen Bevollmächtigten) in Dienjt
genommen habe.
46.8, 21. Juli. 9. widerlegt den Vorihlag, ihm ein
zweites Nreditiv für die Nitterihaft zu ichiten. Die Nitterfcaft
fei nicht zu folhem Verlangen berechtigt, auch fei cs zweifelhaft,
ob fie durch Nadhgeben des Nönigs werde gewonnen werden.
Sewiß jei der furiiche Adel von Eitelfeit beherriht, aber von
jeher jeien die entfheidenden Triebfedern das perjönliche Autereiie
und die Furcht geweien.
17.8, 21. Juli. Nuhland hat Pilten seines Schuges
gegen eine Jnforporation verfihert. Ans Kiga wird gemeldet,
dal; die Nailerin freiwillig auf die für Nurland fo drüdende
Konvention von 1783 verzichte und jogar gejtatte, den furiichen
Hafen von Schlof zu öffnen. Wahricheinlich jene Nuhland
folhe Gerüchte aus, wm die Nurländer vom Abjchluh der in
Warichan betriebenen Nonvention abzuhalten.
KR, 1. Anguit. Die Sache wegen des zweiten Nrebitiv's
jolt aufgeihoben werden bio zur Enticeidung des polnischen
Neichstages über die Sejegimähigkeit des furiichen Yandtages.
Der Schritt Ruflands gegenüber Pilten habe wohl mn den
Zwed, die Annäherung des Herzogtums an Polen zu hindern.
48. 8, 28. Juli 9. fpricht feine Freude aus über die in
Ausficht jtehende Pazififation. Die Ntaiferin habe gegen Prenfien
Bad und Eiferfucht gefaßt, ei eigenfinnig in ihren Neigungen
wie in ihren Plänen und hätte diefen Sefinnungen bei eriter
Gelegenheit Ausdruc gegeben. Die Nuffen vollenden langfam
jenfeits der Düna ihre Vertheidigungswerfe. Lie verbreiten das
Gerücht, Natharina jei jchr befriedigt von der Haliung, die das
Verliner Kabinet feit 2 Monaten ihr gegenüber einnehme.
N, 7. Auguft. Solg hat aus Petersburg nichts über die
Vefriedigung der Naiferin in Betreff Preuiens gemeldet. Aber
fie fönme wohl zufrieden fein, denn Preußen habe bei den legten
454 Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands.
Verhandlungen in Petersburg feineswegs die Türken angeftachelt,
vielmehr verjöhnfiche Nathichläge ertheilt und die ganze Pazififation
England überfajlen.
49. B,, 4. Ang. Ale Welt ift eritaunt darüber, dal feit
5 bis 6 Tagen die mili be Thätigfeit in Yivland und Wei
rufland verdoppelt werde. Die Schaluppen in Niga find plöglid)
armirt worden, die dortige Sarnilon foll verftärft, 7 Werit davon
ein Lager errichtet werden; das weihrufjiiche Korps Toll zufammen-
gezogen werden. Niemals fein die friegerifchen Vorbereitungen
jo ernjt gewejen. Man halte fie für gegen die neue polniidhe
Konjtitution gerichtet, im Einvernehmen mit Preußen und Teiterreid.
. bat General Hendel in Nönigsberg davon in Nenntnih gelebt.
er Herzog ift zmwüc md reift auf feinen Gütern umher. Die
Streitiade in Warfchau fojte ihm viel Geld, fein dortiger Delegirter
babe jeit 3 Jahren über 90,000 Dufaten verbrandt und ohne
Erfolg. Er hätte mit einem Drittel diefer Summe im Lande
eine Partei md Srieden gewinnen fünnen („avides et türbulenis
aristoerates“). Der Herzog fei einfam in Wäürzan, umgeben von
zwei ‘Perjonen, die eo in ihrem nterefie finden, ihn von alfer
Welt fernzuhalten: er ei .inenpable d’appliention et de suiter,
frage imier um Math und befolge feinen.
N, 13. Ang. Zeigt den Abihluh der Verhandlungen über
den ‚rieden in Petersburg an. Danf der Unentjchiedenheit und
Weichheit Englands habe Natharina von den Türfen Alles erhalten,
was fie wollte. Die Nüftungen in Yivland und Weihrußland
Tönmen fc daher nicht mehr auf dieie abgethanen Trientfachen
begiehen. Der Nönig glaube wicht zu irren, wenn er annehme,
daf; die Naiierin thätigen Antheil an den franzöfüchen Geichäften
nehmen wolle, indem fie das von Wien her angebotene Nongert
acceptire und ihre Mahregeln mit dem an einer Segenrevolution
verbinde, den die higige Phantafie des Nönigs von Schweden jeit
einigen Monaten nähre. Es fönne fogar jein, da diefer Vtonard)
das Nommando über eine fombinirte Zlolte Äbernehme, mit der
man die bei Niga ih jummelnden Truppen einichüfte.
50. 8, 7. Aug. Die Rüftmgen in Yivland werden fort
gelegt. Zoltyfow ift noch wicht angefonmen; man jagt, Zumerom
werde nad) Riga kommen, wo er den alten Brown eriegen jolle,
Zur Sejchichte der Unterwerfung Nurlands.
Das Gerücht verftärkt fh, da Natharina wieder thätig fi in
die polnischen Dinge mijchen wolle.
NR, 16. Aug. Die Aftenjtüde über den Frieden werden
9. überjandt. Si vous aviez äte muni plutöt de es pieces
vous vous seriez epargnd sans doute lex inquietudes que
vous avez eongues des mouvemens guerriers des Russes en
Livonie. L’Imperatriee aspire personellement au retour de
la trangquillit6, et elle a meme eu l’honnetere de faire
annoncer jei par Je comte de Nesselrode l’heureuse issue
de la nögoeiation. en domnant ä entendre. qu'elle esperait
de voir renaitre maintenant l’aneienne hammonie entre ma
eour et la sienne II ne reste done plus le moindre
te äü la Russie pour en venir ä de nouvelles
PBotemfin jei freilich nicht zu trauen....
8 je me eonfirme toujours dans Vidde. que loin de se
möler des afaires de Pologne et de songer a y jouer un
role qui ne saurait lui reussir. U’Imperatriee mörlite plutöt
un eoup en faveur de la cause Royaliste en Pranee. et
que eest li le but des nouveaux pröparatifs dont elle
SDerUpe..... Daher fei der Prinz von Nalfan, der jüngit
durch Dita nach Berlin reifte, nad Deutichland geicidt worden
um den Grafen von Artois aufzufuchen.
31.8, 11. Nug. 9. drängt den Verzog, gegen die Meinung
der Neichsboten im polniihen Neichstage, als ob das ganze Yand
gegen den Herzog wäre, zu wirken durch Neberfendung von Proteiten
Ginzener und der 7 vom Landtage getrennten Stirchipiele gegen
das Verfahren des Yandtages. Er räth ferner, die Güter, die
jegt in bevzoglicher Verwaltung jeien, am Goelleute in Pacht zu
geben. Der furifche Adel jei zahlreich und im Ganzen genommen
arm; weder der Zivil: noch der Nriegedienft biete ihm große
Silfsquellen, wie eine jolhe früher die herzoglichen Güter dar:
geboten hätten. Areilih gebiete fein Gefeg die Verpachtung der
Hüter, Fomdern nur die Billigkeit; auch habe der Herzog feinen
Vortheil von der Verwaltung umd die Yauern leiden davon. Der
König möge ©. beanftragen, in feinem Namen deswegen Vor-
jtellungen zu madyen. — In Yivland dauern die Truppenbewegungen
456 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands.
teog des Friedensichlufies fort. Einige Negimenter marfchiren
aus Livland nad) Weifrußland.
N, 20. Aug. Billigt das Verhalten 9. gegenüber dem
Herzog und geftattet die Vorftellungen im Namen des Königs zu
wiederholen. Man glaube, dab Rußland beabfichtige, eine Esfahre
von 10 Kriegsihiffen in den Zund zu fdien, mas die Weinumng
beitätigen würde, da «8 thätigen Antheil an den fanzöflichen
Dingen nehmen wolle.
52. 3., 14. Aug. Fmofener it am 12. nad) Breslau zum
Könige dunchgereift, der dort eintreffen jolle. In Yivland jei es
ruhiger geworden. &. wiederholt feine frühere Meinmg über die
Truppenbewegung.
R, 24. Aug. Die rujfiihen Truppenmärihe in Livland
jeien nicht anzuiehen als gegen Polen gerichtet, fondern als im
Zufammenhang mit den Bemühungen des Naijers wegen der
franzöfiihen Wirren ftehend. Das bezüglice Aundichreiben des
Soifers fei in Peteroburg angefommen und werde leo aufklären.
3, IS. Ang. Bon den rufjiihen Parteigängern wird
das Se ücht verbreitet, es fei ein Einvernehmen über Polen
ziicen Preußen und Yufland errichtet worden, was man durd)
die Nüftungen jenfeits der Düna unterftüge. Der Zwed diejes
Gerüchts jei leicht zu errathen. Ju Vezug auf die Nüftungen
jetbit jei zu bemerten, daß ein Lager bei Riga fid zulammenziehe,
dab von dort etliche Negimenter nad Weihrufland gehen und
andere Negimenter ablöjen, die wiederum ihrerjeits nad) Kiew
abgehen werden. Im Gubernium Polozt jollen 12,000 Dann
an der Grenze bleiben, mit denen man anfangen wolle, auf die
Polen zu wirken.
548, 21. Aug. Vetätigt die legten Angaben über die
ruffiichen Verwegungen und das Korps bei Niga unter General
Numjen. Die Anficht wachle, dah cs gegen Polen gemeint jei,
und cs fomme hinzu daß, wie man jage, Natharina dem Kınrfüriten
von Sadyien neue Anerbietungen gemacht habe, um ihn zur An
nahme des polnischen Thrones zu bewegen. Soltyfow ijt in ige
angefommen.
NR, 31. Aug. Weift die Konjefturen 9.'s über die rufiichen
Nüftungen nochmals zurüd, „Klles n’ont du moins pas encore
Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande, 457
perce a Varsovie et Je comte de Goltz les a passes egalement
sous silence jusqu Cependant comme vous persistez
me prösenter constamment la meme idee et ä y attacher
le meme degr& d’importance. je l’ai recommandde aux
perqui ns de mon ministre a Perersbourg”. 9. joll feine
Gründe für jene Jdee angeben.
5.8, 25. Aug. 9. hat über die ruffihen Nüftungen,
wegen deren er jeit um drei Wochen immer berichten mü
nad) Petersburg an Graf Golf geihhrieben (am 2. Auguft) aber
noch feine Antwort erhalten. Jamtener Habe gemeint, die Flotte, die
im finnifchen Golf freue und in einem Hafen diefer Provinz über“
wintern folle, made dem (General von Stedi große Sorge.
Dan jehe daraus, dal Nußland gegenüber Schweden bei Nraft
bleiben wolle, wozu fomme, dat; die Brigade finniiher Jäger aus
Lioland wieder nad) Finnland beordert worden fei. äweifelt
daran, dah die Naiferin fi mod) in diefem Jahre auf eine jo
weitgehende Unternehmung, wie die gegen Franfreid) wäre,
einlafen wolle. Co jeien weder die mötbhigen Linien: nod)
Transportichiffe vorhanden; die vorhandenen Fahrzeuge fünnen
außerhalb der Dftfee nicht verwandt werden. Alle Nacrichten
laufen dahin, dal; jobald Eoltykom die Divijion bei Niga werde
bejichtigt haben, diefelbe fi zum größten Theil nad Weihrußland
begeben werde zu dem Ntorps, das bei Polope gebildet werden
jolle. Alle Welt glaube, dah das Unternehmen gegen Polen
gerichtet fei.
», 1. Sept. Danft für Ueberiendung des Eremplares
vom Frieden von Ziftowa. Cs jei Nadyricht angelangt über den
Abfchluß der Friedenspräliminarien zwiicen Nufland und der
Pforte. Der Herzog habe feine Freude geäußert über den Zuwads
an Ruhm, mit dem fih Ce. Majeftät durd) Rettung der Türen
bedet habe. Der Herzog hat einen Aufruf erlajlen an die
Wohlgefinnten, fd vom Landtage Loszuiagen. »D. hält ihn für
nuglos und erfolglos. Der Herzog hofit, dab der König. jeine
Sache and auf dem mächiten polnijcen Keichstag durd) Golk
werde vertreten (ajfen. Dort jei eine Nommilfion gebifdet, welde
hwenijcher Gefandier in Perersburg.
158 Zur Gefehiehte der Unterwerfung Aurlands.
die Allodialgüter von den Yehngütern trennen jolle, was für die
Töchter des Herzogs wichtig fei. Henfing arbeite mit verdoppelter
Kraft gegen diefe Nommifften, mit Unterjtügung Nuflande. 9.
werde daher nochmals den Herzog wegen der Verpachtungen
bearbeiten. In Nuhland fcheine man die polnische Grenze nod,
ftärfer mit Truppen beiegen zu wollen, beionders irregulären.
37.8, 4. Sept. Der polnifche Neichstag wird nächjtens
weshalb die Pilteniche Mitterihaft in Sorge vor den
Anfprüchen des Biihofs von Yivfand*) mit dem Herzog in
Verhandlung getreten ift, um deiien beiieres Necht auf Kitten
anerfennen und die Vereinigung mit Nurland herbeiführen zu
laffen. Der Herzog ift nicht abgeneigt der Vereinigung beider
Länder, obwohl ihm dadurd feine Einnahmen wohl aber Ausgaben
von ca. 6000 Thl. erwachien würden. in Projeft zu einer
Nonftitution für Pilten, das fid auf den Kronenburger Vertrag
von 15 ®
, die Fommilfarialiichen Decifionen von 1617 und
Anderes übt, joll dem Neihstage vorgelegt werden.
R, 15. Sept. Spricht fh gegen die Einverleibung von
Filten in Nurland aus, weil das der Cinverleibung Nurlands in
ofen präjudiziren würde. Golg werde beim Neichotag für den
Herzog und gegen die Juforporation wirken.
58.9, 11. Sept. Der Herzog ift in Sorge wegen feiner
Seihäfte und bat ©. daher nad) Friedrichstuit eingeladen. Er
fürchtet befonders Howen. ..Cet homme aussi dangereux
qu’impudent. et dont les finances sont &ternellement
derangees. a 086 faire la proposition au Due de Vacheter
moyenmmant 50.000 deus en angent eomptant. ou en lui
assurant pour la vie Pusufruit degage de toule reve
de la terre duenle qu’il tient a P’heure qu’il est en ferme,
et dont le revenu est de 4 ä 5000 deus: que si Mer.
ui aecordait Tune ou lautre de alternatives. il
promettrait d’abandonner le parti de ses antı 3.
d'embrasser le sien. 8. A. N. it d’abord vefuse ce
marche la. mais plusieurs de ses serviteurs Jui
eonseille le eontraire. Elle voulut ir ce que jen
ce
*) Rofjatomsfi.
Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlande. 459
penserais. Persunde. Sire. quwä lage de Mer.. vu le peu
de dexteritö quil met dans le maniement de afaires
er vu les dispositions peu favorables. ou se trouvent
probablement la plupart des Nonees a Varsovie: persunde,
s.je. que sortir d’embarras et finir en paix ses jours
aprös avoir assurd ü sa famille un sort. serait ce qui
pourrait maintenant arriver de plus heureux A Mer.
jai opind de transiger avee le Sr. de Howen de
maniere A wen pas etre duppe. En eonscquenee nous
avions ebauche en traite. par lequel le Due promettait au
Sr. de Howen la jouissance ä vie des ferres en question
a que celui-ei aurait moyennd un arrangement amiahle
le Due er Vordre equestre“, Diefer Vertrag jollte
geitern unterzeichnet werden, als am Vorabend der Herr v. Yuttlar,
ein Vertrauenomann des Herzogs, obwohl er mehr als einmal
die Geichäfte verdorben hat, in eine Nneipe geht, in der er die
Hänpter der Oppofition verfammelt weih,, und ihnen den Vertrag
mittheilt. „Depuis ce moment ’Oberburggrave. furieux de
eette trahison. jette feu et Alamme. jure une inimitie
irreeon le. et pour rerommencer les hostilites il va
protester anjourdhui contre la vommission destinde A
separer le fief de Talleu. Iaquelle a porte serment hier:
de sorte que les affaires seront desormais plus embrouillees
et plus envenimees que jamais. Selon tonte apparence le
Sr. de Buttlar, personnage aussi presompfueux que bornd.
a agi a Pinsen du Due. eroyant faire un eonp de parti en
devoilant Ta turpitude de Howen. N
Pintimitö qui rögne entre le Prinee et Tui. on soupgonne
le premier d’avoir eonsenti A la trahison. et ses ennemis
en fireront des arguments pour renforeer leur acensalon
de duplieite, qwils Iui prodiguent sans cola
PS. 9. giebt gemäfi dem Auftrage des Nönigo Ansfünfte
über den ruffiichen Hof, die er meilt von Jawfener bei deilen
Durcreile durd Mitau erhalten hat: Die Naiferin halte hartnädia
an ihren Anfhawungen feit, feit fie die Yeitung der äuferen
Politit übernommen habe. Zie höre weniger als je auf die
Meinungen der Minfter und gebrauche diefe nur ale Werkzeuge
vomme on sit
460 Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlands.
ihres Willens. Yotemfin habe noch einen Neil von Einftuh,
aber die Natferin Habe doch feine Kathichläge und Pläne ab
gewiefen und jogar, nm feine Anmahung zu brechen, fid) des
Schredwittele der Orlow bedient. Daher habe fie die Tochter
des Grafen Aeris Orlom zur Hofdame gemacht, damit der Vater
fi) in Petersburg niederlafie, obwohl dieie Tochter erit 6 Jahre
alt jei. Orlom habe fih aber geweigert bei Hofe zu bleiben,
woraus anzunehmen jei, daß die Ungnade Potemfino nicht nahe
bevorftche. ftermann mittelmäßig und .louard“. jei alt und
fchwach geworden, Vejborodfo nur bedacht, fi) in der Etellung zu
erhalten, habgierig, ohne Eyjtem, ohne Willen, nur Diener der
Kaiferin. Daher fünne fein auswärtiger Gelandter Einfluh auf
die Anfhauungen der Naiferin erlangen, es fei denn dah er
unmittelbar auf fie jeloft wirfe, wie früher Harris, Gobenzt,
Segür gelhan. Die Naiferin fei geneigt, im nächften Frühling
den Naifer bei der Wiederheritellung der Nechte Kudwig’o NV.
zu unterjtügen. Das Motiv dabei Tei, da fie dann hoffe, das
Syjtem zwiichen Ruhlans, Teiterreid und Frantreid aufzurichten,
weldjes 1787 auf der Tagesordnung war. Das Iceinen fchwante
Pläne zu fein, aber man mühe im Auge behalten die Liebhaberei
Natharina’s für weite Mäne und Unternehmungen, ihren Lieblings:
plan einer Union aller groien Mächte, ihre Art, alte Pläne
gelegentlich wieder aufzunehmen. Gegen Polen fürchte man vor:
Uinfig feine ernftlichen Unternehmungen von Nuhland ber, wohl
aber dal; im GScheimen Intriguen und Bejtechungen werden in
Gang gebracht werden, daneben den Druut bedeutender Truppen:
majjen an der Grenze. it zwei ‚Jahren herriche zwiichen
dem Großfürften und der Groffürjtin dieies unfelige Zermürfniß;
(mesintelligenee). welches zunehme. Die Uriachen fein nod)
immer Frau von Bendendorf und Fränlein Nelidon. Das erite
Unrecht fei auf Seite der Gemahlin geweien; dieje jei launiid,
brüsk: der Großfürit finfe in der Meinung des Publiiums. Eine
Venge Heichichten laufen um, welche gerechte Bedenten einflöhen
gegen das gejunde Urtheil und den Charakter des Groffürjten.
Er folle im Geheimen wohl der jeigen Politif abgeneigt und
Preußen zugeneigt fein, aber Aleo in Allem dürfe man feine
ernjte Hoffnung auf eine Wendung Nıflands zu Gunften Preufens
Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlands. 461
und gegen Dejterreich hegen. Die Naiferin fei von viel fräftigerer
Gejundheit als der Gr ft, die Großfürftin neige zu Defterreic)
und auch die Jdeen, welde man dem Grohfürften Alerander
unterichhiebe, iprächen dagegen.
N. . Sept. 9. wird aufgetragen, den Herzog weiter zu
mterftüßen.
59.8, 15. Sept. 9. weilt wieder auf die verbreitete
Vieinung Hin, dah die Dislofation der wuffiden Truppen bei
Niga nad) Weigrufland hin darauf abziele, tätig in die polniichen
Anfegenheiten einzugreifen. X. meint, die Aftion jtehe nicht
ummittelbar bevor, aber eine >4jährige Erfahrung habe ihm
gelehrt, daf Katharina niemals die einmal gefahten Pläne ganz
aufgebe, fondern nur ihre Gelegenheit abwarte; und daher glaube
er, dab die Anhäufung von Truppen an der polnichen Grenze
die Thätigfeit Yulgafows wmterftügen jolle. Der rufftiche Hof
erwarte viel von dem alten Einfluß der Naiferin auf den Nönig
von Polen, von der moraliichen Schwäche deielben und den
geheimen Uimntrieben feiner Nufland ergebenen Umgebung.
Nüdmann erzähle, YBnlgatow fei beauftragt die Gegner des
Herzogs in Waricau lebhaft zu unterftügen, welde um fo
mutbiger auftreten. Howen hat eine Erklärung eingereicht in der
Sache des Alod’s. Die Enthültung des Verluchs eines Ablommens
mit dem Derzog habe den Ginfluß; Yowens nur gejtärtt, weil
man ihn men mit dem Herzog für verfeindet halte. Der Herzog
Dat auf 9.6 Vorftellungen diefem veriproden, in Zufunft vor:
fühtiger zu fein mit feinen Vertranten, den Buttlar'o.
N, 25. Sept. Cs wird zugegeben, dah Katharina wahr:
icheinfich juchen werde, den früheren Einfluß in Polen wieder
berzuftelfen; aber es fei nicht anzunehmen, daß fie Gewalt an
wenden werde, weil jolde Mittel in Polen jelbjt und von den
fremden Mächten her Wiverfiand finden würden. In Warjchan
werde Golg die Intereffen des Herzogs gegen Yulgakow verr
Mpeibigen.
Be, pt. In Livland fei es nun ftille geworden
von Truppenmärfchen; nur ein ftarfer Nordon von Nojafen fei an
der Grenze aufgeitellt, theils gegen die vielen Ueberläufer ans
462 Zur Geichichte der Unterwerfung Aurlands.
dem livländiichen Banernjtande, theils gegen den Handel, welcher
durch Ufas von 1759 verboten jei außer über ige.
N, 10. Of. Goly in Warjchau hat den Auftrag erhalten,
gegen die Jnforporation von Pilten nötbigenfalle eine Note einzu
reichen, in der gegen folche Verlegung der Verträge, deren Garant
der Nönig von Preußen durch den Vertrag von Dliva jei,
Einipruc) erhoben werde. D. joll in Nurland und Pilten dieies
Auterefje Deo Nönige an ihren Angelegenheiten geltend machen.
u Sept. 9. regt wieder die Bejorgnih an, dal
die Anforporation Piltens im Neichstage dod noch verhandelt
werden fünnte. Neben Anderem jei dann au die Konkurrenz
für Windan und Yivland zu fürdten, wenn die Polen in Saden
münde einen Hafen anfegten. Gin Yeutenant le Bauld de Nans
habe Äh mit der Windau und Zadenmünde befannt gemacht;
fbarımadhung beider jei nicht Ichwer.
8, 2. Of. Die Mehrzahl der ruifiihen Truppen in
Niga Hat eine andere als die bisherige Marichrichtung eingeichlagen,
und zwar nad Eitland bin. Howen in Weiten, Henfing in
Warihan arbeiten gegen den Herzog im der Zade der Ab
grenzung des Alod’s. Inpwiichen haben die lieder der von
Warjchau her ernannten Nommijlion, Howen ausgenommen, den
erbit
begimmen. Der Herzog it Teit 3 Wochen auf der Jagd, man
weiß nicht, wo er fich befindet,
Eid abgelegt, und die Arbeiten werden wohl mod) im S
"Rortjch
folgt.
Ueber grauenlitteratur,
Zwei Vorträge von f Sintenis.
1. Warum dichten Frauen?
Eine fonderbare Frage it eo, die ich beute zu beantworten
unternehme: Warum dichten Frauen? Was zum Dichten
etwa erforderlich it, willen wir: Geift und Phantalie, Empfindung
für Wahrheit und Schönheit, Menjchenfenntniß und Yebens:
erfahrung, endlid) ein entwidelteo Sprachgefühl. Das find ic)
hohe Aniprücde, die jelten ein Sterbliher alle zugleich erfüllen
ann aber warum fol diefer Eine nicht auch einmal eine
Frau fein?
Wideriprehen jene Anforderungen der weiblichen Natur:
anlage? Sind Geilt und Phantafie, Empfindung für alles Wahre
und Schöne, Venichen- md Lebensfenntniß ausichlichlich oder
and) nur vorherrichend Gigenthum der Männerwelt? Gewiß nicht!
In vielen Dingen it ja freilich die Natım der Fran von
der des Mannes jo verichieden, dab an eine vollfommene Gleich
ftellung der Gejchlechter niemals zu denfen viele der darauf
gerichteten Beitrebungen gehen weit über ein mögliches Ziel
binans. Ja wir müflen Niehl*) Nect geben, der behauptet, mır
auf der niedrigiten ulturftufe fei der äußere und innere Unterfchied
des Gefchlechtes einigermahen ausgenlichen; je Höher die Bildung
fteige, deito mehr vergröfere fich derfelbe.
Was würde es nügen, wenn fämmtliche Frauen Europas
beichliehen wollten, Yah zu fingen oder im Va zu ipreden ?
) Nicht, Die Familie. 1861. p. 32.
464 Ueber Frauenlitteratur.
Das mühlen fie jchon alten Negerinnen oder ndianerweibern
überlajjen.
Ebenfo wenig wirden unfere Frauen den Ztrapazen des
Matrofendienftes gewachien jein oder ein Leiftungsfähiges Cffiziers:
Corps zur ftellen vermögen: aud werden verftändige Eltern fd)
hüten, ihre Tochter zu fo gewagten Experimenten zu erziehen.
Da die Frauen es aljo den Männern doch nicht gleichthun
fönnen in Dingen, zu welchen ihre Conjtitution ihnen Mittel und
Kräfte verjagt hat, werden fie beiier auf Tolche Gebiete hin-
gewiejen, wo fie den Männern wahricheinlih oder fiher im
Ganzen ebenbürtig find, jo Lange fie fh in den Grenzen der
Reproduction halten.
Indejien find die oben genannten Nequifiten der Dichter
anlage Feeliiche und giftige Potenzen, die cbenfowohl im weiblichen
Sıganiomus ich entwiceln, wie fie von jeher Männern zu Gebote
geitanden haben.
Was hat nun die Srauenmelt alfer früheren Jahrhunderte,
ja Jahrtaufende mit verhältniimähig wenig Ausnahmen veranlaht,
dieien Vefi zu verleugnen oder wenigitens ihr Licht unter den
Scheffel zu ftellen? Das haben fie doch bis in's vorige Jahrhundert
Dinein meift gethan, wie id Ihnen alobald durd) Zahlen zu
beweifen vermag.
Vergegenwärtigen Sie ih nur folgende Thatiadhen: ab-
geichen von vereingelten Dichterinnen deo Altertfums und des
Mittelalters begegnen wir crit in der Neformationogeit cetmas
Hänfiger Frauen, die mit der Kader umzugehen wien. Aber biS
weit in’o vorige Jahrhundert Find auch das noch recht feltene
Ericheinungen.
Id beichränfe mich heute auf Dentichland, weldes in
diefer Beziehung den meiften Yändern Europas vorangegangen it
und dejen Material mir in velativer Volljtändigfeit vorliegt.
Bisher üt, Foweit ich jehen Fann, noch fein Verfuch gemacht
worden, die rauendichtung der Welt oder and) nur Deutichlands
in einer Ueberfiht zu vereinigen. So war id) genötbigt mir das
gelammte itterarhiftoriiche Material zuianmenzufucen und zu
arıppiren. Möge mich das entichuldigen, wenn id) weit entfernt
bin von einer annähernd volländigen Sammlung und zwed:
Ueber Frauenlitteratur. 465
mäßigen Anordnung des weitläufigen Stoffes, der von Tag zu
Tage umfangreicher anmwädit.
Von Yuther's Tagen bio 1700 habe id) nur etwa 40 deutiche
Dichterinnen ermitteln Fönnen; von 1701 — 1800 fallen die
Geburtsjahre von 220 Schrijtitellerinnen — ic} redine nad dem
Geburtsjahr ale dem einzigen ftabilen Moment; freilich zähle ich
daher jehr viele Frauen, die in der That erit im 19. Jahrhundert
zur Geltung fommen, noch zum vorigen Jahrhundert —; von
1801-1874 habe ich bis jeßt 1517 Namen verzeichnet, zu denen
fich aber bei fortgeießter Aufmerfamfeit jteto neue gefellen.
Die beiden erjten Jahrhunderte der neueren Zeit geben aljo
im Verhältnii zum vorigen, dritten die Proportionoziffern 1
das achtzehnte Jahrhundert verhält fid zum 19. wie 1:60; das
Verhältnih; aller drei Abichnitte ift demnach) 1 37,05. Aber
uoch it unfer Jahrhundert nicht zu Ende; das lehtberechnete Nahr
ift 1874 — die jüngiten namhaften Dichterinnen find erit 20 Jahre
alt — und eo fehlen ohne Zweifel ned) jehr viele Frauennamen,
welche der öffentlichen Erwähnung harren; endlich ift es sehr
wahricheinlic, dai; die legten 26 Jahre des Jahrhunderts ebenjoviel
oder nod) mehr Schriftitellerinnen hervorbringen, alo die bieherigen
74 gethan haben, nur dah dieje meit erit im 20. Jahrhundert
eine Wolle ipielen werden.
Gern würde ich Ihnen auch das augenfällige Anwachien
der Zahlen nah Jahrzehnten veranicaulichen, aber dazu fehlen
mir feider allzuviele Daten. Denn von jenen 1517 Tamen,
gröhtentheils mod) unferen Zeitgenofiinnen Haben nur ela 1050
ihr Geburtsjahr mitgerheilt; ich ann das nicht für einen Zufall
halten; Viele mögen jelbjt dem umermüdlichen Nürjdner un:
zugänglich gewejen jein; Andere dagegen haben co wohl nicht
wijjen lafien wollen, wie viel Jahre fie zählen. Zn einzelnen
Fällen wird uns jonderbarer Weile nur der Geburtstag, nicht
das Jahr verrathen.
Ih hätte diefe Heine Schwäche nicht berührt, wenn fie
nicht gar zu charafteriftiich wäre. Nur von ganz wenigen Schrift:
ftelfern der neueren Zeit fehlt das Geburtsjahr in den Verzeich:
niffen, offenbar weil eo fi) bis dahin wirklich nicht hat feititellen
laffen — von den Damen aber beträgt der Ausfall fait 30%.
166 Weber Franentitteratur.
Aljo vor 1701 nur ca. 40; dann bis 1800 bereits 220;
feit 1801 endlich schon 1517! Diele Ziffern zwingen ja zu der
Frage, woher dieie gewaltige Zunahme komme. Co handelt fid)
hier nicht um etwas jo Neueo, das man et neuerdings entdedit
oder erfunden hätte, von dem frühere Zeiten fih gar feine Vor-
jtellung gemacht hätten. Warum haben die Schweitern der Sappbo,
der Hroswith, der Vittorin Golonna nicht in ebenjo großer Anzahl
den Mufen gedient” Sollen wir nochmale die Anficht Nichts‘)
theilen: „Das maiienhafte Auftreten weiblicher Berühmtheiten und
ihr Hervordrängen in die Teffentlichfeit fei allemal das Wahr:
zeichen einer franfhaften Nervenverftimmung des Zeitalters; mo
dagegen das öffentliche Yeben einen Fräftigen Aufihwung nehme,
da fei allegeit die rau in den Frieden des Haufe zurüdgetreten?”
Allerdings wuchern in den lesten Nahrzehnten immer üppiger
die Symptome franfhafter Nervenerregung, mit der aud) der
männliche Organismus mur zu häufig behaftet it. Dagegen haben
in den Kriegsjahren von 1864 -IS71 die rauen in Ichänften
MWetteifer ihren weiblichen Yeruf erfüllt, durch Zürjorge und
Kilege zu helfen, wo fie nur fonnten; und erit alo diefe Epoche
der nationalen Anjpannung vorüber war, erflang aus Frauennumd
die Mahnung: „Die Waffen nieder!”
Diefe und mande ähnliche Vetradtungen jheinen alle
Niehlo Anficht gewifiermaßen zu beitätigen.
Doc) Halte ich's nicht für zeitgemäß, die Junge: Warum
dichten Frauen? mit abjtraften Erörterungen zu erledigen. Wollen
wir vielmehr, joweit die vorhandenen Auofünfte veidhen,**) den
individuellen Gründen nachipüren, welche ichen im vorigen Jahr
hundert verhältmiimähig viele Frauen veranlaft haben, nad)
sehriftitelleriichen Erfolgen zu ftreben. Wir werden alsbald die
Erfahrung machen, daf; bereits damals die meiften Äußeren und
inneren Motive vorhanden waren und wirkten, welde im 19.
Jahrhundert nur an Intenfität gewonnen haben.
*) ich, Die Zamilie IS6L. p- HT u. ih.
) Bei Weite die meiften diefer Austünite verdanfe ih: 1. N. Gocdcde,
Grundeii der Geichichte der deutihen Dichtung I. II.
Yeriton der deuticen Dichter ze. Yeivyig. Heclam. 3 8 Nürichner, Dentider
Yilteraturstaleuder 1803, 1814.
Ueber ranenfitteratur. 107
Diejes rapide Wacothuum ter Frauenlitteratur wird fc
dann aus der jeit 100 Jahren jo weientlich veränderten Lebens
anjchaunng und Lebenslage, Towie aus dem aeiteigerten geiitigen
Verfehr erflären lafen.
Das vorige Jahrhundert hat alio die Yabn gebrochen, auf
welcher num unter günitigeren Bedingungen die individuelle Negung
zu einer generellen Strömung geworden fit.
Zunädit find eo die natürlichiten Verhältniiie, die Bande
der Ehe und der Familie, welde amregend auf die Frauenwelt
gewirkt und fie ermuthigt haben, den litterariichen Antereffen der
Männer zu folgen.
Denn das mag gleich bier Fonftatirt werden: an der Epige
einer nenen Nichtung, einer auferordentlihen Bewegung auf dem
Gebiete der Yitteratur hat bisher noch feine rau geitanden;
allentgalben find fie (ediglid) der Jnitiative der Männer gefolgt.
Topiiche Yeiipiele von diefer Anregung bietet das vorige
Jahrhundert in jeder Beziehung dar.
Der erfic namhafte dentiche Schriftiteller, der ganz den
18. Jahrhundert angehört, it Gottiched. Mag man über jeinen
abjoluten Werth nad) jo abiprechend urtheilen, daß er für das
zweite Liertel des vorigen Jahrhunderte arofe Bedeutung gehabt
hat, muß Jeder anerfennen.
An feiner Seite aber jteht, vedlich bemüht, ihn in feinen
poetischen Beitrebungen zu unterftügen, feine Gattin Yncie Adels
aunde Vietorie, geb. Culmuo. Sie hatte Jahre lang mit ihm in
poetiihem Briefwechiel geflanden, dan munde fie feine Hanefran
und Gehülfin und teilte au mit ihm den furgen Nubm, den
der Veipzgiger Dietator genoh.
Hottjhed überihägte den Werth feiner Fran feineowens;
an Gefchmad und dramatifcher Fertigfeit war fie ihm vielleicht
jogar überlegen. Webrigens hatten fchen die Dichtergeiellichaiten
des 17. Jahrhunderts Frauen als Mitglieder aufgenommen, doch
waren dies immer nur Ausnahmefälle, die man um ihrer Seltenheit
willen ftets beionders verherrlichte. Sottiched jelbit fich, alo er
1734 die Chriftine Marianne von Fiegler zur Dichterin Trönte,
eine gange Sammlung von Gedichten und Schriften auf die
feierfihje Gelegenheit ericheinen.
408 Weber Franenlitteratur.
Von num an begegnen wir in ber Dichterwelt des vorigen
Iahrdunderts nod) mandem Ehepaare.
Ih jehe dabei ganz ab von jenen Wittwen, welche dem
Andenken ihrer veritorbenen Gatten biographiiche Monumente
errichtet haben wie Caroline Herder, Ernejtine Voß, Therefe
Forfter-Quber, in neuerer Zeit Emilie Uhland — ich übergehe
Elife Hahn, die noch Jahrzehnte lang nad ihrer Scheidung von
Vürger unter feinem Namen als Jmprovifatorin und Deelamatorin
in der Welt umberzog
Vielmehr verweile id auf die romantiiche Schule, deren
Vertreter fajt ohne Ausnahme mit Dichterinnen verheirathet waren,
die Schlegel, Vernhardi, Fongue, Arnim, Brentano. Und zwar
waren diefe Frauen meijt erit durch Scheidung oder Todesfall für
diefe neue Ehe frei geworben.
Weit zahlreicher werden num die Dichtereben in den drei
Generationen unfereo Jahrhunderts; id) fünnte Ahnen 71 Namen
folcher Kaare aufzählen.
Ohne Zweifel hat fih häufig die geiftige Anregung und
Nichtung vom Manne der Fran mitgetbeilt; indeilen it uns aud)
der umgefehrte Hergang bezeugt: da von Düringofeld hat ihren
Gatten, Otto von Meinberg, bewogen Scriftiteller zu werden
und das Zulammenwirfen hat ihm feine Gattin jo unentbehrlich
gemacht, da; er der Weritorbenen am Tage nad) ihrem Tode
freiwillig folgte.
Nur jehr felten haben foldde Ehen wie die Bürgers und
Aug. W. Schlegels -— wieder getrennt werden müjjen; von jenen
71 Paaren der Gegenwart find faum drei Veiipiele nambaft zu
machen, darunter Sader-Viajoch. Tiffenbar liegt in der poetiichen
Uebereinfimmung und der litterariichen Senofienichaft eine be
deutende Gewähr für ein harmonifches Zujammenleben.
Indeifen dürften in der Mehrzahl der Fälle die Gatten
eher durd) die jÄhon vorhandene gleiche Neigung und Bejtrebung
zufammengeführt worden fein; Luife Meühlbadı, oder, wie fie
wirflih hieß, Slara Deüller ward durch ihre belletriftiichen
Verjuce, die im „Sreihajen“ erihienen, mit deijen Nedakteur
Th. Mundt befannt; bald darauf wählte diefer die Viitarbeiterin
zu feiner Gattin,
Ueber Frauenlitteratur. 169
Aber nicht nur Dichterin und Dichter leben gern verbunden;
zuweilen ijt der Gatte Diann der Wijfenihaft, die Gattin geht
ihre eigenen belletrijtiihen Wege.
Früheren Jahrzehnten Dorpato erinnerlich it Minna Mädter,
welche ihrem berühmten Gatten hierher gefolgt war und mit ihm
25 Jahre lang droben im Wohngebäude der Sternwarte gelebt
und gedichtet hat. Die Gattin des weltbefannten Anatomen
Hort ift ebenfalls mit mehreren Händen „Gedichte“ hervorgetreten.
Oder der Mann it aud wohl Nedaktenr eines Wlatteo,
einer Zeitfhrift und die Frau liefert dahinein Gedichte oder Er-
zählungen. Sie werden fd) vielleicht ebenjo wie id gewundert
haben über die Nachjicht der Daheimredaktion, welde alle die
beicheidenen Verje aufnimmt, unter denen der Nanıe „Frida
Schyanz“ jteht; preiit doch fogar Herr von Ecjepansfi, der jonit
mit aller Mittelmäßigfeit auf geipanntem Fuße ftebt, ihre eben
erichienenen Spruchjammlungen; ich habe aufgehört mid über
diefes Alles zu wundern, jeit ic gefunden habe, dah Herr Zonaur
Frida Scanz ift der Mädchenname von Frau Sonaur
zur Nedaftion des Daheim gehört.
Mo ein Nennzeihen des zu Ende gebenden JahıYunderts
mui ich endlich noch hervorheben, dal; auch wohl jede Chehälfte
ihre eigene Zeitichrift vedigiet, wie Herr Otto Tippel, der die
„Tägliche Nundichau für Stadt und Land“ und Frau Hedwig
Tippel, welche die „Schlefüche Dausfrauenzeitung“ berausgiebt;
ein fchönes Bild jener Arbeitsfameradihaft, welde uns die
jogialiftiiche Zufunft verpeift.
Jedenfalls Hat fi) die Gattin jeit Votticeds Zeiten nad)
und nad) das gleiche Mecht an litterariicher Bethätigung erworben,
wie ihr Mann; ja, was Goethe jeiner Schwiegertochter, der
Herausgeberin des „Chaos“, als einen Zeitvertreib, als eine Art
Spieljeng gönnte, das jhäpt heutzutage mander Mann bereits
als den Lebensberuf und als Erwerbsquelle feiner Fran. Dieie
Grrungenidhaft wäre nicht möglich geworden, wenn nicht die
Thatfache evident vor Augen tände, dal; die Befühigung mander
gebildeten Zrau zu folher Beihäftigung ausreiche.
Von vielen Tihterinnen haben wir die Meberzeugung ge:
wonnen, -— die bezüglidien Nacpricpten jtammen ja augenfcheintich
N
470 Ueber Frauenlitteratur.
von ihnen jelbft oder von ihren nächiten Angehörigen — bafı fie
in den glücklichften Familienverhältniijen (cben oder gelebt haben,
und wir glauben zu bemerken, dafi ein daher entiprungenes Wohl-
gefühl fi in der Stimmung ihrer Schriften wiberipiegelt. Ja
ande von ihnen mag gerade im häuslichen Glüc den Quell
ihrer Dichtung entdedt haben. Es liegt nahe, das zu beobachten
am den Dichtungen von Dttifie Wildermuth, Johanna Spnri,
Marie Ebner von Eichenbadh, Helene Stöfl und Anderen, deren
aanze Lebenslage und ausdrüdlich als eine böchit erfreutiche
geichildert wird.
Andererfeits ift es cbenio begreiflicd, dah ein dichteriiches
Frauengemüth es wmerträgfich finden mul, fd an einen ober:
flächfichen, ungebildeten, vielleicht gar vohen oder ausfdhmeifenden
Dann gefeifelt zu Tchen.
Auch hierfür bietet fchen das Schidjal der Sängerin
Friedrichs d. Gr., der deutichen Suppho, Anna Luife Kari ein
trübjeliges: Veihpiel; zehn Jabre lang bat fie fih von ihrem erjten
Manne mihhandeln laffen müffen; die Erfahrungen mit dem
zweiten waren nicht erfreuliche; von Beiden mußte fie geichieden
werden. Unfer Jahrhundert verzeichnet mn eine ganze Neihe
von Dichterinnen, welche aus dem bitteren Melde ehelichen Mih-
geichietes getrunfen haben, bis fie ihn von fd) fliehen. Ich habe
fein Urtheil darüber, ob fi in den Dichtungen fo hart Betroffener
eine Nachwirkung davon Häufig findet. Cs wäre aber fein
Wunder, wenn die poetiiche Stimmung durch derartige Erfah:
rungen getrübt oder gar zur Vitterfeit vergällt, zur Lebens
werachtung überipannt wäre.
Bisher habe ich die Anregung in Betracht gezogen, welche
die Sattin in der Ehe erfährt. Weit natürlicher müllen wir es
finden, dah; poetiiche Begabung und Neigung von den Eltern auf
die Ninder fih vererbt; zumächlt vom Later auf die Tochter.
iejes Erbe wird vermehrt durch forgfättige Erziehung, gründlichen
Unterricht md geiftige Anregung jeder Art.
Gehen wir and) diesmal in’s vorige Jahrhundert zurüd, fo
präfentiren id gleih die Töchter von 4 Göttinger Brofefforen,
die fich durd) Bildung, ja did; Gelchriamteit hervorgethan und
meiit au als Dicpterinnen verfucht Haben.
Ueber Feaenlitteratur. ar
gen war bald nad) jeiner Stiftung 1737 eine der
erjten Univerfitäten Deutichlands geworden; co vereinigte willen“
ihaftliche Größen fait jeder Nichtung. Neben Haller, dem Be-
gründer der Phnfiologie, dem Dichter der „Alpen“, Iehrten bajelbit
der Geograph und Bijtorifer Gatterer, der fritiiche Ereget
Vicdjaelis, der Philotog Heyne und der Statiftifer und Publizit
Schlöger und diefe Männer bildeten aud) in ihren Töchtern den
Sinn für Wiffenihaft und Kunfı. Mhilippine Gatterer, Garoline
Michaelis, Ihereie Heyne find nad) ihrer Xerheirathung mit
Ipriichen und anderen Dichtungen hervorgetreten; Dorothea Schlöger
dagegen hat,*) „als fie die Haube des Ehejtandes aufiehte, den
Phifofophiichen Doftordut ihrer Mädchenzeit bei Zeite gelegt und
fortan nun der Familie gelebt”,
‚Hat auf diefe Frauen die friiche Atmofphäre eines afademifchen
Vildungsfreifes unverkennbar eingewirkt, dem fie in ihren Jugend»
jahren angehörten, fo hat Vtofes Viendelsfohns Tochter Dorothea
lediglich dem ımermüblichen Streben ihres Waters, jowie der
durch ihn geichaffenen Aufklärung der jüdifhen Gefellichaft Berlins
ihre geiftige Bedentung zu verdanfen. Freilich Ichloh fi dann
die Tochter des edlen Deiften leidenfchaftlich an den romantifhen
Propheten Friedrich Schlegel an, trat aud mit ihm zum Na:
tolizismuo über, doch verfeugnete fie auch in jpäteren Jahren
nicht vollftändig die humane Tendenz, welde fie vom Lerfafler
de „Phädon“ und vom Original deo „Nathan“ gelernt Hatte.
War im vorigen Jahrhundert eine über den Elementar-
unterricht hinausgehende Wlädchenbildung nach ein Kurusartifel,
den fich allenfalls die höheren Stände erlauben durften, jo ift im
unfeigen der Mädchenunterricht derartig gefleigert, dafı man fchon
jeit Jahrzehnten vor dem Uebermaße warnt.
Hauptjächlich ift bie Vertiefung und Verallgemeinerung des
Unterrichts in den Töchterfchufen dem bürgerlichen Mittelftande
zu Gute gefommen, der im vorigen Jahrhundert böchitens die
Zöhne einer gründlichen Bildung theilhaftig werden lieh.
Steht daher die weibliche Bildung des 19. Jahrhunderts
überhaupt auf einem weit höheren Nivenu als früher, jo find
*) Niehl, Die Familie 1861. p. 78.
472 Ueber Franenlitteratur.
natürlich auch diejenigen Fälle viel Häufiger, wo Töchter ihren
Vätern unmittelbare Anregung zur Vetheiligung an der Yitteratur
verdanfen. Das Verjtändnih für den unihägbaren Werth geiftigen
Lebens it dem Ninde jchen injtinftiv offenbart; cs äufert fc)
dann naturgemäß in Bewunderung md Nacheiferung.
Es ift ganz unmöglich alle die Namen derer aufzuzählen,
die fh jelbft zu einer jolden Anregung befannt haben. Einige
der mäcjtliegenden Beiipiele mögen genügen: Nujtinus und Vlarie
Kerner, Franz und Luije von Nobell, Georg und Kudovica Heieficl,
Alerander md Dora Dunder, Hermann und Goswina dv. Verlepieh;
aud; Oskar von Nedwig hat in einer Tochter feine zarte Mufe
verfüngt gefehen.
Aber auch die Mutter überliefert zuweilen der Tochter
poetiüche Anlage und Neigung; und zwar laifen fid chen im
vorigen Jahrhundert zuweilen drei Generationen verfolgen, was
dann in unjerem noch viel häufiger vorfommt und vorausfichtlic,
vorfonmen wird.
Anna Luife Narich hat nicht nur jelbit veichliche Yob-
preifungen erfahren, jondern auch die Genugthuung gehabt, in
ihrer Tochter, der YBaronin Nlende ihre eigene poctiiche Ver:
gangenheit wieberbelebt zu jehen; ihre Entelin endlid, Helmina
von Gheyp, bildet mit ihrer vomantiichen Tendenz den Zuperlativ
diefer Neihenfolge. Leider haben auch Tochter und Enfelin das
eheliche Mihgeidhiet der Mutter als Erbtheil überfommen.
Das empfindiame Talent der Sophie von La Node ent:
wictelte fih in ihrer Enfelin Vettina Brentano zu der Luftigen
Ertaje jprühender Romantik.
Diefe weiblihe Tendenz hat num unier Jahrhundert ganz
beionders begünjtigt: Charlotte Bird-Meiffer, Wilhelmine von
Hilern und Hermine Diemer vergegenwärtigen uns die drei
Dienfchenalter deffelben; Mutter und Tochter find ferner; Ottilie
und Adelheid AWildermuth, Pauline und Frida Scan, Nahida
Sturmbäfel und Rahida Remy, Anna und Clara Korftenhein
Alle bioher angedeuteten Verwandtichaftsverhältnifie
wir aber beilammen der Gruppe, welche von der oben
erwähnten Tochter des Hiftorifers Gatterer abjtanımt. Zie bieß
als Fran Philippine Engelpard; ihre Tochter Karoline Engelhard
Ueber Franenlitteratur. 473
bat im eriten Viertel unferes Jahrhunderts „Iuliens Briefe” und
andere Erzählungen geichrieben; eine zweite Tochter ift die Mutter
von Philipp Engelhard Nathufins gewefen, der von feiner ber
rühmten Großmutter feine Vornamen geerbt hat; beiten Gattin
Marie Nathufius it Ihnen alo Verfajlerin der „Elifabety“ und
anderer tugendhafter Erzählungen befannt; Elsbeth Nathulius
endlich, beider Tochter, verfaßt Novellen.
Es giebt alio jhon Generationen gewiller Janilien, in
welchen, wie in den Nachfommen des arabeldichters Friedrid)
Ad. Nrummacher, die geiltige Eigenart jo ausgeprägt ült, daß
aud) weibliche Mitglieder gleichjam von Haufe aus zum Schrift:
ftelfern berufen find. Tradition und Pietät fordern zur Nachfolge
in den Spuren der Vorfahren auf.
Wenn zur Zeit Friedrichs des Gr. einer feiner Offiziere cs
fi) einfallen fiek, an feiner dichteriihen Ausbildung zu arbeiten,
fo hatte er feinen Nameraden gegenüber einen harten Stand,
weldhe foldies Streben gründlich veradıteten, ja 8 verpönten.
Ewald von Mleift verbarg eo möglichit, daß er neben dem Kriegs:
handwerk auch den Mufen diente; fünfzig Jahre fpäter war diejer
liebensmwürdige Vorfahr zugleich das Worbild für Heinrich von
der ebenfalls die Erfahrung machte, dab Vildung im
dient nicht zu erlangen war, da aud um 1800 nod die
DViafie der Offiziere an den rohen Sitten aus Friedrich Wilhelm 1.
Zeit und an der Verachtung alles Wifiens feithielt.
Das ift nad) der Schlacht bei Jena allmählich anders ger
worden. Dan hat befanntlich geiagt, der deutiche Schulmeiiter
babe die großen Siege von 1866 ımd 1870 gewonnen. Das fit
freilid richtig; aber in demjelben Maafie, wie fi die Intelligenz
der Subalternen hob, muhte auch das Tffizierscorps an Bildung
gewinnen und jo it aus dem preußiichen Offizierftande gar
mancyer angefehene Schriftiteller Hervorgegangen. Yon TDichtern
will ih nur Saudy, Winterfeld, Mofer und Wildenbruch nennen.
Ganz befonders häufig aber find es Töchter oder Gattinnen
von Militärs, vorwiegend Höheren Nangeo, welche dem Bildungs:
freife, in dem fie aufgewachien find ober dem jie angehören, ein
ehrendes yeugnih ausitellen. Zu jenen gehören Yonife von
Frangois, Nataly von Cicitruth, Nlotilde von Schwarztoppen;
474 Neber Franenlitteratur.
von diefen will ich Chriftine von Vaeden (Ada Chriften), Eufemia
Gräfin Balleftrem, jest Frau von Adlersfeld, Babette von Bülow
(Hans Arnold), Marie Ebner von Ejchenbad) hervorheben; endlich
giebt eo eine Anzahl Dichterinnen, welche zugleid) Töchter und
Gattinnen von Militärs find.
Aus den angeführten Beijpielen ergiebt fih, daß fd diele
Wahrnehmung nicht nur auf Preußen und Deutichland, fondern
auch auf Tefterreich bezieht. Hier wie dort geht das Offiziercorps
nod) immer vorwiegend aus dem Adel hervor; in der That ge
hören die oben genannten Namen jämmtlich dieiem Stande an.
Km hat aber überhaupt der höhere und hödhfte Adel, ja
65 haben die Fürftenhäufer Deutichlands umd Tofterreiche eine
anfehntiche Menge von DVichterinnen erzogen; während Fürftinnen
und Gräfinmen vor 2300 Jahren ausichliehlich geiftliche Lieder
dichteten, verbreiten fh jept die angeichenften Namen über alle
Gebiete der Pocfie.
Unter den Fürjtinnen fteht odenan Sarnen Sulva, die Königin
Eiijabeth von Numönien; die Prinzeifin Amalie von Sachien
werde id) jpäter nod zu erwähnen haben; 12 weitere fürjtliche
Kamen aufpızählen werden Sie mir gewih erlafien.
Yon den 48 gräflichen Dichterinnen will ich nur die ergenwrifche
a Hahı-Yahn, Margarete und Gecile Nenferling, Jon und
Sophie Baudiffin anführen.
Die weiblichen Mitglieder des Freiherrnjtandeo, welche Tic)
mit der Dichtfunft beichäftigen, habe id nicht annähernd vollitändig
feiitellen fönnen; ich beichränfe mid) auf die Ginheimifchen, wenn
fie and) meilt nicht mehr unter uno (eben: Schoulg-Aicheraden,
Srotthuß, Ungern Sternberg, Vietinghoff, Engelhardt, Stat.
So haben die höheren und höchiten Stände nad) Vermögen
ihre Aufgabe geföft, voranzugchen auf dem Made dichteriichen
Empfindens und Wirkeno; in Anbetracht der Mittel und der
Vene, welche ihnen zu Gebote ftehen, find die Yeiitungen freilich
nod) lange nicht muftergültig; wenn man aber andererfeits die
mannigfaltigen Schwierigfeiten und Sindernifie veranichlagt, welchen
freie dichteriiche Entfaltung gerade in diefen Kreiien jo leicht
begegnet, melde derfelben Etiquette, Vorurtheil und Blafirtheit
Ueber Frauenkitteratur. 4
entgegenjegen, To it ihre Vetheiligung an geiftigen Zireben
und unabhängigem Denfen immerhin had) anzuichlagen.
Id Habe nur offenfundige Thatfachen, nur Jedem zugängliche
Quellen benugen können; hätte ich tiefer in die wirklichen Zujtände
eindringen, manche verborgene Negungen für meinen Zwed ent
deten und benugen fönnen, fo hätte fd) gerade der Einfluß der
Herkunft, aljo des Haufeo umd des Standes noch viel grümdlicher
verfolgen laffen.
Wie anregend Gejchwiiter auf einander wirken, erfährt
Jeder, der dazu Gelegenheit hat; bejonders fichen Bruder und
Schwejter häufig in ergiebigem Nustaufc.
Dieje Wechfewirfung eriheint denn aud in der Litteratur-
ichicpte bedentjam. Zwar Cornelia Gocthe und Augujte Stolberg
verhalten fich noch pafiiv zu den Beftrebungen ihrer Brüder in
der Sturm: und Drangzeit; aber die Schweitern der Nomantiter
und ihres Gefolges greifen icon jelbit zur Feder: Sophie Tied,
Veltina Brentano, Koa Maria VBarnhagen; viel größer it be
greiflicher Weile die Anzahl folder Gejchwifterpaare feit 1800;
Allen voran nenne ich den Föniglichen Dichter Philaletheo, Johann
von Sacdjen umd feine Schweiter Amalie, unter dem Namen
Am. Heiter, Verfafferin von Schau: und Pujtipielen bürgerlichen
Sharaftero, dann die Geichwiter Braun, Büchner, Schüding,
Migenius nv. A.
Nicht jo zahlreich habe ich die Schweiternpaare gefunden,
die fd) überdies zuweilen hinter verichiedenen Namen verbergen,
wie die unglücliche Elife Lienhart und die Liebenswürdige Er
zählerin Helene Stöfl; als beiondere Merkwürdigfeit erwähne ic)
je drei Schweitern Extfinger und Oräfinnen Schwerin. Jn weldem
Grade hier der geichwiiterlichen Anregung, ob nicht vielmehr der
gleichartigen Erziehung diefe Schwehtern Alles verdanken, entzieht
fich der Beurteilung.
Andere VBerwandtichaftsgrade vepräfentiren Fanıy Tarnom
und ihre Nichte Amalie Bölte, jowie die beiden Franzisfa von
Stenget, ebenfalls Tante und Nichte.
Die Frage, welche ich heute zu beantworten verfuche, lautet:
Warum dichten Frauen? Jch habe bisher darauf erwidert:
Weit fie die Gunft individueller Verhältnifie erfahren haben,
476 Ueber Frauenfitteratur.
weil fie in der Jugend und im jpäteren Leben fi) verwanbdtfchaft:
ficher und geielfichaftlicher Anregung und Unterjtügung erfreuten;
weil inebejondere die gehobene Allgemeinbildung des 19. Jahr-
hunderts dem weiblichen Geichlechte zu Gute gefommen Üj
Diefer legtere Grund gilt natürlich für alle neueren Schrift-
ftelferinnen; nicht jo der eritere. Betrachten wir and die Nehrfeite
ber perjönlichen Zujtände.
Goethe jagt mit Net: Glüd md Unglüd wird 6)
Näcjit der Neligion ift die Bocfie die wohlipätigite Tröfterin
in Leiden und Gefahren. Oft find beide verbunden.
In der That ift die Zahl der Dichterinnen, welche, dem
Kummer zu entgehen, ihre Zuflucht zur Boefie genommen haben,
groß genug. Wen ein Gott gegeben Hat, zu jagen, wie er
feiet, dem wird die gefteigerte Empfindung zur wohlthätigen
Thätigfeit abgeleitet umd fo löft fi der Schmerz in erleihterndes
Schaffen auf.
Schon der Verlujt der Eltern oder eine Theiles hat die
verwailte Tochter häufig derart ergriffen, dah fie veranlaht wurde,
ihrem Leid in Verfen Luft zu machen oder der Pietät ein Denfmal
der Erinnerung zu ftiften. Auf dieie Weite it das befannte Bd)
„Unjere Winter“ entitanden; die Verfafferin Marie Nrummader
hat den eingefchlagenen Weg dann weiter verfolgt.
Eine etwas andere Bewandini hat cd mandmal mit dem
Verluft des Gatten; nicht mu das jo natürliche Gefühl der
Vereinfamung mag die Wittwe in die Sefellihaft der Miufen ge:
trieben Haben -- wofür co übrigens hinveichende Belege giebt —,
jondern Häufig nehmen die Bilichten der Hausfrau und Putter
derart in Anfpruch, dab exit nad dem Tode des Mannes ein
Uebergang zur chriftjtelleriichen Yaufbahn möglid) wird, wenn
zugleich die eriten Schwierigkeiten der Nindererziehung überwunden
find. Vettina von Aenim begann erit*) „nad dem Tode ihres
Vianneo 1831 ihre poetiichen Nräfte zu jammeln, um fie nad)
außen jpielen zu lajen“. Sophie Wörishöffer war im Januar
1871 verwittwet; im Mai darauf ward fie Mitarbeiterin an der
„Hamburger Neform“ und Hat jeither eine rege Thätigfeit ent:
» Goedefe, Grundeiis HIT. p. 56.
Ueber Frauenlitteratur. 477
widelt. Vertha Ychmann-Filheo hatte wobl bei Lebzeiten ihres
Mannes die exiten dramatiichen eruche gewagt,') „Eonute jedod)
exit nach feinem Tode an ein energiiches Forticreiten auf dem
eingefchlagenen Wege denfen“.
Wie groß der erfhütternde Eindrud von graujamen Ein-
griffen deo Schietialo auf ein weibliches Gemüth fein fann, will
ich an topiichen Beilpielen veranichaulichen, die fh leicht bedeutend
vervielfältigen lichen.
Anna Wedig den wirflien Namen der Dame aus
pommerfchem Adel ennen wir nicht --) „nahm die Feder zur
Hand, um jih mit Gewalt dem Schmerz über den Verfuft ihres
bei Gitfhin gefallenen Yieblingobruders zu entreien*.
Emilie Wepler?) verlor Mutter und Bräutigam durch den
Tod, theilte den Nummer des Vaters, der durch unglüdliche
Spefulation fein ganzeo bebeutendeo Verinögen eingebüht hatte,
und wandte fd) nun dem Studium der Öriechen, beionders Blatos
au jo richtete fie fich in ihrem Ächweren Leid wieder empor.
Sie schrieb nicht nur das befannte Wert „Mato und jeine Zeit”,
sondern auch Erzählungen und Gedichte.
Am Krankenbette der Mutter griff Wilhelmine Heimburg —
Vertha Behrens it der wirkliche Name jur feder, um ihre
erite Novelle zu schreiben.
Diarimiliane Franul von Weihenthurn, eine Großnichte der
berühmten dramatiichen Nünftlerin Johanna von Weihenthurn,*)
fah fidh durd) Schiejalsichläge mit ihrem einzigen Töchterden in
eine bedrängte Lage verjegt; fie fahte den Entichluh, „Tich durch
angeitrengten Schriftitellerfleii eine ausfömmliche Selbititändigfeit
zu erringen“. Nam war ihr dies gelungen, „da hatte fie den
grenzentojen Schmerz, ihre Tochter durch den Tod zu verlieren;
feitdem Hat fie, um Trojt und Nuhe zu finden, fi nur noc)
eifriger fehriftitelleriihen Arbeiten gewidmet“,
Jeannette SHolthaujen -—- MWieudonym Agnes Le Grave —
war glüclid verheirathet; aber’) „der Verluft ihres jüngjten
Kindes, ihres einzigen Nnaben drohte die Mutter fait zu ver:
nidhten“; da nahm fie ihre Zuflucht zu Dichtkunit.
!) YBrümmer Yeriton 3. sn. D Ebenda &. sn. M Ebenda &. = m.
9 Ebenda Ex n. 3 Ebenda &. nn.
478 Ueber Franenlitteratur.
„Cinige Verfuche in antifen Formen, die fie dem Philologen
Boch einjandte, erhielten dejen Beifall, To dab er binfort einen
regen brieflichen und dann aud perjönlichen Werfehr mit der
Digpterin unterhielt”. Darauf find zwei Sammlungen Gedichte,
Fabeln und andere Dichtungen von ihr erihienen.
Aud, Elifabeth von Numänien hat*) „ihre tiefiten, reichiten
Töne” gelungen, nachdem fie ihr mod) nicht vierjähriges einziges
Töcpterchen hatte hingeben mürlen. War fie gleich von Iugend
auf eine Dichterin geweien, jo hat doch exit diefer unerjepliche
Verluft fc dazu gereift und nun gelang cs ihrer jüngeren Freundin
Mite Aremmis, fie alo Carmen Sylva in die Welt cinziführen,
Zwar bat fi die Nönigin über diefe Thatjadje abweichend
geäußert: „Man hat behauptet, exit der Schmerz habe mic zum
Dichter gemacht. Dem it aber nicht jo. Das Dichten ift ganz
unabhängig von der äußeren Welt, von Nranfheit und von
Ziechthum”.
Indejfen meint die Nönigin wohl eher die dichteriiche Be-
gnbung; das Dichten ift ficher nicht unabhängig von der Änferen
Welt. Carmen Splvas eigene Boefie zeugt gegen fie: Diele it
erfüllt von den Cindrücen der dhavafteriftiichen NAuhenwelt,
namentlich ihres Nönigsreiche. Und ihre rührenden Klagen über
den Verhuit des geliebten Kindes - ihrer find eine Dlenge
widerlegen erft vet die Behauptung von der Unabhängigfeit der
Whantafie. Gerade von Carmen Syloa war die Verfennung der
postifhen Empfindlichfeit gegen Yebenseindrüde am allertegten
zu erwarten.
Dit defonderer Theilnahme, ja mit Ehrfurcht mühlen wir
die poetichen Stimmen vernehmen, welche unter Yeiden und Ent:
behrungen erflingen; denn co giebt eine nicht geringe Anzahl von
Dichterinnen, denen die Borfie in dauerndem Sichthum eine
Zuflucht gewährt hat, wie Elijabeth Nulmann, die im 18. Yebenojahr
an völliger Entfräftung itarb, oder die ergebene Dulderin Chriftine
Herrmann, die, Jahrzehnte lang an’o Nranfenlager gefeifelt, in
ibren Liedern ji weit über allen irdiichen Jammer erhoben hat.
Pinna Apranzo bühte nach den Majern alo Kind das
"€ Menfh, Renland. >. 136, 14.
Ueber Frauenlitteratur. 479
Augenlicht ein, lernte jpäter in der Vlindenanjtalt einen Leibens-
genofien fennen, heirathete ipn und trat dann im 25. Yebensjahre
mit Gedichten hervor, die nad) 6 Jahren eine zweite Auflage erlebten.
Die Schweizerin Luife Egloff erblindete bald nad) der
Geburt und lieh im 20. Pebensjahre ihre Gedichte veröffentlichen.
Joanne Sophie Nicter hat fait wörtlich daifelbe erfebt und
geleiftet; die wohl mod) lebende Kurländerin, die greile Varoneh
Grotthuß ift als junges Mädden allmählich erbfindet, hat aber
erit in viel jpäteren Jahren Novellen, Nomane und Erzählungen,
ja fogar ein Luftipiel geichrieben.
Nührend it diefe Vlindenpoefie, wenn auch weniger un-
erflärtih, als cs auf dem erften Blick fcheint; wir willen, da
Blinde häufig lebendigen Rumftjinn und vegen Nunfteifer befigen;
da diefe Gaben fd) in diefem Falle burdaus auf das innere
Leben, die Welt der Empfindungen und Gedanfen beichränfen, fo
find Mufit und Pocjie diejenigen Nünfte, welche Blinden am
eheiten ihr jonit freudloies Dafein erheitern, ja es unter Umftänden
werthvoll gejtalten.
Die nahe Verwandtihaft beider Stünfte, der Mufif und der
Voefie fegt den Gedanfen nahe, dal; eine erin wohl nud)
zur Didpterin werden fan. Und jo it 6 in der That; aber
nicht 61os jolche Frauen, melde in der Ausübung ihrer unit
wirtlich ihren Beruf gefunden haben, erbliden wir unter ben
beutihhen Dichterinnen; nein, auch folde, darunter recht befannte
Frauen, denen es nicht vergönnt gewejen it, beim Gefange zu bleiben.
Elije Polfo it jogar in Paris als Pamina und Zerline
aufgetreten, hat aber aus Gefundpeitsrüdfichten die dramatifche
Laufbahn aufgegeben und die litterariiche gewählt.
Eugenie John berechtigte zu den Idönjten Erwartungen; da
verlor fie plöplic ihre Stimme und zog fid) nun an den Schreib
tiich zurüd, auf weldem die Werke der Marlitt entjtanden.
Emilie Schröder bejaf; eine tefiliche Altjtimme, aus der
aber ihre Lehrer feinen Sopran zu bilden vermod)ten, und nad)
einigen Vühnenerfolgen *) „erfannte fie, dah fie ihr Ideal nie
erreichen würde — fie verlieh das Neid der Töne um Schau:
*) Yrümmer Leriton 3. sn.
450 Veber Frauenlitteratur.
ipielerin zu werden”; Nöticher beitimmte fie endlich anftatt auf
der Bühne -— mit der Keder zu agiven. So ward fie eine
rontinivte Ueberfeperin, namentlich von franzöfiichen Originalen.
Auguite Cornelius, Tochter eines Schanipielerpaares und
für die Vühne beftimmt, mufte ihre Abficht aufgeben, weil ein
tangwieriges Nieber ihrer Stimme die Kraft vanbte, und widmete
fih dann der Dramendichtung.
Wer die Yühne mit Erfolg betreten bat, fühlt fortan aud)
nicht fetten das Bediufnif, in Dichtungen zum Publifum zu reden.
Frauen beionders erleichtert die Gewöhnung, vor vollen Haufe
zu evicheinen, den fonft vielleicht duch Vangigfeit gehemmmten
Schritt in die Teffentlichfeit. Schaufpielerinnen entichließen Fid)
aljo von jeher leicht, Tetbit für die Vühne zu Ichreiben oder
wenigitens Äremdes zu bearbeiten.
Das hatte Ihn Gotticheds Wehülfin Friederife Neuber
gethanz ipäter hat die langjährige Schaufpielerin des Burgiheaters
Johanna Franul von Weihenthurn eine ftattliche Neibe von Dramen
(14 Bände) verfaßt; Alle jedoch hat die bekannte Dichterin der
„Pieffer-Röfet*, der „OSrilte*, die Umarbeiterin von Anerbachs
Frau Projeijorin in „Dorf und Stadt“, Charlotte Birch-Pfeiiter
übertroffen; in 23 Bänden find ihre zahlreichen Dramen bei-
jaınmen. Gleich der Mutter war aud) die durch die „Seier-Wallg“
ichnell bekannt gewordene Tochter Wilpelmine von KHillern von
Hanje aus Schanipielerin.
Ynije Buich-Niit verlieh bei ihrer Verheirathung das Do
theater zu Münden und *) „lebt jest, da cin Nervenleiden fie zur
unfreiwilligen Entfernung von der Bühne geywungen“ hat, nur
mit dramatiichen Entwürfen beihäftint.
Das bewegte Yeben, das die Bühnenwelt mit fich bringt,
it an jich Ihen intereffant, ja oft romanhaft genug beichaien,
um einer Daritellung zu lohnen. Wie werthvoll wäre es, wenn
Frieverife Neuber, die Zeitgenoifin und zeitweilige Yırndesgenoifin
Gotticheds, aus der Külle ihres wechlelvollen Treibens alo Theater
prinzipalin eine Zelbftbiograpbie gebildet und uns hinterlafien hätte,
wie 65 mehrere Gollegen des vorigen Jahrhunderts geihan haben.
' Yrümmer Yeriton Nachtrüge 3 s ı.
Ueber Frauenfitteratur. 481
Erjt der neueren Zeit verdanken wir eine Reihe von mehr
oder weniger zuverläfftigen Zelbjtbefenntnifien diefer Art, nie
„Xus meinem Bühnenleben“ und die „Nomödiantenfahrten“ von
Karoline Bauer oder die Schilderung von Anna Yöhn:Ciegel
„Wie id) Schaufpielerin wurde“.
Der vorfichtige Yeler wird ja vorfonmmenden Falles durch
die übliche Schminke hindurch die wirklichen Züge leicht entzifiern,
die and) dann noch anzichend genug ausgeprägt find.
Zelbit einige Dialerinnen finden fi bei Nürfchner verzeichnet;
ich vermag aber nicht zu fagen, ob ihre fitterariiche Veihäftigung
eine Ergänzung oder einen Erjag für fünjtlerifche Erfolge bildet.
Lehrerinnen waren im vorigen Jahrhundert eine Zchtenheit;
in ganz eritaunlicder Wei ihre Zahl während der zweiten
Hälfte unferes Jahrhunderte angewachien. Die Hebung des
Mädchenunterrichts einerfeits und das zunehmende Bebürfnih
andererfeito haben junge Damen veranlait, fich durch Unterrichten
eine felbjtändige Eriftenz zu gründen. Unzählige, die jonjt im
Familienleben faum mehr Verwendung oder Unterkunft gefunden
hätten, fönnen nun die erhaltene Ausbildung zu einer höheren
Lebensaufgabe verwerthen. Damit hat fich vielen Jrauen der
‚Horizont erheblich erweitert und jo durften fie den entfdeidenden
Schritt in die Teffentlichfeit wagen. Jhre Berufsarbeit, welche
eine fortgeiegte Mittheitung von Kenntniffen und Orundfägen
erfordert, die Herricaft über die Sprache begünitigt und feite
Neberzeugung ausbildet, Legt ihnen den Gedanken nabe, auch über
Hörweite hinaus auf Yeierkreife belchrend und bildend, oder
wenigitens unterhaltend einzuwirfen. Auf diefe Weite find Nlava
Bauer (C. Detlef), Sophie Junghans, Helene Stöfl, Emma
Simon (€. Vely) und zahlreiche Andere Schriftitellerinnen geworden.
jatt Vieler nur ein Beifpiel:*) „Im Nuli des vorigen
Jahres jtarb, 80 Jahre alt, Betty Paoli, wohl die bedeutendite
Ipriiche Dichterin unferer Zeit. Den Vater hatte fie früh ver-
foren, die Vintter lebte anfangs in geordneten Verhältniiien; aber
der Banferott einco Naufmannes, dem fie ihr Eigenthum anvertraut
Hatte, verfegte fie in eine bedrängte Yaye. Naum 15 Jahre alt
*) Aus den Netrolon in
teber vand und Mer“ ISUE.
182 Ueber Franenlitteratur.
mußte Babette Glück jener Name ijt Pieudonym der Diutter
und fich jelbjt den Yebensunterhalt erwerben. Sie wurde Erzieherin
und fand Gelegenheit, die Yücen ihrer früh unterbrochenen Zelbjt-
bildung auszufüllen. In vegem Verfehr mit den Wiener Poeten
Yenau, Grillparzer, Vauernfeld, A. Grün, Feuchtersleben ıc.
- fand fie den Maafitab für ihr eigenes Nönnen und Wollen
und gewann jenes Zelbitberwutfein, deifen der Nünjtler zum
Schafien, wie zum Beraustreten in die Teffentlicheit bedarf.
Nach einem bewegten Leben wirde fie endlid) von einer freundin
der aufreibenden Thätigfeit um’o tägliche Brod überhoben und
erfreute fh nun bis in's höchite Alter ungeihwächter Schaftens-
freubigteit hs Yände Poefien, drei Bände Erählungen und
mehrere Schriften litterariichen und Funftfritiichen Charakters jind
bisher von ihr eridienen und noch it mander Schap zu heben“.
In ähnlicher Weile mag cs Vielen ergangen fein; mehr
als 9° u aller itellerinnen unferer Zeit Find aus der Zahl
dev Lehrerinnen und Erzieherinnen hervorgegangen; ich glaube
aber, dal der Procentjag viel höher ausfiele, wenn wir über die
legten 30 Jahre beifer orientirt wären.
Jenes Veitreben der Frauen, fih durch eigene Arbeit un
abhängig zu machen, von der Nothwenbigfeit diftirt und vom
Ehrgeiz angeftachelt, hat eine große Dlenge von ihnen veranlaßit,
5 mit dem Schreiben zu verfuchen. Belonders dann, wenn ein
jäher Glücswechiel die Eriftenzfrage aufwarf, entichlof; fich aud)
wohl ein zaghaftes Welen, mit feinen Einfällen oder Erfebnifen
tapfer den Verjuch zu wagen.
Der ungeheure Bedarf unferer Unterhaltungsblätter an
Nomanen, Novellen und anderen Fenilletonarbeiten macht es be
greiftich, daf die Meiften trog der zunehmenden Concurrenz dabei
leidtich ihre Nehnung finden; geht doch faum eine Nummer der
vielen Wochen: oder Monatsichriften durch unfere Hände, welde
nicht Veiträge von Franenhand enthielt. Nur wenige Zeitichriften
find To ungalant, fih ohne Mitarbeiterinnen zu bebelfen.
O6 mm aber die unlengbare Ucberfüllung und das un
vermeidliche Hervordrängen jo mander Mittelmähigleit oder
Meberfpanntpeit num eine unbedentliche Confenueny berechtigter
Veber Frauenlitteratur. 483
Zuftände, od e6 nicht vielmehr, wie Niehl meint, das Symptom
einer Galamität ift, wage ich nicht zu enticheiden.
Jedenfallo hat bei Weiten nicht allen unjeren Schrift:
itellerinnen von Anfang an die Sonne eines günftigen Geidids
gelächelt; vielleicht it die Mehrzahl cher auf dem drangvollen
Pfade des Nummero und der Leiden, der Sorge und der Ent:
behrung zum Ziele gelangt. Mancer dagegen it die Gunft des
Publitums, bejtohen durch die eigenartige Vianier der Dichterin,
über Verdienit zu Theil geworden und erit, nachdem der Neiz der
Neuheit verflogen war, fonnte eine rihtigere Würdigung an die
Stelle treten. Dah eine jolde nicht ausbleibt, zeigt das Beilpiel
der Virh:Pfeifter, der Mühlbad), der Varlitt.
Doch reihen individnelle Gründe nicht aus, um die Frauen
bewegung des 19. Jahrhunderts zu erklären. Auch nicht die
jelbftverftändliche Yorofegung reicher Begabung, umfarfender
Vildung, ehrgeijigen Strebens. Diele Bedingungen haben fid) zu
allen Zeiten bei Frauen vereint gefunden, wie ich Ahnen nächftens
durch) eine gebrängte Neberficht beweilen fann.
Nein, umjer Jahrhundert des beiipielloien Yorwärtsftürmens
auf allen Sebieten des Wiffens ımd Nönnens reißt natürlich and,
die Frauemwelt aus den beicheidenen Grenzen hervor, in denen
fie fich dis dahin wohlbefunden hat.
Fragen wir nım: Alle diefe Simderte, ja Tanfende, fühlen
fie fi in ihrem Berufe glüdtih?
Ih dente, es ergeht ihnen, wie uns Anderen auch: das,
was wir jelbjt mit Weberlegung zur Lebensaufgabe gewählt haben,
wird ja wohl unferem Thatendrange entiprehen und unjeren
Shrgeiz befriedigen.
Für das durdicnittliche Wohlergehen unferer Schrift
ftellerinnen, felbit wenn cs ihnen an Entbehrungen und Ent-
täunfchungen nicht gefehlt haben mag, fann ich Ihnen ein unan-
fechtbares Women beibringen.
Nad) der Verheißung ift ein fangeo Leben auf Exden mit
dem Wohlergehen verbunden. Yun, eine unverhäftwifimähtg hohe
Altersziifer babe ich beransgerechnet aus einem Material, das,
wenn e8 volljtändiger wäre, nod) viel ginftigere Zahlen fiefern
würde.
484 Veber Frauenlitteratur.
Nur fchr wenige Dichterinnen find jung geitorben; vor dem
20. Lebensjahre nur drei: Elifabeth KRulmann, Klara v. Goldjtein
und Elifabeth Ludwig.
Ganz vereinzelt finden fich Zälle von Wahnfinn oder Eelbjtmord.
Dagegen erreichen ehr Viele ein hohes Alter und zwar
icheint unjer Jahrhundert der Yebenodauer nod) gümtiger zu jein
als das Vorige. Damals haben es jhon 41" u zu 70 und mehr
Jahren gebradjt, heute gar mindejtens 540 md noch eben
erfreuen ich, abgefehen von etwas Jüngeren, wenigitens 8 Did
terinnen eineo Dafeino von mehr alo 80 Jahren, darunter die
ehrwürdige Freundin unferer Herzblättchen Thefla von Gumpert.
Geftügt auf diefe fratiftiiche Thatiahe, im Yinblid auf die
fonjervivende Nraft des poetiichen Handwerfs fünnte ich alfo, wenn
ich ein Schalt wäre, auf die Frage: Warum dichten Frauen?
auch wohl antworten: Weil fie dabei die Ausficht haben, cin
Hohes Alter zu erreichen.
Alte und nene Parteien in Peutichland.
Auf dem Gebiete des politiichen Parteilebens giebt co eine
abjotute Wahrheit noch viel weniger also auf irgend einem anderen
Gebiete. Man fann niemals von einer einzelnen politischen Kartei
jagen, da ihre Veitrebungen allein berechtigt, oder da fie aanz
und gar unberechtigt feien. Jede politiiche Partei aebt von be
ftimmten velativ richtigen Grundgedanfen aus; aber ihre Fort:
entwidelung führt von felbjt dazu, dieje Grundgedanken in ein:
feitiger und übertriebener Weile weiter auszubilden, indem man
ihre nur bedingte Nichtigfeit mit der unbedingten verwedjelt, was
m unter gewiflen Voransfepungen zutrifft, für alle Fälle gelten
läßt. So wird durch die Macht der Verhältnifie jede politiiche
Partei ganz unwillfürlich in eine faliche Nichtung gedrängt. Daraus
folgt, dab ein unabhängig denfender Dienjch, der fich feine Un:
abhängigfeit dauernd wahren will, mag ev aud durch Geburt und
Erziehung einer Partei näher ftehen alo einer anderen, doc, faum
jemals in der Yage ift, fh einer beftinmmten Partei in allen oder
auch nur in allen wejentlichen Punkten anchliehen zu fönnen.
Das alles Find eigentlich triviale Wahrheiten, und dad, er:
icheinen fie feineswegs als jelbjtverftändlich in dem alle that
füchlihen Verhättniffe verzerrenden Hohlipiegel des heutigen wirten
‘Parteigetriebes. Wie juchen zur Zeit der Wahlfünpfe die einzelnen
Parteien einander in marftichreieriichen Veripredungen zu über
bieten! Mit was für zweifelhaften, ja verwerflicen Mitteln wird
dann der Stimmenfang betrieben! Wie behauptet dann jede Partei
486 Parteien in Deutjchland.
im alleinigen Vefig des Univerfalheifmittels zu fein, womit die
tranfe Zeit zu heilen wärel Und felbft in den ruhigeren Zeiten
des politifchen Waffenftilitandes werden die parteipolitifchen Ueber-
zeugungen der Einzeinen nur zu leicht zu Scheutlappen, bie ihre
Träger blindlings einherftürmen (affen. Dem eingefleiichten Partei:
menfchen ift e$ von vornherein unmöglich, eine objektive gered)te
Würdigung des gegneriicen Standpunktes aud) nur zu verfuchen.
Wenn die Vorausfegungen, von denen die einzelne Partei
uriprünglich ausgegangen üft, nur bedingte Geltung haben, jo läßt
fi) daraus der Schlufi ziehen, dah die betreffende Partei, um
ftets auf der Höhe ihrer Zeit zu bleiben, Torgfältig anf alle
wichtigen Veränderungen des Zeitgeiftes zu achten hat, unermüdlich
immer und immer wieder jtreben muf, fih den beftändig wechjelnden
Forderungen der Gegemvart anzupaffen, fo weit fie dies nur irgend
{hun ann, ohne den Zufammenhang mit der eigenen Vergangenheit
zu verlieren, und fomit ich jelbft aufzugeben. In unferer Zeit,
wo die Formen des Yebens fid jo viel icneller ändern als
wo ein zeitraum von 30 Jahren an Fülle des Inhalts manches
frühere Jahrhundert übertrifft, it eine foldhe immermährende An
paflung um jo nothwendiger. Eine Frage ift co bejonders, bie
gegenwärtig immer mehr in den Vordergrumd tritt, immer mehr
zum Brennpunkt auch des gefammten politiichen Lebens in
Deutichland wird: bie Tozinle Frage. Im welder Meife
haben nun die deutjchen politiichen Parteien diefer ihrer Pflicht,
fi) gemäß den neuen Zeitverhältniffen umzugeftalten, genügt ?
Wie Haben fie insbeondere zur fozialen Frage
Ti
teilung genommen?
Antwort darauf giebt uns zugleid) einen Wafitab für die
itiiche Veurtheilung aller politifden Parteien von einem einbeit-
lichen Gefichtspunfte aus.
Die alten rein politiichen Parteien der Ronfervativen, der
Nationalliberalen und der Freifinnigen haben fidh zu einer Zeit
beransgebifdet, wo die fogiale Frage noch) nicht, wie in unferen
Tagen, das gelammte öffentliche Leben beberrihte. Um jo
wichtiger war es fr fie, alles, was in ihren Betrebungen im
Laufe dev Zeit veraltet geworden war, als umnügen Yallaft über
Bord zu werfen, um jo für die neuen Vedirfniffe der Gegenwart
Bag zu ichaffen.
Parteien in Deutichland. 487
Am wenigften find die Freifinnigen*) mit der neuen
Zeit fortgejchritten. Dieje Partei, aus den alten Demofraten von
1548 hervorgenangen, hat gegenwärtig mit feßteren wenig mehr
als den freifinnigen Namen gemein. Die meiten Ziele, nad)
denen jene Demokraten geitrebt Haben, find num erreicht; indem
die Freifinnigen tropdem immer nod) weiter in der Oppojition
gegen die Negierung verharrten, munden fie allmählich zu bloßen
öden Neinjagern, ohne irgend welde pojitive Anregungen ge
fhmeige denn Leiftungen. Cine verehrte Auffaffung der aus dem
vorigen Jahrhundert übernommenen Toleranzideen Hat, von den
Freifinnigen auf die Spige getrieben, die Partei zur Nudenpartei
ihyledhthin gemacht. Der unbedingte Philofemitismus der Frei-
finnigen, taub auch) gegen die mahvollite und berechtigtite Kritif
der dem Judenthume anhaftenden Fehler, beruht nur zum Heineren
Theile auf einem übel angebrachten Jdealiomu größeren
auf rein geicäftliher Grundlage. Die Partei injeitigen
Vertreterin der Iutereifen des Handelsitandes, der Wörfe, ge:
worben. Damit hängt es zujammen, dak die Freifinnigen auf
wirthichaftlichen Gebiete Anhänger des jet gänglich veralteten
reinen Dancpeiterthuns nad engliihem Vorbilde find. Dies
Vianceftertfum bat allerdings Englands Handel und Induftrie
auf den Gipfel der Entwidelung geführt, aber auf Noften der
rigen Berufsarten. Ferner beachten die Freifinnigen nicht, daß
Deutihland viel weniger Jnduftrieitnat, viel mehr Aderbauftant
it als England, und dah eine Entwicelung vom Aderbaujtant
zum Induftrieftant für Deutichland feineswege wünfdenswerth
wäre. Sie predigen das abjolute „Iaisser aller” in allen wirth-
Ähafttihen Fragen, find natürlich durchaus Anhänger des Frei
bandelo und Gegner einer ftarfen Negierungsgewalt. Daß eine
folhe Partei allen vom Staat ausgehenden fozialen Reformen
volltommen ablehnend gegenüberfteht, und überhaupt jebe ftaatliche
De
Spatsung der Zreifinnigen in die „Sreiftunige Vereinigung" und
finnige Lolfspartei“ wird hier ebenfo wenig berüdjichtigt, wie die der
Konfervativen in „Deutichonfernative” und 08 mancher
Berl heiten befouders bei den beiden fonferuativen Gruppen) liegen in
beiden Fällen eigentlich doch nur bloie Schattirungen einer einzigen einbeitlicen
Partei vor.
Parteien in Deutichland.
Sozinlpolitit idwoft bekämpft, Liegt auf der Hand. Tod, wie
faum eine Partei ganz verdienitlos it, To Daben au jogar die
Freifinnigen wenigitens das eine Verdienit, einer jo übermächtigen
Perfönlichfeit wie Yiomaret gegenüber das Prinzip des YParla-
mentarismus hocdhnehalten, die Nedhte des Neichstages energiic)
vertheidigt zu haben. Es handelt fi hier nicht darum, ob bie
freifinnige Oppofition im einzelnen Falle am Plage war oder
nicht — in jehr vielen Fällen war fie cs jedenfalls nicht —,
fondern wir Haben co hier mit einer blofien Brinzipienfrage zu
thun. Und jo betrachtet, ift eine verfehrte Tppofition immer
noch beifer als gar Feine. Chne die jtarre, meift törichte
Oppofition Eugen Nichtero und feiner Genoffen wäre der Neichstag,
beionders zu der Zeit, als die Sozialdemofraten wegen ihrer ge:
vingeren Anzahl mod wenig hervortraten, im Gefahr geweien zu
verfumpfen, zur Bedeutungslofigkeit, zur bloßen Bewilligungs-
maichine berabzufinfen.
Die nationalliberale Partei, uriprünglic der vechte,
durch die Ereignifie von IS6I—ISTI qufrichengeftellte Flügel
der alten demofratichen Fortichrittspartei, fit auch almählich zu
einer ftändiichen Partei geworden, d.h. einer Tolden, die die
Interejfen bejtimmter mde vertritt. Die nationalliberale Partei
üt gegenwärtig die Partei der Grahinduftiellen, der Nrofejforen
und alademiich gebildeten Beamten. Go it den Nationalliberalen
hoc anzurechnen, dah fie fich 1866 im jchwwerer Zeit von ihren
demofratiichen Parteigenofien loofagten und die Politit der Ne:
gierung freudig unterftügten. Dadund) wurde co erit Yismard
möglich, in verfaflungsmähiger Weile auf eine parlamentariiche
Mehrheit geftügt feine großartigen Pläne zu verwirklichen. Im
Anfang der ficbziger Jahre, alo aud) die deutiche Politif nad)
ganz von dem mächtigen Eindrud der Greignüfie md Errungen
ihaften des großen Sriegeo getragen wurde, entipraden die
nationalliberalen Srundjäge am meilten der in weiten Nreifen der
Gebitdeten vorherri—enden Zeitftrömung. Damals hatte die Partei
ihre Glanzjeit, von deren Nuhme fie noch heute zehrt, ohne dah
die alten ingwiichen jtarf abgeblahten nationalliberaten Nuhmeo:
thaten jener Zeit von dem Glange newer überitrahlt worden
wären. Denn die fortfhreitende Entwidelung der Partei hat
‘Parteien in Deutichland. 189
ichon längit aufgehört. Sie hat die neu auftauchenden jogialen
Probleme nicht genügend in ihrer ganzen Bereniung zu würdigen
gewußt, ja Togar verfehrter Weije es bisher überhaupt unter:
failen, zur fozinfen Frage in ungweideutiger Weite Stellung zu
nehmen. Wie den Sozialdemokraten die Neligion, fo it den
Nationallibernlen die Soyialpolitit Privatadıe, mit der die Partei
als jolhe fh nicht zu befafien habe. Die meiften National:
liberalen jtehen jozialpofitiichen Peftrebungen, wenn auch nicht
völlig ablchnend, fo dad) nleichgültig gegenüber; nur einzelne
Anhänger der Partei bilden eine Ausnahme. Unter ihnen it
bejonders der Freiherr Heyl zu Serrnöheim, 6)
Vertreter von Worms im Neidstage, zu nennen, der nicht nur
die Wohlfahrt feiner eigenen Arbeiter dur mujtergiltige Ein-
richtungen zu fichern verftanden bat, jondern auch mehrfach im
Neichstage durch praftiiche Vorichläge warn für eine Beilerung
der verzweifelten Yage der Handwerker eingetreten ilt. Zoldie
Vejtrebungen gereihen aber natirlih nur dem genannten Ab-
geordneten perjönlich zum Auhme, an dem feine Partei feinerlei
Antheil hat. Die Nationalliberalen verlieren immer mehr an
Boden im Volke; die Zerjetung, die die Freifinnigen icon längjt
vfaßt Hat, greift auch in der natienalliberalen Partei jtarf um
Um aber völlig geredit zu fein, jei hier eines grofien Ver:
dienfteo der Nationalliberalen gedacht, das ihnen aud) für die Zeit
ihres Niederganges zuzuicreiben it. Sie find die einzige Partei,
die jtets und unter allen Umftänden die mahlofen Anjprüce der
Ultramontanen mannhaft befämpft hat.
Die Noniervativen jind die Hauptvertreter des Nedhts
des geichichtlich Gewordenen. Ihr wichtigfter Grundfab, dab die
poitiüche Entwidelung nur dann gebeihlich jein Fünne, wenn fie
ohne gewaltjame Sprünge vor ih gehe, und den organifchen
Zufammenhang mit der Vergangenheit nicht verliere, ift gewiß
berechtigt, aber nicht an fi, jondern nur alo Ergänzung des vor
allem den Fortichritt in der Entwicelung betonenden Yiberalismus.
Mit der fozialen Frage haben ji die Nonfervativen dadurd)
abgejunden, daß die 1878 vom Hofprediger Stöcer gegründete
„Gröftlich-foziate Partei” zunächit im Verbande der fonfervativen
Partei ‘als ein bejonderer Seitenzweig derjelben verblieb, und fo
490 Parteien in Deutichland.
innerhalb der Gefanmtpartei die fozialpolitiichen Beitrebungen
vertrat. Diejer Verband loderte fi aber allmählich, und als zu
Anfang dieies Jahres Stöder aus der fonfervativen Partei hinaus-
gedrängt wurde, gab jein Austritt das Seien zu einer voll:
igen Trennung beider Nichtungen, zur Organifirung der
ialen“ als einer neuen jelbjtändigen Partei. Damit
wurde bie fonfervative Partei endgültig, was fie zum größten
Theile jchon längit geweien war, zur Staudespartei, zur Partei
des Adels und der Grofgrundbefig Der Umitand, daß ihr
aud) einige Vürgerliche, und fogar ein Handwerker, der Schneider-
meijter Jafobsfötter, Neihstagsabgeordneter für Erfurt, angehören,
ändert daran wenig. Die einfeitige Vertretung der Standes:
intereffen, ohne Nüdficht auf das Gemeinwohl, wie fie Then jept
in den theilweife gewif; berechtigten, theifweile übertriebenen For:
derungen des eine Gruppe der Konfervativen bildenden „Bundes
der Landwirthe* zu Tage tritt (-- freilich in nod) viel höherem
Grade, und mit weit geringerer Berechtigung beim Anhang der
Vörfe, deren Nothvendigfeit und Nüplichfeit für das gelammte
Staatsteben nur fehr wenigen Nichtbörfianern einleuchtet, während
die Yandwirtbichaft allgemein als das wichtigite gemeinnügige
Gewerbe im Staate anerfannt wird —), dieje einfeitige Ver
tretung der Standesintereifen, die Vernachläffigung der immer
dringender werdenden jozialen Webürfnifle wird aud) die fon-
feruative Partei dereinit zu Falle bringen. Das Hauptverdienft
der Nonjervativen ift ihr Eintreten für die Jnterefien des Pro-
tejtantiomus. Während die Liberalen Nreiie der Neligion glei):
gültig oder feindfich gegenüberftehen, haben die Noniervativen jtelo
die Wichtigkeit der Neligion für das Geiammtwohl des Staates,
und die Nothwendigfeit einer freien Entfaltung dev evangelifhen
Krche verfochten.
In der Entwicelung der joeben behandelten drei Parteien
füllt uno leicht ein fcon berührter gemeiniamer Zug auf: fie
haben aufgehört, rein politiiche Parteien zu fein, und find zu
jtändijehen Parteien geworden. Diejer Umftand enthält zugleich)
den Keim ihres Zerfalles. Gin politiicher Parteimann fann dod)
immerhin nod) das Jnterefe der gejammten Volfstreife vertreten,
das er nur von einem bejtinmmten Standpunkt aus, und je nad)
Parteien in Deutfehland. AN
der Farbe feiner Parteibrille auffaht. Ein jtändiiher Parteimann
dagegen, der das Gelammtinterefie des Staates nicht über das
eigene enge Standeointerefje zu ftellen vermag, üt auf die Dauer,
wenigjtens als Glied einer öffentlichen Volfsvertretung, unmöglich.
Denn jelbjtwerftändfih Fann eine Volfovertretung als Ganzes nur
dann für das Gejammtwohl des Staates erjprielich wirken, wenn
jedes einzelne Mitglied derielben fi alo Lertreter des ganzen
Voltes betrachtet, und diejen Gefichtopmft für alle feine Ent:
fhliehungen umd Handlungen maßgebend fein läht.
Im engiten Zufammenhange mit Obigem jteht 6, dab die
neueren Parteien, zu denen wir jegt übergehen, nicht mehr durd)
ein rein politiiches Woment in’o Yeben gerufen worden find, oder
sufammengehalten werden. Im Zentrum 5. 8, einer
anerfreulichen Schöpfung des Jahres 1870, vereinigen id die
verjdhiebenften pofitiichen Nichtungen, ariftofratiiche und demokratüiche,
förderaliftiice und partifulariftiiche Elemente, die nur der allen
gemeinfame Natholiziomus zulammengefügt hat. Dieje verfdieden-
artigen Bejtandtheile des Zentrums widerjtreben einander jo jehr,
da der wenig harmoniie Bau immer auf's Neue in Gefahr
geräth auseinanderzufallen. Nur einem jo ungewöhnlid) geicicten
Führer wie Windthorit war co möglich, die Oegenfäge innerhalb
der Partei wenigitens nad außen hin zu verdeden, ja jogar die
Partei zu derjenigen zu maden, Die aud) jegt nod) im Neichstage
bei den meijten Verhandlungen den Ausichlag giebt. Schon gleich
nach Windtharit's Tode trat der mühjam und nothbürftig
äufammengefittete Nih wieder Haffend hervor, wobei vorläufig die
ariitofratiichen Anhänger des Zentrums von ihren demofratifchen
Parteigenojfen verdrängt wurden. Cs ift Flar, dab die Religion
allein überhaupt nicht, aud nicht einmal die fatholiiche Neligion
mit ihrer gropartigen Organiiation und fajt militärichen Zucht,
eine politiihe Partei von jo wenig einheitlichen Gepräge auf die
Dauer zujammenhatten fann; troß feiner jegt noch immer jehr
beträchtlichen Machtfülle wird das Zentrum entweder jerbrödeln,
oder fd) aud) in nichtrefigiöfen Fragen eine Einheit von Vejland
ertämpfen, d. h. einer der anderen beftchenden Parteien näher
treten. — Von einer jo bunt zujanmengewürfelten Partei it
eine einheitliche Auffaflung nur in Firhenpolitiichen Fragen zu
492 Parteien in Deutichland.
erwarten. In jozialpofitiihen Dingen bejteht ebenfowenig eine
Einheit wie bei den Nationalliberalen. Neben verdienjtvollen
Vorfümpfern einer (hatfräftigen foginlen Neform, ter denen der
Raplan Pige, Brofeifor in Pünfteri.W. und Neichstagsnbgeordneter
für Geitenfirchen, obenan steht, befinden fh andere Mitglieder
der Partei, die fd) um das wichtigite Problem des öffentlichen
Lebens der Gegenwart Verzlih wenig Fümmern. Ein all:
gemeines Verdienft wm das gelammmte Vaterland vermag Schreiber
diejes, bei allem Yennühen, gerecht und objektiv zu urtheilen, dem
Bentrum nicht zuzugeiteben. Im Gegentheil, zwei Umjtände haben
das Zentrum zu einer Partei gemacht, die dem deutichen Reiche
zu fchwerem Unheil gereicht hat und noch gereicht. Einerfeits der
Umftand, dah; das gentrum fein Oberhaupt und zugleich jeinen
Schwerpunkt im Papfte hat, alfo in einem Ausländer und auferhalb
des eigenen Yandes. Dadurch wird den deutichen „Uftramontanen”
eine wahrhaft nationale Gefinmung, ein Aufgehen im Dienfte für
das aterland fehr erichwert, beionders da der PBapit fd fir
berechtigt Hält, auch in allen nicht vein Firhlichen Angelegenheiten
den Gläubigen Voricriften zu machen. Tie Wahrheit des
Sprucheo: „Niemand Fann zwei Herren dienen“, tritt in dielem
Falle ganz befonders deutlich hervor. Andererieito ijt die Macht,
die das Zentrum durch die Anzahl feiner Mitglieder im Neichstage
und in vielen Einzellandtagen ausübt, vielfach verhängnifvoll, da
die Negierungen fidh daran gewöhnt haben, diele Macht jtets, oft
über Gebühr und zum Schaden der Gelammtheit, zu berüctichtigen.
Wenden wir uns mn zur Veiprehung der Sojialdemofraten,
der dentich - jozialen Neformpartei und der Chrüftlich : Sozialen.
Gemeinfam it allen dreien, troß des jchrofien Gegenfages, in
dem die Sozialdemokratie zu den beiden zuleßt genannten Parteien
steht, da die joziale Ärage und deren Yölung den Nern ihres
Programms ausmacht, wie jchon aus den Namen der drei Parteien
hervorgeht.
Beginnen wir mit den Sozialdemofraten. Dieie
Partei in ihrer heutigen Korn Äft 18 durch Verihmelzung
mehrerer einander verwandter Nichtungen entftanden. Auch fie ijt
als Partei der Arbeiter und Proletarier eine jtändiiche Partei,
aber doc) in anderem Zinne als die oben behandelten Parteien.
Parteien in Deutfchland. 493
Denn die Standesintereffen, die diefe vertreten, haben mit der
foyiafen Frage wenig oder gar nichts zu ihaffen, während die
zufünftige Seftaltung der Lage der Arbeiter gerade der Kımft it,
um den fi diefe ganze Frage dreht. Ueber die Sozialdemokratie
und ihre Ziele it Ächen jo viel geichrieben worden, dal; ich mich
hier frz fajfen will, um nicht jchon oft OGefagteo zu wiederholen.
Daft das bejtändige Anwachien des Kapitalismus den Gegeniap
von Arm md Reich immer jchroffer, die Armmuth immer drüdender
macht, dal; die gewaltige Entwicelung der Tednit, die weiter und
weiter um fi greifende Mafchinenarbeit den Arbeiter immer
mehr felbit zur Wafdhine, zum Hilffofen Werfjeng in der Hand
des Napitaliften herabdrüct, dab co auf dem bisherigen Wege
der wirthichaftlichen Sejtaltung nicht weiter fortgehen Fann, darüber
find nicht nur die Sozialdemofraten, jondern alle billig denfenden
und warm fühlenden Menichen icen fange einig. Es fragt fd
nur, ob eine vollftändige Ummwälzung der ganzen heutigen Ge:
jelfichaftsordning, wie die Sopialdemofratie jie wünjcht, die alleinige
Grundlage der Yölung der foyialen Frage bilder, oder ob Diele
Young au ohne eine jolche Ummälzung, die doc gewiß nur
unter den jceriten das Volfoleben bio in's innerjte Mark er:
ihjitternden Kämpfen Zuftande fommen fünnte, durch Bräftige
foziale Neformen möglid) wäre. Yegtereo behaupten die deutich-
fogialen Neformer und die Chriftlic) Sozialen, während die Sozial-
demofraten jene Ummwälzung für unbedingt notwendig erklären.
Ao foziale Neform oder Nevolution? Das it die Frage, deren
Beantwortung die wichtigite Aufgabe fein wird, welche unfer
Jahrhundert dem Fonmenden übermacht, eine Aufgabe, die das
WoHE und Wehe des ganzen deutichen olteo in fd ihlieht.
Mic die bisherige Entwietelung wahricheinlich macht, werden die
Parteien, die auch jogav einer fozialen Neforim Feind find, dereinit
von der Sturmilutb der Zeit hinmeggeihwenmt werden, da; feine
Spur von ihnen übrig bleibt, und in dem immer erbitterter
werdenden Nampfe um die Yöfung der fogialen Frage werden fh
ihliehlih nur die zwei großen Parteien der Neformfreunde und
der Nevolutionäre gegenüberftehen, und auf Leben und Tod mit
einander ringen. iehr aber auch eine Berferimg der Arbeito
löhne, eine wirkfame Ausdehnung der Arbeiterichubaciesaebung,
494 Parteien in Deutichland.
die Veihaitung von menjdemwürdigen Arbeiterwohnungen, die
Einihränfung des Großfapitalo dur jcharfe Veitenerung ber
großen Einfommen, jo jehr alle diefe Vahregeln vom Standpunft
der foziafen Neform anzuitweben find, fo wird doch au) der
entichiedenfte Neformfremd die gänzliche Abichaffung des Eigentums
an Produftionsmitteln, welde die Sozialdemofraten durchführen
wollen, für höchit bedenktid Halten. Denn damit wäre das Privat:
eigenthum überhaupt im weientlihen abgeidjafft, alio dem einzelnen
Vienfchen die HYaupttriebfeder feines Handelns und Ztrebens ge:
nommen. Die feindfelige Haltung der Lozialdemofratie zur
Religion und Monardjie, der internationale Charakter der Partei,
der ihre Anhänger veranlaht, jeden Ausfluj warmer patriotifcher
Vegeifterung mit Spott und Hohn zu übergiehen, untergraben
den Staat in feinen Wirzeln; fie find um jo drohendere Gefahren,
je mehr die Partei in der bioherigen Weife anwäclt. — Die
Sozialdemofratie it alo jolhe eine |rucht unferes modernen anf
das Soziale gerichteten Zeitgeiiteo. Wie fie von diefem die Neime
ihrer Entwidelung empfangen hat, jo hat fie ihrerfeito wieder auf
die anderen Parteien befruchtend gewirkt, indem fie Dielen die
Bedeutung der jogialen Frage in ihrem ganzen furctbaren Ernit
eingeihärft, zu der Tozialpolitiihen Gejeggebung der Negierung
den eigentlichen und exjten Unjtofi gegeben hat. Dieo ijt das
einzige, in feiner Wirkung zwar große, aber ziemlich unfreiwillige
Verdienft der Sozialdemoratie. Sie Hat den Dienjt eines
Sturmbodo geleitet, der in die morjche Mauer der alten geit
die erfte Vrefche geihlagen hat.
Die deutich-jogiale Neformpartei üt erit
durch Vereinigung von zwei leineren antifemitiichen Parteien
entjtanden. Sie fehrt vor allem das deutjch-nationale Selbft:
bewutfein gegenüber den nichtdeutihen Stämmen im Neiche,
bejonders gegenüber den Juden, hervor, und betont die Noth:
wendigfeit der Erhaltung und Kräftigung des Dittelitandes. Der
Äcjädfiche Einfluß des Judenthums äufert fi Towohl auf wirth:
ichaftlichemn alo auch auf geiftigem Gebiete. Die Auden haben in
äuherjt geidhietter U nad) ihrer Emanzipation die liberalen
Toleranzideen zu ihren Gunften, und auf Kojten der Deutichen zu
verwerten gewußt. Die vielgerühmten (iberalen Errungenschaften
Parteien in Deutichland. 405
der Gewerbefreifeit und der Freizügigfeit find Hauptiächlich
jühifchen Händlern und Haufierern zu jtatten gefommen, während
mancher folide Dandwerfer von dem durd, die Gewerbefreiheit
grofigejogenen Kfnfcherthume mit feiner fchamlofen Schleuder-
Eonfurrenz zu Grunde gerichtet winde, und der Bauer, der, von
dem Medpte der Freizügigfeit Gebraud) madend, feine Heimiche
Scholle verlich und alo Fabrifarbeiter in die großen Städte z09,
meiftens gängficher Verarmung verfiel, und, als Proletarier, der
Sogialdemofratie zur willfommenen eite wurde. Muf wirth-
ichaftlichem Gebiete iit das Judenthum der Schmaroger, der ohne
eigene Arbeit fih) mühelos an fremden Gute bereichert. Die
Kriminalftatijtit zeigt, dah Wucher, betrügerifcher Banferott, und
überHanpt alle Verbrechen am Eigenthum, die nicht mit perjönlicher
Lebensgefahr verbunden find, gerade jüdiiches Pionopol genannt
werden dürfen. Cs üjt allgemein befannt, mit welder Vorliebe
fic) die Juden in folde Verufoarten drängen, in denen ohne
wirklide produftive Arbeit ein Gewinn zu erwarten it, oft
Berufsarten, die mit germanifchen Ehrbegriffen nur Idhver
vereinbar find, eine auogeiprodene Abneigung haben fie aber
gegen Förperfiche Anftrengungen aller Art, und gegen foldhe
geiflige Arbeit, die nur einen ideellen Gewinn veripridt. Dafi
das Judentum alhnählid) zum umumfchränften Beherricher der
Yörfe geworden fit, habe ich icon berührt. Auch auf geiftigem
Gebiete wirkt es mr ichädigend. Tas gelammte Zeitungsweien
in Deutichland geräth immer mehr in jeine Hände, oder wenigitens
unter jeinen Einfluh. Die jüdiichen Zeitungofehreiber pflegen jede
ungünfige Kritif über ihre Stammesgenofien als reaftionären
mittelalterlihen Antifemitiomus zu brandmarfen. Cie richten
vermöge der gewaltigen Macht der Preife in einer groben Anzahl
von Stäpfen in Yezug auf alles, was mit ihrer Nafengemeinichaft
irgendwie zufammenhängt, eine heilfoie Vegriffsverwirrung an.
Der jüdifche Einfluß auf das deutiche Geiftesfeben it nur
jerjegender Art. Die hervorragende geiltige Begabung der Anden
it eine Fabel. Nur in der Stärke des Erwerbstriebes, und in
der Fähigkeit, Dielen zu befriedigen, ift der Jude dem Deutjchen
und den übrigen Europäern überlegen. Nein einziger Geift eriten
Hanges, außer Spinoza, ift feit dem Anfang unferer Zeitrechnung
496 Parteien in Teutichland.
aus dem Schofie des Judentums hervorgegangen. Keine einzige
hervorragende Erfindung oder Entdetung ift jemalo von einem
Juden gemacht worden. Wahrhaft bedeutende und fruchtbare
Anregungen, wirklich jcöpferiche Grofthaten auf geiftigem Gebiete
Hat Deutichland dem litterarifchen und Prehjudentjum cbenio
wenig zu verdanfen wie andere Yänder. Wohl aber it diejes
Prefjudenthunn umermüplich darin, alleo, was als Ausdrud und
Verhätigung lebendigen drftlichen Glaubens im deutfchen Volfs-
leben zu Tage tritt, zu verhöhnen und in den Staub zu ziehen,
das Chriftentbum als eine längit überwundene Aulturjtufe hin:
zuftellen. Für die immer mehr id verbreitende refigionsfeindliche
Stimmung in weiten deutjhen Voltskreifen ift zum großen Theil
die jüdiiche Preife verantwortlich. Belonders merkwürdig it dabei,
dal; diefelbe Wreile fich vor einem Angriff auf die jühiiche Neligion
wohl hütet, obwohl diefe mit ihren ftarren abgelebten Formeln
und Buchitabengejegen eine abfällige Mritif weit cher heraus
fordert. Auch ganz veraltete jühliche Gebräuche, die wie das
Schähten mit dem ethiichen Nern der Neligion, den die Juden
fonjt immer jo gern in den Vordergrund ftellen, garnichts zur
thun haben, und nod; dazu eine große Thierquälerei find, werden
von jener Breife brampfhaft vertheidigt. — Unter jolchen Umftänden
üt der moderne Antifemitismus weiter nichts al6 eine durchaus
berechtigte und natürliche Notwehr. Weber einzelnen, zum Theil
allerdings bedentlichen Ausichreitungen, die dieje Bewegung hervor
gerufen hat, muh man ihven geiunden und vernünftigen Nern
nicht Überfchen. Die Antiiemiten haben das große Verdienit,
zuerjt das deutiche Wolf aufgerüttelt und auf die vom Judenthum
her drohenden Gefahren aufmerkiam gemacht zu haben. Won den
übrigen Parteien waren die Nonfervativen die erften, die dem
Weeruf folgten und ji dem Nampfe gegen das Judenthum
anfchlojfen. Neuerdings bat aber der antiiemitiiche Eifer der
Noufervativen wieder merklich nachaelaffen, nicht aus fachlichen
Gründen, weil die Gefahr geringer geworden wäre, fondern aus
parteipolitiichen Nücichten, weit die fonfervativen Ariftofraten
fi als Gegner der demofratiich angehauchten Antifemiten fühlen,
und weil diefe den fonfervativen Vefigitiand an Wahlitimmen
betrohen. Die übrigen Parteien, die id Anfangs hartnädig
Parteien in Deutichland. 497
jeder antiemitiichen Warnung verichlofien, die Bewegung als
ungejundes Produkt einiger birnverbrannter Schwärmer Tenn-
zeichneten, fangen jegt doch ganz allmählid) aud, an, hier und da
antifemitiiche Anwandlungen zu zeigen, natürlich wit Ausnahme
der ganz unheilbaren Freilinnigen.
As Vertreterin der Intereffen des Vittelftandes, der Hand
werfer, Heinen Sewerbetreibenden und Beamten, der Heinen Yente
überhaupt ift auch die deutich-Tozinle Neformpartei eine Standes-
partei; fie fteht aber doch, ebenjo wie die Cosialdemofraten,
durchaus im Gegenfap zu den übrigen Standesparteien, infofern
das Vetonen der Standesintereifen, die fie vertritt, ebenfallo auf
das engite Frage zulammenhäng am wenn
die ichnell fortichreitende Anflangung des Mittelitandes durd) das
Proletaviertäum aufgehalten, und jhliehlich ganz zum Etilljtand
gebracht würde, wenn ein leiftungsfähiger Mittelitand in der
Form von jelbjtändigen Einzelbetrieben erhalten bliebe, dann wäre
wirtich die Gefahr der jozialen Nevolution befeitigt, und damit
ein wichtiger Theil der fozialen Frage gelöit.
Die antitemitiiche Bewegung frankt, jo beredhtigt und noth-
wendig ihr Nern aud) fein mag, an einigen großen Mängeln,
die allerdings mehr auf Äuere Umftände alo auf innere Unfadhen
zurüdzuführen find. Vor allem fehlt es der Partei an
wirklich bedeutenden Xührern. NAuher dem Neichstagsabgeordneten
Liebermann von Sonnenberg beit fie feinen Vertreter im
Keihstage, der Über das Durcichnittsmah hinausragt, und and)
Liebermann ift mir ein politifcher Führer zweiten Nangeo. Daf
einige dimfle Ehrenmänner wie Ahlwardt fi an die Partei
berangedrängt und ihr Anfehen jchmer geichädigt haben, ift zwar
beflagenswerth, gehört aber zu den Abjurditäten des Moftes, der
zulegt doch noch "nen Wein giebt. Alle jtarfen elementaren Vollo:
bewegungen haben Achnliches erlebt. Weil der Antifemitismus
nicht im Befige des nöthigen Napitals if, befindet fid) die
antifemiitifche Preffe, mit wenigen Ausnahmen, noch auf einer
vecht rohen, den gebildeten Leler wenig befriedigenden Anfangs:
ftufe; fie feidet an bedenklicher Cinjeitigfeit, indem fie alle Dinge
zum Jubentpum in Beziehung bringt, und andere Fragen von
allgemeinem Intereiie, die feinerfei Beziehung zu jenem haben,
498 Parteien in Dentichland.
zu wenig beachtet. Der Hauptpflicht eines jeden Agitators, fic)
vor Uebertreibungen zu hüten und beftändig zum Mahhalten zu
mahnen, it von antijemitifcher Seite bisher nur in recht mangel
hafter Weife genügt worden. Xiele Antifemiten glauben, von
der Löfung der Judenfrage das alleinige Keil der Zukunft
erwarten zu bürfen; aber jo dringlich die Judenfrage auch geworden
fein mag, gegenüber der joginlen Frage ift fie num von neben
fäghlicher Vedeutung. Während dieie faum jemals ganz zu lölen
fein wird, hieje es an der gefunden Kraft des deutichen Volkes
verzweifeln, wenn man annehmen wollte, co werde ihm nie
gelingen, ji) der fremden jüdiihen Eindeinglinge wirfam zu
erwehren, und jo die Judenfrage in irgend einer Form zu Löfen.
Eine völlige Aufhebung der Judenemanzipation wird fidh freilich,
naddem einmal dieie Emanzipation thörichter Weile gewährt
worden it, Faum duchführen laffen, aber co giebt ja fonit noch
Mittel und Wege gemug, den jüdiihen Einfluh einzubämmen und
unfhädlich zu machen.
Wenn die deutich-Toziale Neformpartei, wie Verfafier alaubt,
fh als Zufunftspartei von danerndem Beltande bewähren wird,
fo ijt cS nicht das negative Element des Antifemitismus, jondern
das pofitive der jozialen Neform, was ihr einen jolhen Beitand
fihert. Ein jolhes rein negativeo Clement it überhaupt nicht
im Stande, eine Partei auf die Zänge der Zeit zufammenzuhalten.
In keinem Falle ift der Antiiemitiomus als parteibildender Faktor
von Dauer: denn wird die Judenfrage nicht über hurz oder lang
gelöft, fo fheitert ev an der Nichterfüllung feiner Aufgabe, und
wird fie, wie eo wahriheinlich it, in irgend einer einigermafien
befriedigenden Weile gelöit, fo mu er ebenfalls aufhören, weil
ihm dann nichts mehr zu hun übrig bleibt. Dann wird die
deutich-fopinle Neformpartei, der bio dahin hauptlächlid der
Antijemitiomus fein darafteriitiches Gepräge aufgedrüct hatte,
noch mehr alo jegt zur jogialen Neformpartei auf vein pofitiver
Grundlage.
Die Chriftlih:- Sozialen ftehen, obgleich fie fi exit
in jüngitee Zeit von der fonfervativen Partei abgelöjt haben,
innerlich den deutjch-fozialen Neformern viel näher. Beide Parteien
verfolgen im Grunde das gleiche Ziel der jozialen Neform, mu
Parteien in Deutichland. 499
dab die Dentich-Sozialen mehr die Judenfrage, die Chriftlich
Sozialen mehr das refigiöfe Wloment hervorheben. Innerhalb
der hriftlich-fogialen Partei beitchen feit fuzem zwei verichiebene
Schattirungen derielben Nichtung: ein Theil der Partei unter
Stöcer jteht mehr nad rechts, während ein anderer Theil unter
Führung des Parrers Naumann in Frankfurt a. DM. eine
vadifalere Tonart anfchlägt. Ih hatte Ende Februar diejes Jahres
Gelegenheit, diefen in fegter Zeit jo viel genannten Mann
in Dresden in zwei Volfoverfammlungen zu hören; fein Auftreten
hat nicht mur auf mich, jondern auf die ganze Verfammlung einen
gewaltigen Cindrud gemacht. Ic babe noch niemale zuvor einen
Volfsredner fennen gelernt, der jo ganz durddrungen mar don
dem, was er Iprac, der jo jehr bereit ihien, feine vorgetragenen
Anfihten mit der Wucht feiner gangen Perfönlichteit zu deden,
und der zugleich mit fo wohlthuender verföhnficher Wilde die
Anfihten feiner Gegner befämpfte. Naumann befitt alle
weientlichen Cigenichaften eines Neformators im großen Elit:
binreißende Vegeifterung für die von ihm vertretene Sache,
Opferfreudigfeit, den unerfchrodenen Muth der Ueberzeugung,
und and, wie aus feiner Schilderung der von ihm in's Leben
gerufenen evangelifchen Arbeitervereine offenbar wurde, ein
bedeutendes praftifhes Organifationstalent. Ohne Zweifel wird
er bald in den Neichstag gewählt werben, und überhaupt in
‚Jufunft eine mahgebende politische Nolte fpielen, einer der
führenden Geifter feiner Zeit werden. Wenn es überhaupt
jemandem gelingen fann, das Ziel, das Naumann fi geitedt
bat, zu erreichen: die großen Mailen der Arbeiter für
Ehriftenthum, Monarchie und Vaterland znrüczuerobern, dann
wird cs ihm gelingen, der dazu berufen jcheint, wie fein anderer.
Die deutich-fogialen Neformer umd die Ghriftlid-Coginlen
werden gewih; in abiehbarer Zeit zu einer einzigen großen fozialen
Neformpartei verichmelsen, und als folde den Hauptfampf mit
der revolutionären Sosialdemofratie auszufechten haben. Wie
wird die Enticeidungsichladht ausfallen?
Dr. Eduard Edhardt.
Beiträge zur Bejhigte der Unterwerfung Nurlands,
vornehmlich nad) den Alten des preuhiichen Staatsarhivs.
GFortiesung.
3.9, 6. Oft. Nücmann fährt fort, den Unzufriedenen
Verfprechungen zu machen. Manteuffel hat aus Warjchau dem
Herzog gemeldet, daß; er auf feiner Heimfehr aus Narlsbad in
Dresden erfahren habe, Prinz Karl von Sadıien habe in Pillmig
den König gebeten, dahin zu wirfen, dah feine Tochter den Titel
Pringeffin von Nurland und 100,000 Dufaten erhalte, um ein
pajfendes Unterfommen zu finden. Der Herzog fei mn in Corge,
dah er die Ausjteuer werde zahlen müjfen, dah ferner dadurd)
eine Heirath zwiichen diefer Prinzejfin umd dem ältejten Sohne
des Prinzen Narl Viron zu Stande fomme, infolge deren der
Nurfürit, wenn er Nönig von Polen werde, die Erbfolge in
Sturland der jüngeren Linie Biron zuwenden Fönnte. Dann würde
diefer Zweig aud die Herrichaft Wartenberg beanfpruchen, die
nach dem Fibeifommih Ernjt Johann’s beim Herzogtdum bleiben
jolle, Freilich Habe die Stiftung, da fie nicht vom Nönige bejtätig
fei, in Schlefien feine Geltung erlangt; dennoch, würde, wenn der
König daraus nicht ein weiblicheo Zehn mache, ein erbitterter
Nechtsitreit entitehen.
64.8, 13. Oft. Der Herzog jei jehr in Sorge wegen
der Pläne Karls von Zadjen. „Em. Miajeftät werden den
wiffen, dah der jüngere Prinz von Oranien von Allen der
erwünictejte Schwienerfohn für den Herzog und die Herzogin
Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlande. 501
wäre”, Der g dränge D. immer wieder, ihm zu Tagen, wie
der König darüber denke, weshalb D. nochmals darauf zurückomme.
„Yor Allem beginne ich mit dem ehrfurdtsvollen Befenntnifi,
dab bei der gegenwärtigen Sachlage meiner fchwachen Einficht
nad) Nurland feineswegs mir als ein für die preuhiche Monardie
gleichgültiges Objekt eriheint, jo Klein diefer Staat aud) ift; feine
Lage icheint ihm für uns Vedentung zu verleihen. Zwei jeiner
Nachbarn haben freifid einander entgegengeiegte Pläne, die aber,
ob nun der eine der Nachbarn oder der andere fiege, ftets zu
unferem Schaden gereichen werden. Die Gefhichte diejes ganzen
Jahrhunderts giebt greifbare Beweiie dafür, dal; Nufland urland
wie eine vuffüiche Provinz behandelt hat.“ Nuhland habe jtets
geiucht, dort feinen Cinfluh ausjudehnen durch Förderung der
Projekte zu Gunften des Grafen Bobrinsti, des Fürften Potemfin,
des Grafen Woronzom auf das Verzogthum, „und noch eine Dienge
anderer Umftände bezeugt, dah diefer ehrgeizige und unternehmende
Hof immer bemüht it feine Macht in diefem Lande zu mehren.
Wenn cs ihm gelänge, dem Lande wieder eine feiner Nreaturen
zum Herzog zu geben, und wenn dieje Nreatur von Nation rufliich
wäre, fo würde Nurland weniger als jemals ein Fwiihenitnat
zwifchen Rußland md Preußen fein, jondern eine Art von vor:
geichobenem Werke fir erjteres, weldhes fid) bis zu unjeren
Grenzen ausdehnen würde”. Dieje Erwägung mülfe in der
gegenwärtigen Lage den Ausichlag geben. Der ruhe Einfluß
ei angenblilich zwar gefunfen, aber Nuhland itrebe darnad), ibn
wieder zu gewinnen; man müfle den Wloment bemipen, um cs
daran zu Hindern; einen gefährlichen Nachbar joweit wie möglich
zu entfernen jucen; Nurland die Exiftenz zu fihern fuchen, deren
«5 fähig it, wıd es für Preuhen nugbar machen. Ebenjo mühe
Polen gehindert werden zu mächtig in Kurland zu werden, fei
durch Errichtung einer von ihm allyu abhängigen Tynaftie, Tei
es dur Inforporation. in legterem Falle tönnte Polen fich
einen direkten Handel fchaffen. Alle diefe Mihftände fönnten
befeitigt werden, wenn der Nönig Nurland eimen Herzog gebe,
der, weder von Polen noch von Nuland abhängig, Cr. Mojejtät
nahe genug, jtände um ih auf ihm zu verlafen ohne bei den
Nachbarmächten Vihtrauen zu weden, wie 8 bei einem Prinzen
502 Zur Geichichte der Unterwerfung Sturlands.
eines großen Haufeo geliehen würde. Alle diefe Einenfuaften
finden fid) bei dem jungen Prinzen von Oranien. Man fönnte
fragen, ob Nurland eines inneren Zuiammenhalts fähig jei, ob
die Unterftügung, die Preußen ihm leijten müßte, diejes nicht zu
fehr befaften würde, ob eo der Mühe Lohne, ihm zur Haltbarkeit
zu verhelfen. Die Negierung Herzog Jafobo jei eine Antwort
auf zwei diefer Fragen. „Diefer Firjt liefert den Beweis dafür,
was ein Herzog von Nurland, der ein Mann von Kopf ijt und
feine Quellen auszubeuten weiß, zu leiften im Stande ift, und
die Nolle, die er in fritiihen Zeiten zwiihen Nuhland, Polen
und Schweden jpielte, bezeugt, von welchem Nuten ein Souverän
diefes Yandeo für Denjenigen fein fan, zu deiien Guniten er
fich entichieden hat.“ Bei der Förderung des Prinzen von Oranien
würden Holland und England Preußen zur Seite jtehen und
vielleicht vortheilhafte Ausiihten für den Handel Kurlands bieten.
Freitid) bringe diefer Plan aud) Gefahren, und diefelben wären
in einem anderen Zeitpunkt vielleicht fogar unüberwindliche. Aber
offenbar bedürfen die Höfe von Wien, Dresden und Warjhau der
Unterftügung Preufens für ihre Pläne umd mühten co daher
ichonen, und was Nufland angehe, fo werde man, wenn jemals,
feine Zuftimmung jest erlangen, da co vom Nriege erichöpft jei.
Endlich wäre diefer Wan ein Prüfftein für die Gefinnungen all
diejer Höfe. Wenn aber der König fd für diefen Plan enticheiben
jollte, fo wäre Eile noth, ehe das Geheimnih gebrochen würde.
9. bittet endlich noch um Genehmigung, dab Pilten den Köni
zum Schiederichter in jeinem Streit mit Polen anrufen dü
denn Yilten siehe dem Wrtpeil einer _parteiifchen Nommifiion
dasjenige der Höfe vor, welde eo für die Garanten feiner
Eriftenz anfche.
65.8, 16. Of. Yaut Nadrihten aus Petersburg Tuche
Potentlin mit allen Mitteln den Abichluß des Friedens mit der
Pforte zu hintertreiben.
R, 27. Oft. Das Projeft der Heirath zwiichen Friedrich
von Oranien und Wilhelmine von Nurland fei zur prade
gebracht worden von der Prinzeiiin von Oranien bei ihrem legten
Vefud) in Berlin. Sowohl die Yiebe zur Schweiter alo die
Ausficht auf den Nugen diejes Planes lege denjelben dem Könige
Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 503
jehr nahe. Der Herzog werde durch bie Herzogin jchen benachrichtigt
worben fein von den vorläufigen Schritten des Könige. Er habe
dem Wiener Hof vertrauliche Eröffnungen gemacht, indem er den
Kaifer gebeten, den ruifiihen Hof zu jondiren und zu bearbeiten.
Er erwarte num die Antwort, je nach welder er direfte Ver:
handfungen mit Petersburg oder mit Polen anknüpfen werde,
Verichwiegenheit jei Hauptbedingung des Gelingens. — Der
Friede follte infolge energiichen Widerftandes der Na gegen
die Wünfche Potemtins hen am 22. September a. St. in Jally
unterzeichnet werden.
66.8, 20. Oft. Die Nechte des Herzoge müllen ganz .
bejonders jet geldüigt werden, feit der Plan beitche, den Prinzen
von Oranien zur Nachfolge zu bringen; daher müffe verhindert
werben, dah; die fonzeräne Macht die Herzoglichen Nechte einichränte,
Die Ihätigfeit der Kommiffion mühte aufgehalten werden bis die
Herzogin nad) Warfchau komme amd bewirfe, daf günftigere
Dispofitionen in derielden berrichend würden. Jeut Tei der aller:
günftigite Voment um die Zufzeffionsfrage durdhzufeten in
Petersburg, wo, wie Viele fürdten, Potemfin durd irgend einen
At der Willfür verfuchen werde, die Pforte zur Erklärung der
Unabhängigteit von Moldau und Wallachei zu nöthigen, entgegen
dem Willen der Nail Auch werde in Petersburg erzählt, cs
werde dafür intriguirt, daf; die Grohfürftin einen „.amant“ nehme,
wozu Potemfin antreibe.
N, 29. Oft. Der König it erfreut mittheilen zu fünnen,
dafı man in Warichau durcigefest habe, dahı die Sipungen der
für den Brosch zwiichen Herzog und Adel niedergefegten Nommiffion,
um 3 Monate prolongivt worden jeien, To daf; die Herzogin,
welde dorthin unterwegs fei, Zeit haben werde einzugreifen.
Golg werde fie unterjtügen. Wenn cs fi mit dem Friedens
Tongreh; fo verhafte wie I. berichte, jo Fönne der Tod Rotemfin’s
der Naiferin nur angenehm geweien fein. m werde der Friede
wohl raid) gezeichnet werden, da Kotemfin kurz vor feinem Tode
den Vefehl erhalten Habe, die Verhandlungen zu beichleunigen.
67. 8, 27. Dit. In den riflihen Nachbarprovinzen Alles
ruhig; die Truppen ziehen fih ins Innere zurüc. In voriger
Woche Habe er, D., einige Tage beim Herzog, 5 Meilen von der
504 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands.
adt, wo die Jagd den Herzog zuriichatte, zugebradht. D. hat
ihm die Befehle des Nönigs in Betreff feiner jelbit Towie die an
Golp in Vetreff Piltens mütgetheilt. Der Derzog habe die
Vetheuerungen feiner Dankbarkeit und Ergebenheit erneuert. Der
Heryog babe ihm feinerjeits Briefe der Herzogin über die Pläne
des Nönigs wegen der Erbfolge mitgetheilt. ©. habe bie
Gelegenheit ergriffen, um dem Herzog die Nothwendigteit Mar zu
machen, fd eine cigene Partei im Yande zu fchaften, ohne weldhe
er zu beforgen habe, dab der Adel ihm jtets Sinderniffe bereiten
und die Höfe das bemuten fönnten, um den lan mit dem
Bringen von Oranien zu vereitehn. „Unglüdlicher Weite halte id)
den Herzog für unfähig, meine Nathichtäge auszuführen, fo viel
Mühe ich mir auch gebe, um fie ihm annehmbar zu machen; und
id) glaube, da wenn es darauf anfommen wird, Hand ans Werk
zu legen, es beffer it, ohne ihn zu Gunfien des Pringen von
Oranien eine Partei zu bilden, von der man im Nothfall Gebrauch
machen könnte, am jelbit Se. Fürfil. Durhlaucht zu nöthigen,
fich den Vorkriften zu unterwerfen, welche das Jintereife einer
eigenen Familie von ihm fordert. Was mich beunruhigt, it die
voreilige Diittheilung, welche der Herr von Needen dem Fürften
Jablonowsfi in Berlin“) gemacht hat; dem wenn die Eadıe zu
früh. befannt wird, fo fängt die dem Herzog feindliche Nabale an,
davon Augen zu ziehen, und wenn fie auch nicht aufrichtig dem
Prinzen Narl von Biron ergeben Üt, jo würde jte fi doc ftellen,
als wäre fie e9, und wird cs {ehr leicht finden, Die Unterhandlungen
zu verwideln und zu hindern. Noch immer bejtimimter Befehle
von Zeiten Ew. N. Majeftät in diefer Pinficht entbehrend,
befchränfe ich mich darauf, ohne Affeftation zu jagen, dal; nichts
für den Aurländiichen Hof wünfchenswerther fein Fönnte, als die
Möglichfeit, recht bald und bei Kebgeiten des Herzogs die Thronfolge
feitguiegen“. Die Verwünfhung, welche die Naiferin Natharina
vor mehreren Jahren gegen den jüngeren Zweig des herzonlichen
Haufes befanntlich ausgeftofien habe, diene ihm (9.) als Beweis
dafür, dahı 3. Di. nie Diefen Zweig zur Thronfolge werde gelangen
lafjen. Der Herr von %. fuche fidh ihm zu nähern. Wan dürfe
*) Polnifher Gefandter in Berlin,
Zur Gejchichte der Unterwerfung Nırlande.
id, diefem Vianne nicht anvertrauen, aber man mühe ihn beitechen
und fönnte davon einen erheblichen Vortheil ziehen. Die häuslichen
Angelegenheiten 2.’ drängen ihn, andere Hülfsquellen aufzuiuchen.
KR, 7. Nov. Stimmt dem von ©. dem Herzog erteilten
Kath vollfommen zu. ©. werde an der Herzogin, wenn jie
heimfehre, eine gute Stüge finden.
68.8, Nov. 9. hat eine Kleine Neife durd das Yaud
gemacht, um Velanntihaften anzufnüpfen und die Stimmung zu
beobachten; das jei der einzige Weg, denn der Adel fomme jehr
wenig nad) Pitau, um jo weniger als der Herzog jo ifolirt (ebe.
Bisher fei das Sufzeffionsprojeft noch nicht laut geworden. &.
hat ein paar Leute an ich gezogen, deren man jpäter vielleicht
fich werde bedienen Fönnen. Man faje Vertrauen in die Jder,
daß der Stönig fich fünftig für Nurland interefiren werde, gewöhne
fi auch an ihn, 9; die alten Srethümer werden aufgegeben.
D. icjlägt mm vor, eine vom Herzog unabhängige Partei zufammen-
zubringen, die dem Nönige allein folge. Denn der Herzog Tei
fähig eine Partei zu fammteln oder zu erhalten, umd aud) die
Herzogin werde das nicht vermögen. Cine preufüihe Partei aber
werde and dem Herzog die Hichtung geben Fönnen. Der Herzog
müjje die Ntoften tragen. 9. it neulich in Würzau beim Herzog
geweien, der ihn gebeten hat eine Vermittelung mit Howen zu
übernehmen. Er entgegnete, dab wenn der Herzog ihm jein
Ehrenwort gebe, die Sache geheim zu halten, und ihm die nöthigen
Summen zur Verfügung jtelle, er mit Howen im Namen des
Nönigs in Verhandlung treten wolle. Der Herzog ftinmte zu,
Hüttel Hat die Verhandlungen eingefädelt, durd) welche, wenn fie
gut enden, der Oberburggraf Nreatur des Nönigs werden mile,
was jehr müglich für die Sufzeffionsfrage fein werde. — Der
Herzog fei entzüdt von der Aufnahme der Herzogin in Berlin,
befonders von ihrem Aufenthalt in Potsdam, Habe darüber Briefe
derfelben im, &., gezeigt, Towie einen Brief der Prinzeffin von
Oranien. Der Herzog will darauf mun antworten. 9. bittet,
man möge in Betreff des Frangöfiichen „glisser sur les formes
et le style de cette röponse en faveur de la sinedrit6 des
sentiments®, denn weder verftehe der Herzog gut franzöfiich, nad)
jei ein guter Sekretär vorhanden.
506 Zur Geidichte der Unterwerfung Nurlands.
3, 13. Nov. Billige den Man der Bildung einer preußüchen
Partei, worin die Herzogin 9. unterflügen werde. Billig and)
die Unterhandlungen mit Howen; nur wird Lorficht gerathen,
damit der Nönig nicht fompromittirt, durd den Herzog die Sache
nicht nochmals verrathen werde. 9. Soll die Oraniiche Angelegenheit
im Auge halten. Diel jei damit erreicht den Herzog fo voll:
fommen dafür gewonnen zu haben, jedoch das volle Gelingen
deo Planes hänge immer von dem guten Willen des rufffihen
dofes ab.
69. 8., 6. Nov. Potemfin’s Tod iit überall in den ruffüichen
Nachbarprovinzen mit Freuden begrüßt worden, weil er den Frieden
hinderte. Er juchte jteto die Armee an fich zu in, um jeine
perfönlichen Abfihten auf die Moldau durchjuiegen. Manche
glauben nicht an einen natürlichen Tod. um werden die
Ortow ficher wieder auf der Bühne eriheinen, wenn die Naiferin
fie wünice, und die Engländer werden in Alerio Orlow dann
einen eifrigen Parteigänger haben. Veiborodfo ift zur Armee
abgereift. 9. hat ein Gejpräd mit Howen gehabt, das ihn in
dem Slauben beitärkt, man werde von dowen Nupen ziehen fönnen.
Diefer hat fc in Vezeugungen der Ehrfurcht und Berunderung für
den Sönig ergangen. Cr winfhe fchr einen gütlihhen Vergleich)
der Stände mit dem Herzog, verberge nicht, daher bereit wäre
mit dem Herzog anzufnüpfen. D. entgegnet, das Vorausgenangene
erichmere die Sadje fehr, aber er jei bereit zu verfuchen was fich
thun faffe, wenn Dowen ihm eine Grundlage biete. Der König
wüniche and die Veilegung des Streites, und wer dazu beitrage,
Fönne der Proteftion und veeller Zeichen des Föniglichen Wohl:
wollens ficher ein. Yomen habe Mag der Hervorhebung deo
Unrechts auf Seiten des Herzogs bereit geidhienen, fi gewinnen
zu laffen. Er habe betont, da; die Yehngüter gegen die Ansprüche
des jegigen Herzogs geihügt werden mülfen, damit ein Fünftiger
Herzog aud) was habe. antwortet: 0 wenn ein fünftiger
Herzog Yehn und Allod vereinigt, fo werden Sie bie Gefeplichfeit
des Alod’s nicht beftreiten?“ „Nein“ entgegnet Honen.
N, 17. Nov. Legt Gewicht auf die Mittheilungen
vom 6. November über die ruffiichen Dinge. Wahriceinlich werde
nun Soltyow das meifte Gewicht bei der Zarin gewinnen. Er
Zur Gefchichte der Unterwerfung Sturlands. 507
icjeine fich auf die Gunft Subow’o zu jtügen, während Aleris
Orlow fi in Moskau zurügezogen Halte. Veiborodfo fei in
Jafiy angefommen und der Friede werde alfo wohl bald geichloifen
fein. England habe den Plan der Oranifcen Heirath gebilligt
und durch Knith in Wien unterftügen lafien, was der Nönig dort
durd Baron von Jafobi habe anregen lajfen. Nufland aber jei
bierin am meiften zu fürchten. Die Iudisfretionen mehren fich
indejien Schlag auf Schlag, um die Sache zulegt zu verderben.
Der Fürft Statthalter im Hang habe vertraufihe Mittyeitungen
davon den Seneralitaaten gemacht, was fo gut fei alo wie eine
öffentliche Nundgebung.
70. 8., 10. Nov. Cs fei Gefahr für das Sufzeffionsprojeft
vorhanden in den vielen Mitwiljern, obwohl es nod) nicht öffentlich
befannt jei. Der Herzog unfähig und unbeliebt, die Herzogin und
ihre Schweiter, die „pivots du parti dueal- haben doch wenig
Anhang, eine herzogliche Partei für diefes Projekt habe wenig
Ausficht. Die Sache ftehe auch Ichleht wegen des Streites mit
den Ständen, der feinenfalls ein gutes Verhältnih im Lande
zur Folge haben könne. Ein gütlicher Vergleih fei dringend
wünfchenswerth. Aber der Herzog werde dazu nicht zu bewegen
fein, obwohl icon Viele vom Adel fih an ihn, 9, mit dem
Anfinnen gewandt hätten, einen folden Vergleid zu vermitteln.
9. bittet den König, ihm einen ausdrüdlichen Befehl zu ertheilen,
dem Herzog in feinem Namen zum Vergleich zu rathen, als
mothwendig zum guten Ausgang des Zufzeifionsplanee. Die
Verhandlungen mit Howen geben weiter, welcher jchr eifrig fi)
$. nähere, Nach dem Tode Potenmfin’s, über den Katharina,
wie 9. ficher annimmt, im Stillen erfreut jei, werde fie nur um
fo mehr ihrem Grundiag folgen, fidh mur mit mittelmähigen
Leuten zu umgeben, die fie nicht in Schatten ftellen fönnen.
Wenn aber die Furcht für ihre Perfon fie die Hilfe einer tüchtigen
Perjon juchen faffen jollte, jo werde fie wahriheinfich zwiicen
den beiden Orlow, Aleris und Feodor, wählen.
%, 20. Nov. Vefünvortet wieder die Vildung einer
preufiichen Partei. Ueberiendet das von 9. gewünichte Netript,
um den Herzog zum Wergleich zu beitimmen. Die Lraniidhe
Sache joll beim Adel noch nicht zur Sprache gebracht werben, da
508 Zur Gefcichte der Unterwerfung Kurlands.
fie noch unreif jei. Der Raifer hat auf die erfien Eröffnungen
geantwortet, «5 wäre gut, die Sache mod zu verichieben bis
Tejterreih und Preufien der Jarin das Snitem ihrer gemeinfamen
Allianz vorschlagen fönnten. Da wegen der Jndisfretionen diefer
Antwort nicht Folge geneben werden fönne, jo habe der König
feinen Antrag in Wien erneuert, welcher angenommen worden
fei. Statt aber dem Veripreden gemäß direft durch, Korreipondenz
mit der Zarin die Sache anzuregen, Habe er fie durch Injtruftion
an Gobenzl*) eingeleitet, überzeugt dah co vergeblich wäre, jeht
fih an die Jarin zu wenden, wo fie withend über Polen jei und
von dem lan gewmartert werde, die nene polniiche Ronititution
mmuwerfen. Da fie nun unter folchen Umftänden chwerlich
einigen. werde, Suırland einen von 1 hen Protsgirten Sir
Bei den Abfichten, welde man jeht dem Yeerabunger
Betreff Polens beilege, Fönnte eo leicht fommen, dab wenn
Preußen, jolde line weiter verfolgend, fd ohne vorherige
Zuftimmung beider Nailerhöfe an Natharina wende, diejelbe
Gegenforderungen jtelle, infolge deren der Plan mühe zurüd
gezogen werden.
71.8, 13. Nov. Die Zarin habe fh aus Furcht vor
dem Tode, der fie jehr unterliege, nad) der Nachricht vom Tode
Potemfin's fofort zur Ader gelaffen. Cs jei mod ungewif, wer
feine Aemter erben werde, Chef des Nriegedepartemento werde
wahrjceintid Zoltpkow werden, was wegen der Nichtigkeit dieies
Mannes wahricheintich Tei. Kaube die Naiferin noch immer
jeher beichäftigt mit den franzöfiichen Angelegenheiten, die fie
ordnen wolle; dazu fucht fie eine Partei juiammenzubringen, was
Drlom mifbillige, weil dem Neich Ruhe moth the. Daher Fnne
«5 fommen, Ddaf; wenigftens Weris Orlow nicht an den Hof
berufen würde. In Nunland hofft 9. der Auoföhnung zwifcen
Herzog und Ständen näher zu Fommen. Howen arbeitet an
einem Plan dazu; er hat ein Gefchent won 3000 Dufaten
angenommen, das d. ibm im Namen des Nönigs mit Genehmigung
des Herzogs angeboten hat. Der Herzog hat ©. verinrochen zu
=) Dejterreichüicher Gelandzer in Petersburg.
Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands.
erklären, dab er die Domänen mr am eingeborene Evdelleute
verpacpten werde. Von dem Zufzeifionsplan fcheint von Berlin
aus etwas verlautet zu haben.
N, 24. Nov. Man halte in Petersburg Soltotom für
einen fehe gemandten Mann; er fei von Zubow begünftigt, der
jeit der Abreife Veiboronfo's die auswärtigen Angelegenheiten
Stadelberg ihmeichle fü jehr ins Minifterium zu Fommen.
efannter jeitbem der Fürit
hen Gefandten im Haag,
leite.
Die Sufzeifionsfinge werde immer bi
halter fie auch noch dem ru
Ralifchemw, mitgetheilt habe.
3., 17. Nov. Aus Warihau hat der Herzog Nachricht
erhalten über einen dem Neichotag vorgelegten Entwurf der
ritterichaftlichen Delegirten zu einer Nonjtitution für Murland, die
Altes über den Haufen werfen und den Einfluh des Herzogs
gänzlich vernichten würde. Cr werde bald dem Könige einen
Auszug enden, damit die nötbigen Miahnahmen getroffen werden
fönnen, um das Projekt zu Kalt zu bringen. vermutbet, die
Führer in diejem Unternehmen wollten die Inforporation Nurlands
herbeiführen, um dann die ehngüter alo Starojteien für fid) zu
befommen. Die Leitung des Yandes jei in den Händen eines
im Grunde vielleicht vedlichen, aber bornirten Wienfchen, der
unter dem Ginfluh gefährlicher Yeute fiche und dem
perfönlich feind jei: des Yandesbevollmächtigten Mirdad).
Herzog ermangele der Thätigfeit, des Xleihes, der Einficht und
der Nathichläge, und fein Ber .le Sr. de Raison
est au moins au courant des a Howen babe bei
den neuen Plänen ficher die Hand im Spiel. Die Verföhnung
jei weit jcherer geworden. Die Zufeiftonsfrage fei num von
Berlin ber durch Briefe on Mira befannt geworden. Dieier
erzählte 65 dem ruffiichen Minifter, welher den Herzog darauf
aufmerfiam machte, da bei ähnlicher Gelegenheit die Nailerin
im Jahre 1786 eine Dellaration erlaffen babe. od made die
Sacje im Yande fein Aufichen.
. Nov. t ‘lan einer Nonjtitution fei wohl nicht
gar gefährlich, es werden fich noch Wiittel finden, um den Gegnern
des Herzogs die Etien zu bieten. Co ei nidhte zu fürchten,
„surtout ni pour labolition de la dignite dueale. ni pour
510 Zur GSefchichte der Unterwerfung Kurlande.
Pincorporation du pays. IImperatriee de Russie ayant
eatögoriguement en plus d'une oceasion.
elle risquerait plutöt la chanee d'une guerre*.
Ferner habe der Nönig von Polen auf die Anterzejfion des
98 durch den polnifchen Kefdenten in Berlin Zabloci erklären
taffen, daß er diele Sache immer alo eine Toldhe angefehen habe,
welche die Aufmerkjamfeit der Nachbarmächte auf füh lenfe, und
dah der Neihstag die Nathichläge Preußens gewii beachten werde.
20. Nov. Ueberjendet einen deutichen Auszug aus
zur Nonftitution. Viele von den Grundjägen feien
der franzöfiichen Nonftitution entlehnt, die Autorität des Herzogs
vernichtet, derielbe unter Vormumdichaft des Mathe und des
ftändigen Yandtages geitellt. Im Lande feien die Parteigenoifen
des Herrn von Heyfing und Genoffen felbit in Verlegenheit.
Bowen erfläre, nichts damit zu tham gehabt zu haben. Pirbach
tabele nur die Meberjtürgung der Delegirten, wodurd aber der
Vergleich mit dem Herzog nicht gehindert werde. D. glaubt,
da es nur Yerger über das Yautwerden des Planco jei, was
dahinter rede. In Warihau geht die Sade des Herzogo gut,
die Herzogin beitätige das; leider aber entfernen ji „Diele
Damen“ um fo mehr von der Ansföhnung, nad der fie jo jehr
verlangten, als die Sachen fchlecht Ttanden. Wenn die Sache des
Herzogs völlig triumphirt, To würde das im Yande hödhlich
verbittern und der Eufzeifionsfrage fhaden. Die Herzogin tänfche
fh über ihren Nredit im Lande. Sie fe feineswegs belicht,
vielmehr jei man gegen fie erzürnter als gegen den Herzog.
Wenn fie gewinne, jo werde das jehr zunehmen, bejonders bei
den Neichen, die zur Führung der ritterihaftlichen Sache Held
hergegeben haben und daljelbe dann verlieren würden. Auch
Haben die Herzogin und ihre Schweiter in den Verhandlungen
große Fehler begangen. Die Herzogin laffe fh in ihrer
Vebhaftigfeit fortreiien, die Schweiter jche die Pienfchen und
Dinge nie fo wie fie find. Die berzogliche Kartei beftehe aus
Menichen ohne Kopf und Gharafter, ohne Thatkraft und Nredit.
Die Herzogin, nun überzeugt, dal; der Herzog nie eine Partei
fich werde fchaffen Fönnen, höre nicht auf, ihm, 9., zu Ichveiben,
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 511
er möge eine jolde für fid) bilden. Ex tue es nad) Kräften.
Er hoffe auf Howen, obwohl es möglich fei, da; aus dem ganzen
Handel mit ihm nichts werde. Aber wenn er weiter in diefem
Sinne arbeiten jolle, jo wiederhofe er die Bitte um offenbare
Infteuktionen, damit er auf den Herzog flärfer wirken und die
Herzogin bewegen fönne, ihren Feinden eine goldene Brüde zu
bauen. Die Sufzeffionsfrage werde in allen Briefen aus Warichau
beiproden. Ebenjo ein anderer Plan, nämlich den der Fürjtin
von Württemberg: Mömpelgart zu Gunften ihres Sohnes, des
Pringen Ferdinand. Der erite Plan finde im Lande mehr
Anklang als der zweite; der Prinz von Württemberg werde
gefürchtet als der Bruder der fünftigen Naiferin von Rußland.
Auf die Eröffnung des Herzogs an vier feiner Näthe haben dieje
dem Plan Dranien zugejtimmt,
NR, 1. Dezember. Vetont die Notwendigkeit weiterer
Bemühungen um Ausföhnung zwifhen Nerjog und Ständen.
Die Sache Dranien werde täglich fchwieriger, man fönne nur
pajfiv abwarten, was in Petersburg geichehen werde. Der
Statthalter wie die Herzogin haben große Fehler gemad)t. Der
Prinz Württemberg werde nicht hindern, denn die Polen würden
gegen ihn fein, vielleicht Natharina felbit.
74. 8, 24. Nov. 9. jendet Heute an Howen ein erfles
Memoir zurüd mit dem Bemerfen, daß es gegen die Zundamental-
gefege des Landes verftohe und dab D. fein Vertrauen in bie
guten Abfichten Howen’s fallen könne, jo lange derjelbe diefe
Nichtung verfolge. Aber Howens Privatverhältniffe find ganz
zerrüttet, er bedarf der je, und daher glaubt ©, daß er
Tommen werde. Der Herzog hat feine Haltung in ber Frage
der Vildung einer Partei geändert, bei welder auch Kowen mit:
helfen jollte. Die günftigen Nachrichten aus Warfchau haben ihn
feit 8 Tagen in biejer Frage abgefühlt, nachdem er vorher dafür
eiftig gewejen und fich erwieien hatte, daß bie Deklaration, welde
er im Lande verbreitet hatte, um fie nad) Warfcau zu fenden,
fait von Niemandem war unterzeichnet worden. Er habe aber
doc) nicht den Muth gehabt von dem eingeihlagenen Wege
abzugehen, naddem am 22. ein Brief der Herzogin angefommen
fei, in dem fie erfläre, daß fie niemals in einen Vergleich willigen
4
512 Zur Geihichte der Unterwerfung Kurlanbs.
merbe, fondern Alles dem Spruch des Souzerän’s anheimftelle.
Der Herzog habe hinzugefügt, er fchliehe fihh dieler Anfiht an,
indem er den Brief an 9. überjende, worauf 9. erwiderte, dab
wenn ber Herzog in ber fehwanfenden Haltung verharre, er,
gewungen fein werde, dem Könige vorzuftellen, dal; er dem Herzog
feine Dienjte werde leiften fönnen. 9. wendet ji) an die Herzogin
mit Darlegungen über ihre faliche Behandlung der Sadıe. Dazu
Tomme noch Folgendes: Die Vürger hätten gerechte Beichwerden
gegen den Adel, verlangten aber mehr als das Gerechte, weshalb
die Feindfhaft groß jet. Der Herzog begünftige die Bürger,
mwoburd) der Hal des Adels gegen ihm erhöht merde. Die
Vürger fonnen aber dem Derzog nicht Helfen, arbeiten doch
nur für den eigenen Vortheil und Fönnen am wenigften in der
Sufzeffionsfrage etwas ausrichten. Auf die Lorftellung 9.8
wurde im September der Nammerherr von Solten bei feiner
Abreife nad Warfchau angewiefen, die Bürger zu unterflügen
und die beiden anderen herzoglihen Delegirten, Manteuffel und
Medem, haben ih offen für die Bürger erllärt. Das habe der
Herzog gelhan ohne vorher D. etwao mitzutheilen. Cr habe alle
Welt vom herzoglichen Dofe entfernt und werde die Bemühungen
9.5, eine Herzogliche Partei zu ichaffen, fehr eridhweren. Unter
dien tut der Herzog nichts alo Jagen, in Gefellichaft von
Kofaken, die ihm einen Bejucd, gemacht haben. Auf die Herzogin
fegt 9. wenig Hoffnung, ei vielmehr froh, daß fie erit Ende
Januar zurüdfehren wolle; eine Partei lafe fh ohne fie beifer
bilden, als mit ihr.
R, 3. Dep, Der König erfennt die fcnwierige Lage 9.6
bei der unbeit
digen Haltung des Verjoge und den Ueber:
&s) der Herzogin an.
„Nov. Der Einfluß; des Nönigs habe in Warfchau
die Inforporation Piltens abgewandt, wofür biefer Areis jehr
dankbar jei. Die Schwierigfeiten der Anoföhnumg wachlen von
Zeiten des Hofes. Die Verzogin hat an 9. geichrieben. Der
Inhalt jei, eo fei bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge
„dommage de s’accomoderz“ dab, um die Augen deo Landes
über das Unheil zu öffnen, in weldes einige Intriganten daifelbe
geftürzt, man dieje leßteren verderben und demasfiven mühe.
Zur Gedichte der Unterwerfung Rurlands. 513
Ein fonzeräner Schiedeiprud) allein werde den Adel überzeugen;
jest fi) zu vergleichen würde aud) die Zarin verlegen, deren
Viediation man vor 9 bio 10 Monaten zurücgewiefen habe.
Jept eben wäre die Lage für einen Vergleich günftig; man fönnte
viel erlangen, wenn die Herzogin fich entichläfe, Opfer zu bringen.
9. hat die Herzogin ernftlich gewarnt, den Weg des Vergleichs
zu verlajfen.
R, 8. Doz. Wenn der urländifche Hof fortfahre den zu
den Plänen 9.6 entgegengefepten Weg zu gehen, fo werde man
ihn feinem Schidjal überlafien müfen Toll, um Verwicelungen
zu vermeiden, fic) nicht zu jehr vormagen.
76.8, 1. Dez. Soltytow, ein mittelmäßig begabter Mann,
verdanfe feine Erfolge nur feiner Gefehwindigteit. Ohne wirkliche
Einficht, ohne Grundfähe und Energie, jei fein einziges Verdienit,
wie das “auch bei Veiborodfo zutreffe, nie ber ftaiferin wider:
iprocden zu haben, jobald jie jtarf einer Sadye zimeigte. — Der
Oraniice Pan findet im Yande allgemeinen Anklang. 9. hat
der Herzogin gefchrieben, dafı er feine Perbindungen im Sinne
einer Annäherung nicht mehr jerreifien Fönne ohne ben König zu
fompromittiren.
R, 11. Dez. Der Maricall Graf Rumänzow wolle das
Kriegsdepartement übernehmen, um die großen Unordnungen wieder
zu tifgen, welche unter Potemfin eingerfen feien. — Wenn die
Raiferin den Oranifchen Plan vereiteln wolle, werde fie immer
einen Vorwand darin finden die Kinder des Prinzen Narl zu
beichügen.
7
3, 4. De. 9. hat dem Herzog in Würzan das
oitenfible Neffript über die Ausfähnung vorgelefen. Eine lange
Unterredung folgte, in der fidh der Derzog ganz mit der Meinung
des Königs einverfianden ertlärte; er fhimpfte auf den Adel, der
ihm Unrecht thne. Rad) vieler Mühe 9.'s ward ihm geitattet,
die Verhandlungen über den Ausgleich fortjuießen. Der Herzog
veripricht an die Herzogin zu fhreiben, dal; ein Lergleich im
Sinne 9.5 einem Schiedsfprud des Somyeräns vorzuiehen fi.
Bas den Oraniichen Plan betr , jo femme ex genug
den Grafen Cobenzl, um zu willen, daß jobald nur ein Schatten
von ihbilfigung jeitens dev Naiferin auftauchen werde, er fofort
x
514 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlands,
an den faiferlichen Hof in abmahnendem Sinne jehreiben werde.
Auffallend fei, daß die Naiferin, feit über 6 Wochen in Renntnif
des Planes, bisher noch feine Trdre an ihren Minifter in
Mitau erlaiien habe. Nücdmann hat dem Herzog mitgetheilt,
dab Bichofswerder mit geheimer Mifftoen vom Nönige nad)
Ketersburg gehe.
78.8, 8. Dez. Von Zoltyfow meint er dei nicht
, habe die Routine des Hofmannes, infinuire fich ftets
duch Schmeichelei gegenüber dem Gefhmad der Kaiferin. Er
habe den Herrn Jermolow der Nailerin gegeben, und durch ihn
und feine Vermittelung jet auch Subow in Gunt gekommen.
Er habe mehrfad; gegen Potemfin intriguirt, den er hafıte und
veradhtete. Im Jahre 1786, als Potemfin feinem Sturze jo
nahe wie nie war, haben Coltyfow und die Gegner durch
Yermolow auf die Naiferin gewirkt, welcher ihr über den elenden
Stand deo Heeres Vortellungen machte. Zoltyfow, befragt in
dem inne, als ob die Naiferin die Wahrheit nicht hören wolle,
fuchte Jermolow zu entichuldigen, der dadurd in Ungnade fiel.
Auf diefe Anekdote hauptjächlich ftüge cr, 9, fein Urtheit über
Soltyfow. Mit mehr Charakter hätte er damals Potemtin wohl
geftürgt, die Neife nach Cherion und den Krieg gegen die Türfen
verhindert. Er jei Obergouverneur der jungen Gvohfürlten, Chef
des Ariegsraths, Glied des Natho der Kaiferin, und fönne wohl
noch weiter fteigen. Aber fchwerlih werde er großen Einfluf
auf das Spitem der ruffüichen Politif haben. Er liebe das Geld.
Subow jei Ihn früher von der Naiferin bei Gelegenheit in die
Politif Hineingezogen worden; jest, da Bejborodfo abweiend,
möge er wohl mehr gebraucht werden, wenn and mur wegen
a Gefallens, den die Kaiferin an Martom finde.
über die Pachten der Yehngüter beftehe darin, dafı
der Adel verlange, cs follen feine Tefonomien mehr gebildet
werden, bie Pachten jtatt auf 3 auf 6 Jahre vergeben, die
Pachtfummen firirt, nicht durch Vieijtbot geiteigert werden. Der
Mdel Habe formell unrecht; aber er fei im Dunchjehnitt arın, habe
teine Gelegenheit der Verforgung durch Dienft wegen der geringen
Anzahl der Stellen; der alte Adel fei wüthend, dah ein Biron
im Ueberflufi lebe, während er darbe oder doc) fich einihränten
gun
mühe. Diefe Sadje fei die Quelle aller Animofität gegen den
Herzog, daher bemühe er, 9, fi) weiter, einen Vergleich, herbei-
zuführen. Er wolle folgende Vorichläge maden: 1. Der Herzog
nimmt in Verwaltung nur die Lehngüter an der großen Straße
mad) Memel und Kibau, und zwar wegen der Pot. 2. Er fäfit
die Pachtgüter einzeln, nicht verfhmolzen, bejtehen. 3. Die
Pachtzeit bleibt 3 Jahre, aber die Pachtimnme wird firirt und der
Herzog verjpricht, nad) Ablauf der 3 Jahre für weitere 6 bis 9
Jahre zu denijelben Zap die Padhtgüter an Leute, die fih als ihm
wohlgefinnt ermeifen, zu vergeben (aus diefem Grunde, um fi)
willige Lente durch die furzen Pachten zu erhalten, ift der Herzog
gegen lange Termine); die Lizitationen werden abgeihafftl. —
Menn diefeo durchgeiegt werden Fünnte, vermödhte man eine
itarfe Partei für den Nönig zu bilden.
R, 18. Doz, Dementirt die Mifion Vifhofswerder's. Cs
jei wahrideinlic, dab wenn Oftermann jtirbt, nicht Soltyfow,
fondern Befborodfo das Auswärtige erhalten werde. — D. werde
fi in den Fwifchen Angelegenheiten wohl zurüdhalten müjlen,
da 6 umwahricheinlich fei, dab der dortige Hof werde gefehriger
werden. Denn obwohl der Plan der Nonjtitution in Warfhau
abgewiejen worden, Laie die Herzogin nicht ab, die gewaltfamen
Wege zu verfolgen, welche die Kluft zwiiden Gerzog und Adel
erweitere.
Geigichte der Unterwerfung Nurlands. 515
8, 11. Doz. Die Sache des Kettleriihen Allod's madıt
9. Sorge. Die Hergogin wolle von feinem gütlichen Lergleid)
hören. Diejer Gigenfinn ftöre unendlich die Verhandlung 9.8
mit Howen, denn ohne die Zuitimmung der Herzogin fönne er
nicht anf den Herzog rechnen. Die Nettleriche Exbichaft jei nicht
die einzige Gefahr für das herzogliche Erbe. Durd, die Unklugheit
des Herzogs jei der Befük von Würzau fraglich geworden. Dieies
herrliche Gut mit einem Jahresertrage von gegen 25,000 Dutaten,
vom Lehn zu Gunften Ernjt Johann’o abgejchieden ehe derjelbe
Herzog wurde, jei durch Mıguft III. allodifiztet worden; dennoch
habe Ernit Johann immer Würzau in die Kategorie der Lehngüter
geteilt. Dur) die Lit Dowen’s Habe der Herzog fih überreden
laifen, eine nochmalige Allodififation beim Nönige von Polen
nadzujuden. Naum war fie erfolgt, jo ertangten Howen und der
316 Zur Gefchiehte der Unterwerfung Nurlande.
Schwiegerjohn von Stadelberg*) durch Rufland die Allodifizirung
zweier von ihnen im Aftertehn beiefienen Güter. Cbenfo wurden
Grendfen und Jrmlan zu Gunften des geieslid alten, aber
tatfächlich bisher nur in der Phantafie eriitirenden fogenannten
Landesfajtens allodifizirt. Der Herzog widerfegte fidh und «6
entjtand ein Streit. Während der Abweienheit des Herzogs
vermochte Howen die Negentichaft, Würzau für 200,000 Thaler
für das Lehm zurückufaufen. Der og verglich fi nun mit
dem Schwiegeriohne von Stadielberg durch eine Yebensrente von
500 Dufaten. Aber das Land fordert die ebergabe von Srendfen
und Jrmlau, und Mürzau bleibt daher ebenfalls unficher. Die
Herzogin hat 9. mitgetheilt, dal; fie Antwort von der
Habe in der Eufzeiftonsfrage. Nach der fcharfen Art, mit der
IM. fih bei mehr als einer Gelegenfeit über den jüngeren
Zweig Viron geäußert hat, fönne er, id) ihwer davon
überzeugen, da dieje Fürftin ernfthaft für die Söhne des Prinzen
Karl eingenommen fei. Er Halte das cher für einen bloßen
Vorwand ...., 08 jei denn, daß die Wrinzeffin Karl plöglich
für fie intereffant geworden wäre in ihrer Eigenjchaft als Schwejter
des Fürjten Poninsfi. Der Herzog wife nichts von der Ntorrefpondenz
feiner Gemahlin mit der Ntaiferin.
N, 22. De, Der Oranien-Plan fteht ichlecht. Gobenzt
ichnweigt darüber gegen Golg; die Herzogin hat Nachrichten, wonad)
wenig Hoffnung auf guten Ausgang bleibt. Cie werde entweber
den Plan zu gefegener Zeit wieder aufnehmen, oder die Tochter
mit anjtändiger Mitgift verheirathen. Auch jolle die Herzogin in
weit wichtigerer Sadıe nad) Petersburg reifen und werde dort die
unliebjame Sache nicht berühren, da der Herr Bulgafow der
Frau von der Nede zu verjtehen gegeben habe, dal; die Hailerin,
weit entfernt die Wahl des jungen Prinzen von Cranien zu
billigen, die wirfjamften Mittel anwenden werde, um fie zu
verhindern. „Unter diefen Umftänden wäre eo vollfommen nuplos,
gegen den Strom zu fÄwimmen und fi Abweifungen zugusichen,
welche allen Beteiligten jdhaden würden. Id habe daher meine
Viinifter in Petersburg und Wien angewiefen, jeden weiteren
*) Schopping.
Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands. 517
Schritt anzuhalten, und Sie werden Ahrerfeits fühlen, daf-Ihnen
michts übrig bleibt, als dafjelbe zu tbun, ohne jedoch den Herzog
die wahren Motive, welche Sie zu handen hindern, willen zu
lajien, da diefer Fürft, wie Zie jagen, in Unfenntniß über die
Beziehungen feiner Gemahlin zu dem ruffiihen Hofe it.“
80. 8, 15. Dez. Ueber die Abideidung der Rettlericen
Allodien vom Lehn find feine Karten oder Natajter vorhanden.
9. glaubt fürdhten zu mühlen, dah alle Vemühungen für ein
Gompromih erfolglos Fein werden; die Herzogin verlange immer
eine richterliche Entjcheidung, und der Herzog wende fih wieder
diefer Anficht zu
81. 3. Dep. Die Herzogin Hat auf $.s Brief
wegen des Vergleiche und Vowens geantwortet. Sie läft
fid leiten durch ihre juriftiichen Nathgeber und ihre „ressentiments“.
Wie cs fcheine habe der Herzog der Herzogin gerade das Gegentheil
von dem geichrieben, 1as er zu jchreiben veriprochen habe, d. b.
gegen die Kompofition. D. zieht fi feit 3 Wochen leife von
der Sadje zurüd, verhandelt nur mod) mit Howen, beifen- Pacht
im nädjiten Jahre erliicht und der dadurch in Geldnoth gerathen
werde.
N, 1. Jan. 1 VBei den Verhandlungen mit A. Chartornsfi
in Dresden mache man den Verfuh, den Plan der Wieder
beritellung Herzog arts wieder zu beleben. ©. Nolle werde
dadurch, jowie durd; den mangelnden quien Willen des furiichen
‚Hofes immer paffiver, und er jolle feine Aufmerfiamteit nur mehr
Nufland zumenden.
82.8, 25. Dez D. glaubt nicht, dal Numänzem Chef
des Kriegsfollegiums werden wird, denn er jei ein Mann, der
für die Zarin zu .tranehant, caprieieux. caustique* jei
Numänzew habe dur diefe Stelle nichts zu gewinnen. ©
Habfucht Line er cher auf feinen großen Gütern befriebigen.
Der türfiiche Nrieg habe Wiillionen in feine Tafche gebracht,
indem er feit Iahren alleo Getreide der Ufräne billig aufgefauft
umd heuer an die ruifiiche Armee verkauft hat. Wahriceintich
werde Rif. Soltyfow das Nollegium behalten. Vefborodfo feite
nicht eigentlich jelbit die äußere Politit, fondern erhalte die
Anweiiungen von der Nailerin, die in ihm ihren Zögling fieht
318 Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
und vor Ojtermann bevorzugt. Vejborodko werde auch lieber den
Einfluß behalten, den er als Hofmeifter und Nabinetsjefretär hat,
als Vizefanzler werden. Beiborodfo jei „insoueiant. mou, timide
vis-a-vis de l’Imperatriee*, bejonders aber Habfüchtig. Die
Dranienfache jei fehr benadhtheifigt worden durdy den Brief, den
Mlopäus*) auf Wunfch der Herzogin an den ruffiichen Hof gerichtet
babe, ehe die Dinge vorbereitet waren. lopäus fei übrigens ein
reblicher Dann aber ohne Talent.
1792.
1. 8, 1. Januar. Die Herzogin hat aus Waricau ihren
Vertrauten Medem nad) Mitau gefandt, um &. zu überzeugen,
dab man die dee einer Verföhnung aufgeben mühe. Die
Nacprichten aus Warihan jeien nicht jo gut als cs Anfangs
idjien. Das Projekt der Konftitution fei nicht völlig verworfen
worden. Man plane in Warihau, eine Nommiffion zur Unter:
fuhung der angeblichen Deterioration des Lehns nad Sturland
zu jenden, fowie in Mitan eine „preture romaine- zu errichten.
— Die Zarin zeicine Nepnin aus, aber wahriheinlih werde er
nicht die Kriegsfanzlei befommen.
N, 11. Jan. Luchefini hat Auftrag erhalten, gegen jene
beiden Pläne in Warichau jejt aufzutreten.
2.8, 5. Jan. Nücmann erzählt, die Pringefiin von
Dranien habe jihh an die Naiferin um Vegünftigung der Heirath
des Prinzen Friebric) gewandt. Won Frau von der Nede erhält
9. zwei Mal wöchentlich Briefe.
R,, 15. Jan. Die Nachricht von dem Schritt der Pringeifin
von Dranien jei falich. Die Sadıe jei überhaupt bei Seite gelegt
und werde nicht fobald wieder aufgenommen werden. 9. werde
nur nod) einfacher Veobachter jein fönnen, da die Haltung des
Herzogs und der Herzogin jeine Thätigfeit unmöglid machen.
Rußland fol den Hafen von Neval und die finnländiiche Grenze
befejtigen wollen, was Mihtrauen gegen Schweden bezeuge.
*) Rufficer Gefandter in Berlin.
Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 519
3. 9, 12. Jan. Man jprigt von einer Heirath des Kron-
prinzen von Schweden mit der Großfürjtin Alerandrine.
4. 8, 19. Jan. Rußland werde feine alte Stellung gewih
wieder zu gewinnen verjuchen, jobald es die Arme frei habe.
24. Yan. Es jcheine eine Wandlung in der Kaltung
Aublands zu Preußen vor fid) zu gehen, da der ruffiiche Gejandte
voll Rüciichten für den König fei und fid) ihm zu nähern fuche,
5. 3, 26. Jan. Der ruffiich-türfiihe Frieden jei ab-
geichlofien. Graf Medem, Abjutant des Nönigs von Preußen,
it as Warichan in Würgau angekommen. Die Herzogin hat in
Petersburg fondiren laifen, wie eine Neije dorthin würde auf
genommen werden, welde fie im fommenden Sommer zu unter:
nehmen gebenft. Peyfing hat eine Broihüre anonym erfheinen
fajlen, die auf Kaflation der Furländifchen Nommiifion zur Trennung
des Mlob’s vom Leon ausgeht. — Frau von Venfendorif ift in
Ungnade gefallen, hat fich nad) Dorpat begeben und will von da
mit ihrer Familie nad) Deutichland gehen. Dadurch werde vielleicht
die Harmonie zwifchen den grol lichen Serrichaften wieder
bhergeftellt werden und der antipreußiiche Einfluß diefer Frau auf
bie Gro| n höre auf.
N, 5. Februar. Die Gejundheit der Zarin joll angegriffen
jein. @ucchefini weil; nichts von. der „Nommilfien“ mod) der
„preture“ für Rurland. E
6. 8, 29. Jan. Nufland will anfcheinend die Majle der
polnifchen Nation jtügen, welde die Nonftitution nicht billige.
Der Herzog hat H. die gefammte Storrefpondenz der Herzogin mit
ihm, mit Rußland und mit der Prinzefin Oranien zur Einficht
überfandt. Der Herzog denke daran, der Prinzeffin Wilhelmine
Sagan zu verjhreiben für den Fall, daß ihr Gemahl nicht
Herzog wird; andernfalls befommt jie Wartenberg und 200,000
Dufaten baar.
NR, 8. Febr. Der Plan Oranien jei hoffnungslos, wenn
auch der Herzog ihn noch verfolge.
7.8, 5. Febr. Das Zirkular des Herzogs wegen des
Konititutions-Entwunfs der ritter haftlichen Delegirten in Warfchau
ift vergeblid) gewejen. Der Herzog hat durd den jüngiten Grafen
Diedemm jehr gute Nachrichten aus Warihau, werde vielleicht
520 Zur Geichichte der Unterwerfung Nurlande.
enttäufcht und gegen die Herzogin eingenommen werden, bejonders
wenn er ihre Schulden wird bezahlen müllen. Aus Warfchau
werde nächjtens ein Pole, Minsfi,') anfommen, mit dem Vorjchlage
einer Heirat ywiicen Jofef Bonietowsti und der zweiten Pringeffin
von Kurland. Der Dof fei ganz dagegen, werde aber nicht
abweijen fönnen, jondern einen Ausweg Tuchen müfen.
88, 12. Febr. Marl Viron fucht einen Vergleich ein-
zuteiten. In Livland glaubt man, Nukland werde bald thätig in
die polniihen Dinge eingreifen. Wlande meinen, dah die Kaiferin
in den franzöfiichen Angelenenheiten blos demonjtriren werde, dal;
fie die Nachbarmächte verwideln und dann als Schieberichterin
Europa’s auftreten wolle.
N, 22. Febr. D. foll auf Hufland adıten. „Les projets
de eette puissanee sur la Pologne sont toujours egalement
enigmatiques. quoiqwil y ai de donndes pour Iui en
supposer de tr&s serieux et de trös v:
9.8, 19. Feb Der Herzog hofft, zu günjtigerer Zeit
den Oranifchen Plan wieder aufnehmen zu fönnen. Leber die
Sejundheit der Kaiferin berichtet D.: Schon vor feiner Abreije
aus Petersburg habe D. gehört, da; die Zarin immer mehr
beläftigt werde „de cette deseente de matrice. qui lui est
restöe de ses eouches avec son fils naturel Bobrinski.”
Man gebe die davon rührenden Schmerzen für Molit aus.
Generafgouvernem Brown in Niga habe wegen „des absenees
esprit“ feinen Abjchied nehmen müflen.
N, 1. März Die Zarin hat Narl Bivon bewogen, jeinen
Anfprüchen auf urland zu Gunften feines äfteften Sohnes zu
entfagen, der in Peteroburg werde erzogen werden. € jei zweifellos,
dab die Naiferin damit dem Oranijchen Projekt ein unüberwindliches
Sindernif Habe entgegenftellen wollen; man müfle daher „se
rabattre sur le mariage projettö®: der Herzog mühe die Sadıe
io fdmell als möglich durch direfte Verhandlung mit der Prinzefiin
Dranien zu Stande bringen.
10. B., 23. Febr. Der Herzog bat 9. erzählt, er habe
den Brief, den er vor Wochen an die Prinzeffin von Oranien
*) Zoll wohl Epominsti heifen; vergl, Bericht IL, 1702.
Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlande. 521
icrieben, mod nicht abgeididt, da jeine Vermögensverhältniiie
unficher feien und er daher nicht jagen fönne, wieviel er feinen
Sindern hinterlajfen werde. Er werde nun die Abjendung jojort
bejorgen. — Die Allodififation von Würzau werde jet angegriffen,
und feine Erträge betragen mehr als die von allen den jchlefiichen
Befigungen zufanmmengenommen. Der Nerzog fürchtet die poniiche
Kommilfion in der Frage der Yehngüter nicht, er werde fie cher
beitehen Fönnen alo feine Gegner. hat ihm biefen frivofen
Standpunkt etwas Har gemacht. Die Herzogin und Lucchefini
in Warfchau then falt zu einander, weil alle Parteigänger
Preußens dort gegen den Herzog find und die Herzogin glaubt,
dab Lucchefini nicht den nöthigen Eifer für ihre Cache Habe.
11.8, 1. Mär Die Ankunft Chominsfi's*) fjei ver:
ichoben. Nad) einer unverbürgten Anekdote behandle die Kaijerin
den Großfüriten mit mehr Vertrauen, höre jogar mandmal auf
nen Nat. Der Grof babe jeit Potemfin’s Tode eine
feftere Haltung angenommen.
N, 18. März. Die Kai
polnifchen Dingen. Der % Herzogs an die Prinzefiin
Dranien jei angefommen; der atthalter jei mit der
Vitgift zufrieden, es handle fd) nur noch darum, den Prinzen
Friedrich geneigt zu machen, was nicht fchver fallen werde. Im
Haag jei man der Vieinung, dahı die Pringeffin aufer der Vitgift
nod) einmal an dem Allodinterbe theilnehmen werde, dab überhaupt
ihr Erbtfeil erheblich machen werde, da der Herzog feine
Sparjamfeit joweit treibe, jährlih 50,000 Dufaten für jede
Toter zurüczutegen, was vielleicht übertrieben fei.
13.3, 11. März Die Wohlgefinnten feien in Furcht
wegen der Abficht Nuhlands, den Sohn Karl Biron’s zum
Nachfolger zu machen. In Warjchau erklären die ritterfchaftlichen
Delegirten, dah wenn der Herzog den Prozefi gewinne, die Etände
fh unter ruffiiche Proteftion jtellen würden. Der Herzog hat
ertlären faffen, da wenn die von der Nitterichaft proponirte
Verfalung angenomme x die Garantiemädte anrufen
werde. An alle ru jei der Befehl gelangt,
itarf mit den
che Bericht 7, 1702.
Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlands.
iffe anszurüften für eine Cofadre, die Truppen nad Tftende
bringen folle.
14.8, 15. März. Die Pringeffin Apollonin Biron hat
die Kaiferin gebeten, fie befuchen zu dürfen; diele hat abgeichlanen,
fi aber erbeten, den Älteften Sohn unter ihrer Aufficht erziehen
zu laffen. Tie Polen hat diejes Auftreten Karl Virons aufgebracht
und dem Herzog nenähert. Der Wojewode Chominjfi it feit
3 Tagen angefommen und vom Herzog gut empfangen worden.
Yaron Brinden it vorgeftern zur Veglücwünichung wegen des
hier foeben notifisivten riedens von Nafin nad) Petersburg
abgereit. Nücmann hat gegen Brinden bemerkt, Nufland habe
5 übel empfunden, dah Filten fih in irgend einer Cache an
andere Höfe als den ruifiichen, namentlich an Preufien, wende.
R, 25. Mär. Cine monie bahne fih mit
Rußland an. Das Gerücht von einem “Plan, zu Gunften des
frangöfiichen Prinzen 30,000 Dann zu ichieen, fei übertrieben,
aber nicht unwahr.
N, 30. März. Kriedrich von Oranien bat feine Zuftimmumg,
zu dem Plane gegeben und will im Sommer nad) Nurland reifen.
15. 8., 18. Därz. Co hat fich herausgeitelft, dal; Chominffi
zwar von gewiflen Wlänen des Königs von Polen auf die
Pringeffin Pauline dem Herzog gegenüber geiproden, aber feine
Heirat) mit Iofef Wonintowsfi vorzuichlagen hatte, fondern
beauftragt war, bein Herzog eine Anfeihe zu machen. In einem
Brief, den der Herzog ans Petersburg erhalten habe, heiht co,
Subow werde Glied im Auswärtigen Nollegium werden, fein
Nachfolger als Günfling werde fein fiebenswindigerer Bruder
VBalerian werden. Im Preobraihensfiihen Negiment allein find
über 3000 junge Yeute als Unteroffisiere verzeichnet, die dann
als Offiziere in die Armee gehen und dort alle Beförderungen
bis zum Napitän hinauf hindern. Gin Was foll das fünftig
bejeitigen.
16. 9. März. Die Nalferin weilt die Abficht der
turiichen Nitterichaft ab, auch ihrerjeits fie durch einen befonderen
Delegirten zum Frieden zu bealücwünfchen. Die ruifiichen Bank:
billets jtehen 10 Stüd oder „Souverains“ 1. Ab,
Zur Gejcichte der Unterwerfung Nurlands.
R, 1. April. 9. foll auf Ruhland achten mit Nüdlicht
auf Schweden, wo in Folge des Mordes (des Königs) Wichtiges
bevoriiche.
17. 8, 29. März Man fpricht von einer bevorjtehenden
Allianz zwilhen Preußen und Nufland und wolle damtt die
Polen fhreden. Ein Fürjt Tichetwertynsti, Nyewudi und Branidi
Find nad) Petersburg durchaereiit, fegterer wegen der Potemtin'fchen
Erbfchaft.
RS. April, Eine Allianz bejtche nicht, wohl aber gute
Harmonie,
18.3, 1. Ypril. Man meine, da; die Nailerin feineswegs
gleihgiltig fei gegen die nad) dem 3. Mai in Bolen eingetretenen
Zuftände; dal; wenn fie ihre Meinung mod) zurüchalte, fie bie
Gewohnheit Habe, ihre Abfichten nicht cher Fund zu hun, als bis
eine Auofiht auf Erfolg vorliege; dah fie, um für Polen freie
Hand zu haben, es ehr nem fjehen würde, wenn die deutichen
Mächte mit Frankreich beichäftigt würden, und dah fie hieran
arbeite. Um die Polen zu entmuthigen und von Preußen
abzufenfen, fomme fie diefem eich entgegen, während die
Emifjäre Gerüchte über eine neue Theilung verbreiten, die jtatt
finden fönne, wenn die Polen ih nicht unter den Schup von
Kufland begeben; lepteres bedürfe Feiner Vergrößerung, wie es
der Hauptwunfc gewifler anderer Höfe fei.
MUS die Herzogin von der verfprochenen Mitgift der Prinzeffin
MWilpelmine erfuhr, habe fie gefürchtet, daß der Herzog durd) feine
Vorliebe für die ältefte Tochter fi) hinreihen laffe, fie auf Noften
der anderen zu bevorzugen. Der Herzog jei gewiß; jehr veich und
feine vorherrichende Pailton fei zu thefamiren. Aber da er in
feiner Tefonomie mehr geifig als weile jei, nicht zu rechter Zeit
auszugeben wiile, in der Hand vieler und theurer Leute fei, jo
fönne er nicht 150,000 Dufaten zurüclegen.
Die saiferin habe im Hang heimlich dahin wirfen laflen,
dh der fhwantende Fürft bei den Eheftipulationen Schwierigfeiten
mache und der Herzog dadurch abgeichredt werde. Man dürfe
daher, wolle man die Deiratt) jürdern, feine neuen Schwierigleiten
bereiten, fondern mühe den Bertrag raich abichliehen. Die
524 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlande.
Teilung des Allodo nad) dem Tode des
ja von jetbit.
N., 13. April. Man fenne wohl die Miftimmung der
Kaiferin gegen die durd die Nevolution in Polen geidhaffenen
uftände, „mais e’est aller trop Join. que de Iui attribuer le
dessein. de subjuguer exelusivement ce Rayaume par son
influence politique et par des machinations insidieuses contre
la Prusse. J'ai des donndes pour mieux augurer dans ce
moment-ei du eabinet de Petersbourg”. Da die Craniiche
Heirath mun von der Frage des ehno getrennt worden fei, jo
fünne fie die Naiferin wenig intereffiren.
April. Wenn Guftav II. in Folge des Attentates
fterbe, To Lönne das für den ruifiichen Einfluh günftige Folgen haben.
Tie Kaiferin Habe fih jeit dem Attentat nicht mehr lich,
gezeigt, jo Fehr fei fie erjchüttert worden.
20. 3, 12. April. Die Verbindung mit Würzan ift unter:
brachen, die Wege jeden unter Waller. Die Nailerin hat fi
geweigert, Yaron Brinden als Abgejandten des Herzogs zu
empfangen, was cin deutliches Zeichen ihrer Verftimmung über
die Oraniihe Heirat) fei. Den Serzog werde das mit doppelter
Aengitlichfeit bei Verfolgung des Planes in feinem Aeimmutb
erfüllen.
21. 8, April. Herzog will folgende Nachrichten
erhalten haben: Nücmann fei angewielen worden, falls der Prinz
von Oranien im Sommer nad) Nurland fommen jollte, bei Zeiten
die Gemüther vorzubereiten, damit auf dem nächjten Landtage im
Auguft das Verlangen einer definitiven Negelung der Sufzeffion
geftellt werde. Der Gonverneur in Riga habe Anweifung auf .
60,000 THl. Alb. erhalten, um die Glieder des Yandtages zu
bejtehen, und General Pahlen foll ihn unterftügen. Der 9
überlaffe e9 dem Könige, demnad zu entidjeiden, ob co befier
wäre, die Neife des Prinzen bis nad) dem Landtage aufzuichieben.
Der Herzog ei etwas empfindficd über einige Stellen in dem
Briefe der Pringeffin von Oranien, welde Gelbfachen betrciien.
Yreinden fei in allgemeiner Audienz wie Gefandte einer Madıt
dritten Nanges empfangen worden, übrigens ganz höflich. Der
Herzog ift fehr für Betreibung des Heirathavertrages.
13096 veritche fich
Zur Gejhichte der Unterwerfung Rurlande. 325
N, 29. April. Der Nönig hat im Haag gerathen, die
Neife des Prinzen zu verihieben. Dort fei die Angelegenheit
fonjt ziemlich im Neinen; man arbeite am Nontrakt. Brinden
habe eine Unterredung mit Oftermann gehabt.
3, 22. April. Die Naiferin Hat an die Herzogin
geihrieben, ob es nicht befier wäre, die Prinzeffin Withelmine
an den Sohn des Prinzen Narl Biron zu vermählen. Die
Herzogin hat geantwortet, eine folde Ehe werde der Herzog
niemals zugeben, worauf die Norreipondenz von Petersburg aus
völlig abgebrochen worden ift. YWuch it die Anfrage der Herzogin
wegen einer Neife dorthin unbeantwortet geblieben. Yon Petersburg
ans wird im Haag weiter gegen den Heiratheplan agitirt.
2 April. In Warichau erzählt man, im nächiten
Monat würden fi 80,000 Mann Nufen an der Grenze jammeln.
N, 4. Mai. Die Kaiferin jei entjchieden gegen die Konftitution
Mai und wolle fie vernichten.
248, 29. April. Die Truppen aus Niga marjchiren
mach Polozk; es Heißt, fie würden von da über die Düna nad)
Polen einrüden. Die Polen in Petersburg hätten zu gewifien
Zweden von der Naiferin große Summen erhalten. Die leptere
joll an eine Ehe des jungen Prinzen Biron mit einer Örohfürjin
denfen. Diefe Nachrichten feien nicht. ficher.
25. 3, 6. Mai. Aus Petersburg kommen Eriegerifche
Nacprichten gegen Polen; cin Manifeit gegen die Nonflitution
vom 3. Mai fei jhon fertig. Man habe in Petersburg Kunde,
daß der Jafobinerfiub in Paris einen Meucelmörder ausgefandt
habe, um die Staijerin zu ermorden, weohalb entipredende Weifungen
zur VBerwadung der Grenze ergangen jeien. In einer grohen
Veratjung habe man beichloffen, alle Franzofen, deren co etwa
20,000 in Rufland gebe, bei Todesitrafe auszwoeijen, mit
Ausnahme derer, die jhon 15 Jahre lang im Yande find.
26.3, 10. Mai. Brinden ift aus Petersburg heimgefehrt.
Er berichtete, die Naiferin jei bei jehr guter Gejundheit. „Toujours
ide encore de ces pl qui dans tout le cours de
le“ -- mache fd) doch das
a
sa vie ont eu de Fattrait ponr
Alter geltend; daher Yaunen, Nervofität, Jährern, Unvorfichtigfeit
2 Zur Gejchiehte der Unterwerfung Nurlande.
im Bewahren ihrer Gedanfen. Aenferit eigenwillig, dulde fie
feinen Wideriprud. Die Nälte zwiihen ihr und dem Sroffürten
wächlt; biefen ärgert es, dal; jein ältejter Sohn ins Vertrauen
gezogen und möglichit in die Geidhäfte eingeweiht werde. Zn den
Minifterien Herriche immer noch das Prinzip, Mittelmäigfeiten
zu haben und zu halten. So werde Nitolaus Soltykom Chef des
Kriegsfollegiums werden, Dftermann und Beiborodfo werden ihre
Aemter behalten, obgleich Subon das Mögliche gethan Habe, um
leteren zu jtürzen während deijen Abmwejenheit zum Kongrei. Es
fdjeint, dal; Zubow die Naiferin zu Gunjten der infurgirten Polen
geitimmt habe. Indeifen jei wahridjeinticher, daj; Subow mur
nach den Inftruftionen der Naiferin jelbft in diefer Sache gehandelt
babe und biefe einen feiten und alten lan verfolge.
Sortfegung folgt.)
Züge ans unjerer provinziellen Rhyfioguomie
vor 30 Aahren.
Nadyorud verboten.
Der Geichichtichreiber unferer Tage und der fommenden
Jahrhunderte wird in den Zeitungen und politiichen Zeitfchriften
eine der wichtigiten hitorifchen Quellen erblien mühlen. Die
politiihe Prejie bat eine Neihe anderer hiftoriiher Quellen
das fann nicht ohne ein gewifies Bedauern regijtirt werden —
ftarf zurücgedrängt, wie die Memoiren: und Kalender-Litteratur,
oder gar völlig aufgelagen, wie die Chronifen; das it zu bedauern,
denn in der Tagespreiie haben wir ein unbequem weiticichtiges,
breitipuriges, ivrthumreides und hiftoriich jehwer zu bewerthendes
Material vor uns. ichwer füllt cs, fih in dem unabgeflärten
Gewirr der Tageseindrüde, im Ballafı des oft Fritit- und
tommentarlos aufgehäuften nadten Nachrichtendienftes, in der
mit der wachjenden Inanfpruchnahme des Telegraphen Tich
fteigernden Unverdaulichfeit der dargereichten politiichen Materie
zurechtzufinden, das Dauernde an Nulturgedanfen und Sultur:
momenten von dem flüchtig vom Augenblid Geborenen ımd flüchtig
und folgenlos in dem Angenblid Verraujchenden zu jcheiden? Auf
der anderen Zeite aber leitet uns die in der ‘Brefle erichlofiene
biftoriiche Quelle ein friichiprudelndes, werthvolles Material zu,
das für die Zeitgeidichte geradezu unentbehrlich erichei
einen direkten Abglanz der Wirkung der Seichehniffe und geiitigen
Vewegungen auf die Zeitgenoffen, eine, allerdings Teineswegs
528 Bor fünfsin Jahren.
fütenlofe, aber in voller Zriiche vor uns erfichende Neihe von
Momentbildern unmittelbariter iubjeftiver Wahrheit fi das
objeftiv vom Kiftorifer zu zeihnende Zeitbild.
Einige jolcher Momentbilder ans dem politiihen und geiftigen
Leben unferer Heimath vor 50 Jahren, nicht etwa ein Fritifch zu
entwerfendes Vollbild damaligen Lebens, jei mm ans einer
unjerer Hiftoriich-politifchen Zeitfehriften jener Epoche der jeigen
Seneration ins Gedähtnifi zurüdgerufen — in der Hiinung, dal
Manchem eine Erinnerung an den Ausgangomunft der in dieh
teten 50 Jahren zuücgelegten Wegeftvede nicht umvillfommen
fein wird, zumal fh für den Weiterblidenden daraus aud) hier
und da Zielpunkte für die zufünftige Entwidelung ergeben werden.
Gefchöpft Find diefe Erinnerungen aus dem Jahrgange I816,
der feider jeit mehr alo 30 Jahren eingegangenen vortreiflichen
einftigen Dorpater Wochenihrift „Das Inland“. Mic wenig
aud) diefe eime Quelle für eine allgemeine Schilderung jener
geit ausreichen mag, jo nimmt fie dad, wenn icon einmal nur
eine Zeitichrift zur Belebung der Neminiscenzen aus jenen
Tagen herangezogen werden foll, unter ihren Geidniften gerade
für die Hervorfehrung der Sauptzüge jener zeit die erfte Stelle
ein. Zwar war icon damals dao „Inland“ in Bezug auf
Monnentenzahl durch die „Nigiiche Zeitung”, zumal feit deren
täglichem Gricheinen, bei Weiten überflügelt; aber eineotheile
konnte 09 togdem nicht mit Unrecht als „Das Dauptorgan der
eprovinzen“ von Neval aus apoftropbiet werden, weil «6
jaftiich in gewiflen Uinfange die Zumma des geiltig Ichöpferifchen
Lebens der Provinzen veprälentirte, anderentheils eignet jie fi
im Vergleih mit den mehr dem Nachrichtendienft zugewandten
vein politiichen Blättern jchon alo Wochenblatt, welches mit ehr
anerfennenswerther duftiver Yeiltung feiner zahlreichen Mit
arbeiter gereiftere, mit größerer Muße durchgearbeitete Negiitrirung,
des einheimischen Stoffes verband, wie auch durch feine relativ
ebenmähige Vertretung der Juterefien aller dreier Provinzen in
bejonderem Mahe zur Verwerthung zu dem in Nede jtehenoen
Zwed. Nit einigem Stolz wird im „Inland“ fetbit vermerkt,
dab damals dieje Zeitihrift (als einzige inländiiche aufer der
fig. 319.) Sich zu einer Auflage von mehr ale 300 Eremplaren
Vor fünfzig Iahren. 5
erhob, dab feine Lejer über das ganze ruffüiche Neich „von den
amerifantichen Nolonien herab bis nad) Cibirien und Trans:
faufafien“ verbreitet waren und dah; felbft ins Musland einige
Eremplare gingen. — Als Redakteur des „Inland“ fungirte jeit
Begim des Jahres 1816 Profeilor Dr. €, v. Hummel; unter
feiner Medaftion nimmt dieie „Wochenichrift für Lio-, Cjt: und
Aurlands Gefhichte, Geographie, Statijtif und Yitteratur“ einen
entfchiedenen Mufichwung.
+
Tas Jahr 1846 fteht unter dem Eindrud zweier Ereignifje:
unter dem der Hungeronoth der Jahre 1844 ımd 1845 umd
unter dem der großen Konverjion, des Liebertritts des
Landvolfes zur griechiich « orthodoren Kirche. Dieje beiden
Ericheinungen find im Jahre 1846 gegebene IThatiahen, mit
denen man fid) abzufinden hat. In Mandhem erinnert jene Zeit
an die Phyfiognomie unferer Tage: wie heute, jo jtand aud)
damals der Kandınann umter dem jhweren Druc_ einer materiellen
Nothlage, und wie wir heute der durchgeführten „Neorganifation“
umferes Lebens in Schule, Gericht und Verwaltung von Angeficht
zu Angeficht gegenüberitchen, fo ftand man damals vor der offenen
Breiche, welde die stonverjion in die fonfeffionelle Geichlofienheit
der baltischen Yandbevölterung geichlagen hatte. - Das Bezeichnende
der Zeit vor 50 Jahren liegt darin, daß man gegenüber den
eingetretenen Dingen nicht in jchwächlicher Nejignation die Hände
in den Schloß legte, jondern ich vielmehr zu geiteigerter geiftiger
und wirthichaftlicher Negiamkeit, zu neuen vorgejchritteneren Jdeen,
zu vermehrtem Arbeiten für fid) und das Gemeinmohl angetrieben
fühlte. Wenigitens gilt das von den beiferen md führenden
Geiftern jener Tage.
Schwere Wunden waren 06, die den drei Provinzen von
der Hungeronothb und Theuerung der Jahre 1544 und
1845 geicjlagen waren und die mun im der enjten Hälfte des
Jahres 1846 zu ihrer volliten Erjcheinung gelangten. Ueberall
im Yande herricht Roth und Entbehrung und nur der Senfenmann
Der offizielle Bericht („Anland“, ©. 637)
das Jahr 1845 in der Nubrit „verhungert”
Vor fünfsig Jahren.
für Livfand nur die aber abgeichen davon, dah hier
and die 2 „an den Folgen des Hungero Beftorbenen“ und fraglos
wohl aud) der gröfte Theil der 33 (1) „todt Gefundenen“ hinein
tangiven, war dev Hunger bei Tanienden die verhängnihvolle
Vorfrucht für den unter den verichiedenften Nranfheitoformen fie
binmähenden Tod. Da it die im Frühjahr in Niga auftauchende
„Modefrantheit Grippe” nod) eine ziemlich unfchuldige Plage;
furchtbar wüthet an vielen Orten, im Dörpticen, Fellinfchen u. |. w.
die Blntruhr. „Nranfheiten aller Art”, heist eo in einem Bericht
vom Mai 1846 ans Kurland (2. 551), „haben id) über Stadt
und Yand verbreitet, Falte Fieber, Nervenfieber, Zluhficber, Augen
entzünbungen u. |. w., und große Sterblichfeit it zu dem Vangel
und der Thewerung noch hinzugefommen; überall ift die Zahl der
Gejtorbenen größer, als die der Geborenen md in manchen
Gemeinden igt fie das Doppelte”.
Die Sterblidteit in Yivland ii für dao Jahr 1845
größer, als fie in dem jclimmjten Cholera:Jahr geweien üt;
während in Yivland in dem auch schon jehr böfen Jahre 1844
bie Zahl der Tobten noch nicht 23,000 betrug, tritt man in das
Jahr 1846 mit einer Todtengiffer von 33,500 Todten aus dem
Vorjahre. Diefen 33,500 Todesfällen jtehen nur 22,790 Geburten
gegenüber (gegen mehr als 27,000 in den Jahren 1813 und II),
jo dal; Fivlands Vevölferung zum Jahre 1816 fh um 10,777
Seelen vermindert bat — eine um jo bezeichnendere
Erfcheimmg, alo dieie Provinz felbft in den Jahren 1813 und
IS noch einen natürlichen Bevölferungszumacds von 10,050,
bezw. 9807 Zxelen aehabt hatte.
Das „Inland“ wirft mit Bezug hierauf die frage auf:
„Woher dieje merfwürdige Verichiedenheit?" md beantwortet fie
dann, wie folgt: „Wir können nicht anders, als darauf erwidern,
dah die totalen Mihernten der beiden feyten unmittelbar auf
einander folgenden Jahre durch den Mangel und das übergroße
Elend, das fie für alle Yandbewohner heibeiführten, von großen
Ginftuh daranf geweien, ja ale die unmittelbare Urfache anzuiehen
find. Wohl haben allgemein herriende Nranfheiten, wie die
bösartig auftretende Nuhr, die peitartig im manchen Gegenden
ihre Opfer forderte, viel mit dazu beigetragen. Aber — abgeiehen
Vor fünfzig Jahren. 531
davon, dab diefe alo unaunbleibliche Folge der überall fchlechten
oder fehlenden Nahrungsmittel anzunehmen fein möchte —— bat
fi nad) den eingegangenen Parodial-Liften und Nachrichten die
auffallend größere Sterblichkeit auc) in jolhen Gegenden erwiefen,
wo die Ruhe garnicht geherricht hat”.
Wie auf dem Yande, jo ijt natürlich auch in den Ztädten
gedrüchte Stimmung, viel Elend. „Schlechte Zeiten, leerer Beutel,
leere Herzen, feine Geichäfte* wird aus der Embady-Stadt im
Januar 1846 geflagt (2. # Das mag jicherlid auch für die
anderen Städte zugetroffen fein, nur gegen die „leeren Herzen“
dürfte vielfad) und mit gutem Recht Yroteit eingelegt worden
fein. Denn mit der zunehmenden Notl vegte fi) aud) menjcen:
freundliche Opferwilligfeit. Won der Negierung wird darkchensweih
Getreide für mehrere Humderttaufende von Nubeln für die Oftfee-
provinzgen aufgefauft und Sammlungen für die Nothfeidenden
werden mit Erfolg organifit. So wird im März 1846 über
aus Moskau von Wohlthätern bei den Trtopredigern eingelaufene
Spenden von 700 Nbl. €. für die Nirdipiele Noddafer, Torma,
Naweledht und Ningen quittivt; eine mod) gr „aus Moskau
und von MWohlthätern im Innern Nuflande“ fammende Summe
fommt den Kirchipielen Iheal- Folk, Mariendurg, Schwaneburg,
Handen, Namby, Nauge, Saara, Marien-Magdalenen, Wendan,
Lais und Nüggen, jowie der Alt-Yaipenichen Gemeinde zu gute,
In den baltiichen ädten wird fait überall Bilfe für die
Nothfeidenden organifirt. So treten in Nina, Dorpat, Wenden
und anderen Orten Suppenanjtalten in Wirffanfeit, in Wolmar
üt eine „Armen-Nommiffion“ thätig, „welche den erforderlichen
Lebensbedarf herbeiichafft und vertgeilt”.
And auf dem Yande fehlt eo nicht an Zügen großer
Opferwilligteit. Das hübichefte Weilpiel wird wohl aus
Krengburg erzählt. In dem Bericht de „Inland“
2 7) heiht eo Hierüber: „Won den ca. 845 zur hie
evangeliich-lutheriihen Gemeinde gehörigen Vauernwirthen war
der größere Theil jowohl durch mancerlei göttliche Heimfuchungen,
als dur eigene Schuld in groje Gutojchulden hineingerathen,
welche, nad) Geldeswerth berechnet, die Summe von - 100,000
NL. überitiegen.... Da jandte Gott dur) den Erbieren
Vor fünfin Nahren.
des Gebiets von Nreugburg Dilfe, indem diefer, da er felbjt die
Verwaltung feiner Leute und Güter übernahm, von einem mit:
fühfendem SHerzen und chrilihen Sinn getrieben, dem Prediger
von Nreugburg den freudigen Auftrag gab, am heiligen
Weihnachtsfeite feinen Exrbleuten anzuzeigen, dal er denfelben
alle alten Schulden erlafie, indem er ihnen durch dieje
Feftgabe zeigen wolle, wie jehr er fie liebe und ihr Wohlergehen
wüniche und da cs ihm eine wahre Herzensfreude fei, ihnen mit
diefem jtarfen Beweis einer Liebe allen ihren guten Geborfam
und Treue zu vergelten, mit der fie in allen, fowohl
leiblihen als geiftliden Veriuhungen jtandhaft
ausgeharrt haben und jeder Zeit, jelbft auch in den fehwerjten
Zeiten, bereitwillig gegeben haben Gott, was Gottes, und dem
Raifer, was des Nailers üt. — Nad beendigtem Gottesdienfte
am Weihnachtsfefte verfündete der Prediger feiner Gemeinde dieje
zeitliche Sreude. — Zugleich muß auch deifen hier gedacht merden,
wie gütig und weislich die Verwaltung von Kreugburg für ihre
Leute, jo viel fie nur mag, Sorge trägt, damit Keiner Hunger
leide. Von dem Getreide des Gutes wird nicht ein Yoof verkauft,
iondern es ift nad für 10,000 bl. E. Getreide angefauft
worden, welches mit Strujen erwartet wird...“ In der That,
ein Akt hohherziger Opferwilligfeit!
So viel über die materiellen Mittel, mit denen man der
Nalamität Herv zu werden fuchte; wie die Noth der Zeit auf die
landes: und agrar:politüchen Verhäftniiie zurüchwirfte, wird weiterhin
befonderer Betrachtung unterzogen werden.
Das Jahr 1846 jelbt bringt eine ziemlich exgiebige Ernte.
Die Nornpreife finfen vajch; jtatt 10 Nbl. ©. pro Tichetwert
Noggen und Mehl wird nm etwa die Hälfte davon bezahlt.
Zeit dem Jahre 1846 haben die Tftjeeprovinzen nicht wieder
unter einer allgemeinen Kungeronotf zu leiden gehabt.
Neben der Hungersnoth war die Nonverjion von
Leiten und Eiten zur griehiid-orthodoren Kirde
diejenige Thatfacbe, welde im Yande am tiefften die Gemüther
bewegte. Wie die Yungersnotb, jo hatte aud) diefe „unrubige
Vor fünfsig Jahren.
Verwegung unter dem Landvolfe“ im Jahre 1846 ihren Höhepunkt
bereits überichritten.
Der offizielle Bericht des Miniftero des Innern pro 1845
1235 1239) fonftatirt: „Das bemerfenomwertheite
Ereigniß im der Antheriichen Nirche in Nufland war der
plöglihe Wunid vieler Bauern des livländiicdhen
Gouvernements, mit der Nechtgläubigkeit fi zu vereinigen;
diejes führten gegen 14,000 eeten aus.“ Dem „plöglichen
Wunich” der Bauern folgte Anfangs jummariih und ohne
Weiteres die Erfüllung. Dann erging ein Allerhöchiter Befehl,
wonach die Saldung „der fid Yereinigenden“ nicht früher
bewertitelligt werden jolle, al nadı Verlauf einer 6-monatigen
Friit nad Erklärung ihres Winfcher zum Uebertritt in die
griechiic-orthodore Kirche; das hatte den Effekt, da feitdem nur
no 2500 Seelen unter den Wünjchenden eridjienen.
Das Jahr 1846 bringt dann jeitens der Negierung eine
Neipe von Mahnahmen, um die durch den plögfichen Wunich der
griechifch-ortHederen Kirche gewonnenen Seelen Firdenregimentlich
jev anzugliedern. An pril 18:46 ergeht im Auftrage des
lv, eft- und Furländiichen Generalgonvernemo Golomwin cin
Vefchl folgenden Inhalts (2. 103
1) dal nach dem Allerhöcten Willen Zr. Naiferlichen
Dajeftät im Yivländiichen Gouvernement 34 vechtgläubige
‘Bforrbezirke, von denen 18 für Yetten und 16 für
Giten, eröffnet werden; 2) daß zur Zahl diefer Bezirke die
jest beitchenden 9 vredhtgläubigen Kirchen gehören, und zwar
namentlich die zu Niga, Torpat, Yenjal, Bernau, Wenden
und Werro und die in den Dörfern Tichornaja Derermmja,
und Nappin - - die übrigen 25 Nirchen jollen ohne
Aufenthalt neu erbaut werden, fowie die Däufer für die
Seiftlihen und Kirchendiener und für die (bei
Schulen; 39 dab bis zur Errichtung dieler bejtändigen
Bfarrbezirfe und zur umverweilten Befriedigung geijtlicher
Notbdurft der Neuvereinigten bereits zur Errichtung temporärer
Nirchen geichritten it; 4) dab zu diejem Ende die beftimmten
Parrbezirfe bis zur allendlichen Errichtung der beftändigen
Nürchen unter die temporären irchen vertheitt werden; 5)
dal jonad) den rehtglänbigen Geiftlichen, wenn fie ihre
Eingepfarrten befuchen, jedem in den Grenzen feine Bezixts
jede Mitwirkung der Orts Autoritäten zu Iheil werden muß;
534 Vor fünfzig Jahren.
diefen ift, dabei die Erfüllmg der die Jreibeit des
redtgläubinen Sottesdienites fidernden Ber
fnmungen 1. Abth., 1. Nap., 14. 3b. des Em. der
Gejege eingelbärft worden; 6) daf die zur Nedhtgläubigeit
vereinigten Bauern unter feinem Vorwande und in feiner
Weile von der Erfülhung der Verpflichtungen des Glaubens
und des (Gottesdienjtes abgelenft werden dürfen; 7) dab
Diejenigen, welde fid noch ferner vereinigen
wollen, zu Verzeichnung ihrer Namen in die dazu
befonders errichteten Schnurbücher ımaebindert fidh bei
den rechtaläubigen Geiftlichen derjenigen Kfarrbegirfe, in
denen fie wohnen, melden Fünnen, ohne deshalb von ihnen
irgend welche bejondere_ Erlaubnißicheine v yettel zu
verlangen; 5) daß die foldbergeftalt beim Weiftlichen vers
jeichneten Bauern von denfelben ein gedrudtes Yeugnil;
darüber erhalten, dal die deshalb gefeslich vorgefchriebenen
Normen beobachtet worden und ie nad) Ablauf der zu Diefem
Ende bejtimmten jebomonatigen Frift, wenn fie ihre Abficht
nicht Ändern, ungehindert zur vedjtgläubigen Nice durd)
jeden Geiftlichen vereinigt werden fünnen, aud wenn er
der Geiftlihe ibres Pfarrbezirfo nicht wäre, jobald
das obbemerfte gedrudte Zengnih erweilen; und endlich
9 da die Anwejenheit der Zivilbeamten bei
Verzeihmmg und Befragung der Bauern durd) den Geiftlichen
— behufs ihrer Belehrung Darüber, va mit der
Veränderung der Religion gar feine weltlihen
Vortheile verbunden find und dah ihre Verbältnifle zu
den Gutobejipern, als durd Neichsgeiege beitimmt, heilig
und unangetajtet bfeiben in früherer Grundlage jtatt-
finden mu.
Ein beigelegtes Verzeihnih macht die vechtaläubigen Part
bezivfe (Miga, Wenden, Wolmar, Walt, Yemjal, Dorpat, Werro,
Fellin, Pernau, Diorigberg, Denjelohof, Nolzen, Uerfüll, Kofen:
bufen, Groß Dohn, Keritenböhm, Lojohn, Marienburg, Alt-Pebalg,
Eihenbof, Aujen-Tornai, Cichenangern, ITihornaja: Derewnja, "
Noffow, Nappin, Bahnhof, HYeimaden, Narolen, Zagnig, Zoontaf,
Kajtolag, Rawelecht, Manhof und Oberpahlen) nambajt; ein
weiteres Verzeihnih zählt die zu eröffnenden temporären
rehtgläubigen Kirchen auf.
Bereits vorher (2. 42 127) war die Anordnung gelroffen
worden, daß an denjenigen Orten, wo Feine Gottesäder
der griediih-orthoderen Nirden vorhanden oder für
Vor fünfzig Jahren.
5
die zur Nechtgläubigfeit übergetretenen Yandbewohner nod) feine
befonderen ‘läge des Nirchhofes eingewiefen find, vorläufig, jedod)
ohne Theilnahme des Pajtors, Nüjters oder jonjt eines Iutberiicen
Sürchenbenmten, die zur griediic-orthodoren Kirche Neuvereinigten
auf dem Iutheriichen Kirdbof „beerdigt werden können”
und daß „die Herren Prediger die Herren Nirdenvorjteher
zu reguwiriren haben, um Mahregeim zur Beerdigung der
Vebergetretenen in gefeglicher Crdnung und Tiefe ergreifen zu
lajien.“
Auf den Ss. und 12. Juli werden dann Torge zur
Erbauung orthodorer Kirchen nebit Gebäuden fir
Priefter und Schulen auf den Gütern Uerfüll, Nofenhufen,
Morigberg, Henielshof, Grofdohn, Neritenbehm, Pebalg, Cidhenbof,
&viohn, Wariendurg, Nujen- Tornai, Cihenangern, Heimadra,
Bahnhof, Karolen, Naweledht, Najtolag, Soontat, Jmjärw, Vlanhof
md Oberpahlen angefeßt.
Für die im Bau begriffenen orthoboren Kirchen fliehen,
begünitigt von Naiferlihen Guadenerweiien, Spenden ein. Co
wird unterm 15. Jumi 1846 für Darbringung folder Gaben
dem Petersburger Nommerzien Nath Ponomarow, dem ehemaligen
Mostauer Stadthaupt Scheitow und dem Petersburger Ehren
bürger Nudrjeichen das Wonarchiiche Wohlwollen net und
dem Yeptgenannten überdied eine goldene Medaille am Andreas:
Vande verliehen.
- Wie ftellte man fh im Yande zu diefer Bewegung?
Was wir aus dem Jahrgange 1846 des „Inland“ hierüber
erfahren, beichränft ih naturgemäß mehr auf Andeutungen und
fomptomatiiche Berichte.
Ueber die am 14. Auguft zu Walf eröffnete fivländiice
Provinzial-Symode bringt das „Inland“ feinen Eigen
bericht. Es meldet über den Zujammentritt der Synode nur
2 2m 14. Augujt begann hierjelbit tin Walt) mit
Gotteodienit in der Stadtfirhe die diesjährige
livländiiche Provinzial- Synode. Herr Paltor von Holit aus
Sellin begrüßte die Spmodalen in einer Fräftigen Anrede über
Jeremias 30, 10 u. 11 und adminiftirte die Liturgie. Die
Predigt hielt Here Paltor Näylbrandt aus Nen-Pebalg über
Bor fünfsig Jahren.
Joh. 7, 37.39 und behandelte hiernach die von Chrifte der
Kirche geftellte Aufgabe, damit Ströme des febendigen Wafers
nad) feiner Verheißung aus ihr fliehen.” —- So viel über die
nächjtbetheiligte der Synoden der drei Provinzen.
Mehr teilt — und zwar nach Ulmann’o „Mittheitungen“
— der Jahrgang 1846 des „Inland“ 573-575) über die
im Auguft 3845 in Mita abgehaltene II furländiice
Provinzial-Spnode mit. hr gaben die Signatur wohl
die unmittelbar nad der Begrüfiung jeitens des General:
juperintendenten aehaltenen beiden Vorträge, worüber berichtet
wird: „Paftor Elverfeld aus Zelmeneefen und Pajtor Vraiche
aus Nieder-Vartau praden über das Thema „Vetus illud
Lactantii: augetur religio. quanto magis premitur“.*)
Anklänge an diejes Thema jcheinen aud) andere Zunodal-
Vorträge enthalten zu Haben; mehrere derielben behandeln Fragen
zur praftiicen Seiligumg des religiöfen Lebens. So erörtert
YPajtor Zimmermann aus Holjumberge die Grfahrung, dal
die bereits Nonfirmirten der lettifhen Gemeinde
fi) nad der Nonfirmation in der Hegel wenig mehr um das
Fortichreiten in der Lehre bemühten und cs daher bei der oft
mangelhaften orbereitung der Nonfirmanden Noth tue, dem
möglichft abzuhetfen. Er tyeilte mit, da ex in diefer Abficht die
Nonfirmirten des vorhergehenden Jahres an einem Modentage
verfammele und ic dabei vornehmlich bemühe, die Bibel mehr
als das Gejangbuch zum Hausbud der Yerten zu machen.
Diefe Mittheitung wurde (ebhaft beiprochen und jheint auf volle
Zuftimmung geflohen zu fein. — Weiter empfahl Paltor Seeberg
aus Wahnen „die fogenannten Nleindeuticen und deren
Sindererzichung“ der befonderen Beachtung der Spnodalen.
„Die Synode ertlärte fh nad Mittheilungen anderer Amtobrüder
in diefer Sinfidht vollfonmen einverfianden mit dem Antrage
Paftor Hillmer’s: die Emmode möge erklären, dal; fie «6
für fehr beiten halte, dah jeder Prediger mit der durd die
möthige Wantoweisheit gebotenen Perüdichtigung der Tpegiellen
* Das alte Wort des Yartanlins: „Die Neigion wird um fo mehr
geitäctt, je mehr fie bedrüdt wird.“
Vor fünfsig Jahren.
Verhältnifte jährlich aud die Kinder der dbeutichen Gemeinde
in ihrer Neligionsfenntniß prüfen und fo viel als möglich auf
ihren Unterricht im Chriftenthum eimwirfen möge.” — Paftor
Scyesmn aus Tauroggen — dies ift wohl zugleich ein Nachflang
aud) der Hungersnoth;Nalamität iprad) über eine mit der Kirche
zu verbindende Almojenpflege. — Oberlehrer Engelmann
onnte die Mittheilung machen, dah die Bibelverbreitung
„af Überrajchend erfreuliche Weile” zugenommen babe. Mit
der wärmjten Sympathie wide die Auftorderung des General:
Konfitoriums zur Stiftung eineo Vereins behufs Förderung
der geiftlihen und firdlihen Zwede der ärmeren
evangeliihen Gemeinden des Neiches aufgenommen.
— Mit dem GChdoral „Eine feite Burg it unfer Gott“ ward bie
furfändifche Synode geichlojien.
Die eitländiihe Wrediger-Zynode des Jahres
1546 tagte in Neval vom 16. Juni. Gröfnet ward jie
(vgl. ©. 1180 -1191) vom Generaliuperintendenten Dr. Nein
mit einer Predigt über Matth. 16, 3 „Nönnet ihr denn nicht
aud die Zeichen dieier Zeit urtheilen?“ Nach dem
Synodal-Hotteodienft wurden dem Generaliuperintendenten von
einem Ungenannten 300 RL. &. für die nothleidenden
eitnifchen Bauern und vom Negierungsrath v. Schwebs 2500
Gremplare des eitniihen Traftate „Dalte fei, wao du
daft!“ zur Verteilung in den Nirdipielen eingehänbigt.
Propft Slanftröm und Palter Scholvin beantworteten
die Frage: „Was hat die gegenwärtige Wufregung unter
unjerem Yandvolf verujadt?” Pater Harten von
Fietel ftellte die Behauptung auf, dab die Kulturftufe unjeres
Kandvolkes zu niedrig jei, um die Höheren Wabrheiten der
Neligion würdigen zu innen, 5 müe daher durch Schulen
i i Die Symodal-
9: zu allen Seiten, in denen bie
Kir de verfiel, it fie durd) ihre Diener verfallen -— hiftoriich
nachweiien?” beantwortete Paitor Grohmann von Turgel.
Eine zweite Frage: „Wenn Ale, denen das gedeihlihe Fort:
beitehen der evangelifhen Kirche am Herzen liegt,
darin einverftanden fein möchten, daß in unierer viels
538 Bor fünfzig Jahren.
bewegten Zeit Cinigfeit unferer Kirche dringend Notb the,
jo fragt es fd: unter welcher Bedingung fann eine folce
Einigkeit nur beftehen oder worauf muß fie fh gründen?" —
beantwortete Pajtor Hoerichelmann von Diartens,
Aus dem, was id) aus diefen auszüglicen Mittbeilungen
und Andeutungen herauslefen läht, geht mit genügender Deutlichfeit
bervor, daß die Iutheriiche Geiftlichfeit die din die Hungersnotb
und die Nonverfion zu Tage getretenen Schäden mit thatkräftigen
Vorgehen zu heilen bemüht war —- dr religiöfe und fittliche
Auftlärumg des Voltes, durch Hebung des Schulmelens. Wie
weit in diefer Beziehung das Volt noch immer zuräditand, beweilt
1. der Unftand, dafı auf einer Kigafchen Sprengels-pnode
der Oberpaftor Trey auf den Mihbraudh aufmerfiam machen
muß, der mit der Vejtattung von Leichen „auf dem Mududs,
oder Kämmerberge, einem ungeweihten Ort“, nod immer
getrieben werde und dafi man, um diefem Unfug abzubelfen, fidh
zu der Bitte entichlieht, es möchte diejer verrufene Ort eingezäunt,
geweiht und zu einem Kreibegräbmii für die Armen
jenfeits der Düna bejtimmt werden.
Die Nonverfion hatte Breiche geichlagen in eine vielhundert
jährige Entwidelung: feit der Vorväter Zeiten war man garnicht
auf den Gedanfen gekommen, «9 Fünne in dem gejchloffenen
Zufammenhalten der Bevölkerung der drei Oftfeepropingen in dem
evangeliich-tutheriichen Vetenntnih; eine Aenderung überhaupt ein
Ireten, und num jab man plöglich die bisher feite religiöie
Gemeinfchaft der drei Provinzen durchbrochen.
er hifteriichen Tragweite und dem tiefen Gindrud diejes
Greigniffes fonnte fh fein Einfichtiger entziehen. Die Wirfung
der Vorgänge des Jahres 1845 fpiegelt fich mit befonderer
Deutlichfeit in den am 5. und 6. Dezember abgehaltenen Jahres
Verfammlungen der „Sefellichaft für Geichichte und
Alterthumsfunde der Oftfeeprovingen in Niga“
wider.
Da liegt der Gefellichaft zunächft ein Schreiben vor, das
den Wunfd ausimict, „eine vollitändige Sammlung
aller Aetenjtüde, welde auf die in diefem Jahre unter
der fettiichen und eitniüchen Bevölterung Yivlands vorgefommene
Vor fünfzig Nahren, 538
Glaubenoveränderung und die Folgen diefes wichtigen
Greignifies für Yandadel und GSeiftlichteit beider Nonfeffionen, für
Handel und Gewerbe, für Gejtaltung der inneren Verhälmifie
und der äneren Wohlfahrt des Yandes nd feiner Bewohner
Bezug haben, anzulegen, um unferen Nachkommen ein möglichit
getrenes Bild diefer Zeit zu überfiefern und eine parteiloie
Darftellung der Verhältnifie vorzubereiten“.
Ann 6. Dezember, dem Namenotage des Kaifers, tritt man
dann zu der „allgemeinen feierlichen und öffentlichen Jahres
verlammlung” zulammen und der Präfident der Gefellichaft, der
ausgezeihnete A. 3. X. Zamjon von Dimmelftiern,
Landrat) und Nonfiftorial-Präfident, eröffnet fie mit einer Nede.
Mo Aufgabe der Gefellichaft jtellte er bin, aus den Weberreften
des Altertpums die Geidichte der Provinz zu vervolljtändigen,
Zerfwwenteo zu jammeln, Yüdenhaftes ausyufüllen und dasjenige
aufzuflären, wao fich alo mangelhaft und zweifelhaft in den
Uebertieferungen dev Worgeit darftellt; bezeichnend jagt er von
diefer Aufgabe: „Fe will die Gegenwart nugen, um der Zuunft
ein belohnendes Denkmal ihres Kleihes zu hinterlaifen“.
Und dann heiiit es weiter im Bericht des „Inland“ (E. 151:
„Snden er (Medner) ferner andeutete, dah Diele Vejtrebungen
von der Yiebe zu unjerem gemeinfamen Laterlande zeugten und
dah; dieie Yicbe in den Gemüthern Aller von neuem erwacht zu
fein fcheine zu einer yeit, wo einerleits die Baltiihen Nedhte,
Privilegien und Verfaflungen zufammengeitellt ih abermaliger
Anerkennung und, wie wir hoifen können, danernder Befejtinung
von der Duld unfereo Monarchen erfreuen und wo andererieils
das Drangial der Gegenwart ung ungewih darüber läht, wie
fidh unfere zufunft geitalten werde und wie aus feiner Ace
der Khöniv unferer Provinz von neuem erfichen möge,
wies er, fo groß auch uniere Sorge fein mag, auf das Vertrauen
zu der Weisheit und Oerechtigfeit des Monarchen bin, woran
wir neuen Muth ichöpfen follen. Ergebung und willige Fügung
in Unabwendbares Ichrt und die Sefcjichte unferes eigeniten
Vaterlandes, das, im Innern neu gefräftigt, mehr alo einmal
aus feinen Trümmern wieder hervorging und - wir jagen co
mit ftolzen Benuftlein an politiichen Mwäften flein und
510 Vor fünfzia Jahren.
unfcheinbar, immer jo viele moraliiche Kraft Fich erhieft,
dab es, bedentiam in Tich Telbit, Anderen als Vorbild
der Treue, des Gehorfams und der Gefittung diente.
Erhalten wir uns diefes VBenußtfein! Co zu nähren und zu
bei
Bejtrebungen, auch unjeres Vereins. Hier, wo uns zunäcjit die
Vergangenheit und das Alterthum beichäftigen, erwähnte der Herr
Feitredner der Gegenwart, weil fie, bedeutfam für die Gedichte
imferer Tage, chen jegt eine forafältige Sammlung alles deiien
zu erheifchen fcheint, was täglich vor unferen Augen vorgeht und
an uns vorübersieht. Eine parteilofe Daritellung aus diefem
reichen Vaterinl möge dereinft der Nachwelt befunden: „dah
wir als danfbare Söhne der Vergangenheit aud den
Enfeln ein nfmal würdiger Gefinnung binterließen
und nicht mit Ächnödem Undanf uns des Ueberlieferten
alo morich nnd in ji zerfallen entäußerten“.
Ans einer Gefinnung, wie fie ih in dieien mannhaft:
fernigen Worten ausipricht, mußte eine kräftige Neaftion gegen
Trägheit auf geiftigem und firdlihem Gebiet hervorwadjien.
Für die Velebung deo Firdliben Sinnes in
unjeren Provinzen bietet der im Nede ftehende Jahrgang des
snland“ jo manches Beilpiel. Unter Anderem werden von
mehreren Predigern Nigas „zur Förderung chr tfenntnih“
außer den Tonntäglichen Gotteodienjten veligiöje jammlungen
in der Kirche an den Wochentagen eröffnet md dort Bibel:
erflärungen gegeben. „Für diefe Verfammtungen ipricht fich
duch zahlreichen, die beitimmten Räume überfüllenden Befuch die
regefte Theilnahme aus“ 203).
In befonders hellem Licht aber titt der it in Anlah
der Gedächtnihfeier des 300-jährigen Todestages Martin
Luthers tam 6. (18.) Februar) hervor.
Am begeihnendften lautet der aus der „Dörpt. Ztg.“ vom
„Znland“ übernommene Bericht aus der Univerüitätsjtadt, wo «6
heißt: „Dorpat, den 8. Febrmar. Am 6. d. Wits. fand die
Gedächtnihfeier des Todes unferes großen Neformatoro Luther
“am gleichen Tage mit der Feier im Auolande) jtatt. „Der
todte Yuther?* mögen Einige achielzutend, Andere triumphirend
gen ei die eigentliche Anobeute der wiilenichaftlichen
che
Vor fünfzig Jahren. 54
austufen. Ia, der todte Yuther, aber von feinem Sterbelager
gilt, was Widlif auf feinem Mranfenlager den auf feinen Tod
boffenden Vettelmönchen zurief: Ich werde nicht jterben, fondern
leben und eure böjen ten verfündigen... Was aber die
Art der Feier anlanat, jo fand fie bei uns nicht in der Weije
ftatt, wie fie in Dentichland vorbereitet worden — die utheriiche
Gemeinde bei uns it als wie eine binterlafiene Withwe: fie
trauert gleih Nabel und will fi nicht tröften faffen. Darum
fand feine Öffentlie afademifde rt (wie Manche
erwartet) flatt, jondern cs hatte cin Profeilor der Theologie
die Lehrenden und Iernenden Glieder feiner Fakultät zu fh ins
Hans geladen und cs ward dujelbjt nach einer Anfprache über
Nom. 2, 12 ein Todeobericyt und Luther’s Velenntnii von
3. 1528 verlefen. Darum fand aud Feine Kirchliche Feier jtalt,
jondern «5 hatten fh bie und da in einzelnen Häufern
Vefenner des durch Luther wieder ans Licht gebrachten evangeliich-
apoitoliichen Glaubens zu einer jtillen Feier vereinigt. In
der Sigung der (Belehrten) eitniihen Gelellihaft aber,
welche gerade auf Dielen Abend fiel, ward nad) Beendigung des
zue Ingesordmung Gehörenden Dr. Juftus Jonas Nachricht von
dem en des chrwürdigen Vaters Yuther verleien und die
Anwejenden jahten, erquicht durch den einfachen, aber aniprechenden
Bericht, einmüthig den Veichluf, felbigen and in ejtnifcher
Spradpe diuden zu Inffen und fomit and den Glaubensgenofien
aus dem ejtnüchen olfe zugänglich zu machen“
In der St. Johannis:Kirche (eine Univerfitäts Nirche eriitivte
damals befanntlich noch nicht) fand dann am 10. Kebruar „eine
ernjte und würdige Nachfeier des 300-jährigen Todes:bedädhtniit:
feites ftatt, in welcher der Prediger «5 der zahlreichit verlammelten
Gemeinde dringendit ans Serz zu legen bemüht war, unerichütterlich
feitzuhalten an dem Einen Deren umd dem Einen Glauben, der
die Welt überwindet mit aller ih Angit amd der auch dem
teuren Gotteomann Luther allein die Nraft verlieh, Welt und
Tod und Grab zu überwinden“.
Ju Riga wird ebenfalls am 10. Februar die firhliche
Feier des Yuther-Tages in den jtäbtiihen und verfädtiichen
Kirchen begangen Zuperintendent Bergmann
52 Vor fünfsiq Jahren.
mahnt in der Petri nicche zu tenem Halten am Evangelium.
Unmittelbar nad) dem Gottesdiente findet im Zanle des
Gymmaftiums die Seneralverjammkung der Nigaichen Sektion der
Bibel-Seieltichaft ftatt, die mit einer Yuther-Sedenkrede eröffnet
ward. Der Direktor der Sektion gab darauf eine furze Ueberfiht
über die „eritaunenswertben Forticritte der Vibelgefellichafts
Thätigteit innerhalb des Zeitraumes von 42 Jahren“, Weiter
„lieh Nedner Martin Yuther jelbft in feiner herrlichen Rraftiprache
die Macht md den Zegen des Hotteswortes verfünden“, woran
fich der Gefang des legten Berfeo aus Yuther's Triumphliede
„Ein feite Burg it unfer Gott” anjchloh. Ferner tritt am
18. Februar, dem Nalender- Datum des 300. Todestages Luther's
nach Jufianiicher Zeitrechnung, die Große Gilde zu ihrer zweiten
Faftnachts-Zufammenfunft zufamnen; an diefem Tage, „an welchen
vor 300 Jahren der Nämpfer für Licht und Necht, für Wahrheit
und Freiheit diefe Welt verlieh“, beichlieht fie, aus Mitteln der
Side 2000 NbL. &. zum Aufbau der i. I. I812 eingeäfcherten
St. Hertrudstivche Herzugeben und für den Neubau einer
evangelifden Kirde jenieits der Düna ein Napital von
10,000 Rbl. &. abzulafien. Weiter wird eine Subitription
freiwilliger Beiträge gu Errichtung eines Martin-Luther
Waifenhauies eröffnet und das Werk nimmt „einen gefegneten
Fortgang”. Endlid) finde bier aus Niga nad) folgende Notiz
vom Schlus des Nahres (©. 1187) Pag: „Durd wahrhaft
hriftfiches Entgegentommen von etwa 300 Mitbürger unierer
Stadt, die fid) zu einem jährlichen Veitrage von 1 Mol. ©.
verpflichtet haben, it der Prediger der St. Hertrud:Kirche in
den Stand neieht, am 10. November, als am Geburtstage unieres
großen Neformators, eine Schule für Kinder armer, feiner
Semeinde angehöriger Eltern, genannt St. Sertrud-Gemeinde
Schule, nach eingeholter höherer Genehmigung zu errichten.
so Ninder, cbenfo viel männlichen als weiblichen Gefchlechts,
jollen in dient le in unden wöchentlich unentgeltlich
Unterricht erbalten in der Neligion, im Kirchen-Gefange, im Yeien,
Schreiben und Nednen die Mädchen auch Unterweifung in
den weiblichen Handarbeiten durd) > Tamen, die fich dayu anfeiichig
gemacht...“
or fünfzig Jahren. 543
An Reval wurde der Todestag des Neformators am 6.
(18.) Februar „in unferen Hauptichulen feierlich begangen“
und af Anordnung des Stadt-Konfifteriums am nädjitfolgenden
Sonntag von allen hutheriihen Kanzeln in Neval „den Gemeinden
in angemefiener Weife in Erinnerung gebradt” (©. 289). Im
Haufe des Paftors TH. Luther, eines Nacfommen vom Bruder
des Grofvaters Martin Luther’s, wurde ein als „die fchönfte
Frucht diefer Todtenfeier” bezeichneter Vortrag gehalten und dann
zum Velten zweier Aenenfchulen veröffentlicht.
— — Man mochte durd die Konverfionsbewegung hier
und da das Gefühl gehabt haben, der Bau des evangelifch:
Iutherifchen Kirchenwefens in den drei Provinzen fei ins Manfen
gefommen; das Jahr 1546 zeigte fchon, auf wie jtarfe Pfeiler
er fich jtügte,
* *
*
Wie es fih hier auf geiftlichem Gebiet regt zur Belebung
des Eritarrten und Feitigung des Schwanfenden, fo jehen wir in
dem Jahrgang 1846 der uns beichäftigenden Zeitihrift and)
manche Symptome für das heihe Bemühen um Fortfchreiten
auf agrarpolitiihem Gebiete und um materielle Fort-
entwidelung. Das auf feine Gutsherrlichfeit fid, zurüdziehende
Junferthum wird fcarf verurtheilt; der Anwendung der Prinzipien
vollfter Sumanität, der neignung entwidelterer Formen ber
Aderbewirthiehaftung, der Selbftarbeit und Selbtbilbung des
Gutsbefigers wird das Wort geredet.
&o zieht gegen junferlice Indolenz ein patriotifcher
ferer mit folgenden zürnenden Worten (©. 54) zu Felde:
+ „Wir tennen unfere Provinz micht, und weil wir unfere
Provinz nicht fennen, fennen wir aud) unfere Güter nicht. Wie
Vlandhem verflicht ein halbes Säfulum auf feinem Landfig und
noch hat er nicht daran gedacht, in feinen Wald zu gehen, ein
VBauergefinde zu betreten, ja Mandjer ift kam bis zur änferften
Grenze jeiner Felder gefommen! Cinfam mit dem Anbau des
eigenen Grumdftüctes beichäftigt, Faum die Bevölferung, die Kultur
und den Voben des Kirchipiels fennend, freift Fein Gedanfe an
bie mögliche Bedeutung der Oftfeeprovinzen hin, die geöfier find
54 Vor fünfgig Iahren.
als Boiern, als Jrland, die wahrheinfih mehr innere Quellen
des Neichsthums, gewiß eine günfigere Handelstage haben und
nur durch beifpiellofe Indofenz und Lereingelung der Landbefiger
verhältnigmäßig jehe arım und jeher unbedeutend find... Mit
Trauer erblidt man die Vetrebungen edler Patrioten, wie des
vortrefflichen Landrat Bruiningf, die Gefundheit und Kräfte
dem Laterlande barbringen — wenn die einfadhe Genugthuung
ihnen verjagt wird, Thätigfeit und Eifer einer jüngeren
Generation zum Gemeinfinn, zum Thaten blühender
Vereine, zum wahren Wohle des Vaterlandes zu weden,
wenn ed ihnen nur Wenige zu überzeugen gelingt, daß der
Wohlftand des Einzelnen weit gewiiier aus dem Mohlitande des
Ganzen, als umgefehrt hewwvargeht. Gott verhüte, ba unfere
Nachkommen in gleicher Unwienheit der nächiten Umgebung, der
vaterländifchen Zuftände aufwachien”.
Die bänerlihen Verhältniffe werden denn aud im
„Inland“ durchaus von einem aufgeflärten, durd) die nachmalige
Entwicelung glänzend gerechtfertigten Standpunkt aus betrachtet.
Von hohem Intereife it gleich der erfte Artifel des Jahr:
ganges 1846, in weldem Ernft v. Nechenberg:Linten unter
ipegieller Berüdfichtigung Nurlands die „Yauernverhältnifie in der
Detonomie, in Beziehung auf die frühere Leibeigenfchaft und bie
Entwicelung des Banernitandes nad) derielben“ behandelt. Nod)
waren nicht 30 Jahre feit Aufhebung der Leibeigenfhaft veritrichen
und jenjeits der Narowa und Melifoja fand die Leibeigenfchaft
noch völlig ungebrochen da; aber der Verfaiier des Anfiakes
fonftatirt gleich Eingangs: „Der Befig einco Leibeigenen üt
bei uns {hen ein ganz veralteter, nad) dem gegenwärtigen
Vildungsftande unferer Provinz aud moraliid ganz
unwendbarer Nedtsbegr Herr und Diener würden
fich ganz eigende gebehrden, wenn fie fih nicht trennen Könnten,
und Erjterer, wenn er ihm auch fortzutreiben Uriache hätte, für
ihn dennoch Nopf- und Nefruteniteuer bezahlen oder, im Fall der
Diener entlaufen und zurüdgebracht werden würde, das jogen.
Fanggeld von 10 Ahle. Alb. dem Ergreifer entrichten mühte.
Ein Länfling in jenem Sinne it ein ganz obioleteo Wort,
denn Niemand entläuft fich mehr felbit, indem die Perfon aud
Vor fünfsig Jahren. 545
nur fich jelbft angehört”. — Er tritt weiter für thunkichit humane
Behandlung ber Bauern im eigenften Intereife der Gutsbefiger
ein und fonjtatirt u. X. mit Befriedigung, da «6 „eine Menge
Güter giebt, wo die Förperliche Hauszucht bei den Hofesarbeitern
der Gefindesbauern garnicht angewendet wird.” Den eigentlichen
Kern des Aufiages aber bildet eine |don im Jahre 1840 dem
furländiihen PLanbtage vorgelegte Denkihrift des Landeo-
bevollmädhtigten Baron Hahn. In weit ausfchauender agrar-
politifcjer Weisheit wird hier — Then im Jahre 1840! — für
die völlige Abihaffung der Frohne und Griegung biejer
durch Geldpacht mit Mäme plaidirt; in Verbindung damit follen
die Gehorchsverpilichtungen auf dem Hofe einer für Lohn ein:
gurichtenden Rnechtswirthfhaft weichen. Das wird dann eingehend
begründet. „Zur größten Genugtuung“ bemerkt Craft von
Necenberg zum Schluß: „dab die Nitterfchaft felbit als
Mufterwirthihaft und als nahahmungswürdiges Beipiel durd)
die überwiegendite Stimmenmehrgeit die Einführung der Zins:
und Anehtswirthichaft auf einem ihr gehörigen Patrimoni
gute bejchloffen und ihre Repräfentation joldes bereits ausgeführt
hat, dai; die Berathungen hierüber aus freiem Antriebe ber
größte Beweis von dem Forti—reiten des Zeitgeiiteo find,
ja dafs jeldjt diefer Aufiap, den ich als GYutsbefiger in meinem
eigenen Interefie geichrieben, von diefem Geifte fpridht, indem
jebt jeder Gebildete und beohalb meine Kandolcute vorzüglich,
feinen Inhalt würdigen und verjtehen werden, während am Ende
bes vorigen Jahrhunderts ih als ein Neger und Feind des
Vaterlandes ohne Barmherzigkeit in der öffentlichen Vleinung
gerichtet worden wäre",
In dem nämlihen Geifte wird (2. 494) aud für
Livländiihe Verhältniffe die Einführung der Knechtswirthfehaft
befürwortet und namentlich auf diefe, in Heimthal von B. v.
Sivers mufterhaft organifirte VBewirthihaftungs-Vtethode hin:
gewiejen,
Auch in Ejtland it man nicht unthätig und fucht den
Erforderniffen einer neuen Zeit nadzufommen. So bildet fich
dort 737) „zur Beförderung des Mohlitandeo der Bauern
der Dftfee-Gonvernemients” aus Gliedern des ejtländiichen Adels
546 Vor fünfzig Jahren.
eine Gejellicaft, die fih zum Ziwed fest, ein Gut anzufaufen
und darauf „MuftersVerhältniife der Bauern zu den
Gutsherren zu verjuden“. Zu diefem Behuf waren damals
ihon 21,500 Rbl. ©. aufgebradt; außerdem fand no ein
Darlehen von 50,000 Nbl. S. aus dem Neihsichag zur Dispofition.
Mit den wirthichaftlichen und jonftigen Landesangelegenheiten
beichäftigen fi in jenem Jahre angelegentlic, die auf Allerhöchiten
Befehl, mit Yinzuziehung von Nepräientanten der Nitterfchaften
niedergefegten „Stommijfionen in bäuerlihen und Provinzial:
Angelegengeiten”. Vom Generalgowvernenr find für Yivland als
Deputivte der Landrath N. I. &. Samfon von Himmeljtiern und
v. Fölferfahm zu Nujen-Grofhef deiignirt: weiter nahmen ber
Livländiihe Landmarichall Karl v. Lilienfeld und als Nitterichafts:
Delegirte Landrat) A. Dettingen und Nreisdeputirter Baron
Nolden an den Kommiffions-Beratpungen theit.
Necht weitgehende Hoffnungen auf eine wirthichaftliche
Velebung der Provinzen ruft in jener Zeit aud ein Eifenbahn:
Projekt wad. Aus Libau wird dem „Inland“ im Februar
1846 (S. 207) geichrieben: „Wir hören hier viel von einer
Eifenbahn, die von Petersburg nad Baltiihport
gelegt werden fol. Würde die Bahn nodh um 300 Werft
verlängert und nad) ihau hin gelegt werden, jo würde fie nicht
mur die an eine Yahn nach Baltiihport gefnüpften Bedingungen
in vollem Mahe erfüllen, jondern aud) die Städte Narva, Dorpat,
Niga, Mita und Eiban in direfte Verbindung mit der Nefidenz
fegen und fönnte noch weiter geführt werden, ftatt daß fie mit
Baltiihport ein Ende Hätte. Mas mühte nicht der Berfonen-
verkehr und namentlich der zwiicen Niga und Mitau dem
Unternehmen einbringen, und wie wilde eine Gifenbahn von
Libau nad) Warfchau, von der wieder die Rede if, den Unter:
mehmern vortheilhajt und für Liban fegenbringend fein! . ..“
Das ganze Eijenbahn-Projeft nimmt fehliehlich eine recht übe:
rafchende Wendung: die zur Gründung der Bahn Petersbung-
Valtischport zujammengetretene Gejellicaft erhält nämlich von
der Negierung die Veitätigung nebjt Garantirung von 4 pGt.
des Anlage-Napitals, jedoh fürs Erite für einen Schienemveg
von Petersburg über Dranienbaum nad) Aronftadt (Z. 1017). —
Vor fünfsig Jahren. 517
Noch mehr als zwei Dezenien verjtrichen, bis endlich bie Yahn
Petersburg-Baltijchport verwirklicht war.
* »
*
Modte and in den Städten fid die materielle Noth
der Zeit aufs empfindlichite fühlbar machen, jo Hinterläht das
Jahr 1846 dod) durchaus den Eindrud, da bas jtäbtiide
Leben fih in aufiteigender Linie bewegt. Es ift icon darauf
hingewiefen worden, wie in Anlah der Hungersnot und Theuerung
in den Städten freudig thatkräftige Hifsbereitihaft in Wirfamfeit
trat und wie die Nonverfions-Vewegung id) in den Städten,
namentlich gelegentfic des Luther-Gedenktages wieberipiegelte.
Diehrere größere fommunale Werke und Projekte beichäftigen die
Vürgerfhaften -- fo in Niga der Plan zur Anlage einer
unteriediichen Waiferleitung für die Petersburger Vorftadt, die
Umpflafterung der jtädtifchen Straßen, das Projekt der Erjegung
der Höfgernen Nöhren dur eiferne Wafferrören bei der aus
dem 17. Jahrhundert ftanmenden „Waflerkunit” und zugleich der
Ban, „die Triebfraft diefes Hydraulifchen Wertes dem Pferde:
gejchlecht zu nehmen und durch eine Dampfmachine zu erjegen“,
endlid) die Begründung eines Aredit- Vereins der täbtifhen
Immobilienbefiger (331332).
Belondere Negiamkeit thut fi in der Univerjitäts:
Stadt fund. In rühriger Weife it der von der Staatsdame
Fürftin Barclay de Tolly gegründete Hilfe-Verein thätig: pro
1545 hat er an vegelmäßigen Beiträgen die Summe von 895
No. (darunter ein Beitrag von 85 Nbl. feitens der Großfi
Helena Panfonma) aufgebracht md Rerloofungen, Sonzerte,
teatraliiche Vorftellungen und eine „Kollefte im Privat-Theater-
Verein“ veranftaltet; im Jahre 1846 hält aud) Profeffor Mädler
einen öffentlichen Vortrag zum Beten des SHiljs-Vereins über
feine Auffindung des Zentralförpers in unferem Firftern-Syftem;
wiederholte tejtamentarifche und andere Zuwendungen — jo von
dem am 12. April 1846 verftorbenen Sekretär Karl Schuls
5000 RL. und ein neucs zweiftödiges Haus und vom Gärtner
Neubauer 5147 N. ©. -—- legen Zeugnih; ab von den
Sympathien, deren fich diefer Verein erfreut, und von der damals
angutreffenden gemeinnügigen Gefinnung.
518 Vor fünfzig Jahren.
Die Stadt-Verwaltung unternimmt allerlei Neuerungen
und Vervollfonmnungen. Im Herbit 1846 wir für die Beleuchtung
der ftäbtifchen Strafen Spiritusgas tat deo bisherigen
Hanföls angewandt (mit Bezug darauf jchreibt Bulgarin an
ein rufflihes Blatt: „die Nachts durd unfer Dorpat Neifenden
wundern id jegt, da es bei ums jo licht ill, wie auf dem
Newjtisßroipeft”); zwei artefifche Brunnen werden angelegt; man
beginnt damit, für die Bauern des Stadtgutes Jama\jteinerne
Häufer aufzuführen; der Plan zur Errichtung eines Zwangs-
arbeitshaufes („KRorreftions = Anjtalt”) wird ernjtlih ins Ange
gefaßt.
Man freut fih jeder Verihönerung der Stadt -— fo der in
Ausficht ftehenden Enthüllung des Yarelay-Denfmals und der
Anlage des Tedelferfhen Barkes. Weber den lepteren
Punkt bietet das „Inland“ unterm 21. Augujt die nachftehende,
wohl für manden Lofal- Patrioten intereflante Mitteilung
(©. 838-839):
„AS id) nad) einem Zeitrgum von 32 Jahren dns
eine Werft von Dorpat beiegene Gut Tedelfer und
die malerifche Umgebung defielben mit theils freubigen,
teils wehmüthigen Jugenderinnerungen befichtigte, erfuhr
id) die Gegenwart des derzeitigen Herrn Beligers, den ich
vor mehreren Jahren in der Nejidenz fennen gelernt, und
ward bei einem Verud) beionders angenehm überrajcht durd)
die Aeuferungen und Vittheiungen diefes burd) Neiien
und Selbftiudien fein gebildeten, nod jungen Mannes,
defjen wohlwollende, für die Annehmlichkeiten in unferen
Provinzial-Städten jo ehr vermihten öffentlichen Lebens
tätig forgende Gefinnungen dem Dorpatichen YPublitum
le und mannichfaltige Erholungen im Techelferichen Bereich
Q
hat nämlid) befchlofjen, ein fruchtbares,
es, 12 Dejjätinen betragenbes Ader: Areal, von der
an mit dem Lufigarten des Herrenhaufes
verbunden, zu einer rohartigen Park:Anlage fürs Publiftum
zu opfern und zu eröffnen, deshalb einen geidicten Kunjt:
gärtner angeftellt, Pläne entworfen und bereits anfchnlide
Summen dazu angewiefen, um während feiner bevorfiehenden,
vielleicht Jahre lang dauernden Abweienhei
näcdjiten Herbjt wilde Baum: und Sträucer-Bilanzungen
edler Arten zu beginnen (Fahrıege, Fußftege, Kanäle und
Vor fünfzig Jahren. 549
DBrüden find bereits im Werfe) und für die zivilifirte Melt
ein vollitändiges Nejtaurations » Gebäude mit Pavillons,
Niosts und anderweitigen Sefellihafts-Fofalitäten aufzuführen
als Abtheilung von der jchon beftehenden Hofesichenfe,
u welder legteren jedoch ebenfalls eine bedeutende Aderz
fläche in der Nähe auf der anderen Zeite des Hofes, ganz
von dem Hauptpark mittelit einer hohen Befriedung getrennt,
zu einem Lnjtwäldchen für John Bull eingeräumt wird.
Möchten folde gemein Vorfäge, auf wahrhaft liberale
Anfichten gegründet, einen ungehinderten Fortgang haben
und andererjeits nicht durd engherzige Meinlidhe Ich:
Moilofophte geftört, jondern vielmehr nad) dem Veijpiel
aller zivififirten Länder durch Handreichung, d, . Entgegen
Tommen in Pinficht guenznachbarligher, grunbherrlicer und
öffentlicher Nedytsgrundiäge, und Ddadurd) bieie hödjt
lobenswerthe Unternehmung gefördert werden, aud der
Herftörungsfucht der niederen laffen Einhalt geichehen, um
wenigftens auf die Meile die dem wmeigennügigen Unter:
nehmer zuguerfennende Erfenntlichfeit zu bethätigen“.
Die jhmude, Heine Embad:Stadt jtand damals im Zeichen
vollen Aufblühens: ihren Hauptitolz bildeten die Univerfität und
die Schulen. Neiches Lob wird ihr au von Nicht-Alteingefefienen
gegollt. So bemerft Th. Bulgarin in einem feiner „A
aus Livland“ an N. I. Gretid) (S. 943): „Ueberhaupt find die
hier amveifenden Nufien von der Bequemlidfeit und
Ordnung in der Etadt entzädt“. — mit böchjter
Anerfennumg äußert fh die j. 3. vielgelejene, in Petersburg
ausgegebene „Nord. Biene“ über die Stadt. „Dies it” —— jo
heißt es in der Nummer vom 4. Diai 1846 („Inland“, &. 476)
- „feine große, aber eine fojibare Perle in der Nuffichen Krone.
6 ft fängt Mode geworden, Doorpat ein Petersburg en
miniature zu nennen, obgleid) diefe Parallele allerdings ein
wenig übertrieben üt; allein Dorpat ift unter den Nreisftädten in
ganz Europa unzweifelhaft dazu berechtigt, denfelben Pag ein:
zunehmen, welden Petersburg unter den Nefidenzen behauptet.
Dorpat ijt eine reinfihe Etadt und für eine Nreisftadt jonar
prähtig gebaut -- bei einer herrlichen, maleriihen Lage, welche
dem bekannten Nünftler Lera dazu Veranlaffung bot, die Anficht
von Dorpat in fein Kosmorama des ganzen MWeltkreifes ein
zuighließen, und was das Allerwightigite it: Dorpat genieht des
550 Vor fünfzig Jahren.
Nuhmes Äußerft gelunder Luft... In den Dörptiden Buden
und Magazinen können Sie alles dasjenige finden, was Eie in
Mosfau und St. Petersburg antreifen, alle ruffiiden und
ausländiichen Woaren. Allein die Pauptiadhe bleibt, da man
wohl nirgends feine Kinder beiderlei Geidhledts
jo gründlich und dad jo billig ausbilden lajien
Tann, als in dem gelehrten Dorpat, wenn man fie
unter elterlicher oder doch wenigitens gehöriger fremder Aufficht
erziehen laffen will, und es giebt wohl faum irgendwo
eine bejjere mebiziniide Fakultät, ale in
Dorpat“. — Gegenüber diefem, freigebig von ruffifcher Seite
geipendeten Xobe fann man die daran gefnüpften tadeinden
Veerfungen j—hon verichmerzen; diefe beziehen fic) darauf, dal;
der Rufe fi in Dorpat nicht ganz heimiid) fühle, dal es
hier „fein allgemeines Leben“, feine „allgemeinen anjtändigen
Vergnügungen“, wie z.B. fein Theater, überhaupt aber feine
„ruffüiche Treuherzigfeit, vuffüihe Gaftfreundi—aft und ruffiiche
‚Heiterfeit“ gebe. — Ob der Verfafler diefes Artitels auch nad)
hentzutage folhes Lobipenden und feine Defideria gerade in folder
Färbung vorbringen würde?
Fortfegung folgt.)
_
Neber granenlitteratur.
Zwei Vorträge von F. Sintenis.
I. Was jchreiben Frauen?
Wenn e8 mir neulich) nicht vollfommen hat gelingen wollen,
auf die Frage: Warum dichten Frauen? eine bündige Antwort
zu geben, fo trifft deshalb nicht mid) allein der Vorwurf; der
Grund Ing vielmehr zugleich in der großen Mannigfaltigfeit der
in Frage fommenden perfönlihen und öffentlichen Verpältnifie,
welde die moderne Frauenwelt auf bie litterariiche Laufbahn
gelodt, ja gebrängt haben.
Vielleicht wird 8 eher möglich von einer anderen Ceite
her eine Peripeftive zu gewinnen, welche bejieren Aufichluß; giebt
oder wenigitens eine ergänzende Ueberficht geftattet; vielleicht läht
fich die Frage: Was dichten, was jhreiben Frauen?
derart beantworten, da wir aud) auf das Warum einen Rücichluf
machen fünnen.
Nur ungern und zögernd werde id) enblid; eine britte
Frage zu entf—heiden- wagen: Wie dichten Frauen? Id habe
mid) bisher geflifientlih fait aller Qualififation weiblicher Pocfie
enthalten und werde diefe Nejerve doch faum weiter bewahren
fönnen.
Unterfuchen wir zunächt, was Frauen in früheren Zeiten
gedichtet, fpäter überhaupt geichrieben Haben.
Dicyterinnen alter Zeiten bis zur Neformation giebt es fo
Weber Frauenlitteratur.
wenige, daß man fie als ganz individuelle Erfdeinungen betrachten
fann. Die hervortretende Perfönlichfeit äußert fi denn aud) in
derjenigen Dichtungsart, weldhe das fubjeftive Gepräge der
augenblidlichen Stimmung trägt, in der Lyrif. Das Lied und
feine Verwandten find der Ausdrud gelegentlichen Empfindens;
fie entjpringen der Erregung des Moments.
Nun, die Frauen haben fid) bis vor dreihundert Jahren fait
ausichliehlih in den Grenzen der Iyriicen Poefie gehalten.
Das ältefte Frauenfied jteht in der Bibel; es ift der
Triumphgefang der Deborah, ben fie anftimmte, nachdem fie mit
Varaf den Sifjera geihlagen und Jirael von den Kanannitern
befreit hatte. Gott wird gepriefen, da er ihre That hat gelingen
lajien, jowie die der Jael, der Keniterin, die den Siifern getödtet
hatte. Cs it ber Ciegesjubel patriotifher Vegeifterung, dejien
Etheit aud) die radifalften Krititer des Kanons nicht bezweifeln
in dem jogar die Ertremften das ältefte Denkmal hebräiicer
Koefie anertennen.
Wir befigen aber no) einen zweiten Siegesgefang einer
anderen jübiihen Heldin im Schluffapitel des apofruphen Epos
von Judith, die den Holofernes erichlagen; indefien fällt fein
Urfprumg fier erft mit der Abfaffung des übrigen Gedichts
zufammen amd das Lied it aljo der Judith mur in den Winnd
gelegt; an und für fid dürfen wir ihr freifid biefelbe (yrifche
Fähigkeit zutrauen, welche Deborah auszeichnet.
Durd) ungewöhnliche Veranlaffung aus dem alltäglichen
Lebenskreiie hervorgehoben werden Frauen zu Heldinnen und
Dichterinnen; zu beiden Nollen infpirirt fie die Vegeifterung für
das bedrängte Vaterland, der Enthufinsmus jteigert die Energie.
Diefelde Spanntraft, welde den Arm zu männlidem Handeln
ftärft und bewaffnet, rüftet aud) den Geift aus zu Schwung
und Flug.
Schauen wir uns um in der Weltgefchichte: nad) mandyes
Mal hat ein Weib die Jhrigen, ihre Vaterjtadt, ihr Vaterland
zum Ziege geführt feine andere aber hat ihre Heldenthat
befungen. So it das ältefte Frauenlied zugleich das einzige
feiner Art.
Ueber Frauenlitteratur. 553
Im Gegenjag zum femitiihen Heroismus einer Deborah
fteht das ariiche Frauenideal, weldes die Epen und Dramen des
alten Indiens uns idildern; auf's Neigendjte und Nührendfte
wird weibfiche Ahugheit, Anımuth, Liebe und Treue verherrlicht;
aber id wühte nicht, dab die Originale einer Damajanti,
VBafantafena, Safuntala uns Gefänge binterlajlen hätten; *) fie
find felbjt Gedichte, erfüllt von echter Weiblichfeit wie Gordelia,
Dphelia, Julia und Desdemona, die mur in der Dichtung
gefungen haben.
Erit in Griechenland erklingt wieder das Frauenlied, wenn
aud) noch felten, doc deito fhöner. Die Gejänge der Sappho
galten den Griehen als das Wollfommenfte in der Ipriichen
Dichtung. Und dad) hatte fie jo gewaltige Konkurrenten wie
Alaios, Anafreon, Pindar. „Wie Homer unter den Vlännern,
fteht fie unter den Frauen einzig und unerreihbar da für alle
Zeiten” jagt ein griediiches Epigramm und es hat bis heute
echt behalten. Mir haben leider falt nur Bruchjtüce ihrer
Lieder, aber au) diefes Wenige, meift Licbesklagen, athmet einen
Geift, eine Innigleit, eine naive Unmittelbarfeit ohne Gleichen.
Wer diefe Ueberreite beiradhtet, mu an Blumen benfen, bie, zur
Erinnerung aufbewahrt, Nunde geben von bahingeichwundenen
Tagen; verboret zwar und zerbrödelt haben fie doc) ihren Duft
bewahrt, der nod) jest mıferen Sinn gefangen nimmt. **) Auch
die Landsmänninnen der Sappho halten fd) alle in den Grenzen
der Lyrit; Erinna, Diyftis, Norinna, Telefilla, Prarilla u. A.
gehören wie Jene dem äolifhen oder doriihen Stamme an,
weld)e dem weiblichen Gejchlecht eine freiere Stellung einräumten
als der ionifche.
Rad) einem halben Jahrtaujend werben zwei römifche
Dichterinnen namhaft gemacht; beide heihen Culpiein, beide haben
erotiiche Lieder verfaßt.
Wieder vergehen Jahrhunderte — bis in Spanien aus der
glängenden Nulturwelt des arabiichen Ralifats einige Dichterinnen
=) Die indifche Tiche hai gehört. unjerer
vielleicht unter dem Einfluh europäiic.indiicher Nultur.
9. Auflage, Seite dd.
**) It. Hod, Alaios und Sappho 1862.
jeit an und. ficht
herr, Weltlitteratur
554 Ueber Franenfitterahir.
auftauchen; zur Lyrif gefellt fi hier das den Orientalen jo
geläufige Märchen. Cine diefer femitifhen Mufen, eine Sultanin
ichreibt fogar, als wäre fie ein weiblicher Dr. phil. des 19.
Jahrdunderts, jchen hifterifche und äjthetiiche Unterfuhungen.
Zu gleicher Zeit jteht einfam im deutfchen Mittelalter die
Nonne Hroswith von Gandersheim; mit pädagogiichem Cifer,
aber ohme Geihid und ohne Glüd verwandelt fie chrüftliche
Legenden in (ateiniiche Leiedramen.
Am Anfange des 12. Jahrhunderts endlich Lebt in Byzanz
die Naifertochter Anna Nomnena und jchreibt die Geichichte jener
50 Jahre, deren Mittelpunkt der erite Sireuzzug bildet. DIveten
wir aus dem Mittelalter über die Schwelle der neueren Zeit.
As nad dem Falle von Stonjtantinopel die Verehrung für
griehiihe Bildung fi über Italien verbreitete, ergriff Diele
geiftige Vewegung auch die Franen der Höheren Stände; fie
vertiefen fid) in die Nenntnib des Alterthums und eifern antifen
Vorbildern nad; bald ift der Humanismus auch in Frankreich,
und Dentichland zur Herricaft gelangt und im felben Maahe
wächjt aud) die Vetheiligung der rauen an der Nenaiffancelitteratur.
Doc Ii das Alterthum nicht neu beleben und die einjeitige
Abhängigkeit von Grieden und Nömern hätte fid) bald geitraft
durch den Diangel an jugendlicher Jnitiative. Die Wärme, mit
welder man die Lebensanidanungen des Afterthums adoptirte,
tonnte höchftens eine Treibhausdichtung von fümmerlichem Wuchs
und furzer Dauer hervortreiben. Es gab zum Ghüc ein moderneres
Ingredieng — die Vorbilder Petraren und Voccacio; und ein
attuelles Interefie — die glänzende Aumftentwidehung des 16.
Jahrhunderts. Die fornwollendeten Sonnette des Petrarca, die
Iebensfrifchen Novellen des Voccaccio, die Meifterwerfe Nnfacls,
Leonardos, Michelangelos verbinden ihren Einfluß mit dem des
Altertfums und geitalten ein ganz neues geiftiges Leben. Auf
foljem Boden erwucjien die Dichtungen der Schweiter Franz 1.
von Frankreich Margarethe von Valois: Novellen, Lieder und
Lohrgedichte; unabhängigere Wege geht die Ihöne Seilersfran von
Eyon Luife Lnbe; fie hatte 1542, euft 16 Jahre alt, in Männer:
Heidung als Kapitän Loys an der Belagerung von Perpignan
theitgenommen; nach ihrer Verheiratjung wird ihr Qaus der
Veber Frauenlitteratur. 555
Sammelplag von Künftlern, Dichtern und Gelehrten; fie aber
dichtet und fomponirt zugleich ihre Lieder, denen man natürliches
Gefühl, echt Ipriihen Schwung, Neinheit und Wohllaut der
Sprache nadrühmt.
In Jtalien, der Heimat der Nenaiffaneebewegung, vollzog
fi) jene *) „Losipredung“ -— Emancipation im beiten Sinne des
Wortes — welche die Frau als eine Gleihberedhtigte neben dem
Vanne anerkannte; Hier, wo fie ihre Begabung und Bildung
ganz im Dienfte edler Weiblichfeit verwerthete, gewann fie eine
Bedeutung auf das gejammte Nulturleben wie bisher nod) nic.
Wir erfahren, dah die Venetianerin Naffandra Fedeli am
Ende des 15. Jahrhunderts in Whilojophie und Theologie einem
gelehrten Manne gleihbewandert war; Gregorovius im Yeben der
Kucrezia Vorgia nennt eine Keihe Anderer. Alle aber überftrahlt
Vittorin Kolonna, welche für den Verluft ihres Gatten, des
Marqueie von Pescara, Troft findet in der Pocfie; um ihrer
wundervollen Sonnette willen it fie von Mit: und Nachwelt
hochgefeiert; unter den Zeitgenofien haben Michel Angelo und
Ariofto ihr gehuldigt, die Folgezeit hat ihr eine ganze Yitteratur
gewidmet.
Noch) einer Anderen fei gedacht, der ebenfo geiftreichen als
icjönen Olympia Morata, welche als Gattin des Heidelberger
Profefjors Grundler 1 geitorben üit.
„Nirgends **) tt in der Frauenwelt jener Zeit die
verflimmende Abficht zu Tage, um jeden Preis fid Hervorzuthun,
denn Auszeichnungen werden mer jenen zu Theil, in dereu
Perfönlichteit fi) Anlage, Schönheit, Erziejung, gute Sitte und
Frömmigfeit zu einem harmonicen Ganzen fügten. Und die
Männer brauchen mit ihrer Anerkennung nicht zu Iparen.
Eine ganze Gallerie von nen erbliden wir in oen
Generationen des 16. Jahrhunderts, welche der Dichtkunft ergeben
waren; Häufig find es raube Schtefale, welde die Verfe hervar-
rufen.
ullio d’%rcagona in Weftermanns Monatsheften TA,
1 Spaligei he. &. 130,
556 Ueber Franenlitteratur.
Der Schweiter Karls V., der Nönigin Maria von Ungarn
fepreibt man das geiftlice Lied zu: „Mag id) Unglüd nicht
widerjtahn“; mit gröfierem echt vielleicht das Lied auf den Tod
ühres Gemahfs Ludwig, der bei Mohacz gefallen war: „Ach
Gott, was joll id) fingen"; beide find einer tiefbetrübten Königin
nicht unwerth.
Ebenfo gern glauben wir an die Echtheit jenes rührenden
DMadrigals, in melden Maria Stuart ihrem Schmerze Ausdrud
gegeben hat, als fie von Frankreich und ihrer glüdlichen Jugend
Abichied nahm; auf der Meberfahrt nad) Schottland entftand, jo
erzählt Brantöme, *) wenigftens der Anfang des Gedichts:
&eb wohl, mein Kieblich Heimathland!
das uns zu fcheiden eilt,
Hat meine Seele mir getheilt;
Die Hälfte blieb bei dir zurü
Die mahnt did) nun zu jeder Friit
Dafı du der andern nicht vergift.
Arc) ihre Gegnerin Elifabeth hat der Nummer zur Dichterin
gemacht; im Gefängniß zu Wooditoc hat fie 1555 mit Holzfohle
auf einen Fenfterladen folgende Stage über das gewaltjame
Verfahren ihrer Halbihweiter Maria geihrieben: **)
D Schidjal, wie dein unjtet Walten mir
Häuf't auf's verftörte Haupt Vefümmerniffe,
Bezeugt der vauhe Kerker, welcher hier
Dich einschlieht, und die Freuden, die id) mifle.
In Feffeln, wie fie Schuld’ge follten tragen,
Haft graufam die Unfhuld’ge du gefchlagen;
Und frei von Yanden wandelt zum Beneiden,
Die wohl verdienet hat, den Tod zu leiden.
O Gott, bezwing der Feindin Da und fende,
Das mir beftimmt war, ihr: ein jühes Ende!
Von beiden Nöniginnen giebt es noch andere, fpätere
Gedichte; aber fie betreffen unfpmpathiihe Lorgänge, felbit
p- 132 201,
Ueber Frauenlitteratur. 557
verjchuldete Verwidlungen: es find Sonelte Maria Stuarts an
Bothwell und Vejchwerden Elifabeths über die Umtricbe der
gefangenen Maria — Percy bemerkt zu Pepteren, das jei feine
Probe reichquellender Pocfie.
Yon den fen Italiens, Frankreichs, Englands und
Deutichlands geht die Poefte auf die Frauen der höheren
Stände über.
Als eine wejentliche Erweiterung des Gefichtsfreiies erwähne
id) die vielgelefenen Nomane der Madeleine de Scudery, die
Haffiichen Briefe der Marquife de Evi, fowie die unter den
adfigen Damen Frankreichs durd) die Gräfin d’Aulnoy eingeführte
Vorliebe für Feenmärden. Cs find dies us der Frauen
zur Maffiichen Yitteratur Frankreichs im Jahrhundert, an
weldhe fih dann die Schaufpiele der Banane de Goaffigny
anfdlieen, deren Genie aus Leifings Dramaturgie nod heute
woglbefannt ift.
Nod) weiter geht die gelchrte Anna Dacier, die Heraus:
geberin und Ueberfegerin griediicher Maffifer in's Franpöfiiche;
mit Erfolg verthe fie die Größe Homers gegen die plunmen
Angriffe ihrer Zeitgenofien. So geht der Humanismus allmählich
in die Philologie über umd Madame Dacier vertritt in diefem
Brocch die Franenwelt.
Wie in Frankreich mehrt fi auch in England das Interefie
der Frauen an der Yitteratun; einzig im ihrer Art bleibt zum
Glüd Aphra Vehn, die Q rin fittenlofer Nomane und
Schauipiele; Walter Scott erzählt‘) von einer vornehmen Danıc,
bie ihm verfiherte, wie noch in ihren Jugendjahren dieje wüllen
Schriften jelbit unter den jungen Mädchen allgemein verbreitet
gewejen; zufällig fei fie fpäter wieder einmal auf einen jener
Nomane geitoßen und fie habe fid als adtzigjährige Oreilin
geihämt dajielbe Bud) auszulchen, das man ihr alo fünfzehn:
jährigem Mädchen ohne Arg in die Hände gegeben,
In Deutfhland wagen es die Frauen des 17. Jahrhunderts
nad) amd nach von der geiltlichen Licderdichtung zu weltlichen
*) Hettner, Yiterat. Geh. des IS. Lahr. 3. Hull
558 Meber Frauenlitteratur.
überzugehen — zunäcjt ohne merflichen Erfolg, fo fehr ihnen
auc) die Dichtergefellichaften den Hof machen.
Im Zeitalter Paul Gerhardts find Choräle des allgemeinen
Veifalls her; fie werden in zahlloien Gefangbüchern der Nachwelt
aufbewahrt und überall gelungen.
Ih weiß nicht, mit welchen Necht behauptet wird, bie
Gräfin Anna von Stolberg fei die Verfaferin des Liedes:
„Shriftus, der ift mein Leben“; noch zweifelhafter ift, ob die
Gemahlin des Großen Kurfüriten Luie Sunriette gedichtet habe:
„Iefus, meine Zuverficht“, oder: „Ich will von meiner Miffethat
zum Heren mich befehren“; aber wohlbeglaubigt als Dichterinnen
noc) gebräughlicher Choräle find zwei Fürftinnen von Schwarzburg:
Audolftadt, z.B. von: „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“,
oder von: „Schaff in mir, Gott, ein reines Herz.” Diefe geiftliche
Eyrit bleibt unjterblich, jo lange es Protejtanten giebt.
Verichollen dagegen find die gleichzeitigen wettlichen Dichtungen
der Herzogin Sophie Eliiabet) von Braunfchweig-Molfenbüttel,
die dem Palmenorden angehörte; die Kirtenlieder der Pegnit-
fhäferin Gertrud Möller, einer gefrönten fatierlichen Poetin;
vergeffen die Lieder der Katharina Negina von Greiffenberg, die an
der Spie der Lilienzunft in Zefens deutichgefinnter Genofienfchaft
ftand, und all der anderen Frauen.
Auf Frankreichs Hafliiche Periode im 17. Jahrhundert folgt
die Deutfchlands im 18. Wie dort, beginnen aud) hier Frauen
an allen geiftigen Veitrebungen theilzunehmen, Anfangs palliv;
man jehmärmt in fentimentaler Entzüetung für Aopftedt, Gellert,
Goethe -- bald folgen auch eigene Verfude auf dem Gebiete
des Nomans und des Schaufpiels; Wieland führt feine Jugend:
freundin Sophie a Node mit ihrem „Fräulein von Sternheim“
in die Welt ein; Goethe erlebt «6,*) daß man „Agnes von
Lilien“, ein Wert von Schillers Schwägerin Karoline von
Wolzogen, ihm, dem Verfaier des Wilh. Meifter zuichreibt; in
der That übertrifft diefer Noman die meiften Franenromane bis
anf den heutigen Tag. Bon Schauipielen diefer Zeit ift Tchon
das vorige Dal die Nede geweien.
hilfer an Goethe, 6. Dezember 1796 — 16. Mai 1797,
Ueber Frauenlitteratur. 550
Das 18. Jahrhundert gilt befanntlid als die Periode der
Aufklärung; engliiche und franzöfihe Phitofophen und Dichter
betehren die Menfchheit über ihre Nechte; die Lehre von den
Pilihten Hat erjt Kant und das 19. Jahrhundert hinzugefügt.
Dur) Nouffenus Erziehungsfyftem wird die heranwachiende
Generation auf nafürlichere Yahnen gelentt.
Für diefe Aufklärung nun begeiftern ih namentlich) die
vornehmen Damen von London und Paris; in den Calons
derfelben verfammeln fi die hervorragenditen Geifter, von ihnen
gehen die Schlagworte aus, welde im ganzen Lande widerhalfen.
In fol einem Streife Londons erfchien *) — c6 war eine
unverzeihliche Yernahläffigung der Mode ein vornehmer
englifcher Geiftlicher in blauen Strümpfen und die Damen,
welde daran feinen Anitoh nahmen, fondern feinen Morten
anbächtig faufchten, wurden „Vlauftrümpfe* genannt; dies ward
insbefondere der Spottname für alle diejenigen Damen, melde in
den Gefellichaften der Ms. Velen fh um Samuel Johnion
ihjaarten und endficd ift es eine Vezeihuung geworden für all
die unweiblichen Wefen, welche über geiitreicher Unterhaltung und
Beidäftigung cs verfäumen ihr Hausweien in Ordnung zu halten.
Dieje biue-stockings liefen es aber bald nicht mehr bei
der Litteratur bewenden; fie gingen anf Politif über und bei
der nahen Verbindung Franfreihie mit England entwidelt fich
diefes geidhäftige Calontreiben gegen Ende des Nahrhunderts
bejonders in Paris.
Zwei Franzöfinnen mögen als Topen vieler Geringerer
gelten, beide ungewöhnlichen Geiftes, fonft aber in jeder Beziehung
verichieden: Neders Tochter, Madame de Staöl und Madame
Roland, die Gattin des Girondeminifters. Iene neigt in der
Politit zur englüchen Parlamentspraris mit einer beichränften
Monarchie im Hintergrunde; fie ftcht im Widerjpruc gegen die
Iafobiner und das Naiferreich, die fie beide überlebt; dieje ült
als feurige Nepublifanerin ihre Zllufionen aufs Schaffot
geftiegen. Madame de Staöl hat in mannigfaltigen Schriften
Proben eines glänzenden Talents und einer VBeobachtungsgabe
*) Schloffer, Gejcichte des 18. Jahr. 3. Aufl, II, &. G01.
560 Ueber Frauenlitteratur.
geliefert, welde an einer Franzöfin bewundernswerth ift — nur
Eines fehlte ihr, wodurd Vadame Noland gerade imponirte und
jelbft ihren Gegnern gefährlich ward, die Grazie der Erjheinung,
vertlärt durd) die reinfte idealiftiiche Neberzengung. NPadame
Noland fand in den flürmiichen Jahren der Nevolution feine
Muße um Romane oder Bücher über fremde Yänder zu jchreiben;
ihre pofitiichen Briefe exihienen erft nad) ihrem Tode und ihre
glänzende Vertheidigungsrede verhallte im Setümmmel des Konvents.
Madame de Staöl dagegen fonnte ihre Neifen zu ihren beiden
Romanen und ihr Tpäteres Exil zu dem berühmten Buche „über
Deutfchland” verwerthen.
Beide Frauen find vehte Mufter jener Emancipation, deren
Lerwirftihung fih feit der Nenaiffancgzeit deutlich verfolgen läht
— aber, abgelenkt auf die politiiche Bahn werden fie Blau
ftrümpfe im volljten Sinne des Wortes, denn die Eine opfert
ihr häusliches Glück auf dem Altare des undankbaren Vaterlandes,
die Andere jucht ih in der „Delphine“ über ihr chelicheo Unglüc
Nechenihaft zu geben —- fo find beide achaben und getragen von
derjelben Hochiluth, aus melder nur die Eine fidh zu retten
vermag. Aber eben weil fie durd) ihre eigenthümliche politifche
und foziale Yage genöthigt werden fi auszuipreden, it die
lebendige Wirkung ihrer Schriften für alle Seiten gefichert,
Hätten fie Frankreich, die Eine vor den Jafobinern reiten, die
Andere von Napoleon befreien fönnen, fie hätten dod) feinen
Triumphgelang angeftimmt, denn fie waren weit hinaus über die
naive Epade Ipriicher Vegeifterung.
Bis hierher babe id) die originellfien und hervorragenditen
Dichterinnen früherer Jahrhunderte nambaft gemacht; id habe
darauf Hingewiefen, wie aus jener urprünglicen Anlage und
Neigung zur Fyeif mit zunehmender Sultur nad) und nad die
mannigfaltigiten Intereiien fid entwideln, nicht nur poetifche,
fondern au) wiflenichaftliche und politiiche; diefelben Fortichritte
laffen fi beobachten in Kordova wie in Byzanz, in Nom und
Florenz, wie in Yondon und Paris -- ich braudie feinen
ausdrüclic darauf aufmerkiam zu machen, da; unier Jahrhundert
nur in Male reprodueirt, was frühere Zeiten im Eingelnen
energifch errungen haben.
Ueber Frauenlitteratur. 561
Unfer Jahrhundert unteriheidet fi von jeinen Worgängern
durd) die große Anzahl der Schriftitellerinnen, durd) die gleichzeitige
Verbreitung derfelben über alle möglichen Gebiete — einige nen
Hinzugefommene werde id) jpäter anerfennen — durch die wachiende
Betheiligung Sfandinaviens und Amerikas; alle diefe Momente
jufanmen geben unjerer Zeit den Anfchein bes gänzlich Neuen,
Niebagewefenen. E$ mag wenige fogenannte neuen Ideen geben,
welche nicht frühere Jahrhunderte angebahnt und ausgeipraden
hätten; aber in modernem Gewande, in theoretifcher Breite, in
unbefangener Zuverfiht vorgetragen und vor allen Dingen in
willfürtichen Zufammenhang gebracht, geben fie fi) für jünger
aus, als fie wirklid, find.
Soll ic) num Nechenichaft geben von den mannigfaftigen
Nightungen, welche Frauendichtung und :ichriftitellerei unferes
Jahrhunderts eingeichlagen Hat, jo werden Sie mir's gewiß; nicht
verdenfen, wenn ich mich wiederum auf Deutichland beichränte;
aud) jo wird es fchwer halten, eine deutliche Neberficht zu gewinnen
und ein Ende zu finden.
Von der Lyrik find die Frauen auf das Epos und Drama
übergegangen, haben fi aller Zweige der erzähfenden Proja
bemächtigt: des Romans, der Novelle, des Märdens, der einfachen
Erzählung, der Stizze und HSumoresfe; neu entdedt ift das Yebiet
der Jugendlitteratur, der Mode, des Haushalts und der Nochkunft;
mannigfaltiger Handarbeit; der Gefundheitspflege und der Kinder:
ernährun Feuilfetons und Bücher handeln von Kunft- und
Litteraturgefchichte, von Vlufit und Theater — die unvermeidlide
Kritit eritredt fid) hauptiächlich auf ähnliche Gegenftände; gering
Üt die Vorliebe der Frauen für Natnrwifienshaften und Welt:
geichichte; perfönficher Anteil an Nahejtchenden veranlaft fie
häufiger Biographien derfelben zu verfaifen, merfwürdigerweile
entichliehen fih aber Frauen jelten Selbjtbiographien zu idhreiben;
an Neifeerlebniffen und -beobachtungen in Brief und Tagebuchform
üt fein Mangel; das Intereife für Neligion, Phitojophie, Pädagagit
fent manche Feder in Bewegung; viel Arbeit wird auf bie
Nedattion aller möglichen Zeitichriften verwendet. Füge ich mın
noch Anthologien und zahlreiche Ueberfegungen hinzu, To bleibt,
last not least, die rührige Thätigfeit in Grörterung fozialer
562 Ueber Frauenlitteratur.
Probleme, namentlich) der aktuellfien aller Fragen, der Frauenfrage
Hervorzuheben ——- und dor bin ich von Wollftändigfeit ziemlich
entfernt; habe ich doc z.B. Stenographie und Volapük zu nennen
verfäumt.
Erftaunt über den Umfang diefer Litteratur, welcher faum
noch Grenzen fennt, fann man nicht umbin auszurufen: Worüber
ihreiben unjere Frauen nicht?
Doc wäre 8 voreilig zu behaupten, die Mehrzahl diefer
Frauenleiftungen fei ebenio entbehrlich, wie ein fehr großer Theil
deflen, was Männer geichrieben haben.
65 wäre auch ungerecht fo abzwurtgeilen. Denn Frauen
haben es viel fchwerer, Kichtiges umd Großes zu Stande zu
bringen als Männer; abgeiehen von manchen anderen Vor:
fenntniffen und Vorbegriften, fehlt ihnen meift die gründliche
Vertrautheit mit der Weltgeichichte, für deren objektive Gefidhts
punfte und Lehren fie weniger empfänglid) find, während fie cher
geneigt find ihrem Herzen zu folgen und für Alles, was Vitleid
oder Bewunderung erregen fann, lebhaft einzutreten. Die
Schwierigkeit Liegt alfo hier wie anderwärts nicht in den Gegen
ftänden jelbft, jondern in der wefentlichen Anlage der Frau, deren
Sympathien und Antipathien auf Empfindungen beruhen, bie
ftärfer find als nüchterne Neflerionen; eine Gigenichaft, welche
nun einmal Frauen liebenswürdiger macht als Logit und idarfer
Verftand in einfeitiger Gutwidlung, und welde ohne Zweifel
mandjer weiblichen Dichtung beionderen Neiz verleiht.
Statt weiter jummariihe Vetradtungen anzuftellen, die dad)
ftets auf Ausnahmen ftohen, ziehe ih «s vor, die einzelnen Zweige
der Frauenlitteratur näher in’s Auge zu fallen und fie im
Allgemeinen abzuichägen, Cinzelnes aber, joweit id) orientirt bin,
herauszußeben und zu charatterifiven; wenn id gleich fürchten
muß, Jhnen nicht viel Neues zu bieten, jo wird dad) diefer erite
Verfuch einer Ueberficht vielleicht von Werth fein. Lyriiche Bochie
verfhwindet auch dann nicht, wenn bei fortgeicrittener Sultur
das Drama, Künfte und Wiffenihaften die Herrichaft angetreten
haben.
Dementiprechend giebt es auch heute nod eine fehr ans-
gedehnte Fraueniprit; aber es mul bezweifelt werden, ob fie mit
Ueber Franenlitteratur. 5683
der der Dichter einen Vergleich auspält. Wie zahlreiche volfs-
tümlid) gewordene Lieder von Dichten unferes Jahrdunderts
giebt es! Dagegen fenne id nur zwei joldhe, welche Frauen zu
Verfafferinnen haben: „Müde bin ich, geh zur Nuh“ von Louife
Henfel und das vielgefungene: „Ach, wenn du wärft mein eigen“
von der Gräfin Jda Hahn-Yahn.
Die Lyrik ift die Sprache des Perzens; nur was warın
vom Herzen fomint, wird im Siebe wirfam fein. Co redht für
die empfindfame Frauenfeele geihaften, enthält die Lyrik dod)
auch große Gefahren. Ihre umniterblichen Motive von Liebe und
Haf, von Freude und Leid, von Sonnenhelle und Sternenfchein
und was fonft noch im Liede wiederktingt, Alles will aud im
Meinen bedeutend aufgefaßt und geichmadvoll ausgedrüct fein.
Goethe und Eichendorff, Uhland und Heine, Paten und Geibel
Haben uns verwöhnt und gegen Verichwontmenheit und Form
tofigfeit empfindlich gemacht. Nod) verdriehlicher wirkt Anlehnung
an allzubefannte Viufter.
Solche Mängel mögen der Frauenkyrit anhaften, da es
ihr nicht gelingt, fih geltend zu madjen. Nur wenige Iyriiche
Dichterinnen erheben fi über den Durchihnitt; bereitwillig nenne
ich als folde Annette von Drojte-Hülshoff, Betty Paoli, Adelheid
von Stolterfoth -— doc) bald mahnt mid) mein fritifches Gewiffen,
nicht zu freigebig zu loben.
KReinem menfclihen Wefen darf man es verdenfen, wenn
&5 feinem vollen Heren in Verfen Luft macht; jelbit das Nichtige
tann durch feine Wendung und epigrammatifche Zufpigung für
den Augenblick wichtig werden, aber nur für das eigene Benuftfein.
Wer mag wohl aller Welt geftatten, in die MWerfjtätte des
Geiftes Hineinzubliden, wenn nicht aud Meifterftüde darin zu
ande fommen?
Alzuvielen Dichterinnen ift 68, wie «6 ideint, folgender:
mahen ergangen: fie haben für den Hausgebraud), für das
Familienbebürfnii; ihren Hübfchen, runden, gefälligen Vers gemacht
und ihre Umgebung angenehm damit unterhalten. Gs wäre aber
unbillig zu erwarten, dab das große Publikum fi cbenjo über
die beicheidene Gabe freuen, ja davon entzüct fein joll, wie die
nächiten Angehörigen. Tritt nun fol ein häusliches Genie
564 Ueber Frauenlitteratur.
öffentlich auf, jo mul es eine ganz andere Beurtheitung erfahren.
Co löblic es üft, wenn die Hausfrau md ihre Töchter den
poctiichen Bedarf des täglichen Lebens felbjt Kiefern, fo unvonfichtig
bleibt es doch auch, vom Publifum diefelbe Voreingenommenheit
zu erwarten, welde jene bei den Ahrigen
Ich weih; wohl, unfere heutigen Lnrifer gründen ihren Nuf
aud) nicht felten auf Formgeflingel und renlijtifche Spipfindigleiten,
Vorzüge Höchjt zweifelbafter Art. Das wäre denn ein weiterer
Beleg für den Niedergang der Iprifchen Rocfie überhaupt. Schon
vor hundert Jahren hat Schiller die Frage aufgeworfen:
Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für did dichtet und denkt, glaubt du fchon Dichter
zu fein?
Dazı fommt die unvermeidliche Nacabmungoiucht; vor
5 Jahren waren die „Lieder einer Verlorene“ von Ada Chriften
erihienen; dafi fie aber in 3 Jahren 3 Auflagen erfebten, hatten
fie ficherlic mehr Paul Lindans harmlojem leinftäbterbrief zu
verdanfen, welcher nadhwies, dab Alles, was Ada Ehriften zu
fagen wuhte, von Heine fchon viel früher und treifender gelagt fei.
Wir haben aus beiferen Zeiten fo veiche Schäge, dab wir
die Aprifchen Veiträge der Gegenwart daran geben fönmen, wenn
fie nicht wirttic, vorzüglich Find.
Mit mehr Strenge und richtigerem Gei—hmad find uns von
Frauenhand Vlumenfefen ausgewählt; dieie Geidenfe nehmen
wir lieber und danfbarer an, als cbenjo viele Wände eigener
Gedichte.
Noc) glücklicher bewährt fich das weibliche Talent der An-
und Nadempfindung in den zahlreichen Weberjegungen. Exit
Karoline Schlegel vor hundert Jahren Shafeipenre's „Romeo und
Julia” übertrug -- es war der Anfang des Klaffiichen Shafeipenre,
welchen Dorothen Tied*) ihrem Vater vollenden half -- haben
Tatvj ihre jerbif—hen Voltstieder, Amalie von Imhof die Fridjofs-
füge, beide Goethe gewidmet, nadhgedichtet, Luife von Ploennies
englifche Dichter verdeuticht; aus allen lebenden Sprachen befiten
wir heute ähnliche Beiträge zur Weltlitteratur von Frauen.
*) Köpfe, 8 Ti 2., &. 61. — Gocdefe, Orundrih; DIL,
fie Agnes.
Ueber Frauenlitteratur. 565
Vrauchbar und zwedentipreend mögen aud die „Wolter:
abendjcherze” von Lucie Jdeler, der „Hauspoet“ von Charlotte
von Franken und der „Neue Yauspoet” von Gertrud Tviepel
fein für folde Seile, welche genöthigt find zu feitliden
Gelegenheiten eine poetifhe Anleihe zu machen.
Epihe Dichtungen, welde vor 40--50 Jahren noch mit
Genuß gelejen wurden, Läht man heute im beiten Falle eben
gelten, ohne fi) dafür zu erwärmen; rauen zumal werden fid)
nicht feicht von der auf diefem Gebiet bergebradhten Romantif
losmachen, die fie an infel und Nedwig lieb gewonnen haben;
nod) fchlimmer it es, wenn fie auf der breiten Heeritraße wandeln,
auf der Julius Wolff mit verführerii—en Liedern vorangeht.
Daher haben wohl die vielen epiicen Gedichte von Frauen ihren
ap mehr in Nürjdners Yitteratur-Ntalender als auf unjeren
VBüchertifchen.
Dagegen finden Dichterinnen nicht jelten auf der Yühne
wohlverdienten Beifall. Giebt es aud) fein großes Traueripiel,
fein bedeutendes Luftjpiel von foldyen, jo Haben doch die bürgerlichen
Gharatterdramen der Prinzeffin Amalie von Sadıfen, die Zugftüde
der Charlotte Bird: Pfeiffer, die Luftipiele von Elife Henle und
mandıes Andere mehr als ephemeres Yeben. Freilih will es
wenig fagen, wenn von 150 dramatischen Dichterinnen nur etwa
6% die Probe vor den Lampen ausgehalten haben. Zedenfalls
Laien fi) noch werthvolle mittlere Schaufpiele und feinere Kuftipiele
von Frauen erwarten.
Ganz ratblos jtehe ih nun dem Chaos von Nomanen,
Novellen und dem jonjtigen Arjenal der Unterhaltungslitteratur
gegenüber.
Id) fühlte mic) geborgen, wenn id ein für allemal von der
Qualität jo viel zu rübmen wüßte, wie von der Quantität.
Aber leider ftehen die Beiden in umgefehrtem Lerhältnih zu
einander.
Auch unfere Yeihbibliothefen befiten von Henriette Hanke,
Fanıy Tarnow, Yuife Mühlbach, Amalie Schoppe nr immer
einen Theil ihrer Werke, wenn aud die Titel ganze Zeiten der
Verzeihnüffe füllen. Keine von diefen hat weniger als 100 Yände
zuianmengeidirieben. Nahezu ebenjo ftattlic find die Keiitungen
566 Ueber Frauenlitteratur.
von Karoline Pichler, Fanny) Lewald; von unferen Zeitgenoffinnen
fönnen es Lola Kirfchner, Augute von der Deden und einige
Andere zu derjelben Anzahl bringen, wenn fie es nicht müde
werden und es erleben; dazu haben fie ja aber alle Ausficht.
Dan fragt fi umvillfürlih: woher nehmen diefe beenden
Arbeiterinnen die Zeit, welche zum Erfinnen, zum Ausarbeiten
eines Nunftwerfes erforderlich zu jein jcheint?
Wie 08 in älteren Zeiten herging, davon Fann id aus
eigener Erfahrung Beicheid geben. In meiner Vaterjtadt Defjau
lebte in ihren alten Tagen Janıy Tarnew — damals nod)
ebenfo fchreibluftig wie in ihrer Jugend. Id) hatte das Vergnügen,
meinem verehrten Lehrer Profeffor Lindner, dem Vorfteher der
herzoglichen Vibliothef, beim Musfuchen und Ausgeben der
gewünichten Bücher fremder Sprachen zur Hand zu gehen. Yon
Zeit zu Zeit brachte man einen Waichforb voll Bücher, welde
Fanny Tarnow als ausgebeutet zurücichiette; fobald diefer Korb
erichien, winkte mir Lindner mit feinem boodafteiten Lächeln und
übergab mir die meue Lite zur Velorgung; aus dem reichen
Schage alter franzöfiicper Nomane und Plemoiren, den bie Deifaner
Bibliothek befab, fuchte id nun die lange Neihe heraus — deren
Inhalt war 66, aus weldhen Fanny Tarnom ihren Honig fog.
So gründlich wie fie fann aber Kuife Mühlbad) ihr Quellen:
ftudiun unmöglich betrieben haben, fonit hätte fie nicht die Zeit
gehabt, in 36 Jahren ca. 260 Bände meiit hiftoriicher Nomane
zulammenzufcreiben; in guten Jahren hat fie durchichnittlich
8 Bände geliefert.
Schwerlid darf fi eine heutige Nomanfchreiberin eine jo
naive Praris erlauben; um jo mehr bewundere ich die rege
Erfindungsfraft amd fingerfertige Gewandtheit ieler. Nicht
Aller! Gar Mande nimmt fh mehr Zeit und es it dem
fe immer anzumerfen, wenn mehr Neberlegung darauf verwandt
ift. Und wenn es der Dichterin dann aud nicht gelingt, Großes,
Verwimdernswertöes hervorzubringen, jo fühlen wir uns doc von
der Sauberkeit der Form und der Wohlordnung des Inhalts
befriedigt.
Derartige Sorgfalt wurde früher häufiger bemerft bei
Dichterinnen, die weniger jchnell j—hrieben, wie Henriette Paalzon,
Ueber Frauenlitteratur. 567
oder von Natur bevorzugt waren, wie Nanny Lewald, ober einen
Heinen Kreis beherrichten, wie Oktilie Wildermuth.
Was den Inhalt diejer Nomane betrifft, jo it er hödjt
mannigfaltig. Ich beginne mit den Tendenzromanen, deren Inhalt
meift fo gelafzen ift, dafj er Aufichen erregt.
Das war vor 42 Jahren der Fall, als „Eritis sieut Deus“
erichien, ein Roman, der alle Diskretion verlengnete, damit um
jeden Preis die Neligion vor der böfen Philofophie, befonders der
ichwäbiien geichügt werde. Man riet) damals auf hohe und
niedere Perfonen als Verfaifer, bis fih nad) Jahren Elifabeth
Ganz dazu befannte; da fie fpäter Hausmutter einer Bildungs:
anftalt für Keinfinderpflegerinnen in Würtemberg geworden üft,
wird fie hoffentlich jelbjt das bedenkliche Madwert bedauert Haben.
Ms vor 6 Jahren Bertha von Zuttner ihren Appell an
Fürjten und Völker richtete, lächelte man über ben gutherzigen
Einfal, da Europa auf den Vorfchlag einer Frau Hin die Waffen
niederlegen würde. Dod) war an diefer Abfiht weniger aus-
zulegen, als an gewiiien Offenheiten, die gar nicht zur Sade
erforderlich waren.
Wer ih an Verfehltem erbauen will, der nehme das
„Berfehlte Leben” von Hedwig Dohm zur Hand; es ift darin
von einer unglüdlichen Ehe die Rede, einem Thema, das unjere
Dichterinnen — doch nicht fie allein nicht müde werden zu
erörtern, wenn gleid) die Ausficht af Erfolg nicht größer ift, als
wenn man Weltfrieden predigt. Will man die Plänner gefügiger,
die Frauen vorfichtiger machen, jo muß man wenigtens über
etwas mehr EihiE und Piychologie verfügen.
Vollserzählungen von Frauen giebt &8 eine Menge; ob fie
ihrer Abficht entiprechen, Tann ich nicht beurtheilen. Die Arbeiter:
romane von Frau Bertha Neumann find gewiß cbenjo gut
Ausdrüdlid) für arme Dienftmädden jchreibt Nojalie
Euife Mühlbach hat ıms gelehrt, wie gefährlich der hifterifche
Noman werden fann; man findet fo fer das Ende und das
mu die Mitte bühen. Doc) hat das abjehredende Beifpiel
wohlthätig gewirkt; es ift beifer geworden. Im unferer Nähe
508 Ueber Frauenlitteratur.
entftand 5. B. „Die Abtiffin von Herford“ von Frau du Feaur;
Yuife von Frangeis hat mit der „legten Nedenburgerin“ viele
Freunde gewonne
Der Hiftoriiche Noman foll nur über die Zeit Dinwegtäuicen;
aud) in entfernte Näume, aljo gleichfalls in eine fremde Welt
veregen uns die Japanifchen Nomane und Novellen von Emma
Branns, Ergebnifie ihrer Neifeerfahrungen; rieda von Bülow
verwerthet ihre Nenntniß von Cftafrifa zu dort Ipielenden Geihichten;
„Die Miftonsbraut” von Helene Wachsmuth führt uns in die
weitabgelegene Einöde einer Herrnhuter Kolonie Grönlands.
Höchjt befiebt und gejucht fcheint der Zalonroman zu fein.
Er bietet Gelegenheit zu den augenfälligiten Kontraften: wirkliche
und gemachte Vornehmbeit, hohe Bildung und fade Blafirtbeit,
Shrenhaftigleit und Intrigne, vor Allem glänzendes Elend und
elender Glanz, das find Motive, die Cinem in diefer Ephäre
von felbit in den Schoß fallen. Und mit behaglichem Wohl
gefallen fpiegelt fie) dann das bürgerliche Gemüth in diefer Welt
des Scheins md denft im itllen: wir Wilde find doch im
Ganzen beffere Denfcen, als die Helden Cfiip Schubins.
Ueber mehr Phantafie, wärmere Cintleidung und eine
reinere, trefendere Sprache verfügen Mite Nremmik und Natalı
von Gichjtruth. Den Yurus der Wagnericwärmerei erlauben fh
die „Zonntagefinder“ von Frau von Bonin (Hans Werder); die
Verfafferin entuliasmirt id aber darin nicht nur für den
Vaireuther Meifter, fondern unnöthiger Weije ad für einige
ihrer eigenen Geichörfe.
Künjtlerromane reizen überhaupt leicht zu außerordentlichen
Anftrengungen; die Nomanfünftler befipen neben dem felbit
verftändlihen Genie meift abnerme Gharaltereigenichaften und
verworrene Begriffe von Necdht und Wücht; daran jcheitern fie
dann häufig und man gönnt ihnen die Nube, zu welder die
Verfafferin fie geleitet. Leider zichen fie nur meift auch Unschuldige
mit in’s Elend.
Dir gefällt „Thalia in dev Sommerfrijche* darım bejjer
als viele andere derartige Nunftwerte, weil Goswina v. Berlepid)
fid) nicht auf Uebertreibungen eingelafien hat.
Jedenfalls treffen «5 diejenigen Frauen glüdlicher, welche
Ueber Frauenlitteratur. 569
fi) weniger einfeitige oder verwidelte Probleme wählen, wären
8 aud) nur einfache Herzensgeihichten, wie fie Bertha Behrens
aus dem Leben ihrer alten Freundin erzählt; es it erfreulich zu
feben, wie weit fie dod) über die unbehitflihe Manier der Marlitt
bhinausgefommen it. Zolden Mittelgutes haben wir eine Fülle.
Einftimmig giebt man den Nomanen und Erzählungen der
Varonin Ebner von Ejchenbah den Vorzug, worin gebildete
Sprade und gebiegener Inhalt fid) vereinigen. Das Gritere
trifft aud) zu für die Erzählungen von Helene Böhlau; an ihrem
Nompofitionstafent ließe ih Manches ausfegen, nad) mehr vielleicht
an ihren ethiüden Grundjägen.
In den Namen Novelle Hleidet fih jo Vericiedenartiges,
daf; man «8 untereinander faum vergleichen fann. Güödele’s *)
hartes Urtheil über die Novelle und ihre Gefährdung der wirklichen
Dichtkunft fheint nicht ganz unbegründet: „je mehr man fid) in
die Täufhung hineingewähnte, dab die Novelle Kraft und Nam
für alle Arten poetiiher Elemente habe, deito weiter wurde der
Kreis der poetiichen Glemente gezogen, jo dab zwijchen der
gewöhnlichen Altäglichleit und dem poetifchen Vollgehalt des
gebens faum nod) eine Grenze fühlbar bleibt. Man findet die
Novellenform bequem für Alles und Allen ift fie bequem; die
Dichtung wird zur Proja herabgezogen. Das geiftvolle Gerede
beginnt die geiftwolle Vehandlung zu verdrängen und jo bezeichnet
die Selbftändigfeit der neuen Novelle vielmehr eine Stufe des
Verfalles der Borfie, als eine neue förderliche Entwicklung derjelben“.
Natürlich trifft diefer Vorwurf nicht foldhe Kabinetftüde,
wie Paul Heyle fie gemalt hat, wohl aber eine große Anzahl
von geringeren Novellen, befonders md) jolde von Frauen. Und
doc) bejtechen Diele Genrebilder, wenn fie nur anmuthig eingefleidet
find; wenn fie aud) feinen großen poetifhen Genuß gewähren, jo
unterhalten ie wenigiteng für den Augenblid. Yon diefer lebens:
würdigen Art find die „Novellen“ der Frau von Bülow (Hans
Arnold), mehr noch die von Helene Stöft. Carmen Sylva verleiht
ihren novelfiftiichen Steinigfeiten zuweilen ein vomantiüches Parfüm,
an das wir kaum nad) gewöhnt find. f
*) Grundriß III, ©. 19.
570 Neber Frauenlitteratur.
Alles in Allem hat die Technik der Frauen auf dem Gebiete
der Profaerzählung ich derart vervollfommnet, dal; man Hinter jo
mandiem männlichen Penbonym faum eine Frau vermuthet; ja
ich glaube diefem Gebiete der weiblichen Dichtung ein nad)
günftigeres Prognoftifon jtellen zu dürfen alo dem dramatifchen.
Weniger will Frauen die Nompofition von Märden gelingen;
die meiften find erfünfteft und nur wenige haben fid) fo bewährt
wie die Jrrlichter von Marie Peterfen. Mit vielen Märchen dat
8 diejelbe VBewandtniß wie mit Jo mandıem Liede: was für den
Hausgebrauc genügte, zerrinnt vor der Nritif in Nichts.
Mit Freuden gehe id) zu den neugewonnenen Provinzen
der Jugendlitteratur, des Haushalts, der Kockunit, der Mode,
der Handarbeiten und ähnlicher Veihäftigungen über; denn bier
find Frauen vollfommen in ihrem Clement und haben bisher
Vorzüglicies gefeiftet. Ueberdies fällt Hier die Ronkurrenz mit
den Männern größtentheils weg und cs ift mur in der Ordnung,
daf diejelbe überboten wird.
Unfere Kinder: und Jugendichriften frehen denen Englands
nur in der Quantität nad: id brauche mu an die Namen
Thefla von Gumpert, Johanna Spyri, Nlementine Beyrich, ara
stron, Helene StÖH zu erinnern; wie mandes Kind, wie mander
Vadjüch hat fi an deren Dichtungen über die Jahre der Unreife
Hinweggeholfen und in den Vertand Dineingelefen. Agnes Willms
und ihre Schweiter Adelgeid fegen die beicheidene Thätigfeit ihrer
Mutter Ottilie Wildermuth auf derjelden gemüthlichen Bahn fort.
Die beliebtefte von Allen nenne ich zulegt: Auerdiek, die
Dichterin von „Rarl und Marie.
Ueber die Vorzüge der vericiedenen Haushaltunge: und
Nohbücher find natürlich) die amwefenden Damen weit bei
orientirt als Unfereins. Ich bemerfe nur, das Henriette Tavidis
bie Bahn gebroden.. hat und dah co für jede Yimmelsgegend
eigene Anleitungen giebt, die fich den provinziellen Bedingungen
anpafien. So bat denn aljo Mitau und Dorpat, Niga und
Petersburg je ein eigenes Nochbud) oder wohl aud) deven zwei
hervorgebracht.
Ganz gleiche Autorität Fönnen Frauen in Fragen der Mode
Ueber Frauenlitteratur. 571
und der weiblichen Handarbeiten beanfpruchen; daffelbe gift für
die Belehrung über fonventionelles VBetragen.
WÜt du, was fi) gejiemt, genau erfahren,
o frage mr bei edlen Frauen an,
die befonders ihren Töchtern manchen guten Rath zu geben willen.
Das „Tajchenbud) des guten Tons für die weibliche Jugend“
von Sophie Chrift Hat während eines Jahres drei Auflagen erfebt.
„Der Beruf der Jungfran“ von Henriette Davidis wird Die
Verfafferin noch Lange überleben. Yehnlichen Zweden dienen:
„Die Sitten der guten Gejellihaft“ von Marie Nalm, „Der gute
Ton“ von Hermine Schramm; für Oefterreicherinnen fcheint: „Der
vollendete Damencic” von Marianne von Auenhammer berechnet;
und „Die elegante Jausfrau“, fowie „Das feine Dienftmädchen“
von a von der Fütt tragen ohne Zweifel dazu bei, Mihhelligfeiten
zwifchen den beiden Parteien vorzubeugen.
Auf cbenfo wohlbefanntem Terrain bewegen fih hugienifche
Anmweilungen, wie „Das Normaltind“ von Anna Wons, „Mutter:
pilicht und Ninderpflege” von Aolfine Breithaupt, das „Buch, der
richtigen Ernährung Gefunder und Stranfer” von Marie Ernit
Ungern dagegen beiehäftigen fih Damen mit der
fhaftlichen Erfenntnih; der Natur, *) die doch im Laufe des Jahres
jo mannigfaltig zu ihnen fpricht und für deren Schönheit fie
offenen Sinn haben. Auher einigen botanifchen Cifays und einen
zoologiichen Verfuche wei; id) nur das befannte „Naturforicherichiii”
von Sophie Wörishöffer namhaft zu machen.
Evenfo wenig fühlen Frauen fi in der Wettgeicichte
heimifch; der verichwindend fleinen Zahl hierher gehöriger Werte
fteht eine ftattliche biographiiche Bibliothek gegenüber. Werthvoll
Find die Studien dev Lady Vlennerhafet, z.B. Madame de Sta,
Talleyrand; ferner die beiden Lebensbilder „Otto Magnus von
Stadelberg” und „Carmen Splva”, die wir der Baronejie Natalie
Stadelberg verdanfen; Fehr aniprechend find die „Rrauenbilder”
von Anna Fremd; mit Wärme jdilvert die Frftin Eleonore von
Neuß den Eonfervativen Yorkümpfer Adolf von Tadden-Triglaff
dem hat in ‚Freiburg die Promotion der Gräfin Maria Linden
auf Grad einer dotaniicen Abhandlung katigsfunden.
572 Meber Frauenlitteratur.
und die Gräfin Friederife Neden; Elpis Melena (Eiperance von
Echwarp) hat Garibaldi zweimal gerettet, in der Gefangenidaft
gepflegt, den Verjtorbenen aber in mehreren Bänden von „lit
theitungen“ verherrlicht.
Auch Lilly von Aretichmann hat fih durch die Denk:
würbigfeiten der Baronin Guftebt (Xenny von Pappenheim) auf's
DVejte empfohlen, befonders der Hocthe-Hemeinde.
Merkwürdiger Meife find aber Celbftbiographien von Damen
nicht häufig, fei e8 von Yebensabjchnitten, wie die „Vemoiren
einer Diafoniffin" von Julie von Wöllworth, fei 5 des ganzen
Lebenslaufs, wie die „Unpolitifhen Grinnerungen einer alten
Fran“ von Thefla von Humpert.
Wo Frauen ihr feines Veobachtungstalent geltend machen
fönnen, auf Neifen fammeln fie gern Stoff zu Briefen und Tage:
büchern. „Entdeden fie gleich nichts Nenes, fo willen fie doc dem
Belannten Intereifantes abzufchen. Die Neifelitteratur ift fo recht
aus der fubjeftiven Anfhamıng, der Stimmung des Augenblids
hervorgegangen, der Frauen gern fid) hingeben. Die frembe
Umgebung, der Wecjjel bunter Vilder und felbjt unlicbjame
Weberrafcjungen reizen den Blick und befeben die Feder. Fanny
Lewald, Elpis Melena, Ferdinande von Bradel, Helene Böhlau,
die Prinzeifin Therefe von Yaiern, Martha Nmbauer Können als
Mufter gelten neben vielen Anderen.
Toätiges Interefe für Fitteratur: und Rulturgeicichte haben
Frauen erjt jeit den legten Dezennien bewicfen, ich Fann cs daher
bei diefer Notiz bewenden lajfen.
Aelter ift die mufifalische Literatur, denn die mufifaliichen
Märden von Elife Polfo und die mufialiichen Charakterföpfe
von Marie Lipfins (Ya Mara) gehören einer früheren Epoche an;
feitdem beichäftigt mufifalishe und litterarijche Kritit gar mande
Mitarbeiterin an Zeitichriften; der Nunttritit fühlt fi fogar die
erjt zwanzigjährige Ella von Hutten gewadjen.
Da Franen die Redaktion von Zeitihriften Leiten, Habe id)
fchon das vorige Dial angedeutet; cs find nicht mur Hausfrauen
zeitungen oder Jugendblätter, -— diele find freifich in der Mehrzahl
nein aud) Litterarifche, pädagogiiche und foziale darunter. Wie
Ueber Frauenlitteratur. 573
energifch die Lepteren der Männerwelt zu Leibe gehen, wird Tpäter
zu erwähnen fein,
Frommen Zinn wird man bei rauen verbältniimähig
häufiger finden als bei Männern; der Frömmigfeit, der Religion
gewidmete Schriften von Seanenhand wenige, am wenigiten von
den frauen, welde nad Emanzipation ringen. Eher fünnen
gewifte Voltoerzäblungen und mande populäre Unternehmungen
Dierher gerechnet: werden.
Ganz felten mag Frauen das ernfte Studium der Pilofophie
äufagen, wie der vorgenannten Emilie Wepler; die drei *) Doftoren
der Phitofophie weiblichen Gefchlechts, die mir befannt find, dürften
fih eines folhen faum rühmen fönnen. Sufanne Aubinftein
wenigjtens hat fich zuviel zugetraut, als fie über „Zelbiterlöfung“,
„Schidjalsbegriff“ 2c. fchrieb und ift einer vernichtenden Kritif
anheimgefallen. Mehr Werth haben vielleicht die Unterfuchungen
von Helene Drusfowip über Zeitfragen. Ueber Fräulein Ella
Mensch zu wetheiten fei dem Schluh vorbehalten.
Es wird in der That die höchite Zeit, dab ich fchliehe; fo
jeher ich mich beftrebte in gedrängten Worten von der Aus:
dehnung der Franenlitteratur eine Vorftellung zu geben, jo wenig
babe ich Ahnen und mir genug thun fönnen. a ich muß fürchten,
daf; die allzugroße Fülle des Materials auf engem Naume der
Neberfichtlichteit geichndet hat. Zu diefer Beforgniß gefellt ich
die Bangigteit, wenn ic num die delifatefte aller Fragen, die
Franenfenge berühren mufi.
Schon vor 100 ahren hat Mary Wollitonecraft die Frauen
rechte in Aniprucd) genommen; aber ihre Stimme verhallte im
Getöfe der Nevolution, die ja ohnehin die gefamimten Penfchen-
tedhte proflamirte und damit auch die rauen entfeifel
Indeffen rubhte feitden die Yerregung weder in England
noch in Deutjchland gänzlich. Endlich fand die unklare BYemühung
einen beredten Anwalt in John Etuart Dill, der 1869 in feiner
„Sörigfeit der Kran“ die Forderungen etwa zu folgenden Punkten
formulirte: 4. Befreiung der Frauen von dev Unterdrücung duch)
E
*) Eine wirkliche Gelehrie, die Gräfin Cartai-Yovatelli it von der
Aniverfität Halle zum Ehrendotior ernanıt worden.
574 Ueber Frauenlitteratur.
die Männer. 2. Verforgung lediger Frauen. 3. Zulafung der
Frauen zum Univerfitätsftuwdinn. 4. Lösbarfeit der Ehe. 5.
Heichheit der politischen Nedhte.
Das find Wünfe von fchr verfdiedener Berechtigung; aber
fie wurden von freiheitsdurfiigen Frauen, die fih allzuichr
jurücgefeßt fanden, als gleichwertbig hingenommen und (ebhaft
verfochten.
Schön vor Stuart Mill Hatte Luife Otto-Peters den „AL
gemeinen beutichen Frauenverein“ und ihr Blatt „Neue Bahnen“
gegründet, „das Necht der Frauen auf Erwerb“ geltend gemacht;
mn vedeten und fehrieben Frauen Über ihre Nechte weit mehr,
als fie verantworten fonnten. Viele ereiferten fid) für den Umfturz
des DVeftehenden und erwedten aud bei Jhresgleichen ein leicht
begreifliches Unbehagen. Cs gab feine böfe Abjicht, feine jchnöde
Willtür, die man den Männern jeit Adam nicht nadjgefagt oder
wenigitens zugetraut hätte.
Verftändige Leute Fonnten diefes Schelten und Heifchen mur
mit Kopfichütteln und Lächeln beantworten.
Bald beruhigte fi) denn auch der Aufruhr wieder etwas
und hat fih in Deutihland vielfach in fegensreide Strömungen
ableiten lafen, da man fiatt des fernliegenden Zufunfteideals
eine Thätigfeit gründete, zu welder die Gegenwart gebieterifch
aufrief!
Lina Morgenftern hat für die Berliner Voltsfüchen gearbeitet
und geichrieben; Jenny Hirih hat über die 25-jährige Thätigfeit
des Lette-Vereins berichtet, der —— auch ichen vor Stuart Dill
- zur Förderung der Erwerbsfähigfeit des weiblichen Geihlehts
in’s Leben gerufen war. Marie Locper:Houifelle Hat in der
jungen Zeitfehrift „Die rau im gemeinnügigen Leben“ bie
Nefultate des Badiicen Frauenvereins mitgetheilt, Helene Lange
hat Realkurje für Mädchen eröffnet.
Frauen haben alio Punkt 2 zu verwirklichen gelucht, haben
verwahrlofter Kinder fih angenommen, fchwädjlichen Mädchen in
Ferienfolonien Gelegenheit gegeben fich zu erholen, Mädchenhorte
für Erziehung und Unterricht gegründet, die Veihäftigungsfreif
der Frauen erweitert, die Verwendung der Frauenarbeit befü
wortet, furz in jeder Weile zu helfen gefucht jolden, die ich
Ueber Frauenlitteratur. 575
bisher nicht hatten helfen fönnen. Aud) verbanden fie fih) mit
der inneren Miffion und unternahmen es, Qerirrte zu retten,
Gefunfene heraufzugiehen. So lenften die Gemäßigten und
Praftiichen auf Bahnen ein, wo fie mit den Männern Hand in
Hand gehen fonnten.
Dody würde man irren, wollte man glauben, der Sturm
fei vorüber, das Gewitter habe fi verzogen. Luife Otto-Peters,
Luife Büchner, Hedivig Dohm haben Geifter heraufbeihworen, bie
fich nicht fo leicht bannen Iaffen.
Wie diefe Schwärmerinnen fid) bie anderen Punkte der
Frauenfrage zu erfüllen gebenfen, davon nur zivei Proben neueften
Datums, welche beweifen, da die eleftrifhe Spannung es an
Big und Donner nod) nicht fehlen läht.
Im ihrem jüngft erfhienenen „Entihronten Amor“ läßt
Fräulein Lifa Weile (Lih-VBlanc) Dlinerva zu Amor jpreden:
„Das Weib war Sklavin, als der Vlann dich zum Gott feiner
Liebe erhob —- die jelbjt denfenden, gemüthstiefen Zukunftsfrauen
werden dich entihronen. Sie wollen treue, geadhtete Aameraben,
die ebenbürtigen Gefährten des erwählten Geliebten fein; jehende,
tieffittlich)e und geiftig hohe Yiebe wird beide Beichlechter verbinden
und eine eblere Verförperung als du wird ihre beifere Liebe
ibealifiren.”
Das Elingt nicht jehr fhmeichelhaft für die bisherigen rauen;
überdies was hat Dinerva je mit Amor für Erfahrungen gemacht?
Hätte berfelbe enblid) nicht erwidern Lönnen, ex heihe eigentlid)
Eros und ihm jei hen vor mehr als 2000 Jahren in Platos
Gafımahl bie von Fräulein Weife angewiefene Holle von Sofrates
zugeteilt worden?
Fräufein Ella Menjc*) aber Hat, eine neue Deborad), das
ftolge Berwußtfein, „bereits im Geifte auftauchen“ zu fehen: das
„Neuland“, das Eldorado der Freiheit, aus dem jedes Vorurtheil
Ranaans ftreng vertilgt üft. Zeit die Freilanderpedition des Dr.
Herpla an ihrer eigenen Unmöglichkeit fo Fläglid geicheitert ift,
muß man für foldhe Entdedungsreifen ernftlich bejorgt fein. Und
auf wie Hohen Stelzen geht Fräulein E. Menich einher!
*) €. Menich, Neuland. Stuttgart 1892,
576 Ueber Frauenlitteratur.
„Nachdem *) die Vernichtungsichlaht ausgetobt, theifen fid,
die Wolfen, aus den wogenden Nebelmafjen fteigt, von der Sonne
gefüßt, die neue Erde hervor.” Diefe Manier nennt man „die
Moderne.”
Ic will nur noch verrathen, daß das immer noch die alte
Sonne Homers fein foll — Fräulein E. Menfh meint freilich,
der befannte Pentameter **) am Schluß des „Spaziergangs“ fei
von Hölderlin — daß aber auf der neuen Erde ein Pantheon
fih erheben wird, in welchem neue Götter auf höheren Roftamenten
ftehen; Heine führt den Reigen — ein fonderbarer Jupiter — e8
folgen bien, Björnfon, Zola, Giacofa, Doftojewsli, Sudermann
u. 4; felbjt Tovote wird zugelaflen. Unerflärlich bleibt es, wie
Carmen Splva in diefe Gefellichaft geräth; diefe Königin wird
&, fürchte ich, ablehnen als einziges weibliches Welen in biefen
lymp zu berrichen.
Doch ich will nicht länger bei dem müffigen Gefhwäp des
munberlihen Buches verweilen, will nicht mit einem Mißklang
endigen. Das wäre aber der Fall, wenn id) mit Iphigenie fprädje:
Der Frauen Schicjal ift beflagenswerth.
Aud) hat eine Frau vor folchen Verirrungen bereits gewarnt;
die Nigenferin Sara Mohr (Marholm)***) weilt an febenden
Beilpielen nad, daf zwei Nünftlerinnen, drei Dichterinnen und
eine Profefforin der Mathematit trog aller Adeen, troß aller
Erfolge kranken, theilweile zu Grunde geben an dem inneren
Ziwiefpalt, der durch die Frauenfrage in die Welt gefommen ift.
Wie auf einen wüften Traum wird die fnftige Zeit auf foldhe
felbftgeichaffene Feiden zurücchauen.
48, heift 8: „Die Sonne Homers, ficht,
fie uchtet auch uns!” „ewiß, wir haben cin Recht, dieje Worte dem Dichter
d65 „Öuperion” machjuipreihen.” — Hat die Dame wirklich Schiller für den
Verfaffer des „Hoperion“ gehalten? Tann hätte vielleicht Hölderlin dir „ötter
Griechenlands” gedichtei? Webrigens fagt Schiller „lächelt“, nicht „lenchtet".
#**) Sara Marholm, Das Yu) der Aranen, 1805. — As rau hatte
fie das volle Recht, auf das Wein um das Yedürfnift ihres Gejchlehts
nagpbrüdlich hingumeilen und in der Gauptfache hat fie chen Naht. Leider
beeimträdpigt fie das Durd) fichtliche Ueberkchägung Ährer Veldinnen, durd)
fprachliche Witkfür und ftliftiige Manier.
*) €. Menkc, Neuland, ©. 3
*" €. Menich, Neuland,
Ueber Fratenfitteratur. 577
Mas am Streben der Frauen unferer Tage naturgemäfi
und. was erreichbar ift, läßt fi) am beften erkennen, wenn man
in die Vergangenheit zurückbfiedt und fi) vergegenwärtigt, was
einftmals Frauen mit weniger Haft und mehr Glüc gelungen it.
Gerade in demfelben Maße werden auch die fommenden
Jahrhunderte ihmen gewähren, was fie verbient haben: Huldigung
jeder Größe und Schönheit, Liebe jeder Yiebenswürdigfeit,
Dankbarkeit jedem Berdienfte, Erfolg jeder redlichen BYemühung.
—e—-
gu
Beiträge zur Geihihte der Unterwerfung Anrlands,
vornehmlich nad den Akten des preufifchen Staatsarhios.
(Fortfegung.)
Beim jungen Hofe herriche die größte Uneinigfeit trog des Erils
ber Frau von Benfendorff. Der Großfürjt werde immer bitterer und
heftiger, Niemand theife jein Vertrauen in Fräulein Nefidon, von der
man fage, daß fie ihn den Ausländern zu entfremden juche. Er habe
feine ernfle Veihäftigung, (ebe mähig, feine Gefundheit habe fich
verfhleghtert. Die Politif der Raiferin gehe dahin, ihren früheren
Einfluß auf ihre Nachbarn zurüczugewinnen, befonders auf Polen.
Dort werde fie erjt durd Intriguen zu wirten fuhen, aber wenn
diefe fehlichlagen, glaube man, daß fie ihre Pläne dennad) weiter
führen werde. Cie hoffe die Polen von den anderen Höfen
abzufenfen, wolle nur gegen einige Artifel der Konftitution vor-
geben. Eine Nonföberation foll gebildet werden, die Nufland
unterftügen würde. Man fei in Petersburg überzeugt, dab die
Kaiferin fid) in die franzöfiihen Händel niemals thätig einmiiden
werde. Die deutichen Mächte wünjhe fie dafür lebhaft bort zu
beichäftigen um die Hände freier zu haben. Die Gefinnung der
Raiferin gegen Preußen jei na allen Berichten nicht fehr
aufrictig; in der Annäherung dev beiden Höfe erblide man in
Petersburg eine Finte der Naiferin, um den König von einer
Unterftügung der Polen abzuziehen. Das Gerücht werde
gefliffentfich in Petereburg verbreitet, als werde der König ber
Kaiferin in Polen freie Hand (ajjen aus eigenfüchtigen Abfichten;
Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands. 579
man hoffe dadurd die Polen von Preußen abzuziehen. Das
Vorftehende habe Brinden an 9. geihrieben. Die neuen Unter:
nehmungen der Kaiferin rufen in Nußland Unmillen hervor,
denn die Finanzen jeien jdplecht, Gold: und Silbergeld jehe man
fait gar nicht mehr.
N, 20. Dai. Die Naiferin jei nun fejt entihlofien, bis
zum 11.22. Mai nöthigenfals ihre Truppen in Polen einrüden
zu laffen und in einem Vlanifeit zu erklären, dafs fie die Konföbericten
unterftügen werde. Das werde unter Vlitwilfen von Preußen und
des Königs von Ungarn geichehen, welche Höfe über eine gemeinfame
Bafis für Behandlung der polnischen Gefchäfte unterhandeln. Im
Haag geht die Heirathsangelegenheit fehr gut vorwärts; man hat
vorläufig and auf die Meile des Prinzen nad) Nurland fofort
verzichtet.
27.3, 13. Mai. Brinfen erzählte 9. über feine Mifften
Folgendes: Dftermann habe ihm nicht gut empfangen; er babe
erffärt, die Naiferin fei mit dem Herzog äuferft unzufrieben und
er felbft ihm and nicht freundlich gefinnt. Die Gründe jeien:
daß der Herzog andere Stügen als Nufland aufgefucht habe;
daf er übernommen habe, die preuiichen Truppen zu verproviantiven,
wenn fie gegen Hufland marfchiren würden; daß er fid) in dem
Streit mit der Nitterfchaft nicht an Nufland, fondern an ben
polniichen Reichstag gewandt habe. Er rathe dem Herzog, in der
Frage der Verpachtungen die Nitterichaft zufrieden zu Stellen.
Die Kaiferin äuferte fich fpit über die Neifen der Herzogin nad)
Berlin und Warihau. Bei der Vorftellung des jungen Prinzen
Biron in der Eremitage wandte fie fich zu den Hofleuten mit den
Worten: „Voiei, messieurs, le jene prince Biron et le due
futur de Courlande.“ Man ipriht noch immer von einer
Heirath des Prinzen mit einer Großfürfin. — Dit Nüdmann
herricht noch immer äuferjte Kälte.
28. B, 17: Mai. Der Herzog bat dur Brinfen in
‘Petersburg nad) einem eigenen Agenten juchen lajjen und einen
folchen aud) gefunden.
29. B., 20. Mai. Graf Nomanzew, Sohn des Feld-
maridalls, wird in Kiga erwartet und foll mit 60,000 Mann
adıt Tage fpäter in Polen einrüden.
580 Zur Geidjichte der Unterwerfung Kurlands.
R., 29. Mai. Es fei fein Gcheimniß mehr, dafi die Hufen
in Polen eingerüt find und Bulgafow am 18. dem polnifchen
Reichstag eine Dellaration überjandt hat.
30. 3, 24. Mai. Es foll in der ruffiichen Armee Un-
äufriebenheit hevrichen, die von Dünaburg bis Kiew in Stationen
aufgejtellt jei, und zwar weil fie ftatt Geld nur Rupons befomme,
die Verfufte verurfadhen. Die Nuffen find am in Bolen
eingerüdt.
31.8, 27. Mai. Adam Chartorysfi intriguire in Warichau
gegen den Herzog.
N., 6. Juni. Die Sache des Herzogs fei in MWarfchau zu
feinen Gunften entidieden worden. Cine Kommilfion von 12
Gliedern werde die Frage der Kehngüter unterfuchen. Die Herzogin
und Luchefini beeinfluffen die Wahl ber Glieder biefer Nummillion.
33. 3, 3. Juni. Der Reichstag hat am 26. Mai ein
günftiges Urteil für den Herzog gefällt, bie Konjlitution verworfen,
die ettferfchen Güter dem Herzog gelaffen, aud Würzan. Uebrigens
fei der von dem Reichstag gefällte Sprud) nicht von zweifellofem
Erfolg bei der jegigen Lage der Dinge; ein der Nittericaft fehr
ungünftiger Sprud) werde diefe veranlaffen, unter rufiihen Au:
ipigien fih an einen neuen Neichotag zu wenden. Gefährlich fei
der von bem Könige Staniolaus Augujt in feiner legten Nede
erhobene Anfprud) auf die Hilfe furländifhper Truppen. Der
Herzog müfje juchen, die Nittericjaft durch Nongeifionen zu verföhnen.
R, 14. Juni. Der König giebt den Kath, daf Rurland
die von Nücmann übergebene Note, durch weldhe Aufklärung über
die Haltung Nurlands gefordert und verlangt wird, dab Kurland
fh aller Theilnapme an dem ruffiidh:polnifcen Streit enthalte,
nad Warfcau überjende mit der Erklärung, da wenn Polen
nicht im Stande fei, Aucland gegen Nubland zu hügen, der
Herzog genöthigt fein werde, der ruffiichen Nebermadht nadızugeben.
34. 8, 7. Juni. Der Herzog bitte den König als feine
einzige Stüge in der Welt um Schup. Aus Petersburg fomme
das Gerücht, Prinz Karl habe zu Gunften feines älteften Sohnes
der Nacjfolge entjagt und Nuland werde die Anerkennung des
Prinzen vom nächjten Landtage verlangen.
Zur Gejihichte der Unterwerfung Aurlande. 581
35. 3, 10. Juni. Die Kunde von der Enticheidung des
Neichstages lüht mehr als je das Geichrei fid verbreiten, man
mühe fi in die Arme Nuflands werfen. Die ritterfchaftlichen
Delegivten in Warfhau haben fid) fofort offen nad Petersburg
gewandt mit der Bitte, durch den fünftigen Neichstag den Spruch
des legten Faffiven zu laffen. -—- Zwei ruffiice Negimenter find
in Olay angefommen und follen in Kurland einrücden unter dem
Vorwande, die Grenzen gegen die Polen zu fhügen.
36. 8, 14. Juni. Leptere Nachricht fei verfrüht. In
Livlaud erzählt man, die Kaiferin jei bejonders über die Beftimmung
der Konftitution entrüftet, nach welcher Jeder frei werde, der den
Boden der Nepublif betrete. In den letten Jahren follen daher
zwiichen Riga und Kiew 20,000 Vienjcen nad Polen entwichen
fein. — Die Herzogin jei am 2. Juni von Warfchau abgereift
und gehe über Königabe: Herr von Yatowjfi jei vom Neichstag
zum san fchen en in Witau bejtimmt worden.
. Juni. Die Herzogin ift angefommen. Der
neue polnifche Minher folle darüber waden, daß von feiner
Scite die Interefjen des Sonzeräns verlegt werden. lan fei
am Hofe in Sorge, dah der Hab Yatomjfi's nicht zu Konflitten
mit den Nuffen führe. Frau von Nede habe geihrieben, man
wünfde im Haag, da wenn Wilhelmine von Kurland Einderlos
fterbe, Sagan dem Prinzen riedrid) verbleibe. Das werde aber
der Herzog nie zugeben.
38. 8, 20. Juni. Der Hof ift in großer Verlegenbeit.
Rücdmenn hat erflärt, die Naiferin erwarte, dab der Herzog
die Mittel zum Unterhalt des Prinzen Guflav hergeben werde.
Und man wiile, dab fie diefe Diittel auf 40,000 Nbl. jährlich
angejegt habe.
R, 1. Juli. In Petersburg ift durd) den Gefandten dahin
gewirft worden, daß das Einrücen ruffüicher Truppen in Kurland
abgewandt werde. Wenn man im Yang die Forderung zu bad)
geitellt habe, jo feien anderfeits die Bedingungen, die man von
Seiten Rurlands in Berlin durd) den Grafen Viedem habe ftellen
fafjen derart, dafs fie im Yang nie angenommen werden fönnen; 3 DB.
alleinige Dispofition der Pringeifin über die Paraphernalgüter
u. dergl.
582 Zur Gefchidhte der Unterwerfung Kurlands.
39. B., 24. Juni. Im Adel rührt es fih. Die Herzogin
glaubt, es werde ein Komplot zur Unterwerfung Kurlands unter
Ruhland gefgmiedet. X. will daran midht glauben: e6 würden
fi) faum fo unvernünftige Leute finden und Rußland werde jo
ernfte Verwidelungen f—enen.
40. 3., 28. Juni. Der durd) Brinfen angeworbene herzogliche
Rorrefpondent in Petersburg fchreibe, die Raiferin hege immer
die alte Abneigung gegen Preußen und handele nicht aufrichtig
gegen ben König. Alles ziele daranf ab, Preufien von ben Polen
zu trennen; daher allerlei Verdächtigungen Preußens und
Veripredungen an die Polen: Befreiung des Weichjelpandels,
Nücerwerbung von Weitpreufen. Bei Riga fanmelt fih ein
tuffiiches Korps von 10—15,000 Dann. Eine aus 17 Perjonen
bejtehende Deputation des furiichen Adels habe durh Nüdnann
den Schuß der „deesse tutelaire“ angerufen.
N, 7. Juli. Der König habe Beweife der guten Gefinnung
der Raiferin, welde wahriceinficd bald offenfunbig werden würden.
41. 3, 1. Juli. Der At der adligen Deputation jei eine
Felonie. 9. hat dem Herzog geraten, den Oberhauptmann Sa
zu gewinnen unb durd) ihm zu verbreiten, ba er in der Frage
der Pachten nachgeben werde, wenn die Nabale aufhöre. Cafı jei
ein mittelmäßiger, aber anjtändiger und angefehener Dann.
42.8, 5. Juli, Aus der an Nüdmann übergebenen Schrift
der abligen Deputation und deifen Antwort gehe hervor, dal
Nufland feine Hand im Spiele babe und daß die Sache gegen
den Herzog gemüngt fei. Die Gefahr fei fehr groß und errege
den Diitauer Hof außerordentlich, indem man fürdte, dah Rufland
ihn zu einem von dem Belieben Nußlands biktirten Vergleich
mit der Nitterfchaft zwingen önnte. Nüdmann habe die Annahme
ber ihm vom Herzog zugegangenen Entideidung des polniicen
Neichstages abgelehnt unter dem Worwanbe, dal; er weder polniich
nod lateinifch verfiehe und fie von einem illegalen Neihstag
ausgehe. Die erfolgte Anfunft YBatomfli’s vermehre nod) die
Gefahr. Eine Vereinigung des Adels, zu der fon 63 Perfonen
gehören, habe fih gebildet, um in jedem der vier Areife jührliche
Verfammlungen zur Vebung in Waffen zu veranjtalten. Aus
Zur Gejcjichte der Unterwerfung Kurlande. 583
Petersburg jlimmen bie neueren Nachrichten mit denen bes
Heryogs darin überein, dal; die Kaiferin ein Doppefipiel mit
Preußen fpiele.
R., 16. Juli. Der König habe vorausgefehen, ba Nuhland
die Entjheibung des für illegal erflärten Neidstages nicht
anerfennen werde, aber er Fönne für den Herzog nichts mehr
tun als was er bisher gethan.
43. 9, 8. Juli. Der Herzog bietet Alles auf, um bie
17 Nirchipiele, welde die Note an Nuhland unterichrieben Haben,
zur osfagung davon zu bewegen und bie 7 anderen zu einem
Proteit. Es werde aber Alles nicht Helfen, die Gegner haben zu
großes Gewicht im Lande und drohen fehon mit dem Einrüden
ruffiiher Truppen in die Güter der Anhänger des Herzogs. Co
gehe der Hof einer trüben Zeit entgegen; fein Thron und das in
Rurland befegene Erbe der Pringeifinnen fei fehr bedroht, wenn
nicht eine fremde Macht, befonders Preußen, fid den Rufen
entgegenftelle.
44.8, 12. Juli. Vatowffi hat nad) Warjcau Vorftellungen
gemacht gegen die Forderung des Furländiichen Truppen-Stontingents.
Der Herzog hat dur den Grafen Medem trop der Geheim-
Haltung, die fih 9. auferlegt hat, in Erfahrung gebracht, daß
der König fih durd) Golg in Petersburg für den Herzog verwandt
habe. Aus Petersburg melde man, daß die Kaiferin günjtiger
für Preußen zu denfen beginne. Ihre Gefundheit ei im Abnehmen.
R., 23. Juli. Vatowffi’s Benehmen fei ug und umfichtig.
Man könne fih in Rurland wegen eines Einmarjdes rufiicher
Truppen wohl beruhigen, welcher unwahriceinlich fei.
35. B., 19. Juli. Die Herzogin in MWarihau durd) bie
„enjoleries“ des Nönigs etimas „gätde“, ımd „exaltee* durd)
die dortigen Erfebniffe, habe nad) ihrer Nüdtehr eine Art von
Enthufiosmus für die polnifche Nation gezeigt; jegt fange fie an,
wieder vernünftiger ju werden.
46. 8, 26. Juli. Der Herzog habe den Brief des Königs
mit großer Freude empfangen, worin ihm die Intervention für
ihn verjproden wurde. — Nüdmann hat bie Forderung einer
Penfion für den Prinzen Guftav erneuert. ©. glaubt einige
euere Anzeichen dafür zu haben, dab; Rußland wirflid (wie der
584 Zur Geidichte der Unterwerfung Hurlands.
ig immer behauptet) aufrichtig gegen Preufien handele. Der
Rönig von Polen fheine dem Drud nachgeben zu wollen.
47. 9,, 2. Aug. Die Yage des Herzogs verichlimmere fid)
täglich. Nücmann hat focben dem Herzog eine Note feines Hofes
vorgelefen, darin Jeder zum Nebellen gegen feinen Soujerän
erklärt wird, der die „gefährliche” Entfheidung des Neichstages
für rechtsfräftig anerfenne. Die Enticjeidung fei dur) Intriguen
und Beltehung zu Stande gebracht und die Kaiferin werde nicht
dulden, da der Adel unterdrüdt werde. Auf die Frage des
Herzogs, worin die Unterdrüdung bejtehe, habe Nüdmann die
Adyjeln gezudt. Nücmann hepe feinen Hof gegen den furländiichen
auf, er Habe ned) jüngit von der oppofitionellen Nabale 2500
Dufaten befommen. Die legtere fhüre und Lärme, während im
Xande eigentlich die Entf—eidung des Keichstages für im Ganzen
billig und annehmbar angefehen werde. 9. bat dem Herzog
gerathen, einen Vertrauten nach Petersburg zu fenden, der feine
Sache dort vertreten und die Abneigung Natharinas bejeitigen
tönne. Gr bittet um Juftruktionen an Oolß in gleichem Sinne.
— Die Notififation über den Ausbruch des Nrieges gegen
Frankreich habe er erhalten, jowie ein Exemplar des „Expose
des raisons qui vous ont determine, Sire, & prendre
armes contre la Rı dem Herzog übergeben.
R, 13. Ag. Billige den Nath 9.6, den er dem Kerzoge
gegeben, tehint aber ab, Golg für den Herzog zu inftruiren.
Katharina werde fi cher erreichen lajjen, wenn der Herzog fi
offen in ihre Arme werfe.
48.8, 5. Aug. Rücdmann Hat durch Stafetten alle Gegner
des Her; nad) Dlitan berufen; man glaube, der Yandlag werde
unter ruffiihen YAnfpizien wieder zufammen treten. Vatowfli
fürdte einen Gewaltjtreih Mußlands, zu dem der Landes:
bevollmächtigte Virbad) fih hergeben Lönnte, um Batowjfi aus
Mitau zu vertreiben. ©. habe, um den Verdacht gegen feinen
Verkehr mit dem Hofe zu beihwichtigen, fi) für einige Wochen
auf das Gut feines Schwiegervaters, an der Straße nad Memel
gelegen, begeben. Die Prinzeffin art Vivon ijt nad) Petersburg
dund) Mitau gereift,
49. 3, 9. Aug. Der Landesbevollmägtigte Mixbad it
Zur Geidichte der Unterwerfung Kurlands. 585
von Rüdmann aufgefordert worden, von Yatowffi zu verlangen,
daß er das Land verlafie. Mirbad) wendet ein, dab ihm das
nicht zuitehe. Hierauf entgegnete Nücmann, dafj nachdem bie
Stände die Intervention Nußlands angerufen, fie den Vorichriften
der Naiferin gehorhen müßten. Zulegt habe man fidh dahin
geeinigt, dab Mlirbad) einen Wroteit gegen den Aufenthalt
Vatowjti's bei der Herzoglichen Kanzlei niederlegen folle, in dem
der Herzog aufgefordert werde, Batowli zur Abreife zu bewegen,
da fein Verweilen gegen die Grundgejege des Yandes veritoße.
Der Herzog hat darauf geantwortet, dab er jept nichts ihun
fönne, weil nur ein Glied der Negierung amweiend fei. Die
anderen find nämlic) fortgereift aus Furt, zu Schritten genöthigt
zu werden, die Nußland mihfallen fönnten. Darauf dichte
NRüdmann jeinen Sekretär zu Vatowjli mit der Forderung, er
möge, um Unannehmlichfeiten zu vermeiden, abreifen. Daranf
verlieh Batowffi Diitau und lieh von Doblen aus 9. um Kath
fragen, was er tum folle. 9. vie) ihm, Nurland zu verlaflen,
da er in Doblen ebenfo wenig fiher jei vor einer Gefangennahme
umd Auslieferung an einen polnicen General der Nonföderation,
als in Dlitan. Batowjli reifte nun nad Wiemel weiter. —
Der fogenannte Landtag habe bisher jeine Sigungen nicht wieder
begonnen, fonferive täglidh mit Nüchmann, der eine empörende
Verachtumg gegen den Hof zur Schau trage. Howen habe mert-
würbiger Weife abgelehnt, den Nufe Nüdmanı’s zu folgen und
fahre unter der Hand fort, Neigung für eine Annäherung an den
Hof zu jeigen.
» 20. Aug. 9. Haltung gegenüber Batowili wird
gebilligt. — An Stelle Luchefini’s fei Buhholg nad Waridau
ernannt.
50. 3, 12. Aug. Der Herzog Hat 9. einen Theil der
ihm von Nücdmann vorgelefenen Depeide verihwiegen. Won
anderer Eeite hat 9. erfahren, es fei darin ausgeiproden, daß
die Raiferin „die Undantbarfeit des Herzogs verachte, dab fie
aber bie Kühnheit, eine fremde Stüge gefucht zu haben, zu
beiteafen willen werde”. Es jei um fo nothwendiger, daß ein
Vertreter nad) Petersburg gehe, um die Vorurtheile zu zeritreuen.
Durcy Vrinfen erfährt X. Folgendes: der Herzog zahlte jahrelang
586 Zur Gedichte der Unterwerfung Nurlands.
dem Grafen Velborodfo eine Penfion, hat aber plöglid die
Zahlung eingeftellt. Dadurd; habe ex fih einen gefährlichen Feind
gemacht, um fo mehr als Vejborodfo unter dem Einfluß des
Fürften Woronzow ftehe, zwiihen dem und dem Derzog ein alter
Haß beftehe. Rüdmann beobachtet gegen 9. nicht die Regeln
der Höflichkeit; auf die Ueberfendung des Königlichen Erpoies über
bie Kriegserflärung habe er garnicht geantwortet.
51. B., 16. Aug. Batowffi ijt nicht abgereüt, jondern
auf einem Gute bei Würzan. — Nuffiihe Truppen marichiren
dur) Kurland nad) Yittauen. In Petersburg jprede man von
einer Heirath zwiichen dem Prinzen Guftav und einer Groffürjtin,
fowie davon, daß der Herzog zu Gunften jeines Neffen auf
Kurland verzichten jolle.
NR, 27. Aug. Batowifi's Verbleiben fei unflug; er werde
indeflen doch abgereift fein, da ihn der Nönig von Polen abberufen
habe. Der König glaube nicht an die Mihheivath mit Guflav
Viron.
52. ®, 19. Aug. Generalmajor Budberg, Gonvernenv
Guftav Biron’s, jei Mittwoch angefommen. Er habe ohne alle
Beglaubigung oder Brief, mur auf feinen Nang geftübt fich beim
Herzog vorgeftellt und gefragt, was derielbe für feinen Neffen zu
tun gedenfe. Er weigerte fi) über irgend welche Einwände des
Herzogs zu verhandeln, fondern habe bLos die Intentionen der
Raiferin dem Herzog vorzulegen, die er als freund anzunehmen
rathe. Der Herzog hat 6000 Thl. Ab. jährlid) vorgeichlagen,
Yudberg hat 12,000 Dufaten verlangt, fowie fategorijche Antwort
im Laufe des Tages. Mit Mühe Hat der Herzog 24 Stunden
Aufihub erhaften und 9. um Nath gefragt. Dieiem Rath gemäh
hat der Herzog geantwortet, er jei bereit, dem Wunide der
Raiferin nachzutommen und werde fofort einen Vertrauten nad)
Petersburg fenden, um die Eadye zu regeln. Yun hoffe der
Herzog, dal der König ihm in Petersburg unterjtügen werde in
dem Wunfche, dal; damit die Anfprüche des jüngeren Viron’ichen
Bweiges abgethan feien.
53. 3, 25. Aug. Die hauptfählichen Anjchuldigungen
Rußlands feien: dah Nurland nad) 1783 anderen als ruffiichen
Schup gelucht habe; da es in dem Streit mit dem Adel die
Zur Geihichte der Unterwerfung Aurlanbe. 587
Mebintion Ruhlands abgelehnt habe (während hierzu dod) aller
Grund vorlag, da Meftmacher und Nüdmann die hauptjächlicen
Schürer der Zwietradht waren); daB ia leten Jahre nahe der
preußiichen Grenze Korn- und Fourage-Vlagazine angelegt worden
feien und Gefälle der herzogliden Güter in Semgallen dort auf
gefpeichert wurden jtatt nad) Niga geführt zu werden, mo fie
nad der Konvention von 1783 allein verfauft werden burften.
Der Herzog fehe, nahdem der Songerän zerichmettert worden,
nur nod) Rettung in dem Schuge des Nönigs. Alle Unterrwürfigfeit
gegen Nuhland werde nicht helfen, wenn nicht höhere Ermägungen
auf die Raiferin wirkten. Der König meine, feine Intervention
in Petersburg werde mehr fhaben als nüßen. D. erlaube fich
eine Bemerkung: Wenn bie Kaiferin aufeichtig eine Annäherung
und ein vertrauensvolles Werhältnif zu Preußen wolle, fo werde
fie wegen der Intervention des Königs wohl nicht ihre Ungnade
gegen den Herzog verdoppeln. eichieht es doch, fo icheine ihm,
dal; die Abneigung gegen Preufien nicht geichmunden fei, dafi alle
Annäherung nur Schein fei und daß zuleßt, wenn fie ihr Ziel,
welches e8 auch fei, erreicht haben werde, die wahren Gefühle
wieder an's Licht treten werden. Es wäre immerhin ein Vortheil,
aud nur einen Zipfel des Schleiers -zu lüften. Niemand fei
mehr als er übergeugt von dem Nugen einer ruffifchen Allianz;
Niemand wünfche mehr ihre Miederherftellung, falls bie Raiferin
anfrichtig die Verbündete und nicht die Beichügerin (Protektrice)
Preufiens fein wolle; aber Erfahrung und Nachrichten, die er
erhalten, machten ihn unruhig über die Aufrichtigfeit (candeur)
Nulands. Friedrich I. habe fich erihöpft in Gefälligfeiten gegen
Katharina; im Augenblid, wo er meinte ihnen Grenzen jegen zu
müfjen, war die Freundicaft der Naiferin für ihn verloren;
Eiferfucht und Animofität traten an ihre Stelle.) — Der Hof
ift damit beihäftigt, einen ordinären Yandtag zu berufen, weil
derjelbe geießlid) 14 Tage vor dem polnijchen Reichstag zuiammen:
*) zur Erflärung diefer fcharfinnigen umd glänzenden Deprjche diene
die Beer! dafs Preußen und Hufland jid) über die polniichen und die
Turifchen Angelegenheiten bereits am 7. Yuguft durch einen Dertrag geeinigt
hatten, der der Nenninif; Hüttel's vorenthalten blich, weshalb feine Erörterungen
micht mehr der Sadylage antiprehen.
588 Zur Gejchichte ber Unterwerfung Kurlands.
treten muß. Auf Verföhnung fei nicht zu rechnen. General
Vudberg hat fich mit dem Veriprechen des Herzogs begnügt.
54. 3, 2. Eept. Batowffi ift noch bei Dantenffel, Vater
des herzoglichen Delegirten, in Platonen, und kommt gelegentlich
von da nad) Vita und Würzau. Er habe noch feine Nadyricht
über feine Abberufung. Im Publilum Gerriche die Ucberzengung,
daß fid) in Livfand und Polen etwas zum Schaden von Preußen
vorbereite. Das und vieles Andere habe zu feinen mihtrauiichen
Vortellungen an den König Anla gegeben; ev freue fidh, dafı
ber König ihm über die guten Beziehungen zu Nußland habe
Verfiherungen geben fönnen. — Brinfen hat auf 9.’ Rath die
Miffion nad) Petersburg angenommen.
N, 14. Sept. — zeigt G. den Abihluß eines Defenfiv-
vertrages mit Nuhland am 7. Auguit an. *)
. BD, 6. Sept. Der Gedanke einer Mifheivath liege
nicht in der Sinnesweile der Haiferin, cher in der des jungen
Hofes. Die Kaiferin verfolge jtets das Ziel, den Einfluß Ruflands
auf bie Nachbarn zu verewigen, und für diefen Zwed würde fie
nie vor der Heiratl einer Enkelin mit einem Biron zurüdichreden.
Das furifche Lehm fei reich und fünne um 40 — 50,000 Dutaten
jährlih nod vermehrt - werden, wenn die Verpflichtungen des
Vertrages von 1783 aufgehoben würden. 9. rät dem Herzog,
den Kanzler Nuthenberg, einen ehrlichen, aber unbedeulenden
Mann durch eine Penfion aus dem Mlinifterium zu entfernen
und an feine Stelle Brinden zu feben, um ein Gegengewicht
gegen Howen zu erlangen. Der Herzog hatte Brinden bie erite
Vafanz im DVlinifterium veriproden, fchene aber die Ausgabe der
Benfion.
.B., 9. Sept. An Petersburg erzählt man fih: General
Popow, Xertrauter Potemfin's, habe unter deilen Papieren
15 Millionen Nubel in Obligationen von Amfterdam und London
gefunden und fie der Kaiferin abgeliefert, die fie behalten und
für die polnifce Erpedition verwandt habe. Ferner: Mamonom
fei in Verdacht gerathen, Haupt einer geheimen Jakobinergefellichaft
*) Der Vertrag felbit wurde vorläufig ©. nicht mitgetheilt, weil der
darin enthaltene geheime Artikel über Rurland nicht zur Nenutmif; des Furiichen
Hofes Fommen folle
Zur Gejdhichte der Unterwerfung Kurlande. 589
zu fein und fei von Moskau nach Schlüffelburg gebracht worden.
Die dumpfe Gährung in Mostau fchreibe man den vielen dort
beftehenden geheimen Gefellihaften zu. Brinden fahre heute nach
Petersburg, mit dem Leripreden, nad) feiner Nückehr Nanzler
zu werden, während Nuthenberg eine Arrende erhält. Die Raiferin
bat befohlen, Guftan Biron in Niga zu ersiehen. Deboli,*) auf
Befehl der aiferin Petersburg verlaffend, it durch itau gereift.
3, 13. Sept. So hodhfahrend der Ton in Petersburg
fei, fo bewahre der Großfürit, wie Deboli erzählte, doch eine
arofe Anhänglichfeit für den König, und wenn er zur Negierung
fomme, fo werde eine enge Allianz mit Preußen die Grundlage
feines Spitems bilden. Leider fei fein Förperlices Befinden „une
eonstitution qui se mine.“ Die Kaiferin fehe, wie man behaupte,
ihren Enfel, den Grohfürften Alerander als den unmittelbaren
Nachfolger an.
58. B., 20. Sept. Der Landeobevollmächtigte Mirbach hat
gegen bie Mifften Brindens Proteft eingelegt. Die Zwietracht
foll gefchiirt werden; Nücmann unterjtügt den Schritt. &. väth
dem Herzog fortwährend zu verföhnlichen Maßregein.
59. 8, 23. Eept. Der Abichluß des Vertrages mit
Nubland zerftrene das Mitrauen, welches er, S., gegen diefe
Macht Hegte.
60. 8., 30. Sept. VBerubigende Anzeichen für den Herzog.
Der Adel feine wirklich an eine friedliche Rompofition zu denfen,
fei es weil er jchledhte Nachrichten aus Petersburg erhalten über
feine dortigen Ausfichten, jei es aus beiferen Motiven. Won drei
Seiten hat der Herzog Vorfchläge erhalten zu einer Ausföhnung,
die beten vom Oberhauptmann Saf. Gewik fpielt dabei mit,
dab im näcften Jahre 86 Pachtgüter frei werden. Der Herzog
fei in entiprechender Stimmung, jo dai vielleicht ein guter Abjchluh
erfolgt. Die fortdauernde „liaisons du chevalier de Batowski
avec Mme. la Duchesse® und feine Anweienheit in Pitau
jobald die Herzogin dorthin Tomme, gebe der Naiferin leider nad)
immer viel Yergeı Batowffi denfe daran, den Dienft in
") Wotvanter des Nönigs Stanislans Muguit und polnifcher Sefandter
in Petersburg.
500 Bur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands.
Polen aufzugeben und fi als Privatınann in Vlitau nieder:
zulafen. — Eben komme die Nachricht, dah Batowifi abberufen
fei, daß aber der König von Polen ihn dem Kerzoge, da er
in Ditau bleiben wolle, fdriftlih empfohlen habe als einen
Vertrauensmann. Die Herzogin werde daher weniger als je
geneigt fein „ä moderer ses liaisons avec ce Polonais selon
les regles de la prudence, a moins que le Duc ne finiase
par y trouver ä redire lui-möme*.
N., 9. Oft. Golg ift beauftragt worden, Brinden zu unter:
fügen; er fprede mit großem Lobe von Brinden und hoffe auf
gute Erfolge. Die Hauptaufgabe fei, die Penfion des Prinzen
Guftav auf das Lehn allein abzuwälgen; ferner, den Streit mit
dem Adel zu fhlichten. Der König ift ungehalten, dab bie
Herzogin, während Sol bieje Sachen zu unteritügen beauftragt
worben fei, fi) auch nod) an den holländifcen Gelandten Hogguer
gewandt habe; das fönne man in Petersburg übel nehmen.
61.9, 4. Oft. Brinden fchreibt aus Petersburg, er fürchte
ba die Raiferin nach dem Tode des Herzogs die Kettler’ichen
Alodialgüter zum Lehn zu icplagen gedenfe, wodurd) das Vermögen
der herzoglichen Familie um 1 Million Tl. Ab. verringert
werben würde. Der Herzog neigt zu einer Ausföhnung und
hat in eine Begegnung mit dem Landeobevollmäcjtigten gewilligt.
B., 7. Of. VBatowffi hat dem Herzog fein Abberufungs:
fchreiben überreicht. Als cr aud) bei Nüdmann feinen Abjchieds-
beiuh machen wollte, wurde ihm feine Karte durch den Diener
zurüdgeiciet. Die Unterredung zwifdhen dem Herzog und Mirbad)
hat ftattgefunden und der Herzog hat veriproden, einige Berfonen
zur Unterpandlung mit Wirbad) zu beitimmen. &. it jehr für
Ausföhnung. Der Projeh gegen den Adel Fotet dem Herzog
icon mehr als 1 Million Tl. Holländih. — Der Herzog hat
eben die Herrichaft Nadyod in Böhmen für 250,000 Dufaten gekauft.
63. 8., 11. Oft. Die Unterredung des Herzogs mit Vlirbad)
it die Folge einer WVerjtändigung des fehr populären Ober:
hauptmanns von Zah mit Mirbad) geweien. Mirbad) hat von
dem Herzog 3 Wochen Frift erbeten, um ihm den Entwurf zu
einer Nompofition vorzulegen. Kowen fei wütend und wolle
nichts ohne jeine Mitwirkung zu Stande fommen lajjen.
Zur Geichichte der Unterwerfung Sturlands. 591
64. 8., 14. Oft. In Folge des Abichlufes der Allianz
zifchen Preußen und Nufland it das Verhalten Nicmann’s zu
9. ein anderes, freundliches geworden. Fürjt Boninofi ift infognita
in Mitau.
65. 8, 18. Oft. Die Herzogin beträgt fi jeit ihrer
Nückehr aus Warjhan nicht nad den Negeln der Kugbeit,
befonders in ihrem „engonement“ für Batoniffi.
66. 8, 21. Oft. Brinden fchreibt aus Petersburg: die
Beziehungen der Raiferin zu Defterreich erfalten trog der jüngjten
Auffriihung. Die Haiferin wolle nur ihren Einfluß auf die
Nachbarn wiedergewinnen und werde weder Truppen noch eine
Flotte gegen die frangofen fenden. Cobenzl erichöpfe fich vergeblich
in Niedrigkeiten und mache fd mr verächtlich. Die Aufmerkiamteit
der Raiferin jei auf Schweden gerichtet, wo Stadelderg gegen den
Negenten vergeblic) intriguire.
R., 2. Nov. Nücmann hat von feinem Dofe foeben „une
forte mereuriale“ befommen wegen feines Betragens gegen D.
67. B., 28. Oft. Da nod) immer nicht Hlar jei, was den
Born der Ntaiferin nad) weiter nähre, und was fie von ihm
verlange, jo wäre cs wünichenswerth, dal Golg in Petersburg
dahinter zu fommen juche. Die Prinzeffin Marl Viron hat auf
ihrer Durchreife durch Miton eine Zujammenkunft mit den
Vifgefinnten gehabt. Der „eiderant prince Poninski*. ihr
Bruder, jei von der Naiferin in Witau internirt worden.
68. 3, 1. Nov. Der 9 wünfche in feinem legten
Neffript, daf; der Furiiche Hof ic) möglichit freundfid) gegen
KRufland zeige, um Lrinden feine Aufgabe in Petersburg zu
erleichtern. Das jei jedod Idhwer, da man nicht wilje was Rufland
wolle. Offiziell werde eine ompoiition befürwortet, Insgeheim reije
Nücmann die Oppofition an, Vebingungen zu ftellen, die nicht
können angenommen werden. Cs wäre vielleicht am beiten, wenn
der Herzog direft die Haiferin bäte, die Viediation zu übernehmen.
Mirbad) hat den Entwurf dem Herzog mod) nicht vorgelegt und
Nücdmann meint, 8 werde aus der Eacye nichts werden. Die
Herzogin mifcht fich j—einbar in nichts umd erklärt, fie glaube
nicht an die Aufrichtigfeit der Oppofition; das fei Ichäblich, aud)
wenn fie nicht im Ztillen gegen die Ausiöhnung wirten jollte.
592 Zur Gedichte der Unterwerfung Kurlande.
Sie hat ihre Beziehungen zu Batensfi wohl modifisirt. hat
das ihr vom Herzog donirte Neillerice Gut Gailhof eben an den
Grafen Medem verkauft. Die Derzogin bat die auf der Durdhreiic
nad) Petersburg in Friebricsluit vom Verzug empfangenen
Pringeffinnen von Baden *) nicht empfangen, in Mürzau Schnupfen
vorfhügend.
N, 11. Nov. Der König äußert fih höhft ungehalten über
die Beleidigung, welche die Herzogin Nufsland zugefügt habe durch
die Behandlung der babiiden Prinzeifinnen.
69. 3., 8. Nov. Die Würdenträger in Petersburg, vielleicht
Graf Oftermann ausgenommen, find jeit lange gewohnt, von einem
Herzog von Kurland bedeutende Jahrgelder zu beziehen, baar oder
in Arrenden. Die Gefahr schwebt über den Kettler'schen Gütern
noch immer, vielleicht veranlaht dadurch, da das Lehn allein,
durch die Konvention von 1783 um etwa 100,000 Thl. verschlechtert,
dem ringen Guftv mır 50--60,000 Thl. Alb. Einfommen
bringen werde. — Eeit 14 Tagen hat der Herzog oft und fange
Unterredungen mit Howen, fpricht aber zu Niemandem darüber.
— Wahriceinlich follte der Herzog die höheren Yürger gegen den
Adel in Schus nehmen und jo die Ausföhnung mit lepterem
unmöglicd; gemacht werden. 9. warnt den Herzog, der ihm auc,
verjpricht, nicht in die Falle zu geben. Mirbach hat dem Herzog
zwei Fragen vorgelegt: ob er die Mediation Nuflands annehmen
würde, und ob er den prorogivten 4-jährigen Yandtag al legal
anerfennen würde. D. väth die erite frage zu bejahen, die zweite
Dinauszuichieben bis jur Mediation.
70. B., 11. Nov, ‚Herzog fcheint bereit, dem Nath zu
folgen. Diirbad) hat einen aus 20 Artifeln beitehenden Entwurf
zur Kompofition dem Herzog vorgelegt, darin alle die unannchmbaren
Streitpunfte der legten 4 Jahre enthalten find.
71. 8, 15. Nov. Aus Petersburg fommen Nachrichten,
wonad) man die Entjheidung in den furischen Angelegenheiten
dem nächjten polnischen Neichötage überlaffen wolle. Brinden
meint, dal wenn der Herzog die Verpachtungen der Nitterichaft
einräume, die Naiferin ihre Forderungen nicht weiter treiben
*) Zur Brantfchan nach Petersburg befohlen,
Zur Geichichte der Unterwerfung Rurlands. 593
werde. Der Herzog möge fi) auf die Jllegalität des Landtages
nicht fteifen. Nüdmann jcheine feinen Antheil an dem Verjuch
Howens zu haben, die Lage durch Hereinzichen des Streites
zwiichen Adel und Bürgern zu verwirren.
72. 3, 18. Nov. Ca giebt den Nath, einen neuen
Landtag zu berufen, dem die Vorfchläge zur Nompofition zu machen
wären, da er 18 Rirchipiele für die Nompofition gewonnen habe.
Brinden, jeit drei Wochen ohne Briefe vom Herzog, bat erklärt
Petersburg verlaffen zu wollen. Der Herzog hat ihn darauf
Tofort gebeten, zu bleiben.
73. 3., 22. Nov. Brinden räth, geftügt auf die veränderte
Anfchanung der Raiferin, bie ganzen Streitigfeiten an ben nädhften
Neichstag im Grodno zu verweilen, wo die Entjheidung bes
Marihaner Neichstages vom 27. Mai wohl werde bejtätigt
werden. Nücdmann nähert fid dem Kofe. Der Entwurf der
Antwort auf die Vorichläge Virdad’s it von Medem ausgearbeitet
worden und findet die Billigung Ds. Der Herzog verjpricht
darin, die Pachten der Yehngüter, die nicht in Adminiftration
ftehen und deren es über 60 giebt, an den Adel billig zu vergeben,
hält im Webrigen aber feine Nechte aufrecht. Der Landtag foll
fi einfeitig nur einmal fimitiven dürfen; dns Yand joll dagegen
feine Aniprüche auf die Verfcpmelzung der Ntettlerichen Güter
mit dem Lehn aufgeben und deral. mehr. Brinden fehrt doc
zurüd.
TB, 25. Nov. 9. überfendet die Schriften in der
Rompofitionsangelegenheit, weldhe zwüchen bem Kerzog und Mirbad)
gewechielt worden find. Der Herzog hat darnad) veriproden, einen
Theil der von der Nitterfchaft für den Proyeh eingegangenen
Schulden zu übernehmen, die Stellen von 16 Afjeiforen md 8
Minifterialbeanten bei den Hauptmannichaften mit 100 Dufaten
Gehalt zu gründen. Die Antwort des Herzogs ift Mirbad) mit:
getheilt worden. Der Herzog hofft auf Unterftügung des Königs
wenn bie Sade nad) Petersburg gelangen follte.
R., 7. Dez. Der Nönig verfichert den Herzog auf's Nene
feines ntereiies an deijen Angelegenheiten, fürdtet aber, dafi
die Nichtanerkennung des Landtages der Kaiferin mififallen werde.
75. 3, 29. Nov. Cs ei fraglich, wer die Tppofition
4 Zur Geicichte der Unterwerfung Aurlands.
machen werde. Im Lande jei man des Zanfes immer mehr
müde geworden, nehme auch Nücficht auf die im nächiten Jahre
kommende Vergebung der Padıtgüter. Mirbad) werde andrevieits
Alles aufbieten, um die Legalität des Landtages zu vertheidigen,
werde aber Mühe haben, eine Majorität im Landtage zu idaffen.
Howen hat eben einen unerhörten Streich begangen. Am
legten Montag fandte er dem Herzog ein Gefucd ein, um die
Erlaubniß, in Privatangelegenheiten nad) Petersburg au reifen.
uf den Nath des Minifteriums verweigerte der Herzog ihm
die Erlaubnih. Trogdem reite Howen am 27. ab. Tas fei
beumzuhigend, bejonders da Vrinden feit geftern in Mitan zurück
fei. 9. bittet Golg anzuweilen, daß er Dowen überwache (legteres
wird vom Könige veriproden).
6. 8. Ey Brinden erzählt, Titermann habe ihm
erflärt, die Kaiferin wolle nicht als Schiederichterin in Kurland
auftreten, noch eine Mediation annehmen; fie wünfde nu die
Eintradit zwiichen Herzog und Nitterfhaft herzuitellen. Die alte
Verfaffung joll mit den herjogliden Necdhten aufrecht erhalten
werden, namentlich die von 1768 und 1 Die Kailerin Fönne
die getroffene Vereinbarung durb ihre Garantie befräftigen;
fomme fie nicht zu Stande, jo möge der Herzog die Sade an
den Neichstag bringen. — Der Herzog will nun die ganzen
Streitfachen in extenso an Oftermann ichiefen. Er will ihm
ferner jchreiben, dah er die Waricaner Enticeidung als nichtig
betrachte, da die Kaiferin fie als folde erklärt Habe; endlich wolle
er ihn vor den Jutriguen Howen’o warnen. Die Umjtimmung
in Petersburg jei nur Preuhen zu danfen. Sowen wolle fich
fentlih auf die Frage des Stettlerihen Allod's ftügen Die
Kompofition jei in Gefahr, wenn nicht Nüdinann den Auftrag
erhalte, die Erklärungen Titermann’s dem Adel zu wiederholen;
man würde fie jonjt für eine Erfindung des Herzogs ertlären.
77. 8., 6. Dez. Howen hat 15,000 Thl. Alb. mitgenommen
und von Niga aus nad) weitere 4000 Tufaten verlangt. Er
werde dur den (General Yudberg, Gouverneur des Prinzen
Gujtav, intriguiren; das fei Alles jehr geführlih. Bei der legten
Unterredung mit dem Herzog habe Howen von diejen für Nüdmann
20,000 Dutaten verlangt, und jei durch die Ablchnung mun erit
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kıurlande. 595
recht aufgebracht. — Brinden erzählt, die Gefundheit der
finfe, fie fei häufig melandeliich, ihre alte Seiterfeit jchwinde,
Die Entfremdung von dem Sohne jei unzweifelhaft. Man glaube,
Zubow werde nicht mehr geliebt und werde erfegt werden. Der
Barometer der Stimmung der Naiferin fei Soltyfow. Marko
habe wohl an Einflufs gewonnen, fönne aber wegen feiner Schulden
nur durch Geld mugbar gemacht werden. General Budberg und
ein junger Graf Golowin machen fi bei der tuiferin belicht,
indem fie den Sroßfürten Paul läherfih machen. Die Sorge
der Raiferin fei, ihren Ginfluß auf ihre Nachbarn wieder zu
gewinnen; nad) Polen werde Schweden dran fommen. Gegen
efterreich jei Erfaltung eingetreten. Die Naiferin wilnfche die
Rortdauer des franzöfüchen Srieges, um ihre Zwede beifer verfolgen
zu Tönen. Ueblen Eindrud habe das Gerücht hervorgerufen,
daß der König einen Zeparatfrieden mit frankreich ichliehen woll
Die Natlerin babe im Krühling, als der Bruch zwiichen Defterreich
und Franfreih befannt wurde, fich jo darüber gefreut, dah fie in
die Hände Hatichte. Im Innern Nußlands bemerfe man
‚Freiheitsideen und auch in Petersburg rede man viel von Freiheit,
Gleichheit, Menicenrechten; die fiberalen Schriften Fommen in
Mafje über die Grenze. Die Negierung fei jehr aufmerffam auf
das Verhaften von Mosfau, tue aber nichts zur Vefeitigung der
inneren Unordnung. Juftiz und finanzen feien in dem alten
elenden Yuftande. as harte Geld jei völlig verihwunden; es
werde wohl viel Geld geprägt, aber man jage, die Naiferin
jammele dafjelbe zu einem Schage an. ls die fombinirten
deutjchen Heere fid zwrüczogen (vor den Franzofen), verlangte
die Kaiferin fofort die Abberufung der ruffichen Offiziere, damit
fie nicht fernen Fönnten vor dem Feinde zu weichen.
78.8.9. Doz. Die Kompofition finde große Schwierigfeiten
in den perjönlicen Intereifen der Häupter der Oppofition. Mirbad)
habe auf den mahvollen Vorichlag des Herzogs an diefen einen
Brief voll Vitterfeit gerichtet, darin vor Allem die Anerkennung
des jogen. Landtages gefordert und mit dem Zorn Nuklands
gedroht wird. Zugleich hat Mirbad) ein Nundichreiben ins Land
gefchitt um die Stimmung zu bearbeiten. Cs jei nothwendig,
dab Nüdmann bejtimmte Ordre in dem Sinne befomme, wie
596 Zur Gefchichte der Unterwerfung Murlands.
Sftermann fid) gegen Golk und Vrinden geäuhert, fonjt werde
es nicht anders werden.
N, 21. Dez. Golg hat Weifung erhalten, dahin zu wirken,
dah Dftermann pofitive Befehle an Nüdmann jende, damit diejer
die Erklärungen des LVicefanzlers offen dem Adel fund gebe.
Dan mühe gegen Nuhland vorfichtig fein, denn das fei ein
äuferjt empfindlicher Hof. *)
79. 3, 13. Dez, Der Brief Mirbado an den Herzog
tafle in feiner herausfordernden Dreiftigfeit nichts Gutes erwarten.
9- hat dem Herzog gerathen, eine Abjchrift deifelben an Oftermann
zu fenden nebjt dev Bitte, eine Erklärung der Naiferin zu veranlaffen,
durch welche die Furiiche Nitterihaft zu einem Vergleich) auf:
gefordert und vor Angriffen auf die Hechte des Lehns gewarnt
würde, wie fie von Aufland in den Konflitutionen von 1768 amd
1775 garantivt jeien. Der Viüllerauffiand mehre die Verwirrung.
Ueber 500 Müller find nad) Ditau gefommen und haben andere
Gewerke mit fih fortgeriffen. Ahr Anwalt jei ein Edelmann.
80.8, 16. Dez. „Am Nachmittag des legten Donnerstages
verjammelten fh die Müller, fowie die Sejellen von den anderen
Mitauer Gewerken, die doc) mit dem Etreit nichts zu Ichafien
haben, wieder vor dem Schloß und forderten, da man ihnen den
Amtmann GSrünbojt herausgebe und der Herzog ihnen 10,000
pl. Wb. zahle, um ihre in den verichiedenen Herbergen der
Stadt gemachten Schulden zu bezahlen. Der Derzog weigerte jich
natürlich, jo unverfhämten Forderungen fid) zu fügen. Schon
am Morgen deffelben Tages hatte Se. Turdlaucht an die Viüller
einen Befehl richten Lafjen mit der Aufforderung, fh allen
rdnungswidrigen und aufrühreriichen Vorgehens zu enthalten und
nady Haufe heimzufehren, indem er ihnen prompfe und genaue
Jufiiz veriprad), falls ihre Stlagen id) als begründet herausftellten.
Statt füh diefem Befehl zu fügen, fchiehten fie ihm, ohne ihn nur
zu öffnen, zurüc, jammelten fi) in größerer Anzahl als vorher,
ergingen fi in beleidigenden Neden gegen ihren Eomverän,
beichimpften feine Garden, Drohten fie zu maflafriren und
bemächtigten fih endlid) eines Narrens, darin Privatperfonen
*) Diefe Bemerkung feet in den Verliner Nejteipten häufig wieter.
ur Geidichte der Unterwerfung Kurlands. 597
gehörige Dokumente auf's Schloß gebracht werden follten, unter
dem Borwande, dal; diefer Karren Pulver enthalte. Nadydem der
Herzog alle Vittel der Vähigung und der Nachficht erichöpft und
diefen Unfinnigen die unvermeidlicen Folgen ihrer Angriffe, wenn
fie nicht fi befinnen würden, vorgeftellt hatte, und fehend, dal;
alle jeine Verfuche ftuchtlos blieben und dafs dieje durch jiarte
Getränke erhigte Menge von MVioment zu Moment unvernünftiger
werde, griff er wider Willen zu Viitteln der Gewalt und lieh zwei
Kanonen, mit Granaten geladen, abfeuern, von denen die eine,
zu hoch gerichte, Niemanden verlegte, die andere aber 15 bis 18
Menichen niederwarf, von denen ein Dugend getöbtet wurden oder
jeitdem geftorben find. m Augenblit föfte fih die Menge, die
Auffahrt zum Schloh wurde gejäubert und die Nat war ruhig.
Am jelben Abend lief der Herzog den Magiftrat rufen und befahl
ihm, alle nöthigen Vahregeln zu ergreifen um die Ordnung und
Nube aufrecht zu halten. in der That üt feitden nichts geicheben,
was die Fortdauer der Gährung andeutete. Die Gejellen der
Handwerker Find zu ihrer Arbeit bei ihren Meiftern zurücgefchrt,
die Müller haben verjprachen, ji in ihre bezüglichen Wohnfige
zurüdzubegeben und Alle haben um Lergebung ihrer Fehler
gebeten. Der Herzog hat jeinerfeits ihnen Hoffnung auf eine
allgemeine Amnejtie und das Vergeifen des Geichehenen gegeben.
Die Opfer diefes Aufitandes find geitern alle zugleich öffentlich
beerdigt worden, von der ganzen Bürgerichaft geleitet.“ Der
Herzog habe recht gehandelt, er habe nicht anders handeln fönnen.
Die Gegner tadeln ihm natürlid) heftig.
81.8, 20. Dez. 9. wünjcht Stüc zu den Siegen md
zu der Einnahme von Frankfurt. Der Herzog fei gleichfalls jehr
erfreut. Die Bürger von Ditau und Kurland dagegen feien gany,
auf Seiten der Franzofen. Diefe Gährung der Bürger fünnte
jofgen haben, ohne den Hah der Bauern gegen fie als
gegen Fremde, was fie zum großen Theil auch jeien. Kerzog
und Adel follten fich gegen den gemeinjamen Feind verbinden;
aber ex, 9, predige mit geringem Erfolg einer jo furzfichtigen
Wenge, als der Auifche Adel im Ganzen fei, welder nur gegen
den Fürjten feine Politif richte und fih auf die Treue feiner
Sttaven verlaffe, deren Jod) drüdend jei. Rüdmann habe Auftrag,
508 Zur Gefchichte der Unterwerfung Nurlands.
die Demrofraten hier genamer zu beobachten. Ein großer Theil
der Aufjtändiihen vom Donnerstag und and ihr Führer feien
geborene Unterthanen Er. Diaj. des Königs.
N, Der König lobt die Haltung des Herzogs
gegenüber den Müllern. Die „Sazette de Berlin“ habe darüber
fehr ausführlichen Bericht gebracht. Bol hat Crdre, in Petersburg
darauf aufmerfjam zu maden, dal; der Herzog gegen den Abel
unterftügt werden mühje, der ji, mit dem niederen Volk verbinde
und dafjelbe zu Meutereien aufhege.
s2. 8, 23. Do, Der derzog habe den Müllern zu jchnell
die Anmejtie und Geldhilfe gewährt, wodurd er den Eindrud
v Schwäche hervorgerufen habe; er hätte erit einige Wochen
follen veritreichen Iafien. Die adlige Oppofition fchreie über
Despotiomus md wolle die zwei Nanonenfcüfle zu neuen
Veichwerden auf dem näcjten Yandtage ausnugen. Der Herzog
hat einen neuen Yandtag auf den 31. Januar berufen, auf dem
wahrjiheinfic) diejelben Leute wie bieher herricen werden. D-
bittet um Jnitwaktion wie er fid) verhalten jolle, falls der Landtag
ibm durd) eine Deputation feine Eröffnung anzeigen follte, was
indeijen ummahridpeinlid, jei.
NR, 5. Jan. 17 joll ji im Falle der Nichtanzeige
von allem Verfehr mit den Gliedern des Yandtages fern halten
bis er vom Könige weitere Befehle erhalte.
53. 8,, 30. Dos D. hat fih) an Golp in einem Schreiben
gewandt, darin er darauf hinwies, dab ohne eine Ordre an
Nücmann, dem Adel die Erklärung des Srafen Oftermann mit
zutheiten, die dem Yaron Brinden geworden jei, der Streit
zwifchen Serzog und Adel micht beizulegen je. Goly hat
geantwortet: als er Dieriber mit Oftermann habe reden wollen,
Habe diefer durchaus fi geweigert ihn anzuhören, mit der
Venertung, daß die Undanfbarfeit und die wiederholten Fehler
des Herzogs gegenüber der Nailerin diefer niemals erlauben
würden, ihn zu begünfigen. „Aber nachdem fie Ci. Viajejtät
prochen Habe, die Verfaifung des Yandes aufrecht zu erhalten,
fowie die Garantien, welde fie übernommen, die Naijerin fih in
nichts michen wolle und les der Entiheidung des fünftigen
Warfhauer Neicstages überlaijen werde. Tab I. R. Viaj. iym,
Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 599
Grafen Oftermann, befoplen habe, dem Grafen Golp zu infinuiren,
dab fie von der Gefälligfeit Em. Maj. erwarte, dai Sie, Zire,
die Miffion von bier zurüczichen werden, welde in einem Moment
der Kälte zwiiden beiden Höfen errichtet worden jei, und die zu
geringes Interefie für Ew. Maj. Habe, mm fie nicht der Kaiferin
zu opfern.” Herr von Alopäus habe jchon Befehl, id in diefem
Sinne gegenüber den Miniftern des Königs zu äußern. —- Diele
jo veränderte Sprade des Grafen Uftermann beftätige den
Verdacht 9.6, da man am rufen Hofe eine bejondere
Animofität gegen den Herzog und die Herzogin hege, die früher
oder fpäter zum Ausbrud) fommen werde. Die Konjtitution, deren
Garantie Hırfland übernommen habe, werde fortgejegt verlegt,
und zwar unter Antrieb Nuhlands fetbft. Der Herzog jollte daher
den Yandtag anerkennen und fid) jo gut es gebt einigen, um
fein Allodialvermögen womöglid zu fern. 9. it über bie
ruifiiche Forderung jeiner Abberufung nicht überrajcht. Nücmann
habe das Längit prophezeit. Falls cs geidhehe, jo bitte er, der
König möge es jo einrichten, dai «s nicht Icheine, als geihehe es
nur auf die Forderung Nuhlands.
N, 11. Jan. Das Bemühen des Königs, die Kaiferin zu
Gunften des Herzogs und der Herzogin wieder umgujtimmen, jei
vergeblich. D. joll allmählich den Nüczug antreten. Die äußeren
Formen würden gewahrt werden; der König jinne darauf, ihm
einen ehrenhaften Abzug zu fidern.
Schu folgt.)
5
Trudiehlerberihtigung:
Seite 513, Jeile 13, von oben fies: Geihmeidigfeit jtatt Geihwindigfeit.
Notizen.
Zwei Publikationen zur alt-livländiichen Verfafiuugsgeidichte.
Ein to mancher |häbenswertber Vorarbeiten noch wenig gellärtes
Gebiet ift die Geichichte unferer öffentlich:reiptlichen Jnftüntionen. Es it dal
großes Lerdienft Arel von Germets, daher in foftematiicher Weile
einzelne größere ragen aus der fehr Lomplicivien Berfaffungsaciichte At
Yiolands eingehend unterfudht und zur Darftellung gebracht hat. Im Jahre
1803. erfchien von ihm das erite Seit jeiner „Aorihungen zur Mejchichte des
Yaltifhen Wels”, weiches „Die Darriich;Wirifhe Nitterihaft unter der Berridaft
des Teutjchen Trdens bis zum Erwerb der Jungingenihen Gnade“ behandelte
und aud, cin Band IXL. &. 691. diefer Zeifhrift zur Anzeige gelangt. üt
Seit einigen Monaten it nunmehr das zweite Heft der „Aorfdungen“ heraus:
gelommen, dus „Die Anfänge der Fivländifcen Nitterfcaften"
zum Gegenftande hat (Nemal 1895, erlag von K- Kluge - &. 135) Aus
bejondere handelt 5 fit um die Ausbildung der Vajallenfdaften
des Erzbisthbums Niga und der Visthümer Dorpat und
Tejet-Winf zu geibloifenen Norporationen. Das geiduh
bier fpäter, als im ehemals dänifchen Ejtland, d. b. im 14. und 15. Jahrhundert,
während die Anfänge der Turländiichen Stifisritterihaie und der Nitterichaft
im Crvenstande einer jehr viel fpütcrer geit angehören, ud das Wischum
Neval überhaupt feine Lafallen gehabt hat.
Die Fragen der inneren Urganijation der Bafallenfchaften behält der
Werfaffer einer befonderen Abhandlung vor, bietet jedod zur befferen Crientirumg
gleich andy den eriten 24 Zeiten einen Meberblid über die Bedingungen, unter
melden die Yehusinhaber zu privilegirien Genoffenichaften berangensachien find
Sind num Gerneis Arbeiten „Rorkhungen zur Geihichte des Baltiihen
Adels” beitelt, und heit 5 auch S. 3 im der in Nede ftehenden Einleitung
von den „Wurgmannen und Sofleuten in Heval md auf den anderen
Schlöffern des Deutfchen Cd gehörten wicht zur Alajie des
Zehnsmannen und jcheinen überhaupt nicht edler Derfunft gewelen zu fein“,
jo empfängt der unbefangene Yeler den Eindrud, c5 jei die „edle Herkunft mit
Notizen. 601
eine Vorausichung gewelen für die Belehnung mit gröherem Grundbejih. Da
bedarf 5 des befonderen Pinweifes, daft das feineswegs der Fall genen!
Gernets „Rorihungen“ beziehen Fi eigentlich nicht auf die Geihichte des
battifchen Adels, fondern auf die des baltiihen Bafallenitandes.
Was das geicloffene Zufammenhalten der Vafallen in den ivländiicen
Stiftern auferordentlich gefördert hat, war der durch die Verhältnifie gebotene
Gegenfab zwifchen ihnen und ihrem geiftficen Yandesheren. Yeiptere waren
erb: und ehelos, meilt aus der Fremde jtammend und vielfach ganz in ber
Freimde febend, zu einem geofien Theil and garwicht won den heimifchen
Dormfapiteln gewählt, jondern vom Papit in ihre Würden eingeept, mithin von
der furinten Poliit in einem Grade abhängig, da fie nur wenig an den
watürlichen Antereffen der Nolonie Antheil nehmen tonnten, Der Lajall hin
gegen war an die Scholle gebunden, feine Interefien fielen mit denen des
Landes zufammen. Die Folge war das Zufammengehen der ftifiihen
Lafatlenfejoften mit derjenigen einheimifchen Macht, melde ihrer ganzen
Pofition nad) vor allem auf den Schub des Yandes vor auswärtigen Angriffen
bedacht fein mufte: mit dem Orden. So geitalteten fidh, wie von all zu Fall
gezeigt wird, Die Verhältniffe wenigftens im 14. Jahrhundert, nachdem im
13. Jahrhundert die Eroberung vollendet und um die Wende des Ichteren der
erfte fivländiide Bürgerfrieg ausgebroden war. Ms jedoch, der Crden am Ende
des 14. Jahrhunderts bei der Nurie ce durchiehte, daß nicht nur die Rigaer
DTomberren, jondern auch der Erzbiichof jelbit ihm angehören follten, änderte
fü die Situation, inden die Valallenfdajten die Uebermadht des Ordens zu
fürchten beganmen: jo feben wir, dafı damals eine neue Koalition gegen den
Trden umter der Führung des Dorpaier Vijhofs Diedrid) Damerom zu Stande
kam, der id namentlich auch die Dorpater Wafallen und ein Theil der
ichen anichlofien. ber in jpäteren Konflitien innerpalb der Wisthümer
Dorpat und Cefel-Wiet Hand der Erden wicherum auf der Seite der Vafallen,
weil er in ihmen ja mehr und mehr die Träger der wahren Interefjen des
Landes erfannte; feine Mactitellung war feit der Scyladht von Tannenberg 1410
ohnehin von Polen jhwer bedroht. Die in ihren Territorien jo fehr erjtactten
Vafaltencaften fuchten nun zwijcen dem Orden und feinem Dauptgegner, bem
Erzbifchof, zu vermitteln, und unter folgen Umjtänden fam es endlid) im
Jahre 1435 auf dem Yandtage zu Walt zu einer Yandesı
eimigung auf jeihs Jahren, welche Yivland tbatfägylid) zu einer dauernden
Nonförderation verband und abgeidplofien ward zwijden dem Erzbiüchof, den
Viicöfen von Dorpat, Tejel, Aurland und Neval und ihren Kapiteln, dem
Trdensmeifter und feinen Gebietigern, deu Nitteridaften von Miga, Dorpat,
Tefel, Hareien umd Wirland und den Städten Higa, Dorpat und Neval;
unter anderem wurden jedem Stande feine Weite, Privilegien und Freiheiten
garanirt, mithin aud den genannten Yajallenigaften.
Berner it im Eegenfab zu den früeren Yandeseinigungen die von 1435
mehr von den Sandesherren für jih und in Vollmadjt ihrer Unterja|
abgeichloffen worden; «3 erigjeinen Tegtere vielmehr nelen ihren Sandesherrn
602 Notizen.
als Kontrahenten", mithin als gleihberegtigte Aaftoren innerhalb
des Koländiichen Yandesftantes und erlangten zugleich Die Yanditandiaft.
rd diefer Yandeseinigung ju Walt”, heiht 5 gegen Ende, „it die politiiche
Ennoidelung der Lafallenicaften glä zum Ausprud gelommen”, und
während in Prenfen die & ang Des Crdens ausbeuteten,
um den ftaatlicen Zufammenhang des Yandes angelnander zu prengen, waren
in Yioland gerade die Stände überzengie Vertreter des inheitsganfen
Weit in Yioland die Yanditandichaft und die forporative Werfaffung ih auf
dem Boden der Bolitif heransgebildet haben, ift der Berfaffer gepwungen
gewefen, die einzelnen Phafen der fangen Kämpfe wide dem Crden und den
Viicöfen vom Ausgang des 13. Jubrhunderrs au bis zum angegebenen yeit«
abicitt in geöherer Ausführlichleit darzulegen; wir erhalten atto zugleich, eine
Gedichte dieler Nänpfe. Eingehender wird bei der Suterpreiation derjenigen
Verträge vermeilt, bei deren Abichluis vie Baalten beibeiligt waren, und dieje
vor altem geben das Cuellemmaterial, während die chranifalen Nachrichten
geringfügig find. Nicht felsen ficht fid) der Werfaffer in der Yage, Einzelheiten
Anerflärt zu affen; Das vorhandene, zum Teil jehr ipröde Material hat er
irdod) in großem Umfang ausgenupt und 5 zu einem feffeinden Gefammabild
dermandt, Deffen Zuverläfiglet im Ganzen, zumal im Wergleih mit den
Arbeiten X. ©. v. Bunges, wohl aufter Frage jtehen dürfte! Mm Schluis der
Abhandlung erfahren wir, da) die mit dem ‚jahre 1435 beginnende Periode den
Inhalt des näciten Hchtes der „Korkchungen“ bilden foll.
Gleichzeitig mit obiger Beröffenttichung hat A. von Gernet feine
„Berfaifungsgeihigie des Visthums Dorpat bis zur
Ausbildung der Yanditände" als Zonderabdrud aus Band NV.
der „Verhandhungen der Gefehrten Eitniichen Oeieiliheit zu Torpat“ heraus
gegeben (Neval, Verlag von F. Auge, IS — &. 201). Sie beruht auf
einer im Jabıe 188% von der biiterild;pbifotoglicen Safnltät der Unive
Torpat mit der goldenen Medaille prämirten Preisiheiit um ült Der
Wrofeffor Dr. Mihard Hausa zum 2. Januar IS
3 um die baftiihe Geicictsforidung houyerdienten afademijden Yehreıs,
in Dantbarteit gewidmet.
„Da eine Lerfaffungsgeichlihte ih) vornehmlich anf Urkunden ftütt,
fänmtiche öffenıtiche Archive Dorpats aber wührend der langjährigen ruffüichen
Herrihaft im 16. Jahrhundert verloren gegangen find, fan die Yearbeinng
der Verfaffungsgeichipte dieies Wisthunis zu feiner and) annähernd vollfommenen
werden", heit 5 im „Vorwort“. Oteihwohl tenmzeicniet auch Diefe Arbeit der
Hauptvorzug der focben beiprochenen: die umfarfenoe Yenubung des uellen“
materials, fomohl des gedrudien, al6 auch mehrerer Urkunden aus dem
fommedifchen Neichsardhio zu Stochotm, deren Tert im „Anhang“ mitgetheitt
(65 find Das das Privileg des Wihois Bartholomäus Saviferwe an die
Stadt Dorpat vom 27. Mai 1455, die Dorpater Yandescinigung vom 5. Anqut
1458 und die Wohlfapitulation des Nrodjutors s von Mellintrode
um 1461). Im Einzelnen erörtert der Lerjafler Die Vegründung des Vischumns
Notizen. 603
und dann in eingehender Weife den Umfang des biichöffichen Territoriums. Lehteres
unfahte eima die gegenwärtigen Areife Dorpat, Werro und Fellin, dad war die
Yälfte der Diöcefe, d.h. d08 Sand weitlich und nördlich vom Wirzjerw, dem Orden
zu Sehm vergeben worden; deun dafi die Abhängigfeit des Ordens auch dem
Vichof von Dorpat gegenüber bis zum Danziger Frieden von 1366 ein Yehns:
verhältniß; begründet war, wird hier aufs Neue nachgemiefen. Des Weiteren
wird die Stellung des Visthums „im hierarcjichen Syften’, namentlich dem
Bapit und dem Erzbifchof von Riga gegenüber, unterucht, fodann die Bedeutung,
die Zufammeniegung und das Veiisthum des Domfapitals, die Wahl und
Ernennung der Bilchöfe und die Stellung des Viihofs „als Divcefan“; im
diefem Abichnitt finder fih amd ein Werzeidnihs der Dorpater Parobien. An
Köftern Anfien fi bis zur Mitte des 15. Nahrhunderis nur drei nadnoeiien:
das in der Kalge mil reichem Lannbefit musgeilattete Ciitereienferfloiter zu
Valfena, deen Gründung Gerne in das Jahr ten möchte, amd. zwei
ftäpriiche Möfter, ein Möucsttofter ver Dominikaner und ein mahrjcheintich den
Arancisfanerorden angehöriges Nonnenflojter. Eine umitändlice Darlequng
erfährt das ftaatsrechtliche Verhälniß zum deutchen eich und zu Sefammt-
Nioland, und eingehender beiprüht der Verfafler Die Iamdesherrlichen Rompetenzen
des Vichojs, die Entwidelung dis Yehnsiefens, Die Ausbildung der Nitterichaft.
melde jich bier in den Ztürmen ds ausgehenden 14. Jahrhunderts unter Den
vorhin genannten Wijcef Diedrich Tamerom endgittig vollzogen hat, ohne d
fich Näheres über ihre innere Crganifation angeben tiefe, und das Empor»
kommen der Stadt Dorpat. Bezüglich diejes einjigen hädtifchen Gemeinwelens
im Stift erfahren wir aus dem „Norwort“, dai im Jahre 1873 feitens der
Univerfiät eine reisihrift des Varons Harald Toll über den „Math der
Stadt Dorpat in bifflicher Zeit" dalfo bis 15%) prämlirt worden it, von
der auch wir hoffen wollen, daß fie bald durd den Trud weiteren Areilen
zugänglich gemacht werden möge! — Das Schluhtapitel behandelt den Meiprung
der tanpjtändiichen Lorlaffung. Sir, wie in den früheren Abihnitten, wird
Mandıes wiederholt, was mit gröferer Ansführlicfeit bereits im. yweiten Deft
der „Rorichungen“ gelagt worden war. „Die Gejhichte der Lerfaflung der
geiitlichen Füritenthümer Yiotands“, heit «9. „läht fh in zwei grofe Perioden
ideiden: im der eriten ericheinen Die mit der Yandesherrlühfeit ausgeitatteten
Trgane der Kirche im alleinigen Befig der Nepierungsgewalt, in der zweiten
geniehen die Yandflände ein Mitwirfungsrecht bei der Negierung. Die Grenze
zwifchen beiden Perioden ft eine flühige Im Dorpat ift die Wahlfapitnlation,
die der von Biichof Bartholomäus Savijeriwe zum Aoadiutor erhobene Helmicus
von Mellinfrode um I6L mit dem Domfapitel, der Nitterichaft und der Stadt
Torpat abihloh, in gewiifen Sinne die Epoche.” Hier cben verlangten dus
Tonfapitel, die Nutcrjhaft und die Stadt Dorpat die Yanditandidait; der
Abt von Talfena bingenen dat feinen danerwen Einfluß auf die Yandesı
vegierung gewonnen. Am Arüheften machte sich der Einflu des Domr
Lapitels qeliend, dann verjenige or Balalten -- zumäcjt in innireter
ie Dur Den anfangs m aus Nertretern diehes Standes gebildeien
604 Notizen.
Stifisrath, deijen Eriften; — neben berienigen des fon feit dem 13. Nalırı
Hundert beitehenben ftäbtiichen Magiftrats — fich mit Sicherheit erit in einer
Urtunde des Nahres 1385 machweifen läht. „Im der Folge Hat eine
Vericmelzung ftattgefunden, indem in den Stifisrath; eine Wertretung des
Domtapitels aufgenommen wurde, während der jtädtifche Rath, wie im Risthum
Cefel, ausgefchlofjen blieb.” Die Zeit Diejer Werfhmelzung läht fc freilich
ebenfo wenig genauer feitftelen, wie Art umd Umfang der uriprünglichen
Kompetenzen des Stifisraths, welcher in fehe viel fpäterer Zeit nad) 3 ©. von
Bunge die oberite Regierungskehörde des Yandes und Nuftigbehörde zweiter
Inftang ward. Much durch) das Amt des Stifisnogls, melher in erjter Linie
die Tondesherrlice Oefonomie zu leiten hatte, hat der Tafalfenftand früh Einfluß
auf die Landesverwaltung gehabt, fofern Diejes wichtige Amt fhon feit der
gmeiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von eingejeffenen Tafalten befleidet morden
üt. Und mas die Stadt Dorpat betrifft, fo nahm auch fie neben den
Bafalten feit dem Ende des 14. Jahrhunderts bei der Entideidung der das
gane Bisthum betreffenden Fragen wiederholt Ihärigen Antheit. Schon in der
Yandeseiniqung von 1435 it, wie wir jahen, ben genannten Ritte-ichaften und
drei grofien Städten bie offizielle Anerfennung als gleihberechtigten Fafteren
in der fioländifcen Ronföberation zu Theil gemorden. Die verfaffungsmäf
Mitwirkung an der Regierung im Stifte Dorpat crı de, wie 6
fdreint, erft durch jene Wablfapitulation um 1461, deren Erörterung im
Zulammenbang mit einigen anderen, aus früherer yeit jtanmenden urkundlichen
Zeugniffen die intereffante, fehe danfenswertpe Schrift abfchlicht.
F. Re.
Jüge aus unferer provinziellen Rhyfiognomie
vor 50 Jahren.
Nachorud verboten.
(Shui).
Das bulweien der Dftjeepropinzen fand —
trog des forden von rufücher Seite ihm geipendeten Yobes —
im Vergleidh zu der machmaligen Entwielung in ben ficbziger
und achtziger Jahren ned) vedht weit zwüd. Der offizielle
minijterielle Bericht pro 18- ichnet den damaligen
Dorpater Lehrbezirt mur 4 Gymnafien (Riga, Dorpat, Mitau
und Keval), während in der Folge — abgefehen von den beiden
fioländifcen Yandesgymnafien in Fellin und Virkenrul — nod)
Gymnafien in Niga, Pernan, Arensburg, Voldingen, Yibau und
Neval hinzufamen.
Eine fehr wichtige Nolle fpielten damals angenfcheinlich die
Privat-PBenfionen und Schulen. Nad) dem zitirten
minijteriellen Bericht (S. 710) gab es im Dorpater Lehrbezirt
4 Symnafien, I Ceminar für Elementarlehrer, 24 Nreisichulen
und 87 Elementar- und Nircipiels- Schulen mit 5 Schülern
beiverlei Gefchlechts; diefen Krons- Schulen ftehen zur Seite
155 Privat: Penfionen und :Schulen mit nicht
weniger also 4945 Schülern, aljo mit einer an die der
eriteren Nategorie ziemlich nahe heranrüdenden Schülerzapt.
Die damalige Univerfität Dorpat erfreute fich,
wie wir {chen fahen, eines vorzüglichen Nufes, der in dem
ehrenden Diltum des Nuffen: „Es giebt wohl faum
it
606 Vor fünfzig Jahren.
irgendwo eine beifiere mediziniihe Fakultät,
als in Dorpat“ — gipfelt. Sie zählte jedod erit 575
Stubirende — eine Ziffer, die aber erhöhte Bedeutung gewinnt,
wenn man erfährt, dab die damals meiftbefuchte ber
6 Umiverfitäten des Neiches, die von Mosfau, aud nur 981
Studirende aufwies.
An die damalige ftaatliche Stellung zum baltiihen Schul-
wefen erinnert der Schlußfag im minifteriellen Bericht (S. 763):
„In den Oftfeeprovinzen wurden bie durd) die bisherigen Maß:
vegeln fier begründeten Fortihritte in der rulliiden
Sprade bis zu dem Grade der Reife gebracht, baf das
Minifterium ohne alle Schwierigkeit zu den Schluhverfügungen
in diefer Angelegenheit voridreiten Fonnte”.
In Bezug auf die Univerfität hatte ein mebizinifches
Komite in der Mefidenz fih mit der „Vertheilung der zum
Lehrftuhl der Stantsarzneifunde an der Dorpater Iniverfität
gehörigen Gegenftände” beicäftigt und dabei auf die Noth-
wendigfeit bingewiejen, „daß die Vorträge über die Mebdizinal-
Einrichtung im Neiche und die Uebungen der Studirenden in der
Abfafung gerichtlich medizinischer Protokolle in vuffiicher
Sprade ftattfinden“.
r e .
Innerhalb der geiftigen Atmoiphäre jener Zeit vor
50 Jahren teitt vor Allen der erfierfte hiftoriihe Sinn
marfant in den Vordergrund. Es war eine Zeit, in ber man
ungleich beicjauficher, als heutzutage fidh anslchte, wo die geiftigen
und politifchen Gedanfen nicht jo raich fich dem Augenblicishedarf
anpafsten, fondern fih, troß des regen Fluthens neuer geifliger
Strömungen, mehr ausreiften. Won der Gegenwart aus verticjte
man fid) in die Vergangenheit der Heimaih, und der fhen in den
dreifiiger Jahren fräftig wieberbefebte hifteriiche Sinn erfiarfte
in der Berührung mit den vitalen Fragen der Gegenwart, für
die man wechfelieitig wiederum Straft ichöpfte aus dem reihen
Erbe der Vergangenheit.
Im hellftem Lichte fand die Vereinigung von Vergangenheit
und Gegenwart in den pietätvoll begangenen hüfteriichen Gehent-
Vor fünfjig Jahren. 07
tagen des Jahres 1846 ihren Ausdrud. In diefem Geifte ward
dev 300-jährige Todestag des Neformators Martin Luther,
auf welde feier in anderem Zufanmenbange bereits hingewiefen
worden, in Kiga, Dorpat, Neval u. j. w. begangen. — Co
ward ferner am 5. November „in füller Betrachtung der wedjlel-
vollen Ereignifle” des Tages gedacht, da vor 500 Jahren der
dentfche Orden in Preußen ımd Yivland die Provinz Ejtland
vom Dänenkönig Waldemar küuflih erwarb. „... Wir haben
die von ihm (dem Orden) und in den drei folgenden Jahrhunderten
nicht minder auch von feinen Nachfolgern im Negiment reichlich
vermehrten und verbefferten Gnadenbriefe, Freiheiten, Rechte und
alten wohlhergebradhten Gewohnheiten, foweii fie als offenbar
vernünftig und gerecht fich auch auf unfere Zeit noch anwendbar
erwiefen haben, ned) mit dem Beginn diefes Jahres in verjüngter
Kraft aus Gnaden der gegenwärtigen huldvollen Negierung unjerer
Provinz erneuert und für alle Zukunft gefidert
gefehen — vereint mit den Nechten amd Freiheiten auch der
einheimiichen lutheriichen GSeiftlichleit und der Vürgerichaft in
den Städten, wofür Danf und Preis gebührt der allwaltenden
Vorfepung, welde mit gleicher Almadht und Liche die Geihice
der Völker wie der einzelnen Menfchen lenkt..."
Ein dritter Gedenktag des Jahres 1646 fiel auf den 28.
November, der Jahrestag der Aufhebung der
Statthalterihafts-Verfaiiung. An diefen Gedenktag
mahnte auf der allgemeinen feierlichen und öffentlichen Verfammtung
der Nigaer Geellichaft für Geichichte und Altertjumofunde anı
6. Degember 1816 in feiner Feftrede der Präfldent, Yandrath
R 3% von Samjon-pimmelitiern, mit Worten
danfbarer Erinnerung. „Es it" — jagte er unter Hinweis auf
diefen „denfwürdigen Tag” (. 1217) - „der adhtumdzwanzigite
November dieles Jahres, der Tag, welder das halbe Jahr:
hundert befchloß, feit die Huld des im Gott ruhenden Nailers
Baul 1. unferer vaterländiichen ‘Provinz die Rechte und Ver:
füilungen wiedergab -- Nedhte und Verfaifungen, die wir dem
Patriotiomms und redlihen Sinn unterer Vorfahren verdanken
und von welchen wir uns, wenn auch mur vorübergehend, mit
dem jepmerzlichen Yewuhtjein deffen trennten, mas wir ihnen
1
608 Vor fünfzig Jahren.
verbanfen, Nedte und Verfaifungen, die uns als
heilige Weberlieferungen der Vorzeit ewig
theuer fein müjfen und gewiß ewig thener
bleiben werben!”
Für Hiftorifhe Unterfuhungen herricht damals lebhaftes
Intereffe — das beweifen die im „Inland“ felbjt veröffentlichten
sahlreihen geichichtlihen Auffäge und Neminibenzen, eine felbit
im abgelegenen, fleinen Lemfal veranftaltete Kunft, Imnduftrie:
und Alterthums:Nusitelung, vor Allem endlid die Thätigfeit
der damals noch jungen, zu Ausgang ber dreihiger und Anfang
der vierziger Jahre gegründeten hilterifchen Qereine und Inftitnte
— der Rigafchen Gefelliaft für Gefchichte und Alterthumsfunde
der Dftfeeprovingen, der Gelehrten ejtniihen Gefellichaft, des
Eentra-Mufeums vaterländifcher Alterthümer an der Univerfität,
der Ejtländifhen litterariihen Gefellfchaft in Reval, des neu
belebten Mitauer Litteratw- und Kunftvereins. Diefe Qereine
waren damals in gewiflem Umfange fleine Zentrafpunfte des
geiftigen Lebens überhaupt und fo fehen wir fie einerfeits in
reger Fühlung mit den Ereigniffen des Tages, andererjeits wohl
auch über die Schwelle der ehriamen, jtrengen Witenihaft hinaus:
und in das ber Aunft und Poefic hineintreten. Beilpielsweile
verlieft €. v. Reinthal in der Dezember-Sigung der Gelehrten
eftnifhen Gefellihaft den Anfang einer dramatiihen Arbeit
„Rurit“ und der Oberlehrer Santo widmet dem fürzlich an
der Ruhr verftorbenen trefflichen Zeichner &. von Viaydell
einen poetihen Nadıruf (S. 1093— 1094).
€s ift ichon mehrfad) hervorgehoben worden, in wie engem
Konner unfer früheres provinzielles Leben mit den geiftigen
Strömungen des Wejtens ftand, und das gilt in befonderem
Mahe von der geiftigen Atmofphäre der zweiten Hälfte der
viergiger Jahre — einer begeifterungsfrohen Zeit, erfüllt von
unklarem Freipeitsdrange und idealem Humanismus, von den
Tränmereien ber Romantif und von jdmwärmerichem liberalen
Doftrinarismus.
In die Zeit der Vorläufer zum „tollen Jahre” jtellt uns
au das Durdblättern des 1846. Jahrganges des „Inland“
hinein. Die „blaue Blume der Nomantif” jteht bier nicht
Vor fünfzig Jahren. 609
minder in voller Blüthe, wie jenjeits der Grenzpfähle nad) Weiten
bin. Dan jdwärmt — idwärmt für die Nitter-Nomantit bes
Mittelalters wie für die „unterdrüdten“ Heinen Völfer, für den
„freien Geift“ als „das Prinzip oder die Bedingung aller
GSefchichte” (S. 177) und für Bildung und Aufklärung. In
einer die Gefinmung der damaligen „Patrioten” hödit ehrenden
Weile, wenn aud) mitunter in geradezu bizarren Formen nimmt
man fi der „unterdrücten” Cjten und Zetten an: in hödit
lobenswerther Weife wird den Bauern gegenüber vollfte Humanität
gepredigt (€. 533 u. jf.); im öfonomifden Interefle finden die
Mäßigfeits: oder vielmehr Enthaltfamfeits:Veftrebungen angefights
der damals befonders ruindien „Branntweinpeji” Förderung,
freilich aud Widerjpruch; die Gelehrte ejtniiche Gefellihaft geht
damit um, für das Wolf eine ejtniidhe Zeitfhrift zu gründen
(3. 101); Paftor Büttner in Kurland giebt lettijdhe Volkslieder
im „Magazin“ der lettijch-litterariichen Gefellichaft Heraus (©. 293).
Aus Bizarre greift jlellenweije die fentimentale Schwärmerei für
ejtnifche Poefie hinüber; den Gipfel in diefer Beziehung erflimmt
wohl der Verfafler des Gedihts „Die Poejie ber Ejten“
(3. 578, Beilage), wo es heißt:
„Ginit jchlief in goldner Wiege
Ein zartes Sötterfind,
Ter Ausdrud jeiner Züge
Herzen jdnell gewinnt.
Man hört des Kindleins Träumen
Voll jeel’ger Himmelstuft:
Sedanfen nen entfeimen
In vieler Menihen Bruft....
brechen Näuberhorden ()
end in das Land
Und jengen, rauben, morden
Tas Volt mit freder Hand.
D, glüdlich! die fid beiten
In Erde fühlen Schoß;
Tes Sklaven Eijenfetten
Der Nacıgeblieb'nen Yoos .. .
Dann folgt nod ein poetiich nicht fhöner, mit der geihmad:
vollen Phrafe von „jahrhundertlangem Wüthen“ verfehener Lers,
der ebenjo wie das ganze Gedicht, rejp. deilen Aufnahme in das
„Inland“, für die blind-romantijche Naivität jener Zeit fprict.
610 Vor fünfzig Jahren.
So reht ein Sind jener Zeit ift der „Nuf eineo
Adeligen“ 531, Beilage), von deijen jede Verjen die
vier nadhitehenden wiedergegeben feien:
Was fünnen frommen Wappen uns und Abnen
Veraltet ijt der Name, todt der Stlang.
Wir jchwören zu des Geifteo hehren Fahnen,
Ter Aberglaube weicht dem freien Drang.
„Die wahre freiheit und bie freie Wahrheit!“
as foll aud) fünftig un're Yojung jein,
Wir bleiben dann in diejeo Yichtes Klarheit,
Tem wahren Adel treu und feind den Schein.
Nicht finge id) von indiich roher Bande,
Das Yand der Geifter zieht durd’s ganze Al,
E; windet funfelnd fid) durd) alle Yande
Und einet Aller Kraft in einen Ball.
Doc) was veraltet it und was vermodert,
Es jei anf ewig ftumm und falt und todt.
Denn feht ihr nicht, wie es am Himmel lodert,
Begrüßet froh das junge Morgenrotb.
Heute haben wir für diefe fhwärmerifcen Neime wohl wicht
viel mehr, als ein halb mitleidiges Yächeln übrig; wie Viele
aber mögen vor 50 Jahren diefe Verfe „ihn“ gefunden haben?
Wohl in feiner reiniten und edeljten Form prägt fi der
Geijt der Zeit, joweit das „Inland“ in Betracht fommt, in der
vädagogiichen Dionats Beilage diefer Zeitirift aus, Diele „Beilage
für pädagogiiche Aufjäge und Nachrichten“ oder „Blätter für
Erziehung und Unterricht“ werden vom Dorpater Ober
fehrer Th. Thrämer vedigirt, der fie mit einem [chmonngvollen
„Yorwort“ eröffnet und der unit des gebildeten Publifums
empfiehlt.
Welche Themata damals die Gemüther beichäftigten, gebt
nımentlic aus einer jehr langen Neihe von Sägen und Fragen
bervor, melde die Nedaftion der „Wlätter für Erziehung und
Unterricht” fi von Rädagogen und Nichtpädanogen hatte ein
fenden lafjen — Zäte und Xragen, über welde die Cinfender
Erwas mitzutheilen oder mitgetheilt zu Lejen wünjchten
30 u. ff, Beilage). Da finden wir beijpielsweile folgende
Vor fünfyig Jahren. su
„In Vaiern bat uadweislid die Theilnahme
des Bublifums und der Gemeinen am Schulweien in
demjelben Maße abgenommen, je mehr bis in's
Einzelne die baieriide Negierung die Sorge und
Beauffichtiqung in der Beziehung auf fid) genommen hat.
Aus welchen allgemeinen Urfahen Tieße id eine jolde
Gricheinung ertlären?"
„Welde Leranjtaltungen fönnen dazu führen, bie
höheren Stände zu vermögen, daß fie den Sindern
eine längere Schulzeit gewähren?“
„Nur der jelbjtthätige Lehrer arbeitet
freudig und fegensvoll. Zu jehr in’s Einzelne
gehende Lehrpläne und DVienftanweilungen, zu ängitliche
Vewachung von Seiten der Vorgejegten drüden den guten
Lehrer nieder und beifern den Ihlechten nidt. Wie
läßt fih mit der dem einzelnen Lehrer ‚geitehenden
Freiheit die gleichfalls nothwendige forgfältige Beauf-
fihtigung feiner amtlichen Thätigfeit in Vlebereinjtimmung
denfen?“
Befonders beachtenswertl unter den mandjerlei päbagogifchen
Aufiägen ericheint ein folder des unvergehlihen Schulmannes
2 von Schroeder, welcher in einer Furzen Studie, „Einige
Gedanfen über die deranbildung unferer Jugend
ju einer tühtigen Gefinnung“, feine Anfchauungen
über das Endziel der Jugenderziehung entwidelt (S. 553
Beilage). Wir dürfen, führt er aus, nur dann auf
Srfolge rednen, wenn wir mit Ernjt und größter Anftrengung
dahin wirken, dal unfere Jugend zu einer tüchtigen Gejinnung
herangebildet werde. „Gefinnung jchreiben wir dein Menichen
zu, bei dem die möglichit Nichtung feines Willens auf
die Verwirklichung der höchften fittlicen Aufgaben gerichtet fl.”
Darum gelte es bei der Jugenderziehung, erftens das richtige
Ziel erfennen zu laffen, d. b. die Erfenntniß der Wahrheit
in der Jugend zu wirfen, und weitens bie Fähigkeit zur Erreichung
des Zieles zu fördern, d. b. die Seite des Willens zu entwideln
und die Jugend zu thatfräftigem Dandelm zu erziehen.
„Selingt es uns num aber auch” — jo heißt es im legten Abjag
- „Die Jugend nad) beiden beiprodenen Richtungen hin tüchtig
durchzubilden, jo fann nicht genug daran erinnert werden, wie
biejelben in ftets lebendige Beziehung und Wechjelwirfung zu
612 Vor fünfzig Jahren.
einander gebradht werden müjlen. Gelingt es uns, dies rechte
Wechjjelverhättnifi zu treffen, nur dann wird es uns möglich, fein,
Venihen von Gefinnung zu bilden, von entjdhiedenen
fittfijen Grudiägen, mit dem entjchiedenen Veitreben, un jeden
‘Preis und durd) jedes Opfer das zu verwirflicen, was fie als
wahr und recht erfannt haben, und es zum Gemeingute der
Menicpen zu maden; Venfcen, die entfchlofien find, das Nechte
und Gute in der bürgerlichen Gefellichaft aufrecht zu erhalten,
und die zu jeder Zeit bereit find, mit der Schlechtigfeit, der
Nohheit und der Unfittlichfeit einen Vernichtungsfampf zu Fümpfen.
Damit ferner die Aufgabe vollfommen gelingen fünne, it es
methwendig, daf ein füchtiger Geift die Xugend trage, eine
Fräftige Luft fie ummwehe Mir Haben in Gefammtheit
die Verpflichtung, durd) Leben und Beiipiel voranzuleuchten.
Vögen unjere Anaben und Jünglinge von uno jchon früh durd)
unfere ganze Erfcheinung lernen, daß fie nicht zum Geniehen,
nicht zum. jelbftfüchligen Streben, jondern zum Opfern und zu
uneigennügiger Thätigfeit berufen find...“
Dit diefen goldenen Worten befchliehen wir die „Aland“:
Neminiscenzen aus der Zeit wor fünfzig Jahren.
Einen reichen geiftigen Beligitand durfte jene Zeit ihr eigen
nennen. Diefes geiftigen Befitftandes war man fi voll bewußt,
und ihm zu vertheidigen und zu erweitern, war man entichloiien.
Zur gran» Entwielung in Aurland
von
RS
Die Cigenartigfeit der Agrarentwidelung in den baltiichen
Provinzen hat diefelbe wiederholt zum Gegenftand verichieden
gerarteter Veurtheilung gemacht, und mod) neulich hat unfere
einheimifche Kreife mit Zugrundelegung intereifanten jtatiftifchen
Viaterinls die Agrarfrage beleuchtet. Das hieraus fid ergebende
Vild einer von dem gefammten übrigen Neiche grundverichiedenen
Eutwicelung wies auch innerhalb der Dftfeeprovinzen felbft
mannigfache Abweichungen auf, und zwar nicht nur begüglid) des
durch Gefcichte und Gejep beflimmten Charakters des „Bauer:
Landes“, fondern auch im Hinblid auf den Fortfchritt des
Eigentbumserwerbes an Grund und Boden durch die Bauerihaft.
Ter Banerland-Verfauf ift in Ejtland am langjamten, in Kurland
am fchnelfiten vorgeichritten, und hat lesteres mit feinen über
90% verfauften Gefinden der Privatgüter (incl. der erft feit
1870 verkäuflichen Gefinde der Fideifommiffe) diefen wichtigiten
und grundlegenden Aft jeder Agrarentwicelung nahezu vollzogen.
Und doch gab «5 und giebt es ned) heute in den beiden Schwejter:
Provinzen gefebmählg viel beftimmtere Abgrenzungen und Schu:
vorrichtungen für dasjenige Areal, welches der bäuerlichen Nugung,
vorbehalten fein joll, als in Kurland. — Eine irgend erichöpfende
Beantwortung der Frage, woher die langfamere Entwidelung in
Liv: und Ejtland kommt, liegt auferhalb des Nahmens der
614 Zur furl. Ugrarentwidelung.
Aufgabe, die wir uns hier geftellt; 8 mögen daher Andeutungen
darauf genügen, daß neben dem ungleichen geichichtlidhen
Werdegange auch die Mimatifchen und Boden-Verhäftniffe in den
Diftfeeprovinzen verfchiedene find, dah die Art der Befiedehung
(Dorfinftem ober Einzelhöfe) von Anfang an nicht die gleiche
gewefen, wie endlich, daf der Volfscharakter der Letten und Eften
vielleicht auch im wirtbihaftliher Veranlagung feine Brihieden-
beiten hat.
Unjere Betrachtung bejchränft fid auf Kurland. Ad auf
dem fo verengerten Gebiete giebt es Kragen, deren Beantwortung
ichwanft. Dem Einheimifhen der mit und in den Verhältniffen
aufgewachlen und ihr allmähliches Werden miterlebt hat, ericeint
Vieles gar einfad) und flar, was dem aus anderen Theilen des
Neiches Kommenden zunägjit recht unverjländlid, wenn nicht gar
mit dem Wejen und Zielpunft der Agrarentwidelung unvereinbar
vorfommt.
Das Urtheil von dem Gefichtspunfte der praftiichen Lebens:
erfahrung aus, ift eben ein anderes, ala das der theoretiächen
Konftruktion.
Zu den Fragen nun, die im Lande felbjt Vielen wie müjl
ercheinen mögen, deren Beantwortung jedoch Ferneritehenden oft
recht fchwer fällt und bie daher im täglichen Verwaltungsleben
immer wieder auftauchen, gebört auch die: Was iit in
Rurland „Hefinde‘ im agrarrehtliden Sinne?
Selbftredend muß «5 eine Definition diefes Begriffes und
eine Interpretation des Wortes geben, die alle nothwendigen
Merkmale derart umfaßt, daf es für Jeden zweifellos wird,
auf welche Art ländlicher Grundftüce die gefepfichen Beitimmungen
der Agrarregeln vom 6. September 1863 zu beziehen find.
Wenn das Gefep felbjt eine näher eingehende Definition
unterläßt, jo liegt bierin der deutliche Beweis dafür, dah zur
Zeit feiner Gmanation die Bezeichnung „Gefinde” oder „Pacht
gejinde” einen alffeits amd allevorten feitfichenden Begriff, einen
terminus teehniens bildete. Um nun heute wieder aus jeder
Schwankung heraus und zu felter Begriffsbeftimmung binzugelangen
wird es daher geboten jein, fi) den Zuftand zu vergegenwärtigen,
Zur furl. Agrarentwidelung. 615
den die Agrarregeln vorfanden, umd da diefer ein in organiicher
allmählicher Entwidelung gewordener war, fi aud Dielen
Entwidelungsgang vor Augen zu führen.
Zur Zeit der Leibeigenfchaft, wie auch nad Aufhebung
derjelben durd; die Bauerverordnung von 1817, war die in
Kurland übliche Wirtbichaftsmethode dergeftalt beihaften, daß die
auf fepariten Einzefhöfen angefiedelte Vauerihaft nicht nur die
diefen zugetheilten Ländereien (Sefindesland) zu bearbeiten hatte,
fondern daß ihr zugleich aud die Bearbeitung der im direkter
Rugung der Gutsbefiger ftehenden Ländereien (Vofesland) ablag.
Die Inhaber der Vauerhöfe (Gefindeswirthe) hatten daher eine
über das eigene, unmittelbare Bedürfuig weit hinausgehende
beitsfraft am Wienfhen umd Pferden zu unterhalten. Die
Größe der einzelnen Gefinde bejtimmte fid nicht nur dur) das
Vedürft des und feiner Familie, fondern gleichyeitig
durd) die von ihm für das Hofesland zu leiftende Arbeit und zu
löhnende Arbeitskraft. Mit jeder Vergrößerung der Nofeo-
Wirthicaft ging demnad) auch eine entipredende Vermehrung
oder Vergrößerung der Bauergefinde Hand in Sand, fo daß in
älterer Zeit aus der Zahl und der Größe der Sefinde (Ganze
Häfner, Yu Däfner 20) mit einiger Sicherheit aud) auf den
Umfang md Werth des Vofes-Kulturlandes geichloffen erden
fonnte und cs ganz üblich war, bie Größe eines Gutes Furz
dadurd) zu bezeichnen, dafı man fügte: „Ein Gut won x Gefinden“.
— Diejes wechfelfeitige Vedingtjein zwilden Dofes nnd Gefindes-
Yand, wie die Frohuwirthichaft es begründet hatte, hörte mit
diejer legteren nad) und nad und völlig feit den arregeln
von 1863 auf, welche die Frohnwirthiehaft, die Ihatfächlid) vielfad)
icon jev der Geldpacht gewichen war, nun aud) de jure
bejeitigte. et wurde, joweit «6 nicht schon vorher geichehen
war, die für die Dofesfelder nothwendige Arbeitstraft von den
GSefinden Losgelöft und von den Gutsherren direft in Lohn und
Brot genommen; zu folder Föhnung aber mußte von dem
Gefindeslande ein Theil zum Vofesterritorimm hinzugezogen
werden, wenn anders Umfang und Nubungswerth
der Dofes: Felder, -Wiejen 2, welde nunmehr die
gefammmte Arbeitstraft jelbjt zu unterhalten hatten, annähernd
sı6 Zur furl. Aorarentwidelung.
bie gleichen wie ehedem bleiben jollten. Cs ging nun Diefer
Prozeß nicht in der Weile vor fid, daß allen Gefinden ein
aliquoter Theil (Knehtstand) abreaulirt und zum Dofesarenl
geichlagen wurde, — eine Vahnahme, die fich wegen der zeritreuten
Lage der Gefinde wirthihaftlih von felbit ausichloh — enden
vielmehr fo, daß dem Vedinfniffe nad) einzelne, für den Dof
bequem gelegene Gefinde entweder zu Yandfnechts + Gefinden
umgeformt, oder alo MWirtbichaftseinheiten aufgelöft und ben
Hofesfeldern einverleibt wurden. — Ein nur geringer Brudhtheil
der Gefinde, der feinem Totalumfange nad) bedeutend hinter
demjenigen der „Qute” oder des „Sedhstelo" in Liv: und Ejtland
zurücjichen dürfte, wurde auf diefe Weile zu „Dofestand“, zumal
da vereinzeltem Mihbraucd die Ritterihaft alsbald dadurd) jteuerte,
dafs fie mod vor Erfdeinen der Agrarregelin vom 6. September
1863 einen Erlaß der Kommilfion in Sachen der Furländifchen
Vauerverordmung von Auguft 1863 erportixte, der die
Gefindes Einziehung von der Genehmigung einer befonderen
Kommiffon abhängig machte, die das wirthicaftlice Bebürfnif
in jedem Gingelfalle zuvor zu prüfen hatte. Der überwiegend
arößte Theil der Sefinde verblieb mit allen Yändereien in der
Nuyung der Gefindeswirthe, welche nun, von jeder Arbeits:
verpflichtung nad) außen und von jeder Yöhnung fremder
Arbeitstraft befreit, für das ihnen weit Über das Bedürfnifi des
eigenen Yebensunterhaltes zugefallene Yand eine Pacht zu entrichten
hatten.
Das Jahr 1863 fand aljo folgenden Zuftand vor:
Die Privatgüter beftanden:
1) Aus dem Daupthof und event. Nebenhöfen (Beihöfen), mit
deren Feldern, Miefen und Weiden; die Arbeitstraft
derjelben war entweder auf diejen Döfen jelbjt placirt
und mit Held, Norn, Viehfutter gelohnt (Deputat:
Nnechte) oder im Stnechtsgefinden dj. oben) auf Yan:
mugung angewiefen; zu geringem Theile endlich befand
fie fi noch in den Rachtgefinden vertheitt;
2) Aus obgedachten Anechtsgefinden;
3) Aus Krugs Mühlen und anderen, meilt aud mit Land
dotirten Etabliffements;
Zur furl. Anrarentwidelung. 617
4 Aus dem Walde, deiien Forftwache, die Bufchwächter, ihre
Jahreslöhnung in der Nusung der meilt Heinen, im
Walde belegenen Wirthidaftseinpeiten (Buicwächtereien)
fand;
Aus den „Gefinden“, die als ganz gefonderte Wirthicafts-
einheiten von jeher einem Wirthen in Pachtnusung
(Frohn:, Natural: oder Geldpacht) vergeben waren.
Als nun am 6. September 1863 jene Negeln erihienen,
„auf Grundlage welcher den Bauern in Kurland freigeftellt ift,
Gefinde der Privatgüter zu Eigenthum zu erwerben und Arrende-
Fontrafte abzujchließen“ war Niemand im weifel, dah der
Gefeggeber ausshliehlic die sub 5 aufgeführte Nategorie
ländlicher Grundftüce im Auge gehabt habe, und cs erichien fait
wie ein ZSuperfiunm, wenn der $ der Negeln noch ausdrücklich
bejagte: „Die obigen Negeln beziehen fi fpeziell auf Pacht-
Gefinde und finden Feine Anwendung auf die Fleinen Gefinde,
welche Feld und Bufdmwächtern, jowie den Sofesarbeitern als
Theil des ihnen zufommenden Yohnes zur Benugung übergeben
find (Arbeiter-Etablifements).
Wie follten aud Negeln über langjährige (mindeftens
zwölfjährige) Verpachtung auf Srundjtücde bezogen werden fönnen,
die als Yöhnung an Kerfonen überniefen waren, deren
Dienftverhältnii von Aahr zu Nabe fief, und deren Lüngerer
ober fürzerer Werbleib wefentlich von ihrer Vienfttauglichfeit
abhängig war!
Von den eigentlichen Pa ch t-Gefinden aber fonnten, wenn
auch nicht mehr willfürlich, Fo doch zu wirthichaftlicher Arrondirung
mit fommilforialer Genehmigung immer noch einzelne zu Anechto:
gefinden umgewandelt oder mit dem Hofestande verichmolzen und
fo den Wirfungen der Agrarregeln entzogen werden — eine
beichränfte Freiheit der Gutsherren, die fen 1867 ihre Enpichaft
erreichte, in welchem Jahre die Nitterichaft zur Erfüllung eines
ausgeiprachenen N chen Wunfches fh and dieies Nechtes
begab. Auf ihre Veranlaffung verordnete die Kommiffon in
©. d. Kurl. B. ®. unter dem Bi} IS: „In gleicher
Beichränfung des autsherrlichen Diopofitionsrechtes, wie foldes
durch Vorfhrift vom 13. Auguit 1863 gefcheben, joll von mun
618 Zur furl. Agrarentwidelung.
ab die Einziefung von Pacht: und Frohn-Geiinden, welde als
folhe den Agrarregeln vom 6. September 1863 unterligen, weiter
wicht ftattfinden“. Nur mod ein Austaufh von Baht:
GSefinden gegen gleihwerthige md bebaute Grumditüce
aus dem Dofeslande wird unter Fommilforialer Mitwirkung,
und Genehmigung aud fürderhin gejtattet.
Zu den aus dem Pacht: im Genenfas zum Dienit
Verhältnih fib ergebenden Wiertmalen des Aarar: Gefindes
tritt aber noc) ein weiteres, ausichlaggebendes Moment:
entiprehend der Agrarentwidelung und während des älteren
Wirthichaftsiftems befand fi, wie wir jahen, die Arbeitstraft des
ganzen Gutes in den Gefinden. Es Fonmte daher nicht anders
fein, als dab die dem Gute obliegenden Leiftungen zum Beften
der öffentlichen, jtaatlichen, Eirdhlichen und fommunalen Wohlfahrt
fidh derart vertheilten, dah der Grundherr, als Cigentbiimer des
Voreno mit allem was diejer trug, die erforderlichen Materialien
zum Bau von Gebäuden, Wegen, Brücen 2., wie aud) wo nötbig
den technifch geichulten Sandwerfer bergab, während die eigentliche
Arbeitoleitung, Anfuhr und Stellung der Dandlanger Riticht der
GSefindesmwirthe war. Nehnlich verbanden fh auch noch andere
Reallaften, wie Einguartirung, Beförderung von Beamten, gewiie
Abgaben und Yeiltungen für die Kirde 2. fpegiell mit dem
GSefindesfande und ein chedem unbeanfiandetes, unvordenflides
Herfommen ward die gefeglic anerkannte, rechtliche Yafis di
Verpflichtungen. An dieier von der Yauerverordmung von 1817
wie von dem Provinziafredht janftionivten Nehts und Zadılage
änderten auch die Tpäteren agraren Negelungen nichts, nur dat
bei Gelegenheit des Verkaufs der Gefinde die eallaft umd ihre
Vertheilung auf die einzelnen verpflichteten Orundjtüce meijt
fontraftlich noch beionders feitgeleat und beitimmt wurde.
Es gab und giebt demnad fein Bactaejinde in
Aurland, das nicht feinen Antheil an den Neallajten
au tragen hätte, und das Vorbandeniein jolher Belajtung
ift ein weiteres nothwendiges Merkmal, um ein Grund
fü alo den Agrarregelm unterliegend anzufehn. Tu
aber bei Einziehung einzelner Sefinde zum Dofeslande, fo lange
eine foldhe nod) ftatthaft war, die Yalten diefer Gefinde mit über
Zur furl, Agrarentwidelung. 619
nommen und zuweilen bei Nenverpachtung oder Xerfauf ber
übrigen Gefinde nicht auf dieje abgewälzt worden find, jo fommt
« vor, bafı Gefindes-Neallajten auf dem Hofe, reip. einzelnen
Theilen deielben, ruhen geblieben find. — Es ift daher das
Vorhandenjein folder Laten für ein Grundftüd als
einziges Merfmal nod nicht ausreichend, um es unter
die Agrarregeln zu fubfumiren, fondern nur wenn diejes
Merkmal mit den übrigen aus dem dargelegten Ent:
widelungsgange und den gejeplihen Bejtimmungen
refultivenden zufammentrift, ift es mitentideidend.
Allem Vorftchenden nad) werden wir die geiudhte Antwort
auf die Eingangs geitellte Frage: Was it in Kurland „Gefinde”
im agrarrechtlichen Sinne? dahin präjifiren dürfen:
Auf den Privatgütern in Hurland find Gefinde
(Agrars) diejenigen vom Hofesterritorium geionderten,
mit ftaatlien, firdliden und fommunalen Leiftungen
(Reallaften) beihwerten Wirthicaftseinheiten, welche
dem Gutsherrn chemals Arohne leifteten, dann auf
Pacht übergingen, wobei die Pachtfontrafte gemäß der
VBauerverordnung von 1817 obligaterifh und aus-
nabmslos in das vom Gemeindegericht zu führende
Rontraftenbud einzutragen waren, und melde fich
ansmweislic diefes Kontraftenbudes nod bei Emanirung
der Agrarregeln in Radt befanden und welde nicht vor
1867 in Grundlage des Erlajjes der Kommilli S
in ©.
der 8. ®. vom 13. Auguft 1863 mit fommillorialer
Genehmigung eingezogen worden find. Ferner gehören
zu „Sefinden“ diejenigen Grunditüde, welche auf Brund
des Erlaffes der Kommiflion in Zaden der furländifcen
Bauerverordnung vom 29. März 1867 im Wege des
Austauices gegen eingejogene Ngrargefinde vom Dofe
als Aequivalente diefer hergeneben worden find und
endlic noch diejenigen, welche der Gutsherr nad 1863
aus freiem, unzweideutig verlautbartem Willen als mit
Neallaften zu belegende „Sejinde” nen Freirt hat.
Me übrigen und namentlich auch die am Yöhmmgsitatt
an Feld und Bufcwächter und Nuechte zur Nußung übergebenen
620 Zur furl. Agrarentwidelung.
ländlichen Grumdftüce find und bleiben von der Wirfjanfeit der
Agrarregeln ausgeihloifen, schon weit ihrer Ausung ein Dienit
verhäftwiß zu Grunde liegt, das dem Begriffe und Exfordernifie
des Bachtvertrages (zumal dem der Agrarregeln von 1863)
widerfpricht, und es ändert daran nichts, daß etwa bei ihrer
früheren rechtmäßigen Umwandlung aus wprünglichen Frohn:
oder Pacht:Gefinden die Nenllaften mit übernommen worden find.
Das ift auch unzweifelhaft Sinn und Meinung des S 19 der
Agrarregeln und es erfheint vollfommen ungeretf
verfucht worden ift, ein befonderes Gewicht daranf zu legen,
daf; diefer $ mur die Meinen Sefinde ausichlöfie, die alo Theil
des Fohnes an Feld-Bufchwächter u. f. m. überwielen feien. Ganz
offenbar wollte der Sefegeber durch diefe Beiworte nichts anderes
als den thatfächlih in der überwiegenden Mehrzahl der Aülle
vorhandenen Zuftand Tennzeichnen, nicht aber bedingende
Momente damit ausiprechen, fonft hätte er fid) niemals eines fo
unbejtimmbaren und relativen Begriffes wie „fein“ bedienen
dürfen und eine Erklärung dafür geben mühlen, welchen jonft
nicht ertennbaren Unterfchied es für den Charakter, fomahl des
Dienftverhältmifies nie auch des Grundjtüces bedingt, vb letteres
einen Theil des Lohnes oder den ganzen Yohn ausmacht.
mit wäre unfer Thema eigentlich zu Ende geführt; es
fällt jedoch jchwer, dafjelbe zu verlaften ohne fich der charakteriftiichen
Züge des Bildes bewußt zu werden, das uns in der Furländifchen
Agrarentwicelung dargeboten wird.
An prägnanteiten treten diefelben in der Kormulirung
hervor, die der Yandtag von 867 zur Kennzeichnung der
Tragweite feiner Vejchlühle wählte und die unverändert auch in
dem oberwähnten Erlaffe der Nommillten in <. d. furl. BU.
vom 29. März 1867 enthalten it. Cs beißt dafelbit: „Dieje
von der Nitterfhaft im ntereife der Entwidelung des Heinen
Befiges beantragte Yeihränfung des qutsherrlichen Dispofitions
rechtes (se. Verbot der Gefindeseinzichung) erreicht mit der Aus
icheivung der Sefinde aus dem qutoberrlichen Eigentbum und der
Eigenthumserwerbung durch die Kächter ihre Endichaft, indem in
Zur furl. Agrarentiwielung. 621
Nurfand ein „Bauerland“ weder aefeglih befteht, nod durd die
bier beantragte Mahregel geihaffen wird. Diefe Lorfchrift der
Nommillion tritt Tonach mit feinem der Prinzipien des Gejebes
in Wideripruch, fondern foll nur deiien Anwendung dem AWunfche
Seiner Naiferlihen Majefiät gemäß bis dahin regeln, wo der
Hauptzwed Deo Agrargejeges erreicht fein wird, nämlid) die
herung des feinen Orundbefiges in Nurlaud durd den Gefinde:
Vertauft.
Kay Hierin num nicht ein innerer MWideripruch: die fait
ängjttich zu nennende Vermeidung der Areivung eines Banerlandes
einerjeits — und der in Wort und That befundete Wille der
Kitterichaft „den Heinen Grundbefig durd) den Gefindeverfauf zu
fichern” andererfeits? Dem Anicheine nad vielleicht, — ber,
Abficht und dem Erfolge nad) feineswegs! Nurland war «8 von
jeher gewohnt, dai fid) das Yeben auf all den verihiedenen
Gebieten feine Geftaltungen und Kormen von innen heraus fchuf
und dai; eine geiehgeberiiche Negelung meift exit nadyfam, die
dann das Lorhandene ordnend und regelnd zugleid) weiterem
Fortichritt die Wege babnte,
So war es bisher and) anf dem agrarpolitiichem (Gebiete
gegangen. Wenn and nicht de jure, de facto hatte ein
Yauerland dach chen in den fernjten Zeiten der Yeibeigenichaft
in Seftalt der die Frohne leitenden Sejinde bejtanden, und aud
nad Areilaflung der Banern und nad) Xeränderung des
Wirthihaftsipftems war in den Händen der bäuerlichen Aupnicher,
als munmehrigen Räctern, das Yand in reichlicerem Mafie
verblieben, alo es die Väter chedem zu eigenem Beflen (d. D.
abgejehen von der für den Hof zu unterhaltenden Arbeitstraft)
genupt hatten. Was hinderte mun wohl die kurt. Nitterichaft,
bie jcheinbar einfachite Kölung der Agrarfrage durch Ziehung des
„voten Stricheo" zwifchen Hofes: und Bauerland zu wählen?
Gewiß nicht in letter Neihe die Schen vor einem fo tiefgchenden
und in feinen Folgen unabänderlicen Eingriff der gefebgebenden
Gewalt im ein bisher matürlid und reid) fi entjaltendes
irthiehnftsteben. Die geograpbiiche Abgrenzung allein fonnte
ja in feinem fulle genügen, fondern muhte fi ftets mit all
jenen befonderen Normen md Beltimmungen verbinden, welche
622 Zur furl, Agrarentwidelung.
dem „VBauerlande“ erft den Charakter verleihen. Und das vom
„grünen Tiih“ aus, ein für alle Mal, und in einem Zeitpunkte,
da die neuen Grunbfäge rationeller Wirthidaft doch noch nicht
ausnahmslos durchgeführt waren, fondern es noch mancdherlei
Kefte aus älterer Zeit (Frohne, Naturalpaht 2.) gab — dazu
Tonnte fih fon der eminent wirthfchaftliche und praftiihe Sinn
der Kurländer nimmermehr verftehn! aufrichtig die von
überwiegender Majorität gefahten Befchlüfle bez. Cinfehränfung
vefp. Verbot der Gefindes-Einziehung aud waren, jo ernftlich
gewollt und als nothwendig erfannt „die Sicherung des Heinen
Grundbefiges durd) den Gefindeverfauf“, jo unverbrüchlich bielt
man dennod) an dem Grundfage „der freien Vereinbarung” feit.
Auch jet follte das Gejeh, bei Nonfolidirung uud Negelung
des Veftchenden, nur die Bahn weiter abftedfen und freilegen,
auf welder dann das felditgelenfte Gefährt feinem nächiten
und mwichtigften Zielpunfte zufteuern würde: einem freien Klein
grundbefige in der Hand des freien Bauern!
Von diefem Grundgedanken ausgehend, mit bemunderungs-
werthem ftaatsmänniichem Blick für das Nothwendige und Durch)
führbare, alle inneren wie äußeren Rippen gleich gefchiett ver
meidend, fonftruirte der damalige Landesbevollmächtigte, Sammer:
berr Baron €. v. d. Nede, fein Projekt zu den Agrarregeln, das
nicht weniger genial zu nennen ift in dem, was e8 zu reglemenfiren
unterläßt, als in dem mas c8 vegelt und bejtimmt. Das zeigte
fi auch gleich auf der zu feiner Durchberatbung zufammen
berufenen „brüdertichen Konferenz“ des Jahres 1863, Steines
ber zahlreichen Amendements und Gegenprojefte vermochte Angefichts
der natürlichen Logit des Nedeichen Entwurfes vor der Hritit
des gefunden Sinnes und des aufrichtigen Wohlwallens der
viriliter verfammelten Nitterichaft zu beitehen. Mit ganz gering.
fügigen, unbedeutenden Gmendationen wurde es mit einer
Viajorität von über zwei Drittel der Stimmen angenommen und
einige Monate darauf durd) den Dftfcefomit& zu Allerhöchiter
Vertätigung gebracht.
Kein Bauerland, Feine Negierungsmahnahmen und
feine Beamten zur Abgrenzung deilelben; fein über:
hafteter Zwangsverfauf, und feine Neglementirung der
Zur furl. Agrarentwicelung. 623
Verfaufs- Bedingungen und Ablöfungs-Zahlungen in
unrealifirdaren Papieren! Dafür gung und
Negehung des ichon beftchenden Badtverhältnifies, als
nothwendiger Vorftufe, Schuß des derzeitigen Bädhters
dur Vorpacht- und Borfaufs-Kecht und eventuellen
Entjhädigungs-Anipruc, falls ev dem Angebot einer dritten
Berfon weichen muß oder fein Pacht: veip. Kauf Objekt durch,
Kegulivung über das geleplich vorgeichene Maf verändert worden;
und endlich billiger, von Seiten des Darleihers (furländ.
Kredit:erein) unfündbarer Kredit im übrigen aber:
Freie Bahn! Annerhalb diefer wenigen Wiarffteine hat die
furländifche Agrarentwiehung auf dem ihr gewohnten Boden
der freien Wereinbarung das 33 ep. 26 Jahren
(Fideifommiffe) fo gut wie wolljländig erreiht: Der Feine
Grundbejig iit begründet.
Fit er aber num and für alle Zukunft geficher
Die Vejhränfungen des guisherrlihen Dispofitionsred)tes,
die Verbote der „Einziehung“, erreichen gemäh dem Erfafie von
1867 „mit ber Ausfcheidung der Gefinde aus dem gutsherrlicen
Eigenthume und der Eigentdunserwerbung durd) die Pächter ihre
Endfihaft“. In der Hand des bänerlichen Erwerbers ift das
Land ein freies und, was nicht zu überfehen ift, ein um fo
werthoolleres, je weniger Befhränfungen es feinem
Befiser auferlegt. Liegt aber dabei nicht bie Gefahr vor,
daß dereinft eine größere, ihre Veranlagung in Grund md Boden
fuchende Kapitaltraft zum Auffauf und zur Zufammentegung diefer
Heinen Wirthichaftseinheiten fehreitet und jo der Feine Grundbefig
zu fein wieder aufhört? X der Theorie ift diefe Möglichkeit nicht
zu beftweiten und cs it feineswegs der utsherr allein, der dieje
Gefahr ausmacht. In der Praris aber zeigt fid) bislang in
Ntınland nicht die neringite Neigung zur Latifundienbildung, int
Gegentpeil ift die Tendenz zu weiterer Zerlegung, zur Gründung
von Heinen Anfiedelungen auf Hofeoland weit cher bemerkbar,
und die vorgefommenen Nückäufe von Gefinden find nur
vorübergehende Mafnahmen zur möglihiten Sicherung des
Kauflchillingsreftes geweien in Fällen, mo die Ungunft der gegen-
wärtigen Wirthichaftsverhättnifie oder die Umwirthicaftlichfeit des
624 Zur Aucl. Agrarentwidelung.
Gefindeswirthen diefen zum Vanferott gebracht haben. — Der
gröheren Kauffraft des Kapitales fteht das zühe Feftbalten und
Hängen an der Scholle von Seiten des Bauern gegenüber, und
die Reallaften, welche auf dem Gefinde ruhen, und die einmal
volfzogene hypothefariiche Abtrennung des Gefindes vom Hauptgute,
woburd) der Vauergemeinde das Objeft der Veftenerung für ihre
fommumalen Bebürfniffe dauernd beftimmt ift, bieten, neben dem
unverhältnißmähigen Gebäubewerth der feinen Wirkbfehaftseinheiten,
einen weiteren, jlarfen Schup vor etwaigen Einziehungsgelüften
des Gutsherrn. Dennod bleibt die Frage in thesi eine offene,
und wir zweifeln nicht, da der Grofigrundbefiger-Stand, der
feinen Willen „einen Heinen bäuerlichen Grundbefis neben fid zu
Haben“, durch Wort und That befundet Hat, den Zeitpunkt nicht
überfehen wird, wo etwa Maßnahmen geboten ericeinen Fönnten,
welche die Erhaltung des feinen Grundbefises (möglichjt ohne
Werthminderung deilelben) noch weiter fiherten. — Hat doch die
furländiiche Nitter- und Yandichaft eine Gefahr, die weit näher
liegt als die vorberegte, aud nicht überjeben, die
Gefahr, die für den Fortbejtand der Sefinde durd die
Erbihaftstheilungen mit Naturnotbwendigfeit herauf:
beihworen wird. Ein die Erhaltung des Heinen Grundbefiges
in einer Hand anftrebendes Bauer-Erbredjt it daher im I. 1590
der hohen Staatsregierung von der Nitterichaft zur Betätigung
vorgeftellt worden. Ein fol geregeltes Erbrecht thut allerdings
dringend noth, denn jo glänzend fi auch der leitende Gedanfe
der Agrarregeln bewährt Hat: „Man hebe den bäuerlichen Klein
grunbbefigerjtand nur auf's Pferd, reiten würde er dann jchon
Tonnen“, fo bleibt derjelbe do nur wahr, fo lange je auf
einem Pferde nur ein Neiter fißt.
der X. ardüologiihe Kongreh zu ige
im Anguft 1896,
Von Dr. X. Bielenitein.
Auf den ausdrüclichen Wunfd Cr. Majeftät des Kaifers
Aleranders IL, war vor drei Jahren in Wilna in der legten
Sigung des IX. archäologiichen Kongrefies der Veichluß gefaßt
worden, die nächte Verfammlung nach Niga einzuberufen. Die
Kunde von diefem Bejchluf; erregte die Geifter und Gemüther im
baltiichen Lande nicht wenig. Die bisherigen Arbeiten und
Veftrebungen der ruflichen Archäologen, die feit 24 Jahren durd)
die verfchiedenen Zentren des Neiches wandernd, mm don neun
Val getagt hatten, waren bei uns ziemlich unbefannt geblieben.
ir wußten nicht, was wir zu erwarten hätten, was man uns
bringen und mas man von uns fordern würde. Die unleugbar
arößte Schwierigkeit, mit der wir zu vedhnen hatten, war die
Verhandlungsiprade. Sobald die rujjiihe allein in den Verhand:
fangen jtatthaft blieb, wie auf den bisherigen Kongrefien, höchitens
mit der Ausnahme, dal ausländifhe Gelehrte etwa der deutichen
fichen Sprache fach bedienen dürften, jo war jo ziemlich
die ganze baltifche deutiche Intelligenz von der aftiven Vetheiligung
am Nongrei zu Niga ausgeichlofien; denn nun die jüngere und
jüngjte Generation, welche auf dem Nongrei; eine Nolle zu fpielen
it, hat Gelegenheit gehabt, einigermaßen mit
der ruffiichen Spradie in der Schule fid) befannt oder vertraut
zu maden. Uns Balten aber mußte daran liegen, da, wenn der
626 Der X. ardäologiiche Nongreh.
Nongreß nad) Niga fäme, er in mafgebender Weile über die
Vorzeit, die Archäologie und Gedichte unferer Provinzen
wiifenfehaftlid) orientirt würde. Die Ungewißheit, wie weit das
würde geichehen Fönnen, lähmte die Gemüther und die Hände,
Dieje Thatfachen veranlaften den Verfaifer diefer Heilen im
Früherbft 1803 in einem offenherzigen Briefe an die Gräfin
Umarow, die das Präfidium der arhävlogiichen Gefelfichaft zu
Moskau führt, die umfeugbaren Schwierigkeiten zu fennzeichnen,
unfere Veforgniffe auszuiprehen neben der Freude darüber, dal;
die ruiftiche Wiffenihaft mit den baltif—hen Provinzen fih näher
bekannt machen wolle, was unferen Provinzen nur nüben fnne.
Zugleich fprach Verfaffer in den eriten Zitungen, fowohl der
Sefellichaft für Geichichte und Alterthumskunde zu Riga, als au
der für Litteratur und Munft zu Mitan fich energ dabin aus,
wenn ms der Gebrauch der deutihen Sprade in den
Verhandlungen des Kongreifes bewilligt werden jollte, wir mit
voller Straft auf den Kongreh uns vorbereiten und das Gediegenfte
won Arbeit dazu liefern mühten, am zu zeigen, welche geiftige
Frucht unjere 700-jährige Gefchichte gezeitigt bat, und was für
eine geiflige Kraft wir in den Dienft des ganzen Neiches nod zu
ftellen im Stande wären.
Die Hräfin Umaromw antwortete mit großer Yiebensmirdigfeit
genan in dem Sinne, wie fie nachher bei den Vorbereitungen des
Kongrejies und auf ibm jelbjt geredet und gehandelt umd den
glänzenden Erfolg defjelben bewirkt hat. Unfere Diftoriter fahten
damals allmählich Muth; in unferen gelehrten Gejellichaiten
wurden Lebhafte Verhandlungen geführt, Ihemata fir den Nonareh
äufanmengeftellt, Delegirte zur Vorberathung nad) Mosfau im
Januar 1894 gefendet, welche dort bei den mafigebenden
Autoritäten das fremdlichite Entgegenfommen fanden. Bon der
allergeöften Bedeutung war der in Moskau Fundgegebene, über:
vajchende Beichluß der Gejellichaft für Seichichte und Alterthums:
kunde zu Riga, fie jei bereit für den Kongreh eine archüologüche
Ausjtellung auf eigene Koften, aber dann anch ganz unabhängig,
unter eigener Direftion zu veranftalten. Der Mann, welder
den Diuth amd die Energie gehabt hat, die gewaltige Aufgabe
wejentlih auf feine Schultern zu nehmen, und die Straf und die
Der X. arhälogifche Kongreh. 627
Gewandtheit fie auszuführen, war neben Profefior Hausmann,
Anton Buchholg, welder hauptfählich damit zum Erfolge des
Kongrefies beigetragen bat. Im Jahre 18 furz vor Oftern,
befuchte die Gräfin Umarom Niga, berieth die vorläufigen Fragen
mit den Vertretern der Provinzialregierung, der Stadt und ber
leitenden wijlenichaftlichen Sreife in umfichtigfter und licbens:
mwürdigiter Weije und brachte die von dem Minifterium der’Volfs-
aufflärung bejtätigten Negeln des X. Kongreifes mit, deren 29.
Punkt der guten Suche damit diente, dab er dem gelehrien
Komite des Kongreiies das Necht ertheilte, „wenn er es für
nothwendig findet, Sigungen in franzöfiiher und deuticher Sprache
abzuhalten“. Ein lokales vorbereitendes Komite, unter dem
Präfidium des Nigafchen Stadthauptaehilfen E. von Vötticher,
ward in. eben jenen Tagen eingejeßt.
Den günitig verlanfenen Vorverbandtungen zu Moskau (und
zu Niga) folgten viele Monate ftiller eifriger Arbeit der baltiichen
gelehrten Sefellicpaften und vieler einzelner Foricher, die von dem
einen Gedanfen bejeeit waren, den Kongreß, da er mn einmal
bevorftand, fo wi und jo chrenvoll für unfere Provinzen zu
geitalten, als irgend möglic.
Es ift nicht die Aufgabe diefer Blätter, die Gejdichte
diefer jtillen Vorarbeit zu bieten. Ebenfo wenig fünnen oder
follen wir eine genaue Geichichte des Kongreiies felbjt oder gar
feiner einzelnen Sigungen protofollariid ihreiben. Den geehrien
Yefern, denen die Ereigniffe der eriten Auguftwocen diefes Jahres
durchaus nicht unbekannt geblieben find, wird es an diejer Stelle
genügen, eine zujammenfaiende Neberfidht des Ganzen, eine Stizje
der perfönlich empfangenen Eindrüde, eine allgemeine Charatterifirung
des Stongrefverlaufes und -erfolges umd ein furzes Wort über die
Beheutung dejielben für die Gegenwart und Zukunft unferes
Yeimatblandes zu vernehmen.
Nachdem in den leglen Tagen des Juli-Monats die leitenden
erjonen in Niga fid veriammelt hatten, wurde das gelehrte
Nomite unter dem Präfidium des PBrofefiors Uspensfi, Direktor
des ruffichen archäologiihen Snftituts zu Konftantinopel gebildet,
und wurden die Präfidenten der Seftionen nebft ihren Sefretäven
gewählt. Diefe Funktionäre alle hier zu nennen, würde zu weit
s Der X. archäotogche Kongrefi
führen, fachlich aber ijt es intereflant, die Namen der Ceftionen
aufzuführen. Es waren: 1. Vorbiftoriiche Aterthüner. 2. Hiitoriiche,
geographiiche und ethnographice Alterthümer. 3. Denkmäler der
Kunft. 4 Hänsliches und gefellichaftlihes eben, Nechtokunde
und triegawefen. 5. Nirhliche Alterthüner. 6. Denkmäler des
Schreib: und Spradiweiens. 7. Naffiihe, buzantiniiche und weit
europiiiche Alterthümer. 8. Baltiiche Alterthümer. Alterthünmer
des Orients. 10. Plünzen- amd Siegelfunde. 11. Archäographifce
Tenfmäler.
Es ift natürlich, da in den meiten diefer Seftionen vuffüiche
Gelehrte präfidirten, doc blieben die baltischen durdjaus nicht
unberücfichtigt. Dr. E. von Nottbed, Neval, leitete Sektion
3. 6. Engelmann, Profeifor zu Dorpat, Sektion 8; Baron N.
Bruiningf Sektion 10. So waren in den drei genannten Kerfonen
die hervorragenden Städte des baltiichen Yandes vertreten. Das
Prifidium des ganzen Songreiles blieb wie immer in den bewährten
Händen dev Gräfin Uwvarow, melde ja das unbedingte Vertrauen
der ganzen Verfammlung befaßt und verdiente. Areilic war cs
uns etwas Ungemohntes, eine Frau an der Spite einer fo grafien
Verfammfung hervorragender Männer des großen Neidheo und
des Auslandes zu fehen, zählte doch der Kongrei im Ganzen
7 Mütglieder ) (122 mehr als der zu Wilma). Aber die
Erjcheinung und das ganze Auftreten, Neden und Dandeln der
Sräfin verwandelte bald bei Allen die Verwunderung in
Vewmmderung der ungewöhnlichen Frau. Alles an ihr war eruit,
mahvoll, würdig und edel, feinfinnig und taftvoll. Sie war den
wifienfchaftlicen Anfgaben gewacdyen, wenn and nicht fetbjt alle
zu enticheiden, jo dad) diejelben einer geeigneten Entjcheidung
entgegemzuführen. Es fehlte übrigens nicht an Debatten, wo fie
perjönlich eingriff, und wenn fie cs that, fo beunbte fie die Viacht
des Weibes zwiichen freitenden Karteien zu vermitteln. An allen
Fragen und Verhandlungen bewies fie das lebhafteite Intereife
Dit einer wunderbaren Ansdaner wohnte fie den zwei oft drei
*) Darımer 185 ans den rufühhen Sonne
feisteren 24 Wrofefioren, emtanten andcrer
aus Preufien AMönigsberg. Tanziq, Yerlin, Brestan
teils Tirefioren von Mu . . bedeutenden Namens.
Der X. ardäologiice Kongref. 520
tägihen Zigungen (6-7 Stunden lang) bei, woneben jie täglid),
schon des Morgens früh und bis zum Abend fpät zahllofe Vifiten
einpfing, geichäfttiche Nebenverhandlungen pflog und Vefuche machte.
Das it ungewöhnliche Kraft, aber das herigewinnendfte war an
der Gräfin ihre humane Gefinnung, ihre unparteiliche Xicbens:
würdigfeit gegen Jeden, jelbjt gegen den fie etwa verfennenden
Gegner, wie viel mehr noch) gegen diejenigen, welde ihr mit
Vertrauen entgegenfamen. Sie verftand «5 unter den obwaltenden
Ihwierigen Lerhäftniffen zu verhüten, daß ein politiiher oder ein
fonfeifioneller Anftoh der einen oder der anderen Seite gegeben
würde, und ihr Zinn und Geifl verbreitete fi unmerflich und
jelbjtverftändlih auf die ganze Verfammlung. Cs darf wohl
behauptet werden, dal fich jchwerlich irgend eine Perfünlichfeit,
dai; irgend ein Mann fi hätte finden laffen fünnen, der im
ande gewefen wäre, die imleugbaren Schwierigleiten eine
vuffiihen Nongrefies im baltiichen Gebiet jo tadellos und, wie es
den Eindrud machte, jo leicht zu überwinden, als wie es der
m Umarow thatlächlic gelungen
In Herzen ige’, im Gewirre der engen mb leife
gefrümmten Gajfen, fait verftedt vor den Augen der Mafle,
weldre dich die Hauptverfehrsadern der Stadt hin und her
ftrömt, ftehen in ftolzer Stille die beiden Hildenhäufer gejchwifterlich
neben einander, das Heim der großen Nanflente, die ihre Waaren
über die Meere enden, unter dem Emblem des Schiffes mit
geichwellten Segeln und der gefreuzten Schlüffel der Stadt Niga,
feit dem 13. Jahrhundert der Obhut der heiligen Marin als
Patronin befohlen, und das Heim der ehrfamen Zünfte, der
36 Handwerfsäuter, welche aud unter der neuen Städteorduung
ihre Schragen und Ordnungen aus dem 14. Jahrhundert fi zu
erpalten verftanden haben und jo bis heute in ihrem Areife den
zunchmenden Verfall des Bandiverfs wehren und Tüchtigfeit im
Gewerbe, Zucht und Sitte und Fürforge für ihre Htieder bewahren
und. pilegen. Prachträume beider in ihrer gegen
Geftalt aus der Mitte diefes Jahrhunderts ftammenden Gebäude
waren mit Yiberalität dem Kongreß und feinen Bedir]
worden. Die Brautfammer im unteren Gejchoi der großen Gilde
enthielt das Bureau des Kongrefies, wo die Eintrittsfarten und
630 Der X. archäologische Kongreh.
die Abzeichen (mit bfauem Bande für die Nongreßglieder, mit
rothem für die Delegivten), die Kataloge u. |. m. vertheilt, und
alle Auskünfte gegeben wurden. Der daneben liegende zweiichiffig
Saal mit den fchönen Areuggewölben auf jede Säulen diente
einzelnen größeren Romitö-Sigungen. Beide diefe Näume find
bei dem Umbau aus dem älteften ufprünglicen Ban fonfervitt.
Der große Saal im oberen tod enthielt die ardhäoleg
iiche Aus:
ftellung. Die Kongreß Sigungen fanden im oberen aal der
feinen Gilde ftatt. An der Fenfterwand fah an langer Tafel
das ium mit feinen Aunktionären auf erhöhtem lab,
daneben das doppelte Katheder, von welchem herab die Nedner
mit ehvas mangelhafter Aujtit zu fümpfen hatten, was hätte
vermieden werden fünnen, wenn das Natheder an der Schmaljeite
aufgeftellt gewefen wäre. In diefem Falle Hätte die Verfammlung
and) nicht wöthig gehabt in das Aenfterlicht zu fchanen.
An 1. Aguft füllte fh der Sanl um die Mittagsimde
zuw Eröffnungsfeier, an welder fänmtfiche höchte Würdenträger
der drei Oftfeeprovinzen, die Vertreter des Staates, der Adels
Korporationen und Städte theilnahmen. Nad dem Sefang einer
Home, ausgeführt vom erzbiiböffichen Zängerdor folgten einander
wungs: und Vegrüßungsreden des Nurators, der das
Pinifterinm der Volfoaufflärung vertrat, des Gonverneus von
Livland, des Nigafhen Stadihaupts (ruflüich und deutich), der
Gräfin Umarow und des Prüfidenten des fettiihen Vereins
Sroßwald u. |. m. Vejonders jompathiich berührten die funzen
und chlagenden Worte des Gomverneurs, Generalmajor Suromgen
und die den biftoriichen Mittheilungen angefünte warme An-
erfenmung, welche die Gräfin den um die baktiiche Archäologie
verdienten, bereits entichlafenen Männern Stufe, Baehr und
Srewingf, wie den großen Verdieniten des Profeiors Hausmann
m den gegenwärtigen Nongreh und die Ausftelhing nebft feinen
Mitarbeitern zollte. Bei einem Gange durch den oberen Saal
der großen Gilde wurde die arcäologifche Austellung und darnad)
die lettifche ethnographiiche unter Neden, dort des Baron Bruiningt,
hier des Präfidenten Großwald, eröfinet. Auf diefe Ausjtellungen
fonmen wir unten nod zurüc.
Wir mühen vor Allem unjeren Bid auf die Kongrehs
Der X. archäologiihe Kongreh. 631
verhandlungen jelbft richten. Die Sipungen fanden meift drei
Dal täglich ftatt. Jede dauerte reichlid zwei Etunden und
darüber; num furze Paufen wurden der leiblichen Erquidung
gewährt. Eine eigentliche Exholung gab cs fan; denn jede
Stunde wurde ausgefauft, um den anregenden Wngang mit den
von nah und fern zufammengefommenen geiftig bedeutenden
Vännern zu geniejen und hunderterlei zu beipredjen, wozu in
den offiziellen Sigungen fein Naum war. Jede Sigung war
einer beftinmten Sektion gewidmet. Der Bräfident diefer Seftion
mit feinem befonderen Sefretär hatte zuvor alles zu ordnen, mit
den Neferenten des Tages fid zu verftändigen u. |. m. Neben
ihm leitete aber formell die Verhandlung ein für jede Sißung
beftimmter Chrenpräfident, welcher aus der Zahl der hervor:
tagenderen Kongrehglieder, um ihn eben zu chren, gewählt war.
Der Apparat war ein Fompligivter und deshalb vielleicht etwas
ihwerfälliger; das zeigte fid) aber in den Sigungen felbjt nicht.
Weberfhauen wir die geiflige Arbeit des Kongreiies, verfuchen
wir die Stofie, über welde verhandelt wurde, zu gruppiren, unter:
icheiden wir dabei, was in unferem all von ntereffe it, was
und wieviel von den Nongreßgliedern ans dem Innern des Neiches
amd andererfeits von denen aus den Oflfeeprovinzen geleiftel
wurde. (Un die Vorträge der Legteren Fönnen wir die wenigen
aus Finnland und Preußen anfügen). Die Sprade des Vortrages
lajien wie zunächft unberüctfichtigt; darauf fonmmen wir nod) Ipäte
Bei diefem Ueberblit müren wir über die Diajie und Vielartig
des Stoffes flaunen, jedoch nicht allein über die Ertenfität, fondern
auch über die meift gründfiche Forfbung und meilt gewandte
Darjtellung.
genoffen ruffticher Nationalität machten Wittheitungen
Gebiet der Archäologie und Gejchiehte im weiten
Wortes betreffs Wefleuropas, Ungarns, Vulgariens, des osmanifchen
Keiches und dann Nuhlands von der Krim bis zum Norden, von
der Wolga bis Yitthauen. Sie gingen aud) nicht vorüber an der
inegiellen Gefdhiehte und Arcologie des baltiichen Yandes, aber
«5 fann nicht verichwiegen werden, da die Männer ruffiicher
Nationalität, die vielleicht feit Jahren bei uns gewohnt und gelebt,
Der X. archäologifche Kongrefi.
am alterwenigjten Jeit gefunden haben, einen Beitrag zu ber
Yöfung der Kongrehaufgaben zu liefern.
Weftenropa lag dem Mongreh fern. Tas
Vortrag über Mofaiten Navennajcher Hürden.
Iunjews Hektor VBudilowitich iprach über die Aufgaben der
ftaviich rufiichen Archäologie mit Beziebung auf Yand und Lolf
deo heutigen Ungarn. Co ift ja natürlich, dab die zahlreichen
laven Ungarns mit ihrer Gegenwart und Vergangenheit das
tebbafteite Anterefe der rufichen Wiilenihaft auf fi ziehen.
Von hervorragender Bedeutung it die vor wenigen Nahren
erfolgte Gründung des rufftien archäologiichen Jnftitnts zu
Nonftantinopel. Die Uriprünge der griechiich Fatholifchen Kirche
aus Nonjlantinopel, die damit zujammenhängenden Kultureinflülie
Konftantinopels und Griechenlands auf Kiew und das game
ruifische Schrifttbum, das Jahrhunderte alte politiiche Streben
Nuflands nad) dem Schwarzen Meere und der Donau, ja in
aewiien Sinne nach dem Bosporus und Jerujalem hätte einentfid
icon viel früher einen Mittelpunkt ilaviicher bilterifder Foricung
in Konftantinopel erfordert. ent ut Di ittelpunft da, und
dort fönnen interefiante Nefultate zu Tage gefordert werden. Die
Berentung des genannten Anitituto Fam auf dem Kongrek dadurdı
zur Geltung, dal dem Direftor dejielben, Profejior Uopensfi das
Präfidium des gelehrten Nomitds übertragen wurde, und dal;
gerade er die Neibe der Vorträge mit einem über das genannte
ige war ein
Snititnt und einen allereviten Bericht, theils ber die
Gründung deijelben, theils über die nadı Aulgarien, nad) dem
Verge Abos und nad) denhwirdigen Ztävten Nleinafiens gemachten
Ausflüge geben fonnte. Später hielt derielbe einen beionderen
Vortrag über die Arquifition des jüngt in Atteinaften aufgefundenen
eodex purpureus der vier Conngelien (auf violett gefärbten
Pergament mit filbernen Vuchitaben geichrieben). Nachher folgten
Spezialberichte anderer Gelehrten über ardäologiie Aunde in
Nonftantinopel (Sarophage, ältere Stulpturen), über Aterthümer
Yulgariens, Nifins, Nitopemiens, über die Wicdererrichtung der
Apoftelfirdhe zu Nonjtantinopel. Cs it offenbar, da; die nächiten
Kongrefie über diefes Arbeitsgebiet ned viel mehr bringen werden.
Ein ardüologiich bejonders mertwürdiger Theil Aulands
Der X. archäologische Kongreh. 633
üt der von uraltgriechiicher Nultu durdhzogene Süden des Neiches
an den Gejtaden des Schwarzen Meeres. Abgejehen von einem
Vortrag über eine Oefinung frimjcher Gräber 1896, behandelte
Profeffor Malmberg von unjerer Univerfitit die Arage nach Zeit
und Ort der Entjtchung qriehiicher und ariebife barbariicher
Erzeugniffe in Eid Nufland. Profefior Stern, Ovejla, berichtete
über die maiienhafte Aälfhung Haflischer Alterthümer in demfelben
Gebiete und bewirkte damit, dab der Nongreh Wege zu Tuchen
beichloß, wie die wiiienichaftlihe Welt vor jenen Rälfcungen
könnte geibügt werden. An diefer Stelle fann ad nod ein
Vortrag über die Nachrichten Herodots betreiis nicht ffylbiicher
Voller erwähnt werden.
Sieben Vorträge behandelten Gräberunterfudungen und
Gräberfunde (Stein, Bronze, Cijen) in jehr verihiedenen Theilen
des Neichsinnern. Hervorragendes \ntereffe ermedte Afademiter
Anurfhin, als er über das Vortommen chriftlicher Kreuze und
Vilder in Heidengräbern berichtete. Diefelben Ächeinen durch eine
hrifiliche Viffionsthätigfeit zu den Heiden qefommen, und von
diejen, wenn nicht im Gtauben, fo im Aberglauben gebraucht und
getragen zu fein.
Die Erforfchung der alt-heidnijchen YBurgberge muß in
Zufammenhang mit der Tombologie gejegt werden; denn auf
jenen Vurgbergen haben diefelben Yente gewohnt, deren Nejte
wir in den heidniichen Gräbern finden. Schon die früheren
archäoloniichen Mongrefie haben fi mit der verwandten Arage
mehrfach beihäftigt; in Niga war es nu ein Koricer, welcher
die Topen von Yurgbergen im Innern des Neiches und zwar
am Dujepr beichrieb.
Zabfreicher waren die Behandlungen Firchlicher und Finchen-
bütoriicher Fragen. Yebhaftes Antereite erregte die Nejtanration
der Sophienficche in Nowgorod. Sierber gehört ad) das apofrnpbe
Leben des Apojels Petrus, drei Vorträge jur (efchichte der
ifigenbild-Dialerei und Vorträge über die Frchlic, archäologiicen
Denkmäler der Stadt Pinst, über die Spuren des Ghriftenthums
am Don ih der vorinongaliichen Periode, über die „stofterlinder“
im Moskauer Zarthım im 16. und 17. Jahrhundert, endlich eine
Unterfuchung über die Yegende, day; ein Bild des heiligen Nitolaus
634 Der X. archüologiiche Rongrehi.
etwa um’s Jahr 1224 aus der Nrim (wabrheintich aus Kiew)
auf dem Waljerwege des Tnjepr und der Düna nad Niga und
von da über Kies (Wenden) nad Nowgorod u. f. 1. gebracht Tei.
Zur eigentlichen Gedichte Nuftands mülen folgende Neferate
gezählt werden: über die Acheutung des Namens Pyen mo die
tufiiiche Wilenfchaft fi) mod immer nicht einigen fann und zu
einem Theil noch immer die normanniche Herlunft der Gründer
des rufliichen Reiches zu beftreiten nicht müde wird, während dad)
diefelbe, abgeiehen von den Yeugniifen der Ehronifen, dur
ipradwiilenichaftliche Gründe als genügend erhärtet fheint. Ein
Vortrag vermißte mit Nedht die genaue Wiedergabe der Urts
namen auf den Narten, welche dad viel dazu beitragen Fönnte,
die Grenzen früherer Site einzelner Wölferihaften nadzmveiien.
Hiermit wide die hohe Bedeutung toponomafliicher Koridungen
für die Landesgeihichte bezeugt. Ein Vortrag behandelte die
Territorien des präbiftoriichen Yittauens, welche im öftlichen Theil
des Gonvernements MWilna und weiter nad) Tften und Süden die
eigenen den Littanern durch Afimilation der Yepteren im Yauf
der Jahrhunderte abgenommen hätten. De is jtüßte jid)
auf den littauiichen Charakter der ufnamen Nemen (Namans)
und der Düna (Daugama und Tina), welchen die Nebenflüite
der Dina und des Nemen und die Nebenflüfle des gangen
Verefina Spitems ebenfalls zeigen.
Abgejehen von einigen 4vier) Vorträgen, deren Inhalt in
das Gebiet ruiftfcher Biographien füllt, wurde die Frage in Vortrag
und Debatte behandelt, ob im 16. Jahrhundert die Mostaufchen
Zaren eine größere und werthvollere Vibliotpef in ihrer Hauptitadt
befejjen. Gefunden hat man diejelbe noch nicht, obihen gewilie
bifteriiche zengniffe für das damalige Vorhandenjein ipredhen.
Intereffant war eine Darlegung von Spuren des unmittelbaren
Einjtujfes der deutichen Yitteratur auf die alt rufiiche in der
vorpetriniichen Periode. Der Weg diefer Nultureinjlüfie von Weit
nad Oft it gerade and über Riga gegangen. Vor dem Ya
Petersburgs mar Kiga das einzige oder doch das bedentendite
Thor für den Verkehr der rulfiichen und der germaniichen Xölker.
Hier gingen heraus md herein die materiellen und die geiftigen
Der X. archäologische Kongreh. 635
Hüter. Die Produkte wurden ausgetanfcht und ebenfo die Kenntniffe
und ad Injtitutionen des praftifchen bürgerlichen Yıbens.
Ein Vortrag berichtete über die Verbreitung des Magdeburgichen
Nechts bis in die Fleinruififchen Städte amı linfen Ufer des Tnjepr
Tichernigow) und die Unanwendbarfeit der Selbitverwaltung in
Aufland nad jenem (dafielbe Recht hat bis heute feine Geltung
in den Fleinen Städten Yittauens).
Eine Nednerin Iprady über die älteften Formen des Yand:
befiges bei Germanen md Slaven und verfuchte gegen den
Berliner Profefior Meigen nachyuweifen, da in der alten Zeit
norbruffüche Dörfer nach ähnlichen Nechtsformen organifirt gemwejen
feien, als wie attgermanifhe. Danfenswerth war die Hinweilung
mehrerer Vorträge auf reiches Quellen Material zur Erforfchung
lioländifcher Sefchichte. Der eine berichtete über das Tagebuch)
Polubensty'o aus der Yeit der Nriege um Yivland in der 2.
Hälfte des 16. Jahrhunderts: der zweite über die Yentralarchive
unferes Reiches, 3 zu Worfchau, wo baltiihen Bilterifern zu
Etudien die Thür nicht verfchlofien fein würde; der dritte über
drei Aftenbände aus dem Livländifchen Hofgericht, die fi jegt im
Nigafchen Bezirksgericht befinden; ein vierter über die inflantifche
Revijion von und die Inventarien der livländifchen Schlöfer
im 16. Jahrhundert.
Gin Lortrag beiprach ein befonderes Greignift baltifcher
Gefchichte, die Belagerung Niga’s durch den Yaren Aleret
Micdaitowitih 11656) im ihrer politifchen und militärifchen
Bedeutung.
Von einem Neferenten wurden die fleihigen und tüchtigen
Arbeiten der Seltion für Genealogie, Heraldit und Ephraaiftit
der furländiichen GSefellihaft für Yitteratur und Nunjt aus dem
Gebiete der Kamiliengeicichte in hohem Grade gelobt, während
diefes im Innern des Neiches kaum oder garnicht bebaut werde.
Ein NHedner prady (franzöfiidı) über die Sejchichte Mitan’s
und des Dirnufchen Herzogsichloifes, um die Kongrehgliever auf
den Ausflug nad Mita
Nur ein einziger
über die vorgeichichtlichen Heiden,
biefer verfuchte ein zufanıı
yer Nationalität berichtete
über des baltifchen Yandes und
jendes Bild von der baltifchen
636 Der X. archäofogiiche Kongrei.
Tombologie zw geben, natürlid mehr auf Grund gedrudter
Quellen, als auf Grund periönlicher Yofal-Anterfudungen. An
diefer Stelle fünnen wir nun von den Vorträgen unferer vujfüchen
Keichsgenofien auf die der baltichen übergeben, welche felbit
verjtändlich in der eigenen Deimath orientirter fein muften und
orientirter waren, als diejenigen, welche unferen Provinzen fremd,
die hiefigen Forfhungsobjefte nr von Weiten fannten. leid
zum Beginn des Nongreiies wurde die große Verjammlung von
den inbaltreichen, muftergiltigen Reden zweier mahgebender Männer
bingeriffen. Unfere ardäologiiche Autorität, der Wann, welcher
25 Jahre lang unermüdlich auf dem (Sebiete Kivländiicher Gefchichte
und Alterthumsfunde gearbeitet und, was nicht jeden Univerfitäts:
lehrer gelingt, eine ganze füchtige Schule von &
gebildet und um fich aelammelt hat, indem er gleiche
ihren Seift und ihr Wien, anf ihr ben und ihren Charakter
fräftiglih eingewirft hat, id meine Profeilor Dansmann, gab
„Nücblite auf die Entwidelung der archäologiihen Unterfuchungen
im Tftfeegebiet während der legten 50 Nahre”. Mit areh
arbeit hilderte er den geführlichen aber auch nüstichen Cinituh
des Vilettantiomus auf die Archäologie, arakterifirte anerfennend
die Yeiftungen unferer durchweg für die Yandesgeichichte fc)
interefirenden bekannten Gejellichaften zu Mita jeit 1816 (Int.
Döring, Sefretär feit 18651, zu Riga fjeit 1834 (Dr. Bornbaupt),
zu Dorpat feit 1838, zu Neval feit 18 auf Tefel jeit 181
(Sbert. Holzmayer) und zu Fellin (w. Ditmar), hob näher eingehend
und fritifcd beleuchtend in den drei Perioden biefiger archäelogiicher
Forfhungen die Jrrwege und die Berdienjte Krule'o (Nefrolivonifar
und Bachrs, Grewingt's und des Grafen Sievers hervor, ohne
in der dritten Periode der fepten 10 Jahre feinen einenen Namen
Auch nur zu nennen, obfchen cr «5 um gerade weientlic und
hauptjächlich war, welcher dem Kongreh ein Bild von der Vorzeit
des Oftieegebiets neben Fonnte, wie der Kongreß zuvor wohl von
feinem einzigen Gebiete des ruffifhen Neiches eines hat befommen
fönnen.
Das chenfo gediegene Referat des Präfidenten der Sefellichaft
für GSefchichte uud Altertbumsfunde der Titieeprovinzen, Yaron
Yruiningt, gab ein theils beichränfteres, theils annfalienderes Bild
Der X. archäologifche Kongreß. 637
von ber Thätigfeit färnmtlicher wiljenichaftlicher, zum Theil aud)
praftifche Gebiete berührender battijcher Gefellichaften; Hinfichtlich
der Archäologie war es beichränfter, umfafiender war es, fofern
es von der fAhon im vorigen Jahrhundert gegründeten Fioländifchen
gemeinnügigen und öfonomifchen ozietät und von der litteräriiche
praftiichen Bürgerverbindung zu Niga anhob und aud) die Fettifch-
litterärifche berührte. Die erfte Stelle unter all diejen Vereinen
nimmt die Gefellihaft für Gedichte und Altertfumsfunde in
Niga ein. Der willenfdaftlihe Geiit, der arbeitsfrendige Fleik
und der ideale Schwung eines Napiersfy und G. Berfholj Tebt
noch in den Nachgeborenen aud) unter jehwierigeren Verhältniffen
und die werthvollen Hiftorifchen Veröffentlichungen diefer Gefellfchaft
bieten eine ftattlidye Neihe von Bänden. Vor das Auge des
Landes trat im Jahre 1583 die wohlgelungene Fulturhiftorifche
Ausftellung und als zweite Arbeit derart gegemwärtig die grofe
archäofogiiche Ausftellung, welche fümmtliche hervorragenderen
prähiftoriichen Funde aus dem ganzen Oftieegebiet wiflenfhaftlid)
geordnet in ziweemähigen und gefchmacvollen Vitrinen dem
Beidauer und Foridher darbot, wie es nod) nie zuvor geichehen
war und fdiwerlich bald wieder in folcher Art wird geichehen
fönnen. Bu den Verbienften berfelben Gefellf—aft (und and
gerade ihres jeßigen Präfidenten) gehören die erfolgreichen
Vemrühungen um die Neitauration der Nigaichen Domtirdhe, deren
Anbauten über dem Nreuzgange zum feönen Vufeum hergeftellt
Find, und um die Erforichung, wie Erhaltung anderer hifteriicher
Bauwerke, feien cs Sirhen und Kapellen oder mittelalterliche
Burgen und Schlöffer. Die verwandten preußiiden und liv:
ländifchen Bemühungen reichten fid die Hand und die Namen
Dr. Steinbredt, Marienburg, Dr. W. Neumann, Niga, Gulele,
Dorpat und E. von Köwis of Menar fönnen hier nicht unerwähnt
vden. Ebenfowenig das großartige Werk, die Heraus:
difcher Urkunden, begonnen von Yunge und nun \con
bis zum X. Bande fortgefegt. Pruininge’s Neferat gab ein
lebendiges Zengnifi von dem Hiftoriichen Sinn unferer Provinzen,
der noc) fange bei ums febendig bfeiben möge. Das Etudium
der Gefchichte behütet den Menjchen vor der elenden Genügiameit,
die mit einer ephemeren Eriftenz zufrieden Öt; die Bekanntichaft
3
638 Der X. arhüologifhe Nonareh.
mit der Vergangenheit giebt einen weiteren Horizont und ein
edleres Streben für die Zukunft und feftigt den einzelnen in dem
fegensreichen Zufammenhbang mit feinem Vaterlande.
Die übrigen Neferate der baltiihen Gelehrten fann id)
wegen des mir map zugemeffenen Naumes nur ganz furz
gruppiren und erwähnen.
An die erfie Stelle gehören auf dem Kongreh für Archäologie
die Vorträge über die aft-heidnifdhen Gräber unferes Landes und
die da gemachten Funde.
Profeffor Hausmann darakterifirte die verihiebenen
Typen livijher Gräber, Oberlehrer Boy verfdiedene Gräber
typen Nurlands, namentlich die Fladhgräber des Cemgaller-
Gebietes. Jnipektor Mettig, ein guter Stenner der Gefchichte
bes Nigajchen Handwerks feit dem Vejtehen der Stadt, wies Hin
auf die Hiftorifd) nacdhweisbare Fabrikation zahlreicher für die
Archäologie fo wichtiger Bronzegegenftände feitens der in Riga
von jeher blühenden Girtler-Junft. Gin liebenswürdiger Gaft
aus Finnland Dr. Hamann berichtete über das Bronze-geitalter
Finnlands, wo man jchon zum Ende der Völferwanderung Bronze:
Gegenftände zu gießen verftanden Habe, wie aus aufgefunbenen
Gußformen erhellt. Dr. Grempler, Direftor des Provinzial-
Mufeums zu Breslau, fdilderte die Methode, wie er felbjt bisher
feider erfolglos Herkunft und Zwed einer bejonders in den Dftfee-
ländern, aber auch bis an den Nein, die Oder und den Dujepr
vielfach) verbreiteten Art von Bronzefchafen gefucht habe. Geheimrath
Vrofeffor Virchow, Berlin, fprad) über die Urbevölferung unferes
Gebietes im Anihluß an die alten Fundftätten beim Yurtneek
und beim Arrafd:See, die er vor 30 Jahren mit Graf Sievers
umterfuchht hatte. Die Bewohner des Ninnefalns mit ihren
Feuerjteinwaffen und ihrer Mujcheltpiernahrung reihen bis in die
Nähe der Eiszeit und ähnliche Funde amı Ladoga-Ser dürften
auf uralte finnifche Bevölkerung deuten.
Neben den Gräberforichungen fteht die Wurgberaforihung
wie eine Schwejler, fofern auf ben Vurgbergen diefelben Menfchen
lebend Hauften, deren Gebeine und Geräthe wir in der Erde
beftattet finden. Gin Gefammtbild der alt-fettifhen Burgberge
gab Dr. X. Bielenftein, fehilderte die Beziehung derfelben zur
Der X. ardäofogiiche Kongreh. 639
Archäologie, die veridiedenen Arten ihrer BVefejtigungen durch)
Abjteilung, Wälle, Gräben und Palifjaden, ihre jozialpolitiiche
Bedeutung, jofern e8 die Sipe der „Rönige”, Häuptlinge, Xeltejten
in den Sandidaften waren, und berührte die aus fachlichen
Gründen nicht zu erfedigende Frage, ob aus dem Charakter der
Burgberge ich Schlüffe machen lichen auf die Nationalität ihrer
Bewohner, wie aud) die Trage nad) der dichteren oder undichteren
DVertheilung der Burgberge im Lande, welde nur durd) die
Bodenbefchaffenheit bedingt fheint. Umriffe und Profile von den
Haupttopen der VBirgberge erlänterten den Vortrag. Der
Konfervator des ejtländiichen Provinzial-Mufeums, X. dv. Howen
befchrieb einen einzelnen Burgberg Punnamäggi in Wierland.
Ein drittes, vielfach bei uns angebautes Gebiet ift das der
fettifhen und eftmifchen Volts-Traditionen. Pajtor Hurt, Petersburg,
referivte, nad) Darlegung des hohen Werthes, welchen Volkslieder,
Märchen und Sagen, Vollsfitten und Aberglauben für die Archäologie
haben, wefentlich Formelles über feine mit Silfe von ca. 800
Mitarbeitern yufammengebrachte riefige Sammlung von eitnifhen
Volfsüberlieferungen, welde er in 136, theils Folio, theils
Quart;, theil® Dftavbänden in einem befonderen Schranf den
Anterefienten vor die Augen geitellt Hatte. Die Xerarbeitung
und Verwerthung des ungeheueren Etoffes wird viele Jahre md
mehr als eines Mannes Kraft erfordern. — Paftor E. Bielenftein,
Sapten, behandelte die fehr intereffante Frage, inwiefern das
lettifche Volkslied als eine Quelle für die Archäologie gelten Fönne
und wies dabei hin auf prähiftorifche im Liebe erhaltene Sprad)-
formen, ferner auf die im Liede erwähnten Schmudaegenftände
und Waffen, die den in den Heidengräbern gefundenen entjprechen,
ferner auf die vielfachen walten im Volkslied angedeuteten Sitten,
3. 3. bei Striegführung, bei Veerdigungen, Eheidjlichungen und
Stellung des Weides, ferner auf die Art der poetiichen
fung und der äfthetiichen und ethiichen Stimmmgs:
äuferwgen und endlid) auf die im Licde dofumentirte Mythologie,
auf den „Sfauben der Alten“, der nicht jo ohme weiteres mit
dem zu verwechjeln ift, was man Aberglauben nennt. Cand. theol.
VBehrfing gab eine Ueberficht über die bisher veröffentlichten
Sammlungen Tettifcher Voltofieder. Anderfon verfuchte
gr
610 Der X. archäologische Kongreh.
die Namen des nationalen Zaiteninftruments Lettifcdh Kofle und
eitnifch Stantele, ethymologiih aus derjelben Wurzel zu erflären.
Zu intändiihen Top-Onomaitif gab Dr. Hermann, Jurjew,
die Erffärung einer Anzahl von dronifaliihen Namen aus der
Geographie des Ejtenlandes.
Aus feinen Studien über die HolzZeit der Yetten machte
Dr. 4. Vielenftein Mittheilungen über die Entwidelung des
fettifchen Haufes aus der Jurtenform der älteften Zeit bis zu
dem gegliederten Wohnhaus der Gegenwart und bis zur Befriedigung
der jüngeren Vedürfniife dur die verichiedenen wirthfchaftlicen
Gebäude des heutigen Bauerhofes. — Dr. Conweng, Direktor des
Provinzial: Mufeums zu Danzig berichtete über lebende Zeugen
der Vergangenheit aus dem Pilanzenreich, über die von ihm bei
Nurmbufen (Rurland) neichenen uralten Vienenbäume, deren viele
fich auch bei Danzig noch finden, und über die Tarus: (oder
Eiben:) Bäume im baltiihen Lande, die dem Ausiterben entgegen:
zugehen jcheinen.
Oberlehrer Hrüger frac über den Einflu der wuifiichen
Eprade auf die lettiiche; Oberfehrer Stern über die Handelswege
der Hanfenten nad) Groß-Nowgored auf den Waflerwegen der
Newa, Narowa und Düna, je nachdem die politischen Lerhäftnifie
auf den einen oder den anderen Weg drängten. Dr. Sachiendobl,
Jurjew, gab voll tiefer Gelehriamfeit ein Bild des Gewichts:
foftems, welches während des 11. Jahrhunderts in Fivland
berrichte, und legte in einem anderen Vortrag die Bedeutung der
Siegel in der hiftorifchen Wiffeniaft dar.
Dr. €. von Nottbet plaidirte mit Nachdrud für Mafregeln
zum Schuge von Arditeftuedentmälern und wies dabei hin auf
die Gefepgebungen der eiropäiichen Nulturftaaten, erinnerte an
die Verordnungen unferer Regierung, die aber, zum Theil vergejien,
nicht beobachtet werden, und berichtete über die danfenswerthen
thatfräftigen Beitrebungen der Stadt Neval und der eftländifchen
litteräriicen Gefellihaft zu Neval, denen zufolge fon mandıes
auf diefem Gebiete in Eitland gethan ift. Die Gräfin Umarom
fprad) für den anregenden Vortrag ihren Danf aus und die
Hoffnung, daf entiprehende gefeplidhe Mafregeln für das Neid)
würben getroffen werden.
Der X. ardäologiiche Kongreß. 64
Zur Gefchichte des baltischen Landes gehören die Vorträge
von Profeffor Dr. U. Bergenberger, Königsberg, über die Gubden,
welches Wort der Neferent in gar feinen Zufammenhang mit den
Gothen zu jegen vermodfte, fondern nur als eine Bezeichnung ber
Weißruffen im Munde der Littaner und Letten anjah und von
einer ruffichen Wurzel herzufeiten verfuchte; von Oberlehrer
Diederihs über die wechfelvollen Schiejale des Herzogli—en
Ardhivs zu Mitau und von G. von Löwis über die von ihm
veröffentlichte Karte Livlands in der Zeit der Ordensherrichaft.
Nad) diefer Ueberficht des geiftigen Stoffes, welder der
Aufmerkjamteit des Kongrefies dargeboten wurde, liegt es nahe
zu fragen, ob und wie die Vorträge der Yalten und die ber
Stollegen aus dem Innern des Neiches fi unterihieben. Ein
Unterfchied meine ich, fiel ins Auge, lag übrigens aud) wohl in
der Natur der Verhältniffe. Was aus dem nnern des Neices
geboten wurde, waren, möchte id) jagen, meift Einzelheiten, d. h.
aus großen Gebieten Brucitüce. Das Neid) felbit it ja ein
großes Gebiet, Aus den baltiihen Provinzen trugen die Nebner
meift mehr ein Ganzes vor und Fonnten das aud), teils, weil
das Oftfeeland an fid) ein Heines, Fulturgeichichtlic gleichartiges
Ganzes if, wenn wir von der jprachlichen Unteridiedlichteit des
füdfichen lettifchen und des nördlichen ejtnifden Theiles abfehen,
theils, weil das baltiiche Land in ganz anderer Weife als die
übrigen Theile des Neiches feit Jahrhunderten hiftoriich durdhforicht
und bearbeitet if. Yon dort wurden mehr einzelne VBaujteine
gebrad)t, während von hier gewifiermafen icon Kleine Vauwerke,
als je ein abgerundetes Ganzes präfentirt wurden.
Ein anderer Unterichied, Kinfichtlid) der Form der Vorträge,
fie; ji) aud) bemerken, welder wohl mit dem Nationaldarafter
in Zufammenhang ftehen mag. Die vufiichen Nedner trugen ihre
Sade in leichterer Art vor, wie etwa die Franzoien es tum,
wie 68 aber im deutjchen Charakter weniger fiegt.
Es war uns etwas Fremdes und Ungewohntes, wenn Die
Verfammfung die Nedner nad) Beendigung des Vortrages mit
Beifallsgetlatich belohnte, was wohl ohne Ausnahme Jedem zu
theil wurde, nur dem Einen in braujenderer Art als dem Andern.
&s war etwas uns Ungewohntes, jeugte aber von dem febendigen
612 Der X. archäologiiche Kongreh.
Intereffe der Zuhörer und wird den Nednern gewii nicht
unangenehm geweien fein; 5 fheint mir das Aatfchen auch eine
äfthetiichere Beifallsäuferung zu jein, als das Scharren, wie es
die Dorpater Studenten bisher vor beliebten Profefloren aus
zuüben pilegten und vielleicht eher an folder Stelle zu dulden,
als im Theater: und Nonzertinal, wo diefe Art der Veifalls
äuferung in unerlaubter Weile den Vortrag des Nünftlers
zuweilen unterbricht und den Genuß des Publifums jtört. Ic
will es dahin geftelft fein laffen, ob es beifer am lage wäre,
dem Nedner den Beifall mit Bravo-Zuruf zu ipenden.
Kommen wir auf die Spradyen, deren Gebraud freigeftellt
war. Die Kongrehglieder aus dem Neiche bebienten fid) felbit
verftändlich der Neichsfpradhe. Ein Nuffe bielt feinen Vortrag
franyöfüch. Die battiihen Deutiden, die ja die Gewandtheit im
ichen Vortrage nicht befigen Tonnten, bedienten fi ihrer
Viutterfprade, welche den ruifüchen Gäften gewiß; verjtändlicher
war, als die rufe den meiften der anwefenden Balten. Die
drei nationalen Letten, welche fi) das Wort erbaten, wählten die
ruffiihe Sprache, vielleicht, weil fie ganz befonders die utention
baten, ihre Dittheilungen Hauptlächlid den ruifichen Zuhörern
zugänglich zu machen, während die beiden aus dem Ejtenvolfe
dner die deutiche Sprache verzogen.
enheit der Sprachen blieb auch in den Debatten,
welche fid) an die Vorträge nicht immer, aber öfter Fnüpften. Cs
ift mir aufgefallen, daf; die ruijiichen Vorträge cher einen Anlaf;
zur Debatte boten, alo die deutichen, woraus ich nicht folgern
will, dal die Behauptungen jener bejonders anfechtbar geweien
wären. Vielleicht lag der Grund dafür in der Veranntfchaft und
Vertrantheit mit dem Ztofi, oder aber in der relativen Fremd
artigfeit und Neuheit defjelben, jo dal die fonit vedegewandten
Säfte aus dem Neich öfter gegen einander zu Felde zogen, den
Deutfchen gegenüber relativ fih fhweigfamı verhielten.
Ein integrirender Theil der Nongrehaufgaben jind immer
aewiife Ausflüge geweien, welche den aus nah und fern Zufammen
gefommenen Gelegenheit bieten follten, das Neichogebiet, wo der
Nongrei; gerade tagte, auch außerhalb des Verfammiungsortes in
diitoriicher und ardäologiicher Hinficht ein wenig fennen zu lernen.
Der X. archäologische Kongref. 643
Von Niga aus waren Vlitau und Treiden in’s Auge gefaßt.
Veide Orte per Bahn leicht erreichbar; Mitau über 200 Jahre
lang Nefidenz der Furländifchen Herzöge mit feinem jdjönen Schloh
und dem jeit bald 100 Jahren gepflegten Provinzial-Vlujeum,
dem Sammelpunft derer, die in dem fleinen Kurland für Kunft
und Sitteratur fid) interejfiren; Treiden, der prähiftorifche Hauptort
der Liven, die Livland den Namen gegeben, die Hauptburg der
Vefigungen Kaupos, des Erjten, welcher von den Landeseingeborenen
dem Ghriftentdume mit unverbrüdhlicher Treue fi) zuwandte.
Der Ausflug nad der livländiicen Schweiz war forgam
vorbereitet, bot großes Interefje und brachte der ardhäologiicen
Wifienjhaft veiche Frucht. Einen Tag lang arbeiteten baltijche
Forfcher allein unter Profeflor Yausmann’s Leitung auf einem
umfangreichen Gräberfelde, öffneten einige Brand: und Sfelett-
gräber und fürderten unter anderem als einen eltenen Fund das
Ende einer Schwerticpeide mit Funftreihem Silberbeichlag zu Tage.
Am folgenden Morgen, vom fcönften Sonnenjehein begünftigt,
fuhr ein großer Theil des Songrefies per Ertrazug nad) Segewold
hinaus. Nacı Vefihtigung der Nuine des dortigen Ordensichloffes
gings durchs An-Thal auf die gegenüber liegenden KHöhen, mo
die eigentlichen Archäologen den weiteren Gräberunterfuchungen
bis zum Abend beiwohnten. Cin anderer, mehr für die Landes
geichichte und für den poetijchen Neiz der wmunderichönen Gegend
geitimmter Theil der Gejellichaft, Herren und Damen, juchten
bald fahrend, bald wandernd das magnum castrum Cauponis,
neben Schloi Treiden, auf (es ijt der heute jogenannte Karlsberg)
und das alte Cuhbesele, die fleine Burg Saupos im Kremonichen
Schlofparfe (es ift der heute jogenannte Sumoromberg). Vorher
hatte ein Tähhhen Naffee einem fleinen Imbih folgend das
Mittagsmahl erjegen müfen. Auf dem Starlsberg unter den
herrlichen Virfen, durch deren Laub die Sonnenftrahfen gligerten,
lagerte ji die Gejellichaft und laufchte dem Bericht des Chronüjten
Heinrich, welcher anfchaufich die Tragödie jhildert, die im Anfang
des 13. Jahrhunderts auf diefen Höhen fich abgeipielt hat. War
es dod) hier, wo die Ordensbrüder und Nigenfer ihren Bundes:
genoffen, den hriftlichen Liven vafche und erfolgreiche Hilfe brachten,
als diefe gleichzeitig von einem ejmifchen Landheer und einer
6 Der X. ardäologüiche Hongreh.
zahlreichen Deinlanerflotte, die die Aa heraufgefommen war,
belagert und fchwer bedrängt wurden und war es dad, auf diejen
Höhen, wo wenige Jahre fpäter der freme Naupo fi genötbigt
jah, gegen feine eigenen Angehörigen, Familienglieder, Yandleute
und Unterthanen, die zum Abfall vom Chriftenthum und zum
Aufftand gegen die munmehrige Yandesobrigfeit, troß feiner
Warnungen und Mahnungen fic hatten verführen lafen, zu
Felde zu ziehen und feine eigenen Burgen mit Waffengewalt ju
jeritören. Die tiefen, bei Dieler Gejcichte zu Tage tretenden
ethifdhen Nonflifte würden es verbienen, von einem Dichter auf
Grund genauer hifteriicher Forihung poctid geitaltet zu werden.
Leider brach der Abend herein, und die dritte Yivenburg auf dem
Sxgewolbichen Ufer, das alte Sattejele, mit der jhönen Ausficht
in's An-Thal und mit den mertwürdigen Spiwen bald 700 Jahre
alter Grabung am hrgwall, wo die belagernden Oxdensritter
die Paliffaden der aufftändifchen Feite zum Umfturg bringen
wollten, fonnte nicht mehr erreicht werden. Nad) einem erquidenden
gemeinfamen Abendefen im Scgewolder Schweizerhaus Fehrie
man Höchit befriedigt per Ertragug wieder nad) Niga zurüd, und
unfere Säfte ans dem Innern des Neids werden, abgejehen von
den ardjhologiichen Exgebniffen, ein freundliches Wild unferes
Kandes und feiner Stultur mitgenommen haben.
Den an den Kongreh fich anfchliehenden gröheren Ausflug
einer Heineren Zahl von Kongrefgliedern nach dem Fulturgeichichtlich
mit Lioland verwanbtem Preußen, nad) Königsberg, Marienburg
und Danzig fann id) hier eben nur erwähnen.
ehren wir nach Niga zurüd. Diele alte, an biftorifchen
Erinnerungen, an Innftreicen Bauten und beachtenswerthen Alter
thümern fo reiche Stadt hatte Alles, was fie befitt mit größter
Yiberalität den Gäften geöffnet, und fachfumdige Männer dienten
als Führer und Erkläver in freien Stunden denen, die das eine
oder andere, oder Altes fennen lernen wollten. Selbit die Ein:
heimischen befamen bei diefer Gelegenheit manches zu fehen, mas
ihnen dis dahin fremd geblieben war, wie es ja oft geldieht,
dai man das Fremde und Ferne cher fucht und ihät, als das
Nahe und Yeimiiche.
Der X. archüologiiche Kongreh. 645
Das Echenswerthejte waren aber in ben Kongreßtagen
unzweifelhaft die befonberen für den Kongreß veranftalteten Aus
ftellungen. Nur eine ganz furze Sfigge derfelben vermag id) hier
zu geben an der Hand des treffliden Führers, des Statalogs, den
die große Sachfenntniß und der außerordentliche Fleiß der Herren
Profefjor Hausmann und U. Buchholg den Intereffenten dargeboten
bat. Diefer Katalog zeigt die Ordmung der Gegenftände nad)
ihrer Art (I. Archäologie, I. Urkunden und Handicriften, Il.
Siegel, IV. Münzen und Medaillen, V. Goldidmicbearbeiten),
die ardäologüichen Objefte nad) den Ländergebieten, wo fie her
ftammmen (A. Liv:, Ejt: und Kurland, B. Yittauen, C. D. E.
Sendungen aus Moskau, Petersburg, Plesfau, F. Sendungen
aus Danzig) und nad) den fulturgeichichtlichen Zeitperioden
(1. Mettefte Zeit, 2. Bronzezeit [3. Depötfunde], 4. Gräberfunde
aus dem 1. VII. Jahrhundert und 5. vom VII. Jahrhundert ab,
6. Funde vom XV. Jahrhundert ab). Cs üjt nidt blos ein
Negifter von Gegenftänden gegeben, es find aud) die Fundorte
und bei ihmen gerade bie Summe der Funde angegeben nebjt
einer gewiffen Beichreibung der Objekte unter Angabe der Finder
und unter Zitirung aller Schriften, wo gerade davon die Nede.
So it ein ungeheueres wijjenichaftliches Diaterial dem Foricher
zu weiteren Studien geboten. Die ganze baltische Archäologie it
bier zuiammengefaßt in einer Weile, wie es bisher nod) nie
geihehen war und auch nicht geichehen fonnte. Ganz bejonders
find die zahlreichen, auf 34 Tafeln beigegebenen muftergiltigen
Abbildungen zu rühmen und die vorangejdidte von Profeflor
Hausmann abgefahte Einleitung (LXNXV pp.), welde dem
Verftändniß dev zahllofen Einzelheiten des Katalogs dient, durch)
die eingehende Charakterijtif der ardäologiihen Funde nad) Fund
orten und Perioden. Diefe einleitende Abhandlung giebt mit
Gründlichleit und Klarheit ein Fundament prähiftoriicher balticher
Kulturgeichichte, eine Menge von hodintereffanten Winfen, wenn
id) nicht jagen follte Schilderungen der einjt bei den baltiiden
Völkern üblichen Waffen, Geräthe, Schmudgegenjtände, Örabtypen,
Vejtattungs- und anderer Sitten. Und alle Angaben und
Behauplungen find um fo zuverläffiger, als ber Verfajfer mit
größter Vorfiht cs vermeidet nod) unerledigte, von der Wienichaft
646 Der X. arcjäologiiche Kongreb.
mod) nicht entichiedene Fragen mit hereinzuziehen; fie bleiben
weiteren Forfhungen vorbehalten.
Wir müffen zu der anderen, der lettijcen ethnographüicen
Ausjtellung eilen. Der lettiiche Verein zu Riga, genauer gejagt,
die wiljenfchaftlihe Kommiffon deijelben hatte den Gedanfen
da; gefaßt, einige Nahre fleißig benugt, um ihr Meines
elhnographiiches Dlufeum zu erweitern. Sendboten hatten das
Kand durchzogen nnd vieles heimgebradht; anderes ward von nal)
und fern freiwillig hergefendet. Unfer lettifdhes Yandvolt hat ein
biftoriiches Intereife gewonnen und ein gewihies Verjtändniß für
den Werth folder Sammlungen, wie fi) das aud dur den
jehr zahlreichen Vejuc der Ausftellung jechs Wochen hindurd Far
gezeigt hat.
Anf einem geeignetem Pla zwilden dem Stahtfanal und
der Jakobsftrahe waren ca. adt Gebäude neu erbaut. Das
Hauptgebäude enthielt Karten, Abbildungen md Litteratur zur
Veihreibung des Landes, zur Gefchichte, zur Anthropologie,
Statiftit und Ethnographie der Yetten. Hier erregten bejonderes
Intereffe die zahlreichen lebensgroßen nationalfoftümirten menichlichen
Figuren, welde Vänner und Weider bei den veridjiedenjten
bäuerlichen Arbeiten, 5. B. beim Getreidefchneiden und binden,
bei der Fladjsernte u. f. m. darftellten. Viele andere dergleichen
Figuren ftanden in dem Haupt: oder in den Nebengebäuden, um
die fettiihen Trachten verfdiedener Gegenden oder, wie fie bei
gewijien Feitlichleiten üblid) find, darzuftellen, oder waren in den
nad dem Mufter der alten Zeit aufgebauten Wohnhäufern oder
Wirthihaftsräumen placirt und zeigten die veridhiedeniten nationalen
Arbeitsverrichtungen, als wie z.B. Spinnen und Weben, Striden,
Strideflehten, Flahshedeln, Graupenftoßen im hölzernen Mörfer,
Drefcjen und Getreidewindigen, Fladobreden und -idingen u. |. w.
Die Yitteratur-Abtheilung, die von dem Beidhauer dem
Inhalte nad) natürlich am wenigiten genoffen werden fonnte, bot
nod) vieles andere, 5. B. über die lettiiche Sprache, ältere Drude,
Grammatiten und Wörterbucer, Werte einzelner Spracyforicher,
Dioleftproben, Sammlungen von Volfsliedern und anderen
Traditionen, fettiichen hriften nichtzlettiiher und lettiücher
Autoren, Proben aus der umfangreichen lettiihen Preife, allerlei
Der X. ardjäofogifche Kongrefi. 617
Gedrudtes zur Darfiellung des mannigfahen lettiihen Vereins:
lebens, der Thätigkeit der Letten auf dem Gebiet der Mufit.
Hübfh war hier eine Cammlung alter Lettijher Vlufifinftrumente.
Auch eine Anzahl Gemälde lettiiher Maler aus jüngiter Zeit
waren ausgeftellt, aus denen man erjah, wie das ftrebjame Volt
in alle Verufszweige gebildeter Völker fi hineinarbeitet.
Mehr als von all diefem wurde ber Beichauer angezogen
von den jehr zahlreichen Kteidungsftüden, die theils in ganzen
Koftümen, theils einzeln zu fehen waren. WVefdhreiben läßt ich
das alles hier nicht.
Ehenfo wenig fünnen hier die jehr guten Darftellungen
älterer lettijcher Gebäude gefchildert werden, aus denen man
namentlid auch erjah, wie das Volt einft ohne Eifen und ohne
Bretter bei feinen Bauten hat auskommen fönnen. Jh will nur
eine aus fein geipaltenem, mit Weidenruthen an einen Stangen-
rahmen gebundenen Holz verfertigte Thür erwähnen, oder eine
andere, die ohne Hängen in einem Falz lo: umd zugefhoben
werden fonnte. Das „moderne“ lettifhe Wohnhaus war nicht
geeignet, die neueren Wohnungen ber Leiten wirklich) darzuftellen,
weil die Gefindes-Eigenthümer der Gegenwart vielfad) aud) jchon
elegantere fteinerne Häufer bauen. Die Hauptjache it aber, daf
mit dem modernen Haufe das eigenthümlid) Nationale im Bau
verforen geht.
In dem Innern des „modernen“ Wohnhaujes mar aber
viel Bemerfenswerthes, namentlich alte hölzerne Eh- und Trint-
aeidirre, 3. B. aud) aus einem Ktloß gearbeitete, wie fie allgemein
üblich waren, ehe der Xette vom Deutjcen die Böttcherarbeit
gelernt hatte, fogar Proben nationaler Speifen, ferner Geräthe
aller Art für Häusliche Frauenarbeit u. |. w.
In einer langen offenen Halle fanden Geräthe des Bienen-
züchters (nebit Vienenftöden), des Aderbauers, des Filhers und
diverje Modelle, weldhe die oft jehr einfache und dad; zwedmähige
Methode lettiiher Schiiisbauer, 5. 9. beim Stapellauf ihrer Fahr:
zeuge dem Auge vorführten. Mich perfönlich und jeden Archäologen
und Ethnographen feilelte beionders das Alte und Nationale,
3 ®. der dfeinis, die Trige, womit der Vienenzüchter feit 1000
648 Der X. archäologische Kongrei.
Jahren id) an den Waldbienenbäumen emporgezogen hat, ober
die merkwürdigen Höfzernen Anfer, die zum Theil ned) jest von
den Nieder Bartaufcen Fiidern gebraucht werden.
Vieles fand fic) hier, was nicht jo jehr in eine ethnographiide,
als in eine Fultwhiitoriiche Auoftellung hineingehörte, 5. B. die
meuejten Vienenftocfformen ober modernjten landvirthichaftlichen
Vlafchinen und Geräthe. Aber diefes Fultuchiftoriiche war ja mit
Vewuhtjein in den Plan hereingezogen.
Leider habe ich den nationalen Nonzerten und den mit
Volfsliedergefang vereinten zum erften Wal öffentlich gebotenen
dramatiichen Daritellungen nationaler Feftfitten 4. DB. einer
Hochzeitsfeier) nicht beinvohnen Fünnen. Yian jagt, fie feien in
hohem Grade gelungen.
6 ift fehr wünfchenswerth, dab das einmal zujammen
gebrachte reidhliche ethnographiiche Material beifummen bleibe und
Aufftellung in einem bejonderen Mufeums- Gebäude finde. Der,
wie wir hören, erzielte Ueberfchuß der Ausftellungseinnahmen über
die Ausgaben wird hoffentlich den Anfang eines Yan Kapitals
bilden, und der ausdauernden Thätigfeit des fettiichen Vereins
wird es gelingen, das mit fo gutem Erfolg begonnene Werk zu
Ende zu führen.
Neben den wiilenihaftlihen Anregungen war in den Kongref;
tagen von böchjter Bedeutung die perfönliche Annäherung der
Verufsgenoffen und jo vieler Hervorragende Männer, die in
einem verwandten Interefjenfreije lebten, aneinander. ie Nongrefi
figungen jelbjt boten dazu natürlich wenig Gelegenheit, mehr die
danfenswerthen Feitivitäten, melde die Stadt Niga im Schügen
garten und die livländische Nitterihaft im Nitterhaufe mit viel
Geihmad und nobler Pımificen; den Nongrehgliedern gaben.
Dazu famen Einladungen fleinerer Nreife in liebenswiirdige
Nigajche Patrizierfamilien und die täglichen Zufammenfünfte, wo
die leiblidye Erguidung geiucht wurde. Da wurden überall
Gedanfen und Anfihten zwiüchen den Kreunden ausgetaufcht und
aud den Fremderen lernte man chägen, und fonnte fich fein
Vertrauen erwerben. &s blieb zu bedauern, dafs für den perjönlichen
näheren Verkehr der beiden nationalen Hanptgruppen der Mangel
Der X. ardäologiiche Kongreh. 6
an Gewandtheit in beiden Spraden ein großes Hindernih war,
ein Sindernif, welches die Geneigtheit des guten Willens nicht
bejeitigen fonnte.
Ueberichauen wir das Nefultet, die Gefammtfrucht des
Kongreiles, To üt die leßtere teils eine allgemeine, dem ganzen
Keiche zufommende, theils eine bejondere für die baltiichen
Wrovinzen. n der eriten Beziehung erwähnen wir die allgemeine
Erfahrung, die die Gäfte aus dem nnern des Reichs machen
mußten, nämlich, dat im baltischen Lande geiftig nichaftliche
Kräfte vorhanden find, die fi bei all ihrer Eigenartigfeit dem
Dienfte des Neiches nicht entziehen. Dazu Fam die Verjtändigung
über mandyerlei Fragen, ja in gewiijem Zinne zu Nefolutionen,
deren Anerfennung und Bermirtlichung überall nüglich fein wird.
So erfannte der Kongreß zum Veiipiel an, mie nothwendig es
dei, biftoriich Dentwürdiges aus einer Provinz derjelben nicht zu
Gunften der Haupttädte zu entziehen, fondern in den Mufeen
und Archiven eben derfelben zu belafien, und zwar unter Bewahrung
und Leitung, nicht etwa von Stantsbeamten, fondern von willen:
Äpaftlic) gebildeten Fadhmännern, und fahte Mahregeln in’s Auge
zur Erhaltung oder Keftaurirung von bifterifchen Baumwerfen und
Kunftdenfmälern, wie joldhe auf privatem Wege gerade in unteren
Provinzen jchen jeit Jahren angebahnt werden und zu manchen
ichönen Wert geführt haben u. dergl.
Unfere Provinzen hat die Ansficht auf den Nongreh in den
legten zwei Jahren zu doppelt eifriger 9 für die heimifche
Archäologie und Gefcichte angerent, damit wir auf dem Ntongref;
mit Ehren beftehen Fönnten. Ti Arbeit brauchte nicht jegt erit
zu beginnen. Das beweifen die faft 12,000 Yummern in ber
Bibliotheea Livonie historien Ed. Winfelmann’s ed. 1878),
zu welchen nun in 18 Jahren viele 100 Nummern hinzugelommen
find. Yeiber ijt bier nicht der Naum, alle die itteräriichen 9
aufzuzählen, die von den gelehrten Geiellichaften im baltischen
Lande in Anlap des Nongreffes in ihren Tepten Jahres
veröffentlichungen, oder aud von einzelnen Perfonen auferhale
jolcher Jahreshefte in bejonderen Schriften veröffentlicht worden
find. Es ift eine jtattliche Neihe, die cine große Summe von
wiffenfehaftliher Arbeit und Förderung der Wahrheit enthält,
650 Der X. archäologiiche Rongreh.
womit aber ber Fleih unferer Provinzen durchaus noch nicht zum
Abfchluß oder Feierabend gefommen ift, fonbern vielmehr taufend
neue Keime zu weiteren Forfhungen gelegt hat, wie aud ber
Kongreh jelöft zur Cöfung vieler anderer Fragen Anregung gegeben.
&o jehen wir mit Befriedigung auf die Kongrektage zurüd und
hegen mur ben einen lebhaften Wunfdh, daß cs unferen Cöhnen
und Enfeln vergönnt wäre, auf dem Nivenı der Bildung und
Leiftungsfähigfeit der Täter zu bleiben, oder, wenn es möglich)
wäre, über daflelbe hinauszumacjien und ben guten Namen, der
ihr Erbe if, zu bewahren.
u 2
Beiträge zur Bejhihte der Unterwerfung Aurlands,
vornehmlich nach den Aften des preufiiichen Stantsardivs.
1793.
1.8, 3. Jan. Es ift fein Zweifel mehr, dah Rußland
den Adel auch in den ungerechtejten und ungefeplichiten Forderungen
ftüge. Nücmann verbreitet überall, fein Hof werde den Herzog
zwingen, die einfeitige Cimitation der Yandtage anzuerfennen und
ben Adel zufrieden zu ftellen. Er werde dem nädjten Landtage
eine zerichmetternde Deklaration übergeben, welche dem Herzog
die Ereigniffe, denen er entgegengehe, enthüllen werde — falls
der Herzog nicht freiwillig in jenen beiden Punkten nachgebe.
Er redet von Seqneftralion des Herzogthums bis zur Miündigfeit
des Prinzen Guftan -— was die Oppofition im Lande aud) wünsche,
um die Arvenden in die Hand zu bekommen. -— Die Herzogin
feheine fhwanger zu fein, was ihr die jegige Yage doppelt erfchwere.
2.8, 6. Jan. Kufland beginnt feine wahren Abfichten
auf Surland zu verrathen. An 4. früh hat Nücdmann dem Herzog
eine Depejche vorgelefen, darin die Kaiferin erklärt, fie fönne als
Garantin der furiichen Verfaffung nicht ohne großes Mihfallen
die Unordmungen anfehen, wie fie in dem NAufitande der Wüller
fic) gezeigt hätten, der eine Folge der Zwietradht fei, die feit
vier Jahren zwiihen dem Herzog und den Adel Herriche. Cie
willige darein, dal; der Progefi in den ftrittigen Sachen in Warfchau
wieder aufgenommen werde, verlange jedoch zuvor, dal; die
652 Zur Gefcjichte der Unterwerfung Kurlands.
Konftitution vom legten 26. Mai, Faffirt werde und der Herzog
für immer die Legalität des einfeitig limitirten Landtages
anerfenne. Sie höre mit Verdruß, daf; der Herzog einigen Edel-
Teuten, welche fie ihres Vertrauens würdige, ihre Arrenden nehmen
wolle, und fordere, dal; das nicht geichehe, vielmehr der Herzog
im Allgemeinen bei Vergebung der Lehngüter ihre Empfehlungen
beachte. — Eeit einiger Zeit werden alle Drohungen von Nücdmann
nur mündlich verfautbart, damit in den Aften fein Beweis des
VBrucjes der eigenen Garantie vorhanden fi. — Der Herzog hat
verfprodpen, fi) fo weit als möglic) zu fügen. Die Konjtitution
vom 26. Mai habe er bereits wiederholt in Briefen an Oftermann
für ungiltig erflärt, was durch die Berufung eines Pazififations-
Landtages befräftigt werde. Da die Kaiferin es forbere, jo werde
er den einfeitig limitirten Yandtag anerkennen; er jei zu allen
Opfern bereit, um zu einem Frieden mit dem Adel zu gelangen;
aber da vorauszufchen fei, da der Adel feine erorbitanten
Forderungen erneuern werde, jo bitte er um Aufrechthaltung der
Garantieen von 1768 und 1775, wie es Oftermann wiederholt
dem Baron Brinden zugeficert habe. Alle Lehngüter, die noch
nicht verfprochen feien, würben zur Verfügung der Naiferin bleiben;
aber da er geglaubt habe, dah er über die Arrenden frei zu
verfügen habe, jo jeien fchon mehrere Nontrafte für nächten
Johanni abgefhhlofen. In der Sache der Müller berufe er fih
auf die Nathichläge Aücmann’s felbit. Leterer erwiderte, er
wiffe nicht, wer fo ungünflige Berichte (in der Depefche war dem
Herzog Härte gegenüber den Aufftändifhen zur Laft gelegt) nad)
Petersburg önne gefandt haben. Xepteres fei, meint 9. fehr
bekannt, da Herr von Mirbad) am Abend des Aufitandes cine
Staffette an Herim von Howen abgejchiet habe. Der Herzog
hat 9. willen faffen, daß er feine Sache in Warjchau dem General
Kofjatowsfi anvertraut habe, welder geantwortet habe, er und
feine ganze Familie feien von dem guten Necht des Herzogs
überzeugt, aber er fage ihm voraus, daf; die Entjcheidung des
Songeräns zu Ungunften des Herzogs ausfallen werde, weil die
Kaiferin es fo wolle und weil der Fünftige Neichstag zu abhängig
von ihr fein werde, um gegen ihren Wunjch zu entiheiden. In
diefer verzweifelten Lage beichwöre der Herzog den König, ihn
‚Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 653
und feine Rinder nicht zu verlafien. Er habe ©. gebeten, die
unziemliche Weile hervorzuheben, mit der Nufland fein Spiel
treibe, mit feinem dem Grafen Golp gegebenen Wort, weber die
Gejege Aurlands noch die eigenen Garantien verlegen zu wollen.
Der Herzog betone die Gefahr, Rurland mehr als jemals unter
bas fremde Joch gebeugt zu iehen und thatjächlich ruifiiche Provinz
Au werben. „Tout cela, Sire, paraitra trös simple a V. M.
de la part de 8. A. 8.“ — €s geht das Gerücht, dafi ein
ruififches Rorps unter Nepnin fich in Marich geiept habe.
3. 3. 10. Jan. Der Herzog banft für die Güte, welche
der König ihm in dem Nejfript vom 31. Dez. fundgebe. -— Der
Bericht Nüdmann’s über den Aufitand der Müller nad) Petersburg
foll für den Hergog völlig nadıtheilig gelantet haben. &. will an
eine folhe Doppelzüngiafeit noch nicht vecht glauben, da ja
Rüchmann jelbft die getroffenen Anordnungen angerathen habe.
Am Sonntag nach dem Aufftande jei er zu. nefommen und
babe ihm geiagt, daf er Icon am Donnerstag Morgen dem
Fürften gerathen habe, die Aufeührer durch Ranonenjchüffe zu
zerftreuen. Der faliche Bericht an die Raiferin jei wahricheinlich,
meint 9., von der hiefigen Nabale ausgegangen, die ja and) jet
mod droße, fie werde auf dem näcften Yandtage wegen des
Stilletehens der Mühlen im Lande während 14 Tagen, von
Herzog einen Scadenerfag von 50,000 Thl. Alb. fordern. Cie
babe auch die Müller aufgeftadhelt zur Einreichung einer Forderung
von 15,000 Thl. Ab. an Schadenerfag, und cs fei immer ein
Ariftokrat, der ihre Sache führe. Die beiden Haupfurheber des
Aufitandes, Preuß und Michaelis, beide Preußen, haben 9.
gebeten, in Verliner Zeitungen ein Neferat über den Aufjland
einrüden zu laifen, das fie angefertigt hätten; dafjelbe fei ein
volltommenes Kügengewebe. 9. bittet um Anordnung, dafi die
Verliner Blätter diefes Macwerk nicht aufnehmen. -— Das
Minifterium hat trop allen Venrübens von Nüdmann nichts
Schriftliches über feine dem Herzog neulid) vorgeleiene Depeiche
erlangen Eönnen. Er habe Offenberg erklärt, er dürfe nichts
Schriftliches geben, wolle aber die Depeide nodmals vorlejen,
was er and) gethan habe. Außerdem, wars H. bereits berichtet,
jtehe darin, der Herzog folle fid) nicht unterfangen (saviser) für
4
654 Zur Gefchichte der Unterwerfung Aurlands.
den nächften Candtag andere Deputirte wählen zu laffen als die
des einjeitig Limitirten Landtages. Nücmann hat Herm von
Dffenderg im Vertrauen eine Lifte von 58 Lehngütern gezeigt,
die ber Herzog den von der Naijerin zu bezeichnenden Perfonen
verleihen folle; darunter jeien 30, die nach dem von der Negentichaft
feitgefebten Pachtiage vergeben jeien. idmann bat auf die
redhtlichen Einwände ffenberg'’s erwidert, es handele fich nicht
um Hecht oder Gerechtigkeit, fondern um Politik, und wenn der
Herzog nicht genau erfülle was von ihm verlangt werde, jo werde
man Gewalt anwenden. In der That laufe das Gerücht, mehrere
ruffiihe Negimenter hätten Befehl erhalten, fi der furiihen
Grenze zu nähern. So nehme der ruffifche Hof dem Kerzog das
einzige wirffame Mittel des Einftuiies, die Pachtgüter, und der
Adel jei ftets zu haben für den, welder fie ihm geben Fönne.
Im Angenblid machen diefe ruffiichen Mahregeln bedeutenden
Gindrud auf die vernünftigen und patriotiihen Yeute; aber bieje
werden ohne cine jtarfe Stübe nicht wagen ihre
erheben. &. wagt daher Feine energüüche Sprache zu führen,
das ernfte Folgen haben Könnte md er nicht wijle, ob der
den Herzog weiter unterftügen wolle. Nalls der König biefes
wolle und es in jeinem Jnterejje liege, Kurland vor der ruffiichen
Unterjohung zu bewahren, erlaube er fi folgende Vorihläge:
den Wiener Hof aufsufordern, in Betersburg vorzuftellen, daß die
Herrichiucht Nuplands dem Yunde der drei Mächte gegen die
Franzojen empfindlich jchaden mühte. Der Serzog üt franf,
hat mehrere Anfälle von Opnmacht gehabt.
N, 22. Jan. Der Nönig habe einige Berichte nicht
beantwortet, weil die Thätigkeit der Mitauer Miffion allmählic
verfangjamt werden folle. Das ruffiie Vorgehen gegen den
Herzog fei jehr willfüntidh und bedrohe die Verfaiung deo Landes.
Der Augenbli jei zu Fiplic (delieat), um der Naiferin erneute
und bringliche Vorftellungen zu machen. Sobald günftigere Zeit
eintrete, werde der König Alles thun, um den Derzog zu jtügen;
9. joll aber jest im Verkehr mit dem Derzog fich zurüchalten.
Den Wiener Hof hineinzuzieben jei ganz unmöglich, da die Raiferin
dadurch tief verfegt werden würde; auch liege es nicht im preufitfchen
Intereife, Wien in die Furländiiden Dinge zu verwideln, wodurd)
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlands. 655
diefer Dof vielleicht dazu gebracht werden fönnte, an den polniichen
Gejchäften unmittelbarer theilzunchmen, als er es bisher vermocht
habe.
4.8, 13. Jan. Nücdmann hat die Lifte der 58 Pacht:
güter dem Herzog nach MWürzau gefchidt. Darauf it Mirbad) in
Mürzau gewejen und erzählt, der Derzog habe ihn verfichert, er
wolle Alles zuw Befriedigung des Adels tun. Man erzählt fich,
daß die Oberräthe, welde die Konjtitution vom 27. Mai 1792
für geieglid, halten, jollten juspendirt werden, was dafür jpredhe,
dab man die jünmtlich ruffiich gefinnten Ober-Hauptleute an ihre
Stelle bringen will. „Par ce moyen l’Imperatrice achevera
de gawoter ce prince‘. Man ehe, daß der Herjog auf's
Aeuferfte verfolgt werden folle, aud) daraus, daf; von einem
erneuten Cinbringen des umjtürzenden Neformprojekteo von
legten Jahre in Warfchau die Nede fei. In Polen jollen die
Aufien Provijionen für 5—6 Jahre angehäuft haben. Man rede
davon, dab Yittauen abgetrennt und als eigenes Großfüritentgum
dem Groffürften Konftantin jolle gegeben werden.
5.8., 17. Jan. Der fommende Landtag werde ganz vuffiich
gefinnt und von Nüdmann beherricht fein. Der Herzog, nod
leidend, hat 9. mittheilen lafjen, daß Mirbacd) ihn verfichert habe,
er jei nicht fein Gegner, fondern wünfche eine Stompofition.
Der dem Herzog übergebene Entwurf zu einer folden jei mahvoll
und fönne angenommen werden nad den vom Herzog bereits
gemachten Zugejtänbniffen (einfeitige Ximitation und Werpadhtungen);
es fomme darauf an, ob der Adel jeine Stellung nicht mißbraudhen
und weiter gehen werde,
6. 3, 20. Jan. Mirbach ipricht jid) unzufrieden mit
Homwen aus, im Dinficht auf die von Nücdmann dem Herzog
vorgelefene Depejdie. Kowen jei in feinem Xab genen den
er5og zu weit gegangen. Mirbach hat dem Herzog veriprocen,
die Kompofition zu wirken und die Allodien nicht anzugreifen.
Th PVirbad) aufrichtig jei, werde jich zeigen. — Der Herzog ijt
noch) zu Vette. Die Derzogin it wahricheinlich Ichwanger.
R, 1. Febr. 9. foll feine Thätigfeit weiter cinfchränfen
(ralentir).
fü
ar
656 Zur Geichihte ber Unterwerfung Kurlands.
7.8, 24. Jan. Am 22. it 9. bei dem franfen Herzog
gewejen und hat ihm die preußtiche Deklaration über den Einmarid)
in Polen mitgetheilt. Van glaubt an eine neue Theilung Polens.
Dan glaubt aud, daß die Kaiferin bie Abberufung 9.'8 gefordert
habe.
88, 31. Jan. In einem Schreiben an ben König hat
der Herjog um Fortbauer ber Miffion 9.8 gebeten. Beim
Verfaffen diefes Landes werde 9. nur bedauern, von einem
Intriganten wie Howen vertrieben worden zu fein. — Am 22.
Januar ijt General Sievers auf dem Wege nad Grobno in
Mitau geweien, hat den Serzog geiprochen, defien Muth dadurch
etwas gehoben worden ift. Sievers hat dem Herzog gelagt, bie
KRaiferin wünjche gewiß nicht, daß er in Betreff der Arrenden
fein gegebenes Xeripreden wiberrufe. Sievers fei einer der
fopalften Männer, die er, 9., in Nuhland habe fennen gelernt. —
Der Landtag beginnt heute.
9.8., 3. Febr. Die Eröffnung des Sandtages ift Rücdmann
nicht, wie üblich, durch eine Anrede, fondern durd eine Note
angezeigt worden, die er auch fchriftfich beantwortet hat. In
diefer Antwort hat er dem Sandtage gerathen, die Forderungen
am ben Herzog nicht zu übertreiben. &. bat man wie bisher die
Anzeige zu machen unterfaffen. Der Herzog ift in Milan geweien
und hat mit Mirbach über die Rompofition unterhandelt. Da es
nicht üblich fei, ihm, wenn er in Mitan it, einen Befuch zu
machen, fo ift ©. nieht hingegangen.
Immediatberiht vom 9. Januar an den König: Der
Herzog hat fid) in feiner verzweifelten Lage entichlofien, den König
um Hilfe anzuflehen; er hat 9. gebeten, einen Weberblid über die
Greigniffe ber legten jedhs Monate abzufaiien, was 9. nicht Habe
verweigern fönnen.*) Am Schluß des Memoirs jagt D., er
önne bie Bitte des Herzogs nicht unterftügen, denn wenn der
König nur unfiher für den Herzog eintrete, jo werde ich Rußland
in feinen Plänen nicht ftören lajfen und der König fi nur
blofftellen. &. ficht feiner Abberufung entgegen. Der Aufenthalt
*) Dos beigefügte Memoir faht den Zugalt der Depsfchen fur) zufammen.
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurfands. 657
in Mitau fei von einer jchredlihen Theuerfeit und er werde fi
in diefer Yegiehung überall anderswo beifer befinden. *)
N. Febr. Da der furiiche Landtag die „Grobheit”
begangen habe, 9. nicht wie Nüdmann die üblide Deputation zu
\iden, jo ergreift der König diefen Vorwand, um 9.6 Ab:
berufung zu beichließen; 9. werde die Abberufungsichreiben mit
einer der näcjften Poften erhalten. Er fole fid) an den Furifden
Angelegenheiten nicht weiter betheifigen.
Immediatvorlage (ohne Datum und Nummer) des
Minifteriums an den König: Das Minifterium bat Se.
Mojeftät die Sagen zur Nenntniß gebradht, welche Herr von
Mopäus auf Befehl feiner Souveränin jomohl perfönlid gegen
den Heren von Hüttel, als gegen das Veltehen felbft einer
preußifhen Miffion in Mlitau vorgebradht hat. Der König jei
peinlich berührt worden, zu jehen, daß die Uebelgefinnten in Rurland
über die Haltung wie die Prinzipien 9.’ die Kaiferin hinter:
gangen haben. 9. babe ftets dem Herzog zur Vläßigung gerathen,
ihn mehrmals für die ruffiichen Wünfche zu ftimmen und bie
Verföhnung mit dem del zu fördern gejucht. Aber es fcheine,
daß aud) die guten Dienjte einer Partei mißfallen hätten, welde
auf Mehrung der Wirren ausgehe und fi) eines intelligenten
Beobachter und eines Gegners ihrer Intriguen zu entlebigen
wünjde. Zu diefem Ziwed fei der Herr von Homwen nad) Petersburg
gereilt. Das Minifterium habe, um die aftuellen Gefinnungen
des Herzogs nicht zu jchwäcen, diefem jowohl wie dem Herrn
von 9. die Henntnif des geheimen Artifels vorenthalten, welcher
in Betreff der furijchen Angelegenheiten dem neuerdings zwilden
Breußen und Rußland geihjloffenen Allianzvertrage beigefügt fei.
9. habe jtets das Bejte im Auge gehabt. Wenn aud) „par une
suite de la condescendance dont le Roi se plait a donner
constamment des preuves ä Son Auguste Alice, Sa Majeste
füt disposde ü faire cesser une mission, qui n’a jamais du
etre que temporaire. Je moment present nous semblerait
pourtant pas eonvenable“. Die plöpfihe Abberufung wäre für
*) Diefem Urtheil Hüttel’s darf man eiwas miftrauen, da er fchon in
Petersburg fortwährend mit Scyulden zu lämpfen hatte, Die der Nönig wiederholt
bezaplie.
658 Zur Gefchichte ber Unterwerfung Kurlands.
9. eine unverdiente Verlegung und für die furiihen Ariftofraten
ein Preufen verlegender Triumph. KRurland jei überdies nicht
frei von dem gegenwärtig fih) verbreitenden revolutionären Geit,
und bei der augenblielichen Krifis in Polen fönnte fid in einem
Nachbarlande ein neuer Herd ber Nebellion bilden, da die
arijtofratiihe Partei dort zuerit das Beiipiel des Aufitandes
gegeben habe. Man müfle fo nahe als möglid) darüber wachen,
und 9. würde mr die wuffiihen Intereflen fördern, wenn bem
Herrn v. Nücmann der Befehl zuginge, in vollem Einverftändnik
mit ihm zu handeln. i die Hube wieder hergeftellt, fo werde
der König feine Schwierigfeiten gegen die Abberufung feines
Minifters erheben.
10. B., 10. Febr. Der feit 3 Wochen zwiihen dem Herzog
und dem Yandesbevollmächtigten verhandelte Entwurf einer
Kompofition Üt endlich fertig geworden und dem Landtage
überfandt worden, welder mit ihm sehr zufrieden ift. Die
Einzelfeiten fennt bisher nicht einmal das MVtinifterium bes
Herzogs. Aber es it zweifellos, daß der Fürjt den Frieden jehr
theuer erfaufen wird, jowohl durch Verluft an Nechten, als an
Geld. Er hat 9. 3. B. anvertraut, dah er für die Progeifoften
eine Entichädigung von 40,000 Dufaten verjprodien habe. Howen
habe eine Arrende von 6000 Thl. Ab. auf Lebenszeit erhalten,
fowie ein Darlehen von 75,000 Dukaten zu 3 Prozent jur
Bezahlung der Güter, die er im vorigen Jahre erworben Habe.
Die Häupter der Oppofition haben vortheilhafte Verwaltungen
und Rüdmann vier Pachtgüter in der Nähe Vitau’o gefordert,
wo das Gejtüt des Derzogs ftehe, welches er für den ruffifchen
Groffüriten eingerichtet habe. Die Arrenden follen fünftig jede
Jahre laufen. Da die Ausgaben des Yehns künftig die Ein-
nahınen ftark überfteigen würden, jo hat die Oppofition eingewilligt,
daß mehrere Güter, die verpadjtet werben follten, num in
Adminiftration verbleiben. Für den Herzog jei jeßt die q
Sorge, wie er den Empfehlungen Nuflands gerecht werben jolle;
denm es feien mehr Empfohlene da als vafante Pachtgüter. Er
bat fd) deswegen durch Nücmann nad) Petersburg gewandt.
Der Herzog denkt wieder an eine Ausreife; die Neife der Herzogin
jei gewifi; fie werde ihre Niederfunft im Anslande abhalten. Es
Zur Gefchichte der Unterwerfung Kurlande. 659
läuft wieder das Gerücht, Kurland jolle in Polen einverleibt
werden.
11. 3, 17. Jebr. Die Kompofition verzögert fi, weil
viele Edelleute noch unzufrieden find mit der Vertheilung der
Arrenden, die natürlich nicht völlig gleihergiebig find. Andere
fordern Erhöhung der Pachtjummen, weil die Ausgaben (die
ftaatlichen) font nicht gedectt jeien. Der Herzog thut Alles, um
den Frieden herzuftellen. „Unter diefen Umftänden ijt es doppelt
ärgerlid für ©. $. D., an feinem Hof einen ruffiihen Minijter
wie den Herrn von Nücmanı zu haben, beifen fittlicher Charakter
fih immer ungünftiger entfaltet hat. Obne die enormen
Forderungen an den Herzog zu rechnen, wird er von Rubfitum
befchufdigt, die Proteftion jeiner Sonveränin zu verkaufen und jo
zu Tagen die Pachtgüter verfteigert zu Haben“. Alles das greife
den Herzog jehr an, er wolle aus dem Yuslande nicht mehr
heimfehren. Manche Anzeichen, z.B. die Umgeftaltung feiner
Jagd, geben diefer Vermuthung Gewicht.
N, 28. Ian. Das Abberufungsichreiten wird an D.
überfandt, vorgeblid wegen der ausgebliebenen Deputation des
Landtages, thatlädylich weil der Grund der Errichtung diejer
Mifion fortgefallen fei. 9. Sekretär D’Arrejt wird nad) Warfchau
in die Gefandtichaft zu Buchbolg beordert. H. wird anheimgeitellt,
feine Gefhäfte zu ordnen und heimzufehren.
12.9, 24. Febr. Die Kompofition it endlich abgeichlofien.
Der Herzog verliert dabei mehr alo er gewinnt. Ta er mit
Virbab allein, ohne Zuziebung eines Minifters, an der Sade
gearbeitet hat, jo hat er jogar Dinge unterjchrieben, zu deren
Genehmigung er nicht das Necht hat; z.B. die Veftinmung über
die Wacht der Negentibaft, das Yand zu regieren ohne der
Zuftimmung des Herzogs zu bedürfen, felbjt im Finangiachen.
Nachher hat der Herjog von lee Arritel nichts gewußt und fich
beffagt, daß er Ninten Die Sache habe der
Verzog jehr jchlecht a: Hätte er bie geichleppt, jo
hätte Verbach wahrjcheinlich in Vielem nachgegeben, da er aus
Petersburg mühe Nachricht befommen baben, daß die ii vi
anfange, fid) zu Ounjten des Herzogs zu erweilen. Was der
Adel aud) gewinne, e6 ei dod im Wihverhältnii zu den Ktojten
860 Zur Gedichte der Unterwerfung Aurlands.
biejes Streites. Außer dem don gratuit, zu dem der Hof fich
verpflichte, fei jeder Hafen Landes für eine SKontribution von
415 Th. Alb. foeben abgeihägt worden, um jene Stoften zu
deden, was auf 300 adlige Hafen mehr als 125,000 Th. Alb.
made. Die Klagen und Unzufriedenheit dev Maije des Adels
mit den Deputirten und dem Vevollmäctigten treten um jo
lauter hervor, als bieje Herren die Lufrativften Pacıtgüter fich
haben geben Laiien, ein „objet infiniment plus interessant
pour chaque indi
pour la totalit& de NOrdre-. Die Herzogin reife am 8. März
über Verlin nad) Rarlobad; der Derzog heine jeine Neie auf
gegeben zu haben. &. wünfeht nad) Empfang feines Abberufungs:
ichreibens bei jeinen Verwandten in Kurland auf dem Lande bie
zum Mai bleiben zu dürfen. (Wird am $. März genehmigt).
13.8, 3. Warz. Obwohl 9. fid) nicht weiter in die
furifchen Dinge mifcht, glaubt er doc über die unerwartete und
wirtlic, drücende Lage berichten zu müflen, in bie der Herzog
fi) verjept fieht. Rad Allem was geichehen, glaubte man, daß
bie. Raiferin befriedigt jei. Die Kandboten gaben fogar zur Feier
der Ausjöhnung dem Herzog am leiten Sonntag ein idönes Feit.
Arm Dienstag darauf las Nücdmann dem Derzog eine mit Stafette
ihm zugegangene Depejche vor, in der der Vergleid) im Allgemeinen
mißbilfigt und dem Herzog heftige Vorwürfe gemacht wurden,
weil er nicht alle in der Lifte bezeichneten Perjonen mit Pacht:
gütern verforgt habe. Die vom Herzog vorher eventuell an
andere Perjonen verliehenen Kontrafte wmühten aufgehoben werden,
widrigenfalls Truppen einrücen und die herzoglichen Allodien
fequeitriren würden. Jugleid) legte Rüdmann eine zweite, nod
zahfreidhere und von der eriten abweichende Lifte vor, in der bas
Hut, welches Ieder erhalten jollte, ausdrüdlih genannt war.
€s jei num dem Herzog nicht möglich, die Jumuthung der Kaijerin
zu erfüllen, da die im Vefig befindlichen Pächter ihre Güter nicht
freiwillig väumen würben und der Herzog über feine Zwangemittel
verfüge. Wenn mun der Herzog, die nad) der Nompofition in
Adminiftration verbliebenen Güter verpadhten wollte, um der
Forderung zu genügen, jo würden die Staatsausgaben die Ei
nahmen vom Xehn überjteigen und der Herzog fönnte genöthigt
Zur Geichichte der Unterwerfung Kurlands. 661
werden, feine Allodien mit der Penjion des Prinzen Guftav zu
befajten. Das fei um jo mehr zu fürdten, als die rufiichen,
mit Arrenden bedachten Beamten, wie cs jdeine, jelbit die Pacht-
fummen feitiegen wollten, welde fie zu zahlen hätten; jo babe
General PBahlen erklärt, er wolle nur 500 Dufaten für ein Gut
zahlen, weldes mindejtens 2500 Dufaten jährlih trage. Der
Herzog babe jih an Subow um Verwendung gewandt. lan
wolle in Petersburg offenbar den Herzog und jeine Sinder
ruiniren. In Petersburg verbittere Vowen immer mehr bie
Stimmung der Naiferin gegenüber dem Herzog, denn er glaube,
da; jegt die Gegner des Herzogs durch die augenbfidliche Dispofition
Nuplands Alles erlangen Fünnten, was fie wollen.
14.8, 10. Därz 9. hat das Abberufungsihreiben vom
28. Febr. erhalten. Cr überfende die ihm vom Herzog zugeihidte
Kompofitionsafte, zu der er mir wenige Bemerkungen machen wolle.
- Der Herzog habe, um fein llod zu fchüßen. fid) und jeine
Nachfolger unter eine Art von Tutel der Regierung und des
Adels gejtellt. Indem der Adel dns Necht erlange, fi einjeitig
zu prorogiren und diejelben Yandboten nach zwei Jahren wieder
zu wählen, werde e6 den Intriganten leicht gemadht „de propager
une funeste oligarchie“. Vielleicht fei der rufjiihe Wlinifter
deshalb mit dem Vergleich unzufrieden, vielleicht wolle er nicht,
da bie fünftigen Herzoge an Rechten einbüfen ader dal die
Allodien unanfechtbare Erbgüter der Kinder des Herzogs werden.
9. meint, die Haijerin wolle „ecraser ce Prince et ses enfants*
und jude nad) einem Vorwand, um die Allodien zu fequeftriren.
Die Verfiherung des Königs, den Herzog aud) ferner zu ftüben,
werde deiien Sorge vermindern, fid) in der Hand eines Dofes zu
befinden, der feinen Ruin wolle. Der Herzog Habe einen Kanzlei:
fefretär nad) Petersburg geichiett, Rrentur und Vertrauten des
Herrn von Dowen, m diefen zu gewinnen, wozu wenig Ausficht
a fei. Nüdmann arbeite weiter gegen den Verzog.
5.8, 17. Mär, Am legten Donnerstag it der Graf
von Afie unter dem Namen eines Perzogs de Meillevane in
Dlitan angefommen. Der Herzog hat ihm einen Edelmann des
Hofes entgegengeichidt und ihm Mohnung im Schloh angeboten,
bis die Aa wieder pafirbar wäre. Der Graf Hat aber nicht
662 Zur Geidhichte der Unterwerfung Rurlands.
angenommen, fondern ift in einem Gafthofe abgeftiegen und am
16. früh nach Niga weiter gereift. Der Herzog wäre wohl zur
Stadt gefommen, wenn ihn die ausgetretenen Flüjfe nicht
abgehalten hätten. Die Verzogin ift am lepten Montag abgereift.
Die jcweren Verfehrobedingungen, fowie nod) immer {chmanfe
Gefundheit verhinderten $. bisher, dem Herzog fein Abberufungs-
fchreiben zu überreichen.
16. 8, 28. März. Die Lage in Petersburg jei nod
biefelbe. Die Kaiferin werde ftets von Neuem gegen den Herzog
geitadhelt. Xegterer jege feine einzige Hoffnung auf ben Botichafter
anı polniicen Sofe von Sievers, der ihm wohlgefinnt und von dem
dem Herzog zugefügten Unrecht überjeugt zu fein Icheine. Rüdmann
verbreitet, dab in Folge der in Polen fid) vorbereitenden Ereignifle
die Souzeränität über Hurland zum Theil an Rußland fallen
werde. Diejes Gerücht bedrüde vollends den Herzog, und das
ganze Yand fehe in feiner Verwirklichung das allergrößte Unglüd,
weil es dann einem ähnlichen Schijal wie die Strim entgegeniche.
Repnin joll die Nachricht an Nücmann geihidt haben.
17. 8., 7. April. Am 5. April hat 9. fein Abberufungs-
i—hreiben überreicht. Der Herzog dankte gerührt für die Verheikung
fortgejegten Antereifes des Königs für ihn, verficherte Se. Majejtät
fei feine einzige Voffnung, und flehe ihn an, ihn nicht zu verlajien.
Niemals jei der Verzog jo niedergeihlagen geweien. Der Stanzlei
jefretär hat aus Petersburg fchlimme Votjchaft gebradt: die
Naijerin Icheine auf der Erfülhung ihrer Forderungen nad ber
festen Lifte beitehen zu wollen; allerlei private Forderungen
tauchen jept auf, die die Naiferin im Schup nehme; aud die
Penfion für den Prinzen Karl werde er erhöhen mühen. —
d. werde num aufs Yand gehen, um dort bis zu feiner Abreife
von Rurland zu bleiben.
Einer Perfonalakte Hüttel’s entnehme ich, dah es wegen
wiederholter dringender Bitten 9.6 um Geld zur Bezahlung
feiner Schulden zu böfen Auseinanderfepungen mit dem Pin
fommt. ©. geht zu feinen Verwandten nad) Berjebet, wo er
längere Zeit Franf darnieberliegt, und erjt Ende Juni reift er
über Nautenberg nad) Berlin ab.
Randerungen durd unfere Provinzialhauptitadt.*)
Greignifreihe Jahre find feit unjerer legten Wanderung
über unfere Stadt dahingegangen. Miederum haben die Dom-
gebäude ein Stück ihrer yentrafen Bedeutung für unfere provinzielfe
Rulter einbüfen mühjen: die Stadtbibliothef mit ihren Schägen
am Büchern, Manuffripten und Bildern hat im Nathhaufe eine
nene Heimjtitte gefunden. Es ijt Zeit, dal; aud wir das alte
Gemäner, das Gotteshaus und den Kreuzgang, verlaflen; denn,
wollten wir alle die Perfonen und een, welde im Laufe unferer
GSefchichte von dort aus gewirkt haben, im Geifte wieder aufleben
fajien, jo brädten wir uns um die Wanderung in die übrigen
dttheile.
Mir wenden uns der Kaufftrafe zu. Es it nicht möglich,
ohne Anfenthalt durch die furze Nrameritraße zu fommen. ins
von uns, zwilden der Neuftrafie und der Noiengaife, erinnert
der Häuferfompfer mit feiner nüchternen, faft Heinfichen Phnfiognomie
an den rafchen Wechfel der Zeiten; an die Nücjichtslofigkeit, mit
der die jüngeren Generationen gegen die Heiligthümer der älteren
verführen.
An der bezeichneten Stelle hatte das 13. Jahrhundert eine
Kirche erbaut und fie dem heiligen Paulus geweiht, mit Altaren
und Bildern geihmüct. Rundum (ag ein Kirchhof, der über ein
Säfulum Geiftlihen und Bürgern als Grabjtätte diente. Gegen
Ausgang des 14. Jahrhunderts erhob fid) ein Streit zwijchen
=) Bergt. „Balt. Monatsiheift" 1880,
®
fi. und ©. 531 fi.
664 Wanderungen durd) Riga.
dem Erzbiichof und den Yürgern der Stadt über ben geheiligten
Play, is derielbe von den Bürgern gewaltfam beiept wurde;
endlich muhte er aber doc anf einen Machtipruch des Papftes
dem Grzbiichof herausgegeben werden. Yald nad) diefer Entfheidung,
am Anfang des 15. Jahrhunderts, verihwindet Ct. Paul aus
der Ueberlieferung, um nie wieder aufzutauden. In ber Zeit
der Neformation war die Kirche nicht mehr vorhanden. Nein
Kreuz, fein Leichenftein, fein baulicher Ueberreit läßt erfennen, an
welcher Stelle über zwei Jahrhunderte hindurch die Mefje gelefen,
das Evangelium verfündigt und das heilige Saframent vertheilt
worden.
Andy die Nofengaffe hatte einft ein gänglic) anderes Nusfehen.
Um die Hälfte breiter als heute, bot fie einer Neihe von Schmiede:
werfjtätten Raum, die hier an der Grenzmauer der Alt: und
Neuftadt ihr lürmendes und fenergefährliches Wejen trieben. Die
Straße trug bis mindejtens gegen Ende des 16. Jahrhunderts
den Namen: „Schmiedeftraße”.
vfer werden wir von einer feinen Thür in der Nramer-
ftraße, an der Ede der Nojengajie, angezogen. Sie bildet den
Eingang zu dem ehemaligen Nathsfeller, über dem jebt der Laden
von Hugo Frey liegt. Das Straßenterrain ift hier im Laufe der
Beit um 5 bio 6 Fuh erhöht werden, und man hat jept etwa
5 Fuh hinabzufteigen, um in das alte Trinflotal zu gelangen.
Nod heute wölben fich diejelben Steine über den jtattlidhen
Pfeilern, wie vor 500 Jahren. Wo jegt einige Kaden Brennyolz
unfchön aufgeihichtet liegen, verfammelten fid) einft die Väter der
Stadt, die fremden Kaufleute, wohl aud mandes Fahlhäuptige
Möndlein zum Abendtrunf. Der anjehnlihe Naum mit feinen
fräftigen Pfeilern und jeinen weiten Dedenbögen mag in alter
Zeit jo mandjes tranliche Pläghen zur Erholung und Exfrifchung
geboten haben. Da mag mand' geldbringendes Geichäft, aber
auch mand)' diplomatiiche Atte eingeleitet worden fein.
Nah furzer Najt fteigen wir wieder zur Strafe empor.
Vor uns liegt das Nathhaus, über 500 Jahre lang der Vittelpuntt
ftädtiihen Xebens. Denn feit dem Anfang des 14. Jahrhunderts
waren hier in dem einen Gebäude die wichtigiten jtäbtiihen
Behörden vereinigt. Die würdigen Nerren des Hathes mögen
Wanderungen durch Niga. 665
wohl früher in einem anderen Haufe in der Kaufitraße (vielleicht
über dem Nathofeller ober in der Nähe deifelben) ihre, weit über
das Gebiet der Stadt hinansreichende Thätigeit entfaltet haben.
Rechtgeiprodhen aber hat man wohl von Anbeginn der Stadt hier
am Darf.
Denn das ältefte Gericht duldete Feine Einhegung in gemanerte
Wände, und fein altes deutiches Nathhaus entbehrte der Gerichts
Lande, einer offenen, meijt überwölbten Halle, in ber die
„openbaren“, d. h. öffentlihen Handlungen des Nathes vor:
genommen wurden. Das älteite Nigafche Nathhaus mar an der
Vorder: und Hinterfront mit Vogengängen geziert, hinter denen
in einzelnen Buden Krämer und Höfer ihre MWanren feilboten.
In einer diefer „Lauben“ empfing der Bürger jowohl feinen
Urtheilsiprud, als auch die Beurfundung von Nechtsgeichäften;
bier übertrug 3. B. vor dem Vertreter des Nathes und den
Kämmerern der Stadt der Eigenthümer fein IJmmobil an feinen
Mitbürger. Ein Advofat, in älterer Zeit wohl der Stadtjchreiber,
verlas den Antrag des Verfäufers zum Werfaufsgeihäft; der
vorfigende Nathsherr, gewöhnlid, der Bürgermeifter, erklärte die
betreffenden Dokumente für richtig; Käufer und Verkäufer reichten
einander die Hände, worauf der Käufer den feierlichen Eid leitete,
bas erworbene Immobil niemals in fremde (auferftädtiide) oder
geiftliche Hände fommen zu lajien. Indem fid) dann die Nämmerer
von ihren Eigen erhoben, war das Rechtsgeichäft abgeichlofien,
und der Stabtichreiber fonnte deiien Verzeihnung in die Stadt:
Erbebücher vornehmen.
Ie bedeutender und mannigfaltiger Handel und Verfehr
in der Stadt fi geitalteten, deito problematiicher wurde die
Deffentlicfeit bei den Gerichtsverhandlungen und Nechtsgeichäften
„vor dem Kath“.
In die Nathsftube jelbit aber drang in der älteren Zeit
faum eine unberufene PBerion; über Wohl und Wehe der Stadt,
über Pflafterung der Strafen, über die Anlegung von Brunnen
und öffentlichen Gebäuden, über alle Zweige der ftädtijhen
Verwaltung, aber aud) über Krieg und Frieden, über VBejendung
der Hanfatage und fremder Füritenhöfe berieth der Nath allein,
wenn aud die Bejchtuhfafiung meilt wicht ohne Mitwirkung der
606 Wanderungen durch Riga.
Bürgerfhaft geichehen Fonnte. Die große aemauerte Treppe,
welche vom erjten Stod im Mittelalter auf den Markt
hinabführte, war durd) Schranken den gewöhnlichen Sterblicen
veridjlofien.
Ueber dem Dadhe erhob id ein fchlanfer Them, deiien
Spige die Neitergeitalt des b. Georg trug.*) An den beiden
Ichmalen Zeiten des Haujes wurde das Dad) von zwei hohen
gothiihen Gicbeln fanfirt. Ungefähr um die Hälfte Fleiner, als
das heutige, fand das alte Nathbans wohl fhon zu Anfang des
14. Jahrhunderts in dem befchriebenen Aeuferen da. Bis gegen
Ende des 16. Jahrhunderts hat cs Feine erheblichen Umbauten
erfahren, aufer daf einige der am und unten in dem Gebäude
befindlichen Buden zur Unterbringung ftädtiicher Behörden geräumt
werden muften. Das Haus entitand in einer Zeit, wo die Gothit
auf profanem Gebiet ihre Yerrlichiten Werte ihuf und in vielen
Städten Nord-Deutjchlands ftattliche Nathhäufer neuerrichtet wunden.
Der Bau, der dem Nathe von Niga eine wiürdige
Stätte bereitete, hat vielleicht zur Gründung einer Verbindung
der Maurer in Niga Anlahi gegeben, die danı mit den Maurer:
Verbänden deo Neiches Fühlung juchte. Jedenfalls diente der
Neuban als Mufter für den Yauftil der Privathäufer in der
Stadt. Das Merfwürdigfte am Haufe mag wohl die damals
mene, bamı wieder fange außer Mode gefonmene Zentralheizung
geweien fein, die in fait moderner Weije von einem ungeheuren
Kteller- Ofen aus durd Nöhrenleitungen („Bipen“) die oberen
Gemächer erwärmte. Dagegen ift von maleriidher oder plaltifcher
Ausihmücung vor dem 15. Jahrhundert Faum die Nede, ganz
entipredhend der Entwidelung der verichiehenen Aunftweige in
Nord-Deutfchland. Während im 13. md 14. Jahrhundert feine
Kunjt mit fo allgemeinem Interejie gepflegt und bewundert wurde
wie die Architeftur, beichränfte fih die Plaftit und Malerei auf
die Kleintunjt in Geräth und Wandichmud. Erit, als unter der
Einwirkung der itafieriihen Nenaiifance der Geihmad und das
Mottyufche Aupferitich von 1612 (remobuziet u. A. in Mettig's
Gefchicpte Riga’s) zeigt, wenn auch undeutlich, den d. Georg, die Fahne deutet
auf den Dradjentödier,
Wanderungen durch Riga. 667
Terjtändniß für die gothiiche Yaufunjt der Deutichen zu jchmwinden
begann, wurde das Auge für lebhafte Farben umd wechielvolle
Kinien wieder jo empfänglid, wie in der alten Zeit des
romanifhen Stils.
Namentlich hob fih die Malerei aus dem Handwersmähigen
in's ariftofratiiche Gebiet wahrer Nünftlerihaft. Im 15. Iahr:
hundert fanden in Kiga Vater vielfach Beihäftigung, hauptjäclich
an den Kirchen, deren Innen- zum Theil auch Aufenwände mit
Gemälden bededt wurden. Auch find in diefem Jahrhundert jo
viel Gemälde, „Tafeln“ genannt, hierher eingeführt worden, wie
tauım in einer fpäteren Periode. Die Qitarienbücher, die Verzeichnifie
von Altarftiftungen lafien das erfennen. Die Obrigkeit der Stadt
blieb in diefen Veftrebungen nicht zurüd. Wir erfahren, dab
bereits im Nechnungsjahr 1407,8 ein Nrenz auf dem Nathhaufe
„gemalt wurde”; freilich fann der Merth des Runftwerts nicht
hoch angefchlagen werden; denn der Künftler, der Glajer Bernd,
erhielt für diefe Feijlung einen Ferding, den Preis für eine Tonne
Vier. Werthvoller war „das Pafen“, das 1411.12 von Johann
Wantfcheyde, der im jelben Fahre fein Amt als VBürgermeifter
antrat, geliefert wurde. Der Preis betrug 26 Marl, wofür man
icon 26 tüchtige Mrbeitspferde fanfen Fonnte. Mahrfdeinfid) war
„das Yafen“ ein Wandteppic) mit einem eingewebten Bilde. Ju
Jahre 1466/67 melte ein ungenannter Maler „die Bilder im
Nathhaufe* und verdiente in dem einen Nahr die bedeutende
Zumme von 10 Mark, wobei ji) von jelbit verjteht, da; er Hojt
und Wohnung vom Kath erhielt. Vorher hatte man den „Nemter“,
das Zipungsjimmer, für 381. Marf mit einer geidhnisten Holz
dee ihmücen failen. Zur Zeit des genannten Bürgermeifters
Johann Wanticende fich der Nath aud) die Nolandsiäule vor
dem Ratyhanfe ausbeffern, vielleicht neu bemalen. Die bedentenderen
Städte hatten auf dem Diarkte ein Tolches Vildnih ftehen, das
als Eymbol jtäbtiher Marktfreipeit und unabhängiger Gerichts
pflege galt. Im 15. Jahıhundert jah man das Bild vieljad) als
Zeichen der Neichsfreiheit an, fo dal 5. 9. die Stadt Magdeburg
fi) auf ihre Nolandsjäule berief, um ihre Unabhängigkeit gegen
über den Erybiichöfen zu beweiien. In Bremen winde folgende
auf die Neihsunmittelbarfeit ziefende Neimfchrift am Natphanic
angebracht:
668 Wanderungen durch Riga.
Wente der stadt is gegeven des Rolandes bilde
Tho enem teken der friheit under des rikes schilde.
Diefe Anfhauung theilten aber die Serren ber Städte
Feineswegs, auch in Niga hat der Noland gewiß) dieje Bedeutung
nicht gehabt. Der Rigafche Rath wurde vom Vifchof, Ipäter vom
Erzbifchof mit der Gerichtsgewalt befehnt. Leider mifien wir von
dem Ausfchen des Nigafchen Rolands nichts Näheres. Zmeifellos
hielt er aber das aroße, gerade Schwert in der Sand, welches
als Nichtichwert in der Form von dem Schladhtichmwert abwic.
Im Laufe der Zeiten wuchs das Haus in einzelnen Theilen;
endlich wurde zu Ende des 16. Jahrhunderts eine neue Kanzlei
auf der Seite nad) der Düna hin angebaut. Erit im 18. Jahr:
bunbert zu Herbers Zeit, it, wie befannt, das jept noch beitehende
Nathhaus von Grund aus neu aufgeführi worden.
Die Gefchichte des Rathhaufes ift übrigens neuerdings To
eingehend erzählt worden,*) dal wir den Nüdblid auf das Neußere
und Innere defjelben hier abbrechen fönnen, indem wir uns an
dem Dinweis genügen laffen, dab wie in den Firdlichen Bauten
aud) im Haupthaufe der Stadt die Zeitgefchichte fid) wicderipiegelte
und bis in die nenejte Zeit der Nath es als Ehrenpflicht betrachtete,
das Gebäude dem Geichmad und den praftiichen Anforderungen
der aufeinander folgenden geichichtlihen Zeitabichnitte gemäh
auszugeitalten.
Noch) toender erichiene das innere Leben dieies Haufes von
den eriten Anfängen bis zum Aufbören feiner Bedeutung zufammen
bängend bdarzuitelfen. Wir lajien uns aber um fo cher von diefer
Aufgabe abbringen, als diefelbe von berufener Feder in die Hand
genommen ift.*")
Welh lange Neihe von tüchtigen, zum Theil weit über die
Mittelmähigkeit hinausragenden Seftalten ift über die breite Treppe
des alten und durch die weiten Sallen des neuen Rathhaufes
geihritten! Die Namen von gegen 900 Glicdern des Nathes find
c Zahl nur Namen für uns, and) wenn fie
zu ihrer Zeit von den teoftonfien Perjönlichleiten getragen wurden.
Bon Anton Wuchholt; in den Ritheitungen NV, 1.
;adt Kiga,
Wanderungen durd) Niga. 669
In der „Nigifhen Hathslinie” des Vürgermeifters 9. I.
Börhführ jtehen fie alle aufgeführt, neben den Namen ein Tnappes
Verzeihnih ihrer Thaten. Bei den erften 41 den Namen nad)
befannten Gliedern der Stadtobrigfeit fehlt aud) diefe Angabe.
Nur von dem allerälteften Vogt oder Syndilus der Stadt, Albertus
genannt, willen wir, daß er die Anterefien feiner Mitbürger
wirfjam vertrat. Diefem Albert verdankt die Stadt ihre Mark,
einen Fläcenraum, der fhon im 13. Jahrhundert die Größe von
56 Quadrat-:Werft (746 Quadrat-Silometer) erreichte, und bis in
die meueite Zeit hinein nicht nur von wirthihaftlider, fondern
aud von politiiher Bedeutung war. Albert vertritt die Stadt
im Jahre 1225, als unter Biihof Wilhelms von Wtodena
Vermittelung der Inhalt des von Biichof Albert verliehenen
gothländiihen Nects näher firirt wird; Albert erwirft vom
Bifchor Wilhelm von Modena den Sprud), nad) welhem ein von
Viihor Lambert von Semgallen in der Nigaihen Stabtmarf am
Babitiee erbautes Schloh den Bürgern ausgeliefert wird. Leider
ift das aber aud alles, was von dem älteften Nathmann mit
Zicherheit übe t wid, und der Wunjch mehr von Dielen
würdigen Nigenfer zu erfahren, wird wohl ewig unerfüllt bleiben.
Dis gegen Ende des 15. Jahrhunderts it das Verzeihni;
der Taten nicht reich; erft mit der Reformation, befonders aber
mit den legten Zeiten Nigafcher Selbftändigfeit fällt mehr Licht
auf die Perfonen, welche einft ihre Stimme in den Nathe:
verfaminlungen erhoben; bie im Samıpfe der inneren Parteien
ihren Scharffinn zeigten; die aber aud) ihr Leben einjeßten, wo
65 galt zum Velten der ihnen anvertrauten Stadt ihre eberzeugung
zu vertreten.
Dah au in den etwa 400 vor der Neformation lebenden,
nur troden mit Nummern bezeichneten Nathsherren Liebe zur
Vaterftabt und opferfreudiger Zinn herrichte, davon it uns ein
merhvirbiges Zeugnih aufbewahrt in dem Brief des Erzbiichofs
Johann von Vehten vom 5. Februar 1286 (?) an den lübifchen
Nath, der im Auszuge hier folgt: Er, der Erzbifchof, ehe fid)
veranlaft, ihnen (den Lübedern) eine Angelegenheit vorzutragen,
die ihm auf das Genauefte befannt fei, da er felbit Augen- und
hrenzeuge und überhaupt mit dabei geweien fei, als er nad)
5
670 Wanderungen durc) Riga.
rigiicher Propit war. Cs fei nämlich von feinem Vorgänger
Johann I., dem damaligen Ordensmeifter Ernft (von Nafburg)
und der Stadt Niga mit dem Könige Troydene von Litauen ein
Friedensbündniß geichloffen worden. Der König habe fodann den
Erzbiihof, den Meijter und die Stadt Niga durd) einen Gelanbten
erfucht, ihm einen zuverfäffigen und ehrbaren Voten zuzujenden,
mit welchen er mandherlei beiprehen wolle, und der unter feinem,
des Königs, Geleite hin- und zuridreifen folle. Demzufolge fei
ein ehrbarer und weijer Mann, Nathsherr der Stadt Niga,
Namens Arnold mit der eifernen Hand, an den König
abgefandt worben, welcher aber unterwegs verhaftet wurde, viele
Leiden erdulden mufte und endlich in der Gefangenschaft ftarb,
nachdem wiederholt an den König gerichtete Bitten wegen feiner
Freilaffung, das Verfpredien von Geihenfen, und viele darauf
gewandte Koften fruchtlos geglieben waren.
Someit der furge Bericht, nicht werthlos für uns Nadjfommen,
die wir das Anbenfen des Arnold mit der eifernen Hand in Ehren
halten follten, obwohl er zu den Statiften und dem Chor gehört,
welche ihre Erwähnung in der Gefchihte nur dem Zufall veranten.
Noch eines anderen Diannes fei hier gedadt, der fih um
bie Stadt in ganz hervorragender Weiie verdient gemacht hat,
und deifen Name im Gebächtnif der Lebenden aufzufriichen, Pilicht
des Gefhihtsfchreibers ift. Der einzige nämlich, der im mittel:
alterlichen Niga die Feder ergriffen, um eine Chronik der Zeit:
ereigniffe zu verfafien, war der Stadtjefretär oder wie man
damals auf gut beutfch fagte, der Stadtichreiber Dermann Helewed).
Die Orbensbrüber, die Priefter und Mönche haben fo manche,
zum Theil werthvolle Aufzeichnung hinterlafien; außer den poetiich
gereimten zwei Chroniken des 13. und des 14. Jahrhunderts,
beichrieb der Kanzler des Meifters in Livland Hermann von
Wartberge die Thaten der Ordensritter, während der Pfarrer von
Papendorf, der Lettenpriefter Heinrih und die Dünamünder und
Nonneburger Annalen mehr die Geidichte der Kirche im Auge
hatten. Die alten Nigenjer fcheinen es mit dem Grundfage der
alten Römer gehalten zu haben, daß cs größer fei, Thaten zu
thun, als fie zu beichreiben. Denn es ift im Gegenfag zu der
Wanderungen durch Riga. 671
Zeit des 16. Jahrhunderts, wo Niga außerordentlich fruchtbar
an Chronifen war, im Vlittelalter fein anderer Gelhichtsichreiber
der Stadt nadhzuweifen, alo eben jener Hermann Helewedh.
Helewech war ein geborener Nigenfer; fein Water, wahr:
fheintich auch fon fein Großvater, befaßen ein Baus in der
Schemmenftraße, an der Ede ber Stegftraße. Hier alfo it er
geboren. Die Familie jtammte, wie fo viele Liofändiihen, aus
Weftphalen. Nachdem er fid) bie Würde eines Magifters
erworben, wurde er 1454 als Stadtjefretär angeftellt, in welchem
Amt er über 20 Jahre thätig war. Zu Michaelis 1479 erfolgte
feine Wahl zum Nathsherrn. Er jtarb am St. Thomastage 1490
und wurde Dienstag vor Jubifn begraben. Berheirathet war er
mit einer Tochter des Bürgermeifterd Gerwin Geudena.
As Stadtjefretär und fpäter als Nathsherr nahm er wohl
eine einflußreihe, wenn nicht die leitende Stellung in den
politiichen Händeln der Stadt ein. Daher ift fein Bericht über
die fogen. Kirhholmjcen Händel und die fi am biefelben
fnüpfenden Creignifje von ca. 1450 bis 1489 von hohem Werth
für die Ueberlieferung, leider ift das Original biefer „Chronit”
verloren gegangen, vielleicht verbrannt im Jahre 1674 mit anderen
Schägen des Nathsarchivs. Glüdlicherweife ift uns ein umfang:
reicher Auszug diejes interejjanten MWerfes erhalten, den der
Nathsherr Joh. Witte um die Mitte des 17. Nahrhunderts
gemadt hat.
Mit Märme und Anfhaulicfeit fdildert Helewech, wie
Sfthof von Vengden, Verend von der Bord, Freytag von
Loringhofen als Vleifter des Ordens darnad) jtrebten, bem Erz
biichof die Herridhaft über die Stadt Niga zu entreißen, um
alle Stände des Landes unter ihrem friegeriichen Negiment zu
einigen. Cs ift ein Stüc der Geichichte jener Zeit, wo fi hier
im fernjten Winkel der Ttjee die Jdeen Geltung zu verihaffen
fuchten, die in der großen europäiichen Welt zur Herrichaft
gelangten.
Es wäre num wieder eine verlodende Aufgabe, jene in der
mittelalterlichen Stadthronit berichteten Cinheitsbeftrebungen und
deren Widerfader mit Hilfe der anderen Quellen, namentlic, der
dr
672 Wanderungen dur) Riga.
zahlreichen noch vorhandenen Briefe der Ordensmeifter, zu einem
Bilde zu geftalten, aber die Arbeit ift bis zu einem gewiljen
Grabe überflüffig geworben durd) die Darftellung der livfändifchen
Gejchichte von Seraphim, die ja in aller Lejer Hände ift oder
fein follte. Aus demfelben Grunde bredie id auch meine
Wanderungen ab, da das, was fie, wenn aud unvolllommen,
erfegen follten, unterdeijen geichaffen worden ijt, eine in gutem,
patriotifchem Geifte geichriebene Gedichte Nigas und Livlands.
9. Girgenfohn.
le __
ae
Notiz
TH. Schiemann: Heinrich von Treitfgle's Schr und MWanderjahte
1834-1808. Münden und Leipzig, Oldenbourg. 1896.
Im den wenig Monaten feit dem Tode Treitichfe's hat 8 an Rachrufen
in der Preffe, auch an eingehenderen, teitiichen Würdigungen feiner Bedeutung
als Hitorifer und Politifer nicht gefeflt. In Iepterm Sinne hat Schmoller
feine Nede über Treitfchfe und Sybel gehalten, hat Paillen in der „Deutfchen
Rundichau” feinen Auflag gejchricben. eyt kommt Schiemann hinzu mit einer
Viograpfie, die bis 1806 reicht. Am fo furzer Zeit lieh füh eine nach allen
Seiten vollftändige und eingehende Lebenöbefchreibung nicht erwarten, meshalb
Scjiemann fih denn aud auf die Periode des Werdens und Wadjfens dieles
Wannes His zu dem Moment bef—hräntt at, wo er als Menich und als Gelehrter
gefeitet auf ficerem Voden innerer Meinung und äuferer Ycbensjtellung angelangt
mar. Und in geriffem Sinne it dies der intereffantefte Teil von dem Yebei
Treitichte's, meil fich in ihm das Werden und Gähren einer ganzen Oeneration
fpiegelt, einer Generation, die uns noch fo nahe ftcht und Die doch gänzlich der
Vergangenheit bereits amgehört in Wollen, Tenten, Fühlen -- foweit das
politiicie Leben in Frage fommt. Und ich glaube, dab Schiemann «6 verftanden
hat, Ddiefe Widerfpiegelung treu und Mar darzuftellen. war man empfindet
alsbald die Wärme der Verehrung des Züngers und Freundes, die aus dielen
Notiz. 673
Zeiten ftrömt; man empfindet, wie der Perfaffer noch ganz unter dem Ginbrudt
dirfer fcnwungvoll poeiifgpen und poltiigen Seste ftegt, die id ganz und heftig
wie fie fühlte, aucy zu Auhern pflegte. Aber wenn der Aritifer in diefem Buche
dem Freunde den Woririt läht, fo war es auch micht die geftelfte Auigabe,
Treitfcpte als Hitoriter und Profeffor zu beurteilen, weldhe hier vorlag, fondern
der Wunfch das Bild eines Mannes feitguhatien und befonders unferem jungen
Gefchlecht nahe zu bringen, der an Reinheit, Kraft des Wollens, an Glauben
an das Hödhjte und Yefte cin ungewöhnlich reicher Cuell der Yabung war für
Ale, die ihm im Leben begegneten. ‚dem ganzen Bud) feflelt bejonders das
von Haufe aus gegenfäplide Berhälnißs Treiiäes zu feinem Later. Ein
Gegenfag der politifcien Mrt deS Denfens, die mit innigiter Gcmeinfamfeit auf
dem Boden des periönlichen Cmpfindens zulanmenging. und cin in beiden
Hinficsten Löftlices Bild jener Zeil des ampfes zwiichen der Liebe zum grofien
Vaterlaude und der Pietät für die alten Ultäre der Aleinjtaaterei. Die ganze
Zartheit und der ganze Ernit der fidh gegenüber ftchenden beiden Männer treten
uns daraus entgegen und Taf chen, dahı mehr von Diefer Korreipondeng
wörtlich in bieies Buch, Mufnahme gefunden Hätte, Meberhaupt fcheint mir der
Verfaffer allzu fparfam gewejen zu fin mit bem Aborud aus den Sorreipendenzen,
Die ihm reicplich zu Gebote ftanden. Im der Biographie eines Bilicher wird
man weniger nach feinen Briefen judhen, fondern fid) an der Schilderung
äuerer Tpatfacen genügen laffen; in der Lebensfdilberung eines Treitffe
wird man vor Allem feiner Briefe bedürfen, um den Menfchen, und der feiiifchen
Veleuchtung feiner Bücher und Schrifien, um den Gelehrten und Poliifer zu
beurtheifen. Nadeffen üt, was uns in diefer Niirze geboten wird, eine Erzähfung,
die in ihrer einfachruhigen Form vorteefjlich gelungen, in Abficht auf den Anhalt
geeignet it, im dem Sinne auf unfere Jugend fortjmpirfen, melder in der
Perfönlichteit diefes edlen Patrioten felbit begründet
vd.
—— Yhonnenentö-Linladung.
Mit dem nädjten Heft beginnt ein neuer, der neunmdbreißigite,
Jahrgang der „Valtiihen Monatsihrift”. Um Störungen in der regel:
mäßigen Zujendung zu vermeiden, bitten wir um
baldige Erneuerung des Abonnements,
Die Publifationen der „Balt. Monatsfceift” werden wie bisher dem
Programm entipredend zum Gegenftande haben: allgemeine und baltifche
Beitfragen, die politifche Geicichte unjerer Tage, Kirchen: und Echulmefen,
Eihnographiices und Statiftiiches, das Nechtsleben, agrariihe Verhältnie,
Induftrie, Gewerbeweien u. ä. m. Erhöhte Beachtung wird im neuen
Jahrgang insbeiondere der Gefchichte unferer Tage durd Einführung einer
Aubrit „Baltiihe Ehronif“ gewidmet werden.
Das erite Deft des neuen Jahrganges wird voransfichtlich nacjtehenden
Inbalt Haben: 1. Die Kivländiigen Privilegien. Ein Memorial. 2. Das
Armenweien der Stadt Niga auf Grund der hiftoriich-ftatiftiicen Studie
von ler. Tobien. 3. Ucber die Paftorenmahl. 4. Priefwehjel ymülcen
Victor Hehn und Georg Berkholz. 5. Ueber die finctiihe Naturlchre
des Freiheren R. v. Dellingshauien. 6. Berliner Kunftbriefe 7.
gitterärifhe Streiflihter. 8. Baltifce Chronit.
Der Abonnementspreis für den Jahrgang beträgt 8 MdL, bei
Verfendung mit der Pot 9 Nbl. Abonnements nehmen alle beutihen
VBuchhandlungen und die unterzeichnete Verlagshandfung entgegen.
Keval. Franz Aluge.
der Ehrbegeif auf der Bühne.
Zu Beginn der 90:er Jahre veröffentlichte der Hamburger
Nehtsanwalt Dr. Anton Heh eine Schrift über die Ehre. Er
verfuchte darin den Nachweis zu liefern, dah die Ehre jelbjt ein
objektiv zu denfendes Gut, alto Objekt der Beleidigung nicht fein
ann, weil das Wejen der Beleidigung gerade in ihrer ausichließlic)
fubjeftiven Wirkung, d. b. im ihrer dur nichts Anderes zu
ertlärenden Wirkung auf das Chrgefühl beitände. Beleidigen
heiße jomit „seeliich wehthun”. Das jeeliide Weh aber entbehre,
weil rein auf Allufion beruhend, eines vernünftigen, objektiven
Grundes und „Verlegung der Ehre”, die man als diefen Grund
des beleibigten Gefühle begeichne, mühte fid) jomit bei tonfequentem
Weiterdenfen entpuppen als ein Nichts und eine inhaltloje Phraje.
Auf diefe vechtsphilojophiiche Vlaterie von Ehre und Beleidigung
fam Dr. Heh fpäter einmal in einem geiftreichen Feuilleton in
der „Frankfurter Zeitung“ zurüd, um nunmehr vor einem Laien:
pubfifum auszuführen, daß nicht bloß die römifche, fondern aud)
die moderne, insbefondere deutiche Nechtsanihauung die Beleidigung
nicht als eine Verlegung der Chre, jondern nur des Ehrgefühls
auffafe:
Dur foldes Hineintragen des jubjektiven Empfindens in
den Begriff der Ehre aber üt der Veltimmung dieies Begriffs
ber weitete Spielraum gewährt. Was dem Einen als Beleidigung
erfcheint, nimmt der Andere gleihgiltig hin, mas diefem ein
Ehrenpunft, it Jenem ein bloer Schall. Weld’ eine lange Neihe
von Chrauffaifungen zwiichen jener, die die fubtilite Standesehre
zur eigenjten macht und jener anderen, die der verlumpte Falitaff
in die Worte Heidet: „Ehre? Was jtedt in dem Wort Ehre?
Luft... Ehre ift nichts, als ein gemalter Scjild beim Leiden
zugel” Welch” eine Kluft zwiichen jenem Offfier, der einem
Hiviliften den Degen durd) den Yeib rennt, weil er fid) von ihm
40 Der Ehrbegriff auf der Bühne.
für beleidigt Hält, und — Cofrates, der mit philotophiicher Nuhe
einen Tritt Hinnahm und lächelnd bemerlie: „Aber wie? werde
ib) denn hingehen und einen Cjel verflagen, wenn er mid)
getreten hat?“
Ehre! Melde Vlenge von Definitionen befchäftigen fi mit
ihr und hat irgend eine das Nichtine getroffen? „Ehre it der
gute Rufl” — jagen Die Einen. „Ehre iit der Werth, den der
Einzelne für die menichliche Gefellichaft hat“ die Anderen.
Die Dritten fommen und meinen: „Sie ift der Aniprud) auf
Adtung”. in Necdtsphilofoph, wie Köitlin, bezeichnet fie als
„iente Quintejlenz der Perlönlichteit” und wieder ein anderer
‘EHilofoph, der grofe pi je Verfechter des gelunden Dienjchen:
verftandes Schopenhauer fchreibt, icharfiinnig die Zweibeit des
Ehrbegriffes Fenngeichnend: „Ehre it das Äußere Sewilfen und
Sewijen. ift die innere Ehre“... Was ift Tolhen Wandlungen
unterworfen bei Völkern, Ständen, in Zeitepochen, wie der Chr:
degrifft Wieviel Menfchenleben find ihm geopfert worden, wieviel
Elend ward um etwillen ertragen, wieviel Wahnmwig beruft
fh auf ihn, wieviel Größe und wieviel Niedertraht hat er
gezeitigt .
+
Und fo hat fid jederzeit auch die Dichtkunt mit ihm
beichäftigt und Noman und Drama Haben oft die Ehre als einen
Ronflilt gaftor in den Dittelpunft üprer Handlung geftelt. Bei
verichiebenen Völlern und zu verichiedenen Yeiten in verjchiedenem
Grade. SJezueilen Tommi aber eine Neriode, wo ber Stoff
befonders in der Yaft zu liegen icheint. Zo war's, was Deutichland
betrifft, vor ein paar Jahren und Zudermann's nad dem Stoff
jelbjt benanntes Schanfpiel_,Ebre” und des jüngit verjtorbenen
Baron Alerander Noberts Dichtung „Satisfattion“ waren damals
zwei der hervorranendften VBühnentraktate dieier Gattung.
In einer folchen Seit befinden wir uns offenbar aud) jet
wieder Seit Jahresfrilt find die Kragen von der Standesehre
und vom Duell in der Sefellihaft, in der Preife, im Parlament
an der Tagesordnung. Yeitartifel und Vroicüren, Aneiptiichredner
und Politifer, Männer des commun sens und Vertreter des
Zittengeiege> befchäftigen fidh mit ihnen, freitich, ohne da; man
auch nur um Schrittes Breite vorwärts lüme, Erlebnijje und
Vorfommnille des Tageolebens Dald hier und bald dort, monarchtiche
Willensfundgebungen und parlamentariihe Anterpellationen geben
dem Pleinungstreit immer wieder nene Nahrung. Aber ichliehlich
handelt es fich bei diefem fruchtloien Streit garnicht um die Ehre
jelbjt, fondern nur am den Chrentoder, um das ftachelige
Der Ehrbegriff auf der Bühne. 4
Etwas, das in beitimmter, aljo bier umferer Zeitepoce, das
Ehrgefühl des Einzelnen lenken und leiten zu dürfen beanjprucht.
Dan follte num denken, daf der Dichter das Necht und die
Möglichkeit hätte, fi ungejtraft über den Ehrenkoder zu ftellen
und die Begriffe Veleidigung und Genugthuung im Sinne etwa
der Hehihen Ausführungen zu behandeln, die mir jüngjt wieder
ganz zufällig in die Yände fielen, gerade wo Berliner Publifum
und Kritit fi beionders eifrig mit den Begriffen von der Ehre
beihäftigten, Ausführungen, auf die id) deshalb erft hinwies.
Indeffen, dem ift nicht jo und wie gleid) gezeigt werden
joll, gehen die Dramen, die zu dem Gerede hauptjächlic, Anlad
geben, durchaus von dem von Schopenhauer jo perhorressirten
mittelalterlichen Chrentoder aus, um in ihm fchlichlich fteden zu
bleiben: theils ganz bewuht, weil eo nur gilt, einen. ergreifenden
Abihnitt aus dem Leben der Wirklichteit auf die Bühne zu
bringen, theils, weil man nad, gutem fatirischem Anlauf plöglid)
Kehrt und vor dem Gögen Citte feine Neverenz madıt, obichen
in der großen Majle eine immung zu berrfchen jcheint, die cs
am Ende als eine befreiende That begrüfen wide, wenn diefe
Neverenz unterbliebe.
Doc) zur Sache. Ich will nur nod) bemerken, dah es fid)
Hier im Uebrigen um nichts weniger handelt, als um einen
weiteren Traltat über den Chrbegriff und um eine Unterfuhung
der moralifcien und foialen Verehtigung oder Werwerflichfeit
des Duells. Cs liegt in der Natur der Sadıe, daf; diefe Fragen
noch gar fange offene und vielumjtrittene bleiben werden und daf;
65 immer mehr Leute geben wird, die, wenn fie fi 5. B. gegen
das jedhste und achte Gebot vergangen Haben, zitternd Hinter dem
fünften fich zu veridangen juchen, jobald es an die perjönfiche
Verantwortung gebt, wie andererfeits die Zahl Derjenigen immer
geringer fein wird, die für Eingriffe in ihr Leben auf dem Voben
jener Intereffenfreife fih Genugthuung zu fcaifen fuchen felbit
trog des fünften Gebotes.
* *
Pr
&s ift gewiß fchr interefiant, dab zur Zeit auf drei ganz
ichiedenen Verliner Vühnen Toldye Ehrenfrage : Dramen zur
Aufführung gelangen und es ericheint durchaus begreiffich, da
der große Erfolg, der einigen von ihnen zu Theil wurde, fein
bio; fünjtteriicher ift, fondern fich and gerade durch) die in Folge
m. X. der entieglichen Afaire von Brüjewig wieder einmal afut
gewordene Ventilirung der Standeschre, namentlich der Offisierschre,
und des Duellzwanges erflärt.
42 Der Ehrbegriff auf der Bühne.
Diefe Bühnen find die hodhtonfervative des „Röniglicen
Schaufpielhauies”, die gut bürgerliche des „Schillertheaters* und
die oppofitionelle der Jungdeuticyen, die des „Deuticen Theaters“.
Im Hoftheater is freilich Fein deuticher Dichter, der zu
Worte gekommen it, jondern ein Ipaniicer und zubem einer bes
17. Jahrhunderts, der fruchtbare, vermuthlich jung verftorbene
omddien und Tragödiendichter Don Francesco de Nojas
Zorilfa. Sein einjt berühmteites Traueripiel „Del Rey abajo
hinguno“ hat einer der bedeutenditen Künitler der Hofihaufpiel:
Truppe, Adalbert Matfowsti, nad) der Dohrnichen Neberjegung
in Hangvollen Verfen neu bearbeitet und unter dem Titel „Der
Graf von Gaftanar” zur Aufführung gebradt. Der Titel
des Originals lautet: „Außer meinem König —— feiner”. Und
jo deden fi) Inhalt und Titel wirklich. Cin Ehemann — id)
kann natürlich nur die Grundidee der gerade in allem Webrigen
mehr, als in diefer, reizvollen Dichtung wiedergeben — ein Ipanifcyer
Eyemann und Edelmann aljo Hält fi für vom Könige in feiner
Guttenchre gefränft. Das Hit — nur fo verjuchsweile. Den,
der fid) in der Nacht gemaltfom bei jeinem treuen MWeibe
Gingang verfhaffen wollte, befommt er nod) glüdlid) zu paden
und glaubt zu feinem Entjegen in ihm den jungen König zu
erfennen. Ein heftiger Konflift zwiihen Wlannesehre und
Viannentreue entbrennt in ihm. Und wie will der Didalgo ihm
(öfen? Er will zuert das unfhulige Weib und dann aud) fid)
tödten! Aber die Donna entfommt und zwar in den Königspalaft.
Hier flärt fh Ales auf. Der Böfewicht war ein Hofmann. Yon
erjticht der Näder feiner Ehre mit den Worten: „Außer meinem
sönig feiner!”... Cine etwas harte Jumuthung an bie
Empfindung und die Logik unferer Zeit — dieje Sophiiterei ber
Hidalgoehre, die in der Yera des jüs primze nocüis und zudem
in Spanien, wo mandes Ipaniic war und üft, die Zufchauer wohl
haben mag. Les extrömes se touchent -— bie
zugeipigtefte Ch Sp zur. Ichofeliten
Lafaienunterwürfigfeit. Der Nonjens der Thefe beeinträchtigie jo
die fünftlerifchen Vorzüge der Dichtung. Ja, wenn mod) ber
Hidalgo, als er in feinem Jerthum befangen war, fich fetbit allein
hätte tödten wollen. Aber aud) das treue, unfduldige, nicht
einmal vom Ehrenräuber bejudelte Weib —- darüber fam man
nicht himveg.
Mit minder wüjten Chren-Wahnfinn haben wir es im
Schiller Theater zu thun. Ciner von den „Jungen“ hat dort
einmal ausnahmsweile Zutritt gefunden, und einer der begabteften
und eigenartigiten: Otto Erich Hartleben, der Verfaffer u. U.
der „Angele” und der „Danna Jagert“. „Ein Ehrenwort”
Der Ehrbegriff auf der Bühne. 443
heit das vieraftige Schauipiel, das feine Vühnenprobe fon im
vorigen Jahre in Bresiau erfolgreid) beitanden hat, in Verlin
aber erft jegt zur Aufführung fan, ebenfalls mit ftarfem Erfolg.
Hier muß ich fon etwas ausführlicher werden.
Der Maler Hans Burkhardt, Regierungsafieffor von Gollen-
berg, Dr. med. Heydel und Redakteur Dr. Gotter haben einjt
derielben atademifchen Verbindung angehört. Gotter erwies fid)
als Lump. Er unterihlug wiederholt Gelder der Vereinsfafle,
fogar Mohlthätigfeitsfonds. Die anderen drei dedten die Fehl
beträge und gaben fih das Ehrenwort, über die Sache zu
ichweigen... Jahre vergehen... Burkhardt verliebt fih in
Elfe Thomann, holt fih aber vom unvernünftigen Mädchen, das
wohl an mancder der Außenfeiten des trefflichen Menfchen Anjtoß
genommen, einen Korb. Der Maler fucht in Italien Vergeiien,
aber vergeblich. Ungeheilt Tehrt er zurück und findet Elie als
Braut des glänzenden Journaliften und Nedafteurs Gotter. Ihrem
Bruder gegenüber entfährt ihm das zutreffende aber bedenflidhe
DIN „Der Pump“, Der Konflikt ift fertig: motiviren oder
ven und fomit Eljen’s Unglüd befiegeln. er Dlotiviren
dann mühte er fein Ehrenwort breden! uf den vor-
trefflichen erften At mit einer berüdenden Milieu- Schilderung,
folgte ein ebenfo vorzüglicher zweiter und ein äuferft wirfiamer
dritter AfL, obichon in biefen beiden unaufhörlic die Frage ventilirt
irde Toll und Bann Burkhardt das Chrenwort breden. Das
flingt fchr undramatiih, ift aber fein theatraliich im guten Einn
des Wortes behandelt. Hartleben läßt alle Anjchauungen zur
Geltung fommen. Den bes forreften Chrenfodermannes nimmt
u. A. der Aifefor ein, der fogar weint, äußerlich fei doch Gotter
jegt durchaus rehabilitirt und er fönne fogar für fatisfaktionsfähig
gelten. Und Gotter? Gotter pocdht auf das Ehrenwort und als
ihm Burkhardt in einer Nufwallung gar den fdimpflichen Nevers
zurücigiebt, den Gotter damals unterzeichnen muhte — da
erflärt biejer Furgweg: entweder demüthige Entjculdigung oder
Denfur. Der Maler, der es nicht über fich bringen kann, vom
ftarren Buchjtaben des Ehrenfoder abzumeichen, entichlieht fih zum
Duell mit Demjenigen, den er jegt erit recht für einen notoriichen
Lumpen hält... No) fonnte man glauben, Yartleben wolle
eine modern erbarmungslofe Satire bieten. Aber es fommt
anders und aus dem bis dahin fo echten Hartleben wird pföplic)
ein imechter, ein in der Farbe philifterhafter Vürgermoral gefärbter.
Fım Duell wird Burkhardt leicht verwundet, aber Gotter triumphirt
doch nicht. Dr. Heydel, minder jfruputös, evfärt Gotter, er werde
beifen Vergangenheit aufdeden, wenn er nicht freiwillig zurüdtrete.
Das geichieht nun. Elie erfennt erit jest ihr Herz, pflegt den
44 Der Ehrbegriff auf der Bühne.
zuguterlept fehr tomantiich phantafirenden Nugendfreund wohl
gelund und heirathet ihm natürlich aud. Was fi als eine herbe
Satire anlieh auf die in eigenen Ehrbegriffen verfangene Ans
jtändigfeit, die jo der Niedertracht gegenüber unterliegt, das löit
ich aljo in Wohlgefallen auf. Um fo idmerzlicer, als fonit
Alles naturatitiich vzächtig wahr und fünitleriic) fein ausgearbeitet
ift, Towohl was die Charaktere betrifft, als auc in Bezug auf
Szenenführung und Eituationen in den erften drei Aiten. Die
große Maile war's wohl jo zufricbener.
+
Doc) da ift der geiftvolle Wiener Arthur Schnipler, der
im vorigen Winter im „Deutihen Theater” mit „Xiebelei” ein
ergreifendes Stüct Venfchenleben zur Aufführung brachte, wie ic)
feinergeit eingehender berichtet Habe. Das, was damals im
bende Epifode war, das ijl in feinem
neuen git im jelben Theater zur überhaupt erfimaligen
Aufführung Fam, zum Mittelpunkt bes Ganzen geworden — ein,
ober richtiger das Duell. „Nreiwild“, io Heißt der neue Drei:
after, zeiat viele der Vorzüge des älteren Schaufpiels: Idhöne
Dienjchenfchilderung, gut beobachtete ‚Zebenserfcheinungen, ins
beiondere eine Fülle von Iebendigften Zügen aus einem Badeorte
in der Umgebung Wiens mit feinem Offisierstreiben und feinen
Sommertheatertopen, viel warme Stimmung u. |. w. Aber fünftleriich
bedeutet e3 einen Nüdjchritt, denn der Tendenzitreit drängt fi
immer wieder vor und mit dem Helden fann man jchlichlicdh nicht
mehr fompathifiven, weil er zum ftarrfinnigen Querfopf wird
und feine Dandlungsweile zudem von unrichtigen VBorausjegungen
ausgeh
iefer Querfopf ift der reiche Dialer — als 06 immer nur
Stüntfer fi ihren aparten Jdeenkreis bilden Tönnten — Paul
Nnning. Bon fchwerer Krankheit genefen, will er erfi redt fin
eben geniehen in behaglicher Funfigeichmüchter Nuhe. In einem
Badeort lernt er eine tugendhafte junge Schaufpielerin Tennen —
«5 joll aud) jolche geben — die allein ihre eigenen filtfamen Wege
gebt und eben darum fc inmitten ber ulilenfreundihaften und
Reftaurantliebichaften ihrer Kolleginnen fich ebenfo vereinfamt und
unglücklich fühlt, als fie empört ift über die Zubringlichfeit der
Lobemänner in Uniform und bürgerlicher Kleidung und über bie
Gemeinheit des Theaterdivektors, dem cs weniger auf das
fünftleriiche Können der weiblichen Mitglieder feiner Truppe
ankommt, als auf ihre Fähigkeit, ihre Meise dem Publifum
gegenüber in den Dienft von Jweden zu ftellen, die mit der
Nunjt nichts zu thun haben. Paul und Anna Riedel aljo lernen
Der Ehrbegriff auf der Bühne. 445
fich fennen. Hier und da eine Begegnung auf der Promenade,
gemeinfame längere Spaziergänge nüpfen ein Band zwiiden den
beiden. Es ift nicht Freundichaft, es it nicht Yicbe; es üt ein
icverftehen der Eeelen, 05 ijt ein Zueinanderflühten aus den
Mattheiten und Gemeinheiten der fie umgebenden Wirklichkeit.
Auf der anderen Seite fteht eine Gruppe Lebemänner, in Zivil
md vornehmlich in Uniform; ganz prächtige öfterreichiiche Kientenants-
tpen, darunter ein übrigens dicht vor dem „ichlichten Abichich“
fiehender Schudenmacher und Mädchenjäger von ungeftümem,
heißem Blut, Xertreter einer hlingsrace, wie man fie in
Tejterreich häufig trifft, Marinjfi mit Namen. Diefen reizt icon
lange die Eprödigfeit der Anna. Gerade deshalb joll jie fein
Opfer werden. Und umfomehr, als er im verhaßten Dialer den
begünftigten Liebhaber wähnt. In deiien Gegenwart wettet er
mit Kameraden, das diefes „Mienfd vom Theater“ nicht beijer
fei, als die übrigen Alle und daß; er ned) am jelben Tage mit
ihr foupiven werde. Natürlich wird feine erit jchriftlich, dann
perfönlich vorgebrachte Einladung zurücgewielen. Cr wird von
Mnna überhaupt garnicht in’s Haus gelaffen. Nönning kat dazu
böhniih. Darauf Hat Karinjfi nur gewartet. Der Streit üt
fertig und er endet, für ihm Möglich: che er fc deilen verficht,
wird cr vom Jivili tfeigt . Ein Tuell auf Tod und
Leben it unvermeidlich. Aber Nönning denkt gar nicht davanı
„ich habe den Buben als einen Buben behandelt, wie er es
verdient und im Uebrigen fällt cs mir garnicht ein, mein Leben
Diejes Lumpen wegen auf's Zpiel zu fegen; ich möchte es geniehen,
jegt erit vet”. Prinzip gegen Prinzip afjo; jtarrföpfiger commun
sens gegen unerbittfiche Chrenfover Forderungen. Aber fan man
mit Nönning Inmpathifiren? Mit welchem echt greift er als
Eittenrichter und Eittenmodler ein? üfte ihm derjelbe gelunde
Dienichenverftand nicht eine andere Handlungsweiie gegenüber dem
„gumpen“ diftiren? Ein weltmännifcher Freund und der bejonnene
KRartellträger des Yientenants verfuchen vergebens, ihn anderen
Einnes zu machen. Er bleibt dabei: was acht mich das weitere
Scicjal Kariniti's an. Er hat es feiner eigenen, Verhmptheit
zu danken, wenn ihm nichts übrig bleibt, als ich eine ugel vor
den Kopf zu idiehen!... Auf gegneriicher Seite wird Nönning
des Mangels an Muth verdächtigt und man fcdhlägt daher, nur
um Narinjfi zu retten, abgeichmadter Weile ein „Schein: Duell“
vor, das der Maler natürlicd) erft vecht ablehnt. Witten in diefe
afademiichen Debatten hinein, die den zweiten At in jpannender
NWeife füllen, fällt eine ebenjo natürfich herbeigeführte, als poetüc)
reizvolle Verlobung: zwiichen Nönning und na, die ihn
auch beichwört, mit ihr abzureifen. Paul willigt ein. Da exicheint
446 Der Ehrbegriif auf der Bühne.
der Kartellträger noch einmal und warnt ihn: Karinifi Tei Alles
zugutrauen. „So? Dann aljo darf_ich natürlid nicht abreifen,
das fähe wirklich wie Klucht und Feigbeit aus“... Er bleibt
und cs geidieht, was wirklich im Leben neidhehen wäre. Auf
derjelben Stelle der Promenade, wo Narinifi beleidigt worden,
ichießt er Nönning wie einen Hund nieder. Weber ihm bricht
Anna zufammen: „was wird aus mir‘
„Rreiwitd“ find alio nicht blof die Damen vom Theater,
jondern auch die Ziwiliften gegenüber dem Offizier? Was aber hat
Schnigler bewiefen? Nichts, abfolut nichts. Er hat nur einen
„enfationellen Fall“ dramatilirt. Ein Neporterbericht anf der
Bühne. Ein Ausicnitt aus dem Leben, aber feine Fünitleriich
befreiende That. reilich — im Vergleid) zu Hartleben's Schaufpiel
eine „Sative*, Aber ihre ige it abgebrochen. Die Quer
föpfigfeit Nönning's verdirbt fie. Es wären andere bdramatifche
Auswege möglich neweien; fie liegen zu fehr auf der Hand, um
bei ihnen zu verweilen.
Aber bedenkt man, dah zwei Wochen fang vorher, die
Karlsruher Movrdaffaire von Vrüjewit Ziepmann alle Gemüther
in größter Aufregung erhalten hat, fo läht fd eine Vorftellung
davon gewinnen, wie an jenem Premidren Abend im Foyer und
Neftaurant des „Deutichen Theaters" Ddebattirt wurde. Yan
Haute fi in den Mandelgängen eines Gerichtsnebäudes oder
Parlaments, nicht — in einem Nunftinftitut.
Wohl aber bot uns in demielben Theater auf demielben
Boden der Ehren: und Duclffrage Hermann Sudermann ein
abgerumdetes unjtwerk, das, To Hein es ift, eines feiner größten
bleiben wird. Jm engften Nahmen giebt ex im zweiten Stüc
der „Morituri“, im „Srigchen“ das erihütternde Spiegelbild
einer ganzen Dafeinswelt. Der Vater, der vornehme alternde
Lebemann, der den Sohn heißt, fih austoben, che er heirathet
und fih dann in die fürchterlichen Folgen Teines Nathes gefaßt
fügt; die Putter, die Fränfelnde, ihren „Einzigen“ vergätternde,
von des Nönigs Gunjt für ihm tränmende, in ein Pbantafieleben
eingeiponnene Dame von Welt; die Nichte, die den Sohn licht,
und auf Gchei des Vaters warten muß, bis Arit ausgetobt;
diefer felbit, der eigentlich nur widerwillig den Nath des Vaters
befolgt, von einer älteren Kofetten umgarnt und, als der Gatte ihn
bei ihr trifft, auf den Hof binausgepeitfeht wird; dev cs dann
als Hunft empfindet, dah man ihm den Zweifampf noch geitattet,
nichts von einem neuen Yeben jenjeits des Ozeans willen will
umd getroft in den ficheren Tod geht, der ihm eine Erlöfung
bünft wie find die Typen alle lebenswahr und wie natürlich
die Eitwation, in der fie uns vorgeführt werden, ausgehend
Der Chrbegriff auf der Vühne. 47
allerdings von ber nicht gany wahrfcheinlichen Prämiii
Frigchen vor dem Duell noch einmal heim fommt, die Si
zu fehen, von denen aber nur der Water eingeweiht wird in die
tragiiche Lage... Welch’ ein Sprung von den dozirenden
Räfonnements des Grafen Trajt in der „Ehre“ zu diefem
Lebensbild von um fo ergreifenderer Wirfung, als bier garnicht
tälonnirt und dozirt, fondern mit der autofratifchen Herrichergewalt
des Chrenfoder als etwas Selbjtveritändlihen gerechnet wird.
Frigchen’s innere Ehre, das Gewiifen, befindet fich in volljtem
Ginflang mit dem äuferen Demilen feiner Standesehre.
Verhängnif, nimm deinen Lauf.
Aber Sudermann vermag auf demfelben Gebiete and als
Schalt fich zu zeig Die Handlung in der „Morituri” legten
Stud „Das Ewig-Männliche” gipfelt in einem fujtigen
Scheinduell, zu dem fih der Günftling der Königin, der vornehme
Hofmann, mit dem Iebenslujtigen Maler verjteht — der ein Feind
des Duells, wie Paul Nönning — um jo die wahre Gefinnung
der mächtigen Gebieterin feines Herzens zu erfunden. Ein Kujtiges
Voifenfpiel in anmuthigen Werfen und ganz und gar Moliere'ichem
Sinn, das eigentlich, nicht hierher gehört.
*
Wohl aber gehört hierher ein anderer Ginafter, der ganz
fürzlich im Seffing- Theater zur Aufführung fam: des hodmodernen
Italieners Alberto Bracco ergreifende Tragödie „Masten“.
Pier paart fih der commun sens mit chrenwerthejten
Herzensregungen. Wielmehr, mas fid) wie gelunder Menfchen
verjtand ausnimmt, it, ein Opfer der Liebe, der Vaterlicbe.
Kaufmann Palmieri_ift über ein halbes Jahr auf weiten Geichäfts-
reifen gewefen. Seinem Nompagnon und Hausfreund hat er
inzoifchen die Führung der Geichäfte ımd die Veihügung von
Frau und Tochter überlaffen. Der aber ift ein Schuft, wie Fran
Palmieri ein heißblüthiges, leichtfinniges W Sie hält dem
Berführer nicht Stand. Us der Hatte heimkehrt, geht fie jhuld
bewußt in den Tod. Gerade im Augenblid, wo die Polizei im
Haufe der Selbjtmörderin ihres Amtes waltet, tritt Palmieri ein
und erfährt aus dem Protofoll, daß mit der Selbitmörderin aud)
der viermonatlide Keim eines neuen Lebens zu Grabe getragen
wird. Den Schuldigen hat er in einer änßerjt |pannenden Szene
fehr bald Gerede. Was nun? Ihm an den Hals ipringen
und erwürgen oder gar cin formelles, Forreftes Duell? Aber jotl
der Selbjtmord nun nod Mord zeugen? Wenn auch das Sericht
ihn iprechen würde welcher Art wire wahl der jungen
Tochter Zukunft, der er fowiefo in der eriten Verzweiflung verboten
448 Der Ehrbegriff auf der Bühne.
bat, fi der Leiche der Mutter zu nähern? Nein ihr hat
er eben exft veriproden, fortan ganz allein ihr zu leben, der
mutterlofen. Und nun foll er ihr den Glauben an die Vutter
vauben und jelbit zum Mörder werden? Nein, day fann er nicht.
Darum — Masten vor! Bor der Weit jolle gemacht werden, als
fei nichts geicheben, das Geheimnig der Schuld foll mit der
Schuldigen begraben werden und zu Protofoll giebt er auf
Befragen des Polizeibeamten die Antwort: „Wann ich verreifte?
Kım etwa vor vier Monaten!
Alles Äft ungeheuer gedrängt und Tnapp, zu gehängt und
zu Fuapp vielleicht in jeiner bitteren Dragit, als daß das Yublitum
fie ebenfo raid) verwinden fönnte. Der Erfolg war daher weit
geringer, als nad) der padtenden Grundidee und ihrer meifterhaft
realiftchen Behandlung angenommen werden durfte.
Der war's nur der Ausdrud des natürlichen und gefunden
Nechtsgefühls der Mafie, das nicht mit diefem ehelmüthigen
Opfer jompathifiren fonnte?
Wie dem aud) jei - hier haben wir einmal einen Dichter,
der die Ehrenfrage auf jeine Meile föfen wollte und — er fiel ab.
Soll das etwa von Tymptomatifcher Bedeutung jein? That
fache ift, daß von all’ diefen modernen Ehredramen das Bracco'iche
den geringiten Erfolg hatte. Man bewunderte vielleicht Palmieri,
aber man verftand ihn nicht... Ich glaube, das richtige Ehre
drama muß noch geichrieben werden, wenn anders c6 überhaupt
je gedichtet werden fann.
I Norden.
ar
Kitteräriühe Streilihter.
Zu den dumfelften und tranvigiten Kapiteln in der Geicichte
der abendländiichen Menjchheit gehören neben den Kegerverfolgungen
die Herenprogeiie. Während aber jenen doch eine Idee, wenn and)
verzerrt und verunftaltet, zu Grunde liegt: die Aufrechterhaltung
des wahren und reinen Glaubens, die Beihüsung der Kirche
gegen das Eindringen falicher gefährlicher Lehren, fo ericheint der
Herenglaube und die Herenverbrennung als ein Probuft wahn-
finniger Verblendung und unbegreiflicher Geiftesverfinjterung. Und
baf diefer furchtbare Wahn gerade mit dem Beginn der neueren
Zeit die größte Ausbreitung gewann und im 16. und 17.
Jahrhundert die Herenprozeiie in höchiter Vlüthe ftanden, macht
die Sadye noch räthjelhafter. Es ift daher in neuerer Zeit vielfach,
verjucht worden eine Erflärung für Diele geiftige Epidemie zu
finden. Die Dleinung, da mır Aberglauben, Bosheit, Nadhjjucht
und Habgier die Urfahe der Herenverfolgungen geweien jeien,
reicht zur Erklärung der ganzen furchtbaren Ericeinung nicht aus.
Unzweifelfaft Haben die angeführten Motive in vielen Fällen
ftarf mitgewirkt, ja die Verfolgung hervorgerufen, aber die Quelle
der Herenprozeije überhaupt jind fie nicht. Weiter ift es eine
viel erörterte Frage, ob der Herenglaube, zunäcit in Deutichland,
in altgermaniichen religiöfen Vorjtellungen jeine Wurzel habe,
ober ob er erjt unter dem Einflufe der mittelalterlichen Kirche
entjtanden und verbreitet worden ift. Die Yitteratur der Deren
progefie ift fait unüberfehbar, da fih die Verfolgungen der des
6
450 Eitteräriiche Streiflichter.
Bundes mit dem Teufel Verdächtigen bis in die entlegenften
Gegenden erftredten; aud) bei uns hat e6 nicht an joldhen Progefien
gefehft und wie tief eingemurzelt der Herenglaube auc) in unferem
Sande war, Ichren allein icon die Herenpredigten des waderen,
hodjverdienten Hermann Camjon, Cberpajtors zu Et. Peter in
Riga und fpäteren Superintendenten von Livland. Die Gedichte
der Herenprozeffe von Soldau-deppe ift ein treffliches Werk, in
dem nicht nur ein reiches Material zufammengeftellt it, Tondern
das aud) bie ganz ungehewerliche Ericheinung zu erflären und
begreiflich zu machen jucht. Indeflen befriedigt cs gerade in dieler
Beziehung weniger. Durch feine Zuverfäffigfeit und Genauigkeit
wird Soldau’s Buch immer feinen Werth behalten, aber daß «6
den unermehlichen Stoff nicht erichöpft und nicht erihöpfen Fonnte,
Haben viele jpätere aftenmähige Veröffentlichungen gezeigt. Jeder
neue Beitrag zur Aufhellung diejes traurigen und dod) fo wichtigen
Kapitels der Kultur: und Sittengefchichte kann daher auf allgemeines
Intereife rechnen, zumal wenn er fidh nicht auf die Mittheilung
des rein Thatjächlihen beihräntt, jondern den Gegenftand unter
weiteren Gefichtspunften behandelt. Das geidieht auf fchr
beachtenswerthe Weife von Sigmund Niezler in jetner
Gejchichte der Herenprogefie in Bayern, im Lichte der
allgemeinen Entwidelung dargeitellt.*) Der Verfafier, ein
Schüler Wilhelm Giefebreht's, wohlbefannt durch feine Geichichte
Baierns im Mittelalter, legt in diefem Buche die Nefultate feiner
gründliden ardivaliicen Forihungen nieder. Von befonderem
Intereffe ift der erite, allgemeinere Theil, der fait die Hälfte des
Buches einnimmt. Niezler unternimmt cs darin nadjjuweilen,
daß der eigentliche Herenglaube exit jeit dem 13. Jahrhundert
durd) die Stirche felbft begründet und verbreitet worden it, indem
bejonders die Dominikaner als Kegerinquifitoren den Herenwahn
inftematifch ausbildeten umd die des Vumdes mit dem Teufel
Verdächtigen verfolgten. Der von nnocenz VII. 1848 beftätigte
‚Serenhammer (malleus maleficarum) brachte dann den Firhlicen
Herenglauben in ein förmliches Cuftem und gab zugleich die
eingehendfte und genaueite Unterweiiung zur Aufipitrung, Ver
”
ttgatt, Verlag der 3. ©. Eotta’icen Buchhandlung Rachfolger. GM,
Litteräriice Streiflichter. 451
folgung und Weberführung der Heren und Zauberer. Von biejem
furchtbaren Buche aus, das, wie Niezler nadweilt, den gröhten
Einfluß auf die Vorftellungen und Gedanfen der Meniden des
16. Jahrhunderts, auf die damalige Kitteratur und Kumjt ausgeübt
hat, haben fi) dann die Yerenverfolgungen wie cin breiter,
fhwarzer Strom über Europa, insbejondere über Deutichland,
ergojien. Zwifchen fatholiichen und protejtantiihen Territorien
war in Bezug auf die Herenprojefie fein Unterihied, im Gegentheil
wetteiferten, wie Niepler bemerkt, die drei Kirchen miteinander in
der rüdjichtelojen Ausrottung der Heren und Zauberer. Wenn
aber Niezler Luther für die Greuel der PHerenprogeife bei den
Protejtanten veranhwortfid machen will, weil der Neformator
jelbjt im Herenwahn befangen geweien, fo tut er ihm unrecht.
Allerdings hat Yuther an die Bündnifie mit dem Teufel und an
die jchäbfihen Wirkungen, die von den Heren ausgingen, als
Kind feiner Zeit und chter Bauernjohn geglaubt, aber daß er
die Verfolgung der Neren gepredigt und ihre Verbrennung
gefordert hat, davon findet fid) feine Spur; «6 lag das aud)
garnicht in feiner Art. Die Herenprogeife breiten fic) auch erit
lange nad) Luthers Tode in den protejtantiichen Gegenden
Deutfchlands weiter aus. Mit Schaudern lieft man Niezler’s
Ausführungen über das Verfahren bei den Derenprogeiien, bie
Anwendung der Folter, die verftridenden Fragen der Nidhter, bie
fummariiche Urtheilsiprehung und die granenvolle Art der Din-
richtung. So verdienjtvoll des Verfaiiers Forihungen find und
fo beflagenswerth die von ihm nadhdrüclich betonte Betheiligung
der SKirden an bdiefen Greueln it, feiner Auffafjung und
Benrtheilung des Herenglaubens fönnen wir dod) nicht zujtimmen.
Sie ijt ftart rationaliftiih und will alles mur durd) Bosheit,
Wahnmig, Dummheit, Aberglauben, Selbjttäufhung ımd Ein
ichüchterung erklären. Das trifft gewiß, wie wir hen oben
bemerften, bei einem großen Theile diefer Anklagen und Prozefie
zu, aber cs bleibt ein Net, der auf dieje Weije nicht erklärt
werden fann. Ciniges läht fich »iycholagiich als frankhafter
Seelenzuftand und innere geiftige Störung auffajfen, nicht weniges
weift auf Zuftände der Betreffenden bin, wie fie in unferen
Tagen der Hppnotismus, die Suggeftion hervorrufen, die fid)
0.
452 Litteräriiche Streiflichter.
nicht felten geradezu unheimfich darftellen. Auf dietem bunfeln
Gebiete des Geiftes: und Seelenfebens find noch mande Näthiel
zu Löfen und es it nicht richtig alle Crfeheinungen jener Zeit als
Jrrwahn zu bezeichnen und auf thörichte Cinbildung und bornirte
Nohheit zurücuführen. Wenn man die geiltige Epidemie der
SHerenprogefie im 16. und 17. Jahrhundert mit Necht verurtheilt, jo
follte man nicht vergefien, das; auch zu anderen Zeiten jofdhe Epidemien
nicht gefehlt haben. I nicht der Anariomus und Nihilismus
unferer Tage mit feiner brutalen Zeritörungsmwutb, feiner gegen
alles Veitchende gerichteten Vernichtungstenden; auch eine jolce?
Und mitten in der atheiftiiben dritten franzöfiichen Nepublit
erhebt der Zauber und Herenglanbe in der Gegenwart wieder
feed fein Haupt. Das fol uns dazu mahnen, aud bei der
Beurtgeitung der furdhtbaren Verierungen vergangener Zeiten der
Geretigfeit nicht zu vergeflen und deifen eingedenf zu bleiben,
dah der Wahn in wechlenden Formen die Dienfchen mr zu
feicht beftridt und beherricht. Ein Yichtpunft in dem fchredlichen
Drama der Serenprojefie it die Thatiache, da «9 niemals an
einer Oppofition gegen die Herenverfolgungen gefehlt hat, die
aud, da der Herenwahn den böchjten Gipfel erreichte, nicht
verjtummte, dann allmählich immer lauter und allgemeiner wurbe,
bis fie zulegt den Sieg errang. Niczler madıt darüber ehr
anziehende und Ichrreihhe Meittbeilungen; bie Namen diefer
treftlichen, edfen Männer, eines Weier, eines Sodelmann, eines
Friedrid von Spee Tollte die Nachwelt in trewem Gebächtniß
bewahren. Wie Nieyler ausführt, haben bie Herenverfolgungen
im Herzonthum Baiern niemals den furctbaren Umfang, wie
in anderen deutichen Ländern erreicht. Der unter dem Namen
des bairiichen Herenfrieges befannte litteräriche Streit von 1766,
über den unfer Autor eingehend berichtet, gab dem Derenglauben
in Baiern den Todesitoh. slev’s Buch, das cine Fülle von
befehrendem Detail enthält und auf reihem urfundlichem Material
beruht, ift ein wichtiger Beitrag zur deutichen Kulturgeichichte.
Wie uns €. Nentich's unlängit an diefer Stelle beiprodhenes
Yuch „Wandtungen“, die Lebensverhäftnifje und Zuftände Schlefiens
im zweiten Drittel diejeo Jahrhunderts anichanlich vorführt, io
verjegt Aug. Anötel’s Schrift: Aus der Franzoienzeit,
Litterärische Streiflichter. 453
Was der Großvater und die Großmutter erzählten *) den
Lofer nad Schlefien während des erften Jahrzehnts unferes Jahr:
hunderts. Der Herausgeber, ein Sohn des Verfaifers, hat bem
Buche einen Lebensabrig des von Glüd und Erfolg wenig,
begünitigten, vor "einem Jahre verjtorbenen Autors vorgejegt.
Ang. Anoetel’s idengerichtetes Streben, nicht geringe Begabung
und geündfiches Willen haben ihn doc) feine rechte Anerfennung
in der Gefehrienwelt veribaft, weil es ihm an ftrenger Schulung
und wijlenichaftlicher Metpode fehlte und weil er eine Neigung
zum Seltjamen und Abionderlichen hatte und zuleht fi völlig
iolirte. Nervorgehoben zu erden verdient, dah diefer freng
tirchliche Katholit ein großer Bewunderer Biomard’s war. Das
vorliegende Bud) giebt teils die Erzählungen und Aufjeihnungen
des Vaters von Auguit, Jancız Sinvetel’s, der 1807 bis 1805
preußiicher Soldat war, wieder, theils die Erinnerungen und
Studien des Verfaflers fetbft über jene Zeit. Das Leben und die
Anichanungen des Volkes am Anfange dieies Jahrhunderts werden
geihildert, die Mihwirthiaft des 1 19 Grafen Hoym wird
vorgeführt und die Nüchwirfung der Niederlage Preußens bei
Jena auf Schlefion dargejtellt; von der Kopflofigkeit und Schwäche
der höheren Beamten jener Zeit, von der Unfähigkeit der Feitungs-
fommandanten erhalten wir ein jehr anjchauliches, Lebenswahres
Bild. Als Netter in der Noth ericheint der Graf Ar. Wild.
Goeyen, der die Kandesvertheidigung leitete, um den fi alle
Gutgefinnten jchanren und der auch nad) dem Frieden von Tilfit
eine umfaliende Wirffamfeit ausübte. And die Ecjilderung von
Yanaz Sinvetel’s Kriegs: md Soldatenleben bietet nicht wenige
intereffante Züge. Noch anziehender find im Ganzen die
Erzählungen der Mutter des VBerfaflers, die uns auf's Lebendigite
in das bäuerfihe und Heindürgerliche Yeben damaliger Zeit ein-
führen und die jchweren Einwirkungen der Striegswirren auf alle
Verhältnifie vor Augen ftellen. Das alles wird fchliht, einfad)
und mit einer gewiffen anmuthigen Naivetat erzählt. Während
die großen Geichichtewerke über jene Zeitepohe fait nur die
friegeriichen Begebenheiten, jowie die diplomatiicen Verhandlungen
Fr. Wil). Grunem. IM.
454 Litteräriiche Streiflichter.
behandeln und den Gang ber politiichen Ereigniffe von der Höhe
der Staatsregierung aus betrachten, führen uns Bücher wie das
vorliegende in die Niederungen des Lebens, fie zeigen uns, wie
die großen Vorgänge auf das Volt, den Einzelnen, Bürger und
Bauern, wirkten, was er empfand, dachte und litt. Solde
Schriften Iehren uns den Untergrund des Stantslebens Tonnen
und Gilden eine wefentliche Ergänzung zu den Daritellungen der
politischen und Ariegsgeidjichte.
Mit den inneren Zufländen Deutichlands in der Gegenwart
beichäftigt fih die Schrift von Sidney Whitman. Aus
dentihem Leben (Teuton Studies). Autorifirte Ucber-
fegung von Dr. W. Henfel.*) Sidnen Witman hat fih als
fo guter Kenner und wohlwollender Veurtheiler der deutichen
Verhältniffe ihen in früheren Schriften bewährt, daf man jein
neues Bud) mit den beften Erwartungen in die Hand nimmt.
Und fie werden nicht getäuicht. Die hier vereinigten Anfläbe
find von verjchiedenem Umfange und Werthe, aber fie zeigen alle
die feine Veobadhtungsgabe, die genaue Kenntniß, die freundliche
Gefinnung und die geiftreiche Auffaffung, die wir aus den früheren
Schriften des Verfafiers Tennen, dazu fommt dann ned) bie Leichte
und Mare Darftellung, die ohne oberflächlid zu fein bed nie
abjtrakt und jchwerfällig wird. Es it ein wahres Vergnügen ein
folches Buch zu lefen; worüber Mitman aud) in anmutbigen
Plauberton fprechen mag, über den deutichen Wald, das deutiche
Lied oder das deutiche Badeleben, man hört ihm gern zu. Der
Aufiag: Deutichland einft und jet zeugt von der hilteriidhen
Einfiht und guten Beobachtung Whitman’s und der befehrende
Artifel über den Arbeiterjtand weift an der Vergleihung ber
deutfchen mit den engliichen Arbeiterverhäftniffen die unvergleichlic)
viel beifere Lage der erteren und die Unmwahrheit der fozial-
demofratiichen Behauptungen: von dem Elend der beutfchen Arbeiter
für jeden Unbefangenen überzeugend nad. Ganz vortrefflic, ift
der Abjchnitt über den Antijemitismus; hier werden die tieferen
Urfachen der Entjtehung und immer weitere Ausbreitung der
antifemitifchen Bewegung in Deutjchland mit Unbefangenbeit,
=) Hamburg, Haendte u. Fchmuhl. 2 M.
Litteräriche Streiflichter. 455
Safenntnih und Klarheit in Höchft lehrreicher Weife dargelegt.
Ausgegeichnet ift weiter die Charaktericilderung, die Whitman
von Moltke entwirft; fie ift im der Schärfe und Tiefe der Auf-
fafung, in der Verwerthung der einzenen Detaifzüge und in der
Srfafjung bes Wejensfernes der Perfönlicjfeit des großen Strategen
vielleic)t das Beite, was über ihn geihrieben worden it. Den
Beichluh des Vuces macht die Veihreibung zweier Vejuce bei
Bismard in Friedridsruge, die dem Verfafjer Veranlaffung geben
Vismark als Menjchen und im Kreije feiner Familie zu childern.
Was Whitman bier bietet, ijt ein wahres Meifterjtüd Idharfer
Beobadhtung und feinen piychologiihen Lerjtändniiies, in jo
Iebendiger Zorn, daf man, was er berichtet, zu hören und zu
fehen glaubt. Dieje wenigen Blätter geben von Bismard’s
Perjönlichteit ein befleres Bild als viele Bände, die über ihn
geichrieben find. Nimmt man zu dem, was Whitman erzählt,
das anziehende, vor zwei Jahren in deutjcher Ucberjegung erihhienene
Bud) „Crispi bei Bismard“, jo hat man einen vollen Einblid
in Vismard’s Familienleben, tägliche Veidhäftigungen und Lebens-
weije. Indem wir unjeren Lejern MWitman’s Bud) auf's
angelegentlidjite empfehlen, maden wir diejenigen, welche fie nod)
nicht fennen, auf die zwei früheren Schriften deiielden Verfailers
aufmerfjam: Das faijerliche Deutfhland und das Neid) der
Habsburger; fie find nicht weniger anziehend und Lehrreid. Die
Ueberjegung des vorliegenden Vuches ift vorzüglich, fie lieft fd)
wie ein Original.
Eine bedeutende Leiltung auf dem Gebiete der Litteraturs
geichichte ift die jegt abgeichloiien vorliegende Geihihte der
Weltlitteratur und des Theaters aller Zeiten
und Völfer von Julius Hart.*) Es gehört eine nicht
gewöhnliche Arbeitsfraft dazu, ein Wert von dem Umfange des
eben genannten, das fait 2000 Seiten großen Formats umfaht,
zu unternehmen und zu Ende zu führen und jchen der Ban,
eine Gejchichte der Weltlitteratur zu fcreiben, zeugt von fühnem
Entihluite. Ein folches Wert muß nothwendig den Charatter
*) Neudamm, 3. Naumann. > Bände mit jahlreichen Abbildungen und
Slhuftrationen. Geh. 12 M., geb. 15 M.
456 Sitteririfche Streiflichter.
einer Kompilation haben, d. h. es muß fi auf die Forfhungen
und Darjtellungen anderer ftügen, denn aud) nur die Hauptwerte
jeder itteratur felbit zu (eien, geichweige denn zu ftudiren, ijt
für den Ginzenen unmöglich. Wird mm eine foldhe Arbeit mit
Sorgfalt und Kritif unternommen, Fennt der fi) an fie Machende
eine und bie andere Fitteratur aus eigener Anfhauung genauer,
verjteht er es ben gewaltigen Stoff Far und überfichtlih zu
gruppiren, befigt er endlid) die Gabe anziehender Darjtellung, jo
wird ein Buch entftchen, dejien Verdienftlichfeit unbejtreitbar und
das zur Belehrung, zur Orientivung und zum Nacichlagen
brauchbar und nüfic ift. Wlan wird I. Dart das Zeugnif; nicht
verfagen fönnen, daß er bei ber Lölung der großen Aufgabe, die
er fid) geitellt, nicht geringen Fleiz und Eifer bewiejen hat. Dah
nicht alle Partien eines foldien Werkes gleichm. behandelt,
daß einige eine fürzere, andere eine ausführlidere Daritellung
erfahren haben, dab mancher bedeutende Schriftfteller in wenigen
Zeiten abgethan it, mandes hervorragende Wert faum genannt
wird, das ift bei der großen Veihränkung, die id der Autor
einer foldren Zufammenftellung nothwendia vielfah auferlegen
muß, unvermeidlich und natürlich. Hart hat bei der Darjtellung
der älteren und der neueren Litteraturen den richtigen Unterfchied
gemacht, dab er bei jenen regelmäßig Ueberjegungsproben ein
geffochten, bei dieien dagegen fid) auf die Charafteriftit der
Autoren und ihrer Werte beicpränft hat. Cs it ein umermehlidh
reicher Stoff, der hier im zwei Bände zufammengedrängt, dem
Lejer bequem und handlich zur Venugung dargeboten wird und
der Verleger hat durch Dinzufügung von zahllojen Abbildungen,
Handichriftenproben und Rorträts, jowie durch die vortrefiliche Aus-
ftattung jeinerfeits alles dafür gethan, den Werth des Buches zu
erhöhen. Doc) Hart giebt wicht blos eine geihichtliche Ueberficht
der Litteraturen aller Völfer und Zeiten, ev darakterifirt und
benctheilt auch die einzelnen Dichter und ihre Werfe von einem
iehr beitimmten Standpunkte aus mit großer Entichiedenheit.
Juius Hart und jein Bruder Heinvid find die Begründer und
eriten Borfämpfer des modernen Naturaliomus in Deutjchland
und dieje feine Anjchauungen verlengnet der Autor auch in der
Gedichte der Weltliteratur nit. Daraus ergiebt fid, da
Eitteräriiche Streiflichter. 457
diejenigen, welche die Aufgabe der Pace nicht in der Darftellung
der gemeinen Wirklichkeit fehen, fondern von ihr die Erhebung
des Sediichen in die Sphäre des Jdeals erwarten, mit Hart's
Anffafung und Urtheil oft nicht werden übereinjtimmen fönnen.
Die Geringihägung der Lyrif entipricht ganz den Anfichten diejer
modernen Richtung, ebenfo das mangelnde Verjtändniß für den
eigenartigen Geilt des Mlittelalters, feine Vpftif und Nomantif.
Aber auch das helleniich-Elaffiihe Jdenl Goethes und Schillers
erregt Hart’s Widerfpruch, wobei er allerdings mande richtige
Vemerfung macht. Vollends die romantifhe Dichtung am Ende
des vorigen und Anfang Ddiejes Jahrhunderts findet jehr wenig
Gnade vor feinen Angen, nur dem unwideritehlicen Zauber von
Novalis Perjönlichfeit und Pocfie hat fi) aud) diefer entjchlofene
Nealift nicht entziehen fönnen. Die Einfeitigfeit diejes moderniten
Standpunftes mad)t fidh befonders bei der Daritellung der Litteratur
unferes Jahrhunderts bemerkbar. Wie ungeredit und verkehrt
ipricht Hart z.B. über Geibel, wie Fury ud ungenügend über
Nücert! Seine Gefinnungsgenoiien dagegen werden am Schluiie
des Wertes als die Träger der Zukunft, als die Verfünder einer
neuen era der Porfie beiproden und gefeiert. Man darf demnad)
bei der Benupung des Werkes, namentlich für die neuere Zeit,
nie vergeffen, dah «6 ein Parteimann ift, deiien Urtheife wir
vernehmen. Für die deutiche Kitteratur lafjen fid) diefe Einfeitigfeiten
feicht durd) die Perangiehung und Vergleiung der Litteratur-
geihichten von Lilmar, Noquette und W. Scherer reftifiziven.
Außerdem fann man nidt leugnen, daß die Daritellung der
Meltlitteratur von einem flar ausgeiprodenen, entichiedenen
Standpuntt aus, wenn wir ihn and wicht theilen, ein
nicht geringes Iutereffe gewährt, zumal da Hart ein Wann von
Geift und Scharffinn ift. Unfere Benserfungen haben daher nur
den Zwed den Yejer darauf Dinzumeilen, dab er das ihm hier
Gebotene mit Kritif und jetbftändiger Prüfung aufnehmen mufi.
Im den Augen jehr Vieler wird übrigens gerade das, mas wir
an dem Buche ausjegen, als ein Xorzug dejielben erideinen.
Zedenfalls verdient Yart’s Gefdichte der Weltliteratur nad)
Inhalt und Umfang bei weitem den Vorzug vor dem befannten
und viel verbreiteten Buche von I. Scherr, ganz abgefehen von
458 Litteräriiche Streiflichter.
dem Neichtjum der bifdlichen Beigaben. Durch den auferordentlich
mähigen Preis wird das vorliegende Werk fiherlid) große
Verbreitung finden und auf vielen Weihnachtstüchen und fpäter
in den Haus: und Familienbibliothefen nicht fehlen.
Aus der fortwährend anichwellenden Mae der Goethe
litteratun heben wir drei an Inhalt und Umfang ehr verfdiedene
Werke, die uns gerade vorliegen, heraus. Von Ridard
Weißenfels, Goethe im Sturm und Drang, ült bisher
nur der erjte Band*) eridhienen. Was uns Weißenfels bietet,
ift feine Biographie, jondern die dichteriiche Entwicelungsgeicichte
Goethe's von feiner Kindheit an bis zu ber Zeit, da er ber
poetifche Führer der Stürmer und Dränger wurde. Der Verfaifer
will eingehend darlegen, wie Goethe zum Stürmer und Dränger
geworben ift. Mit feiner pycologiicher Analyfe zeigt Weihenfels,
welche Eigenidaften Goethe vom Vater, welche er von der Mutter
geerbt, welchen Einfluß die Leipziger Lehrer und Freunde, Herder's
und die Strafburger Erlebnifie auf bie Entwicelung feines inneren
Weiens gehabt; aud die Cimvirfung der veridhiebenen Zeit:
richtungen und zZeitftrömumgen auf (Goethes Bildung werden
gewürdigt. Als feine Hauptaufgabe betradjtet «8 ber Verfailer,
die ununterbrochene Kontinuität in Gocthe’s geiltiger und dichteriücher
Entwidelung nadhzuwveiien und darzuthun, daj; in ihr feine plöglichen
Wandlungen, fein Sprung, wie man oft angenommen hat, ein
getreten feien. Goethe ift nie plöglich ein anderer, 8 treten nur
gewiiie Züge und Seiten feines geiltigen und dichtertichen Charakters
bald mehr, bald weniger hervor unter dem Cinfluife äufierer
und innerer Erlebniffe, aber vorhanden find fie fiets und der
Bufammenhang feines inneren Yebens wird nie unterbrochen.
Mit eindringendem Scharffinn analifit Weihenfels weiter bie
Stimmungen, aus denen die einzelnen Dichtungen Goethes in
Zeit Hervorgegangen find. Ws die charafteritifchen
Eigenichaften und Eribeinungsformen des Sturm: und Drang:
geiftes bezeichnet er einerfeits die troßige Kampfluft, andererfeits
die Empfindiamfeit. Während aber in den übrigen Stürmern
und Drängern die eine oder die andere diefer Cigenjchaften zu
*) Halle, Mar Riemayer 10 M.
Litteräriiche Streiflichter. 450
Tage tritt, find beide in Goethe vereinigt und finden,
jene im Goe von Berlichingen, dieje im Werther ihren voll
endeten poetijchen Ausdrud. Und nun giebt der Verfajler eine
höchit eingehende Analyie des Goch, wobei er die Stimmung,
aus der das Drama hervorgegangen, feinen Inhalt und Charakter,
die einzelnen Tendenzen des Sturmes und Dranges, die darin
zur Griceinung fommen, Goethe's darin niedergelegt eigene
Erfebniffe, fowie die darin bemerfbaren litteräriichen Einflüfie
nachweiit, endlid) die Umarbeitung und Wirfung des Dramas auf
die Zeitgenoffen erörtert. MWeihenfelo unterwirft das Drama
einer, wir möchten fagen, mifroffopiichen Betrachtung, er ficht
daher nicht weniges genauer, als es bisher der Fall gemeien,
aber mandmal ift fein Wid doh wohl aud Fritifher als
mothiwendig wäre. Bei diefer Vehandlungsart gewinnt man ja
vielfach im Cinzelnen genauere Einficht, aber nicht jelten hat der
Zejer doch den Eindrud, als ob der Farbenihmelz der Pocfie
durd) eine jolhe Behandlung von einem dichteriichen Werte
abgeftreift würde. Jedenfalls it Weißenfels Bud) eine der hervor:
ragendjten Erieheinungen der Goethephilologie, wenn es aud) von
mandıen Schwächen diefer Nichtung, des Zuvieljchens und Alles:
ergründenwollens, id) nicht frei hält. Auch die in diefen Streifen
hevrichende Ueberihägung Goethe’s theilt MWeihenfels, er fieht in
Goethe den Univerfalmenfchen, der alle Bejtrebungen der Menfchheit
im fid) vereinigt, was doc) von feinem Gterblicen je ausgefagt
werben fan. Dieje modernen Goetheforicher verfennen insgefammt
die Schranfen, welde auch die größte menfchliche Individualität
begrenzen, und jteigern umwillfürlich Goethe zu einem Halbgott.
Weihenfels behandelt im Nebrigen feinen Gegenftand mit Geift,
die Darftellung ift lebendig und anziehend, nur Fönnte fie wohl
etwas gebrängter fein. Dos Bud) it, wenn auch auf ftreng
wirienfhaftlicher Grundfage beruhend, dod) für jeden gebildeten
Zefer veritändlid. Mit nicht geringer Erwartung fehen wir dem
zweiten Vande des Werkes entgegen, in dem das analytiiche
Talent des Verfajlers bei der Behandlung des Werther einen
nocd) günftigeren Boden zu feiner Entfaltung finden wird.
An äfthetifchen und litterärijchen Kommentaren zu Gocthe's
poetiichen Werfen mangelt c6 nicht, für einzelne, wie z.B. den
460 Eitterärifche Streiflichter.
Fauft, find fie fogar im Ueberfluh vorhanden. Dagegen vermiht
man für viele jeiner Profaihriften vollftändige, in’s Einzelne
nebende Erläuterungen; das Velte darin bietet noch) immer die
Hempeliche Ausgabe, jhade nur, da ihre Venugung durd das
ihhlechte Bapier und den engen Heinen Trud jo jehr erichwert
wird. Einen fachlichen Kommentar nun zu Goethes italieniicher
Reife hat Julius R. Haarhaus in feinem Buche: Auf
Goethe’s Spuren in Italien zu liefern begonnen.
Zunächjt liegt der erite Theil, Ober-Italien umfajiend, vor, der
den erfien Band des Sammelwerkes: Kennjt Du das Land? eine
Bücerfammlung fir die Freunde Italiens bildet”) Der Verfailer
kennt die Stätten, welche Goethe in Ober-Italien bejucht hat,
aus eigener Anfchauung und giebt eine zufammenhängende
Erläuterung zu Goethe's Schilderungen der Gegenden, Bauwerke,
Kunjtdenfmäler und Lebensericheinungen, er benugt dazu andere
Neifebefepreibungen und Handbücher jener Zeit. Er begnügt fi
aber nicht damit, jondern berichtet auch über die mannigfaden
Veränderungen, welche feit den mehr als hundert Jahren, die
jeit Goethe's Aufenthalt im Jtalisn verftrihen, in den von ihm
bejuchten Orten eingetreten find. Dadurch erhält Hnarhaus Bud)
auch ein kulturgefchichtliches Interefie. Den Haupttheil deijelben
nimmt wie in Goethe's Schilderung Venedig ein. Wir haben
das Vüchlein, das anmuthig und mit fichtlicer Piebe für den
Gegenjtand geichrieben ift, mit Vergnügen gelejen und freuen uns
auf die Fortfegung. Auch für folde, die Stalien befuchen wollen,
aber nicht in gewöhnlicher Touriftenmanier von Stadt zu Stadt
eifen, um möglichit viel Merfwürdigfeiten und Nunjtwerte anzujehen,
jondern mit Ruhe und Vuhe fi in das dortige Leben, die
Vergangenheit des Landes und feine Kunftwerfe zu vertiefen
Neigung haben, wird Haarhaus Bud eine erwünfchte Ergänzung
zu den gewöhnlicheren Neiiehandbücpern jein.
Drud amd Verlag von E. ©, Naumann. Jeder Yand 2 M
OP. Der zweite, uns ac schon zugegangene Band enthält die „Lornarinn“,
Tranerfpiel in 5 Aften von Paul Diyfe Es üft cin Sünjtferdrama, das
affacls zur Fornarina bepamdelt md einen tragiichen Ausgang hat.
Tie nd: der Sammlung veripraen mod; viel Jntere
weiteren
beingen.
Kitteräriiche Streiflichter. 461
Einen Beitrag zur Goethelitteratur bietet and) die Schrift
von Nihard Eocbell: Der Anti-Neder J. 9. Merds
NR. von Moier. Ein Beitrag zu
Benrtheilung I. Merds.”) Es it befannt, welden Einfluß
I. 9. Merd zeitweilig auf Goethe ausgeübt Hat und ebenio Tennt
wohl jeder unferer Lofer die meilterhafte Schilderung, weiche der
Dichter von dem Freunde ımd feinem mephiitopgeliichen Charakter
entworfen hat. Es ift manches Nätbjelyafte in dem Welen dieies
geiftreichen und Eugen, aber verbitterten, mit dem Yeben zerfallenen
Mannes, das aud die Viogtaphieen von A. Stahr ımd ©.
Zimmermann nicht völlig aufgeheilt haben. Locbell, der ein grofier
VBermnderer von Merd ift, fucht in feiner Schrift alle gegen
defien Charakter erhobenen Anklagen und Vorwi zu entfräften
und bezeichnet als Grundzüge von Merd’s Weien Größe der
Denkungsart und Meichheit des Herzens. Den Hauptinhalt des
Vüchleins bilden Auszüge und Jnbaltsüberfichten einer ungedrudten,
bisher faum gefannten Schrift Merd’s. betitelt Anti= Neder,
welche gegen ein von dem berühmten Publiziften, früheren heifen-
darmftädtiichen Minifter 7 v. Miofer 1 heransgegebenes
Buch „Neder” ih vichtet. Moier hatte unter dem Bilde des
frangöfiichen Stantsmannes Neder und deilen Schijal jeine
eigenen Verdienite um das Fand und den ihm dafür vom heilen
barmjtädtii—hen Hofe widerfahrenen Undant geicildert. Pier
fchrieb nun im NWuftrage der Regierung feinen Anti’Neder, um
Diofer nicht nur zu widerlegen, fondern aud) in den Augen des
Pubfifums herabzufesen und lächerlich zu machen und verihmähte
zu diefem Zwecke fein Vittel der Gehäifigfeit und der Bosheit.
Die Schrift blieb ungedruft, aber Dierk’s jeindielige Sefinnung
gegen Moier wirkte beftimmend auf die Anjchauungen in Weimar
ein. Wir mühen nad) den von Locbell gemachten Vittheilungen
erklären, dab fie die ungünftige Beurtheilung von Merk's
Charakter nur bejtätigt. Alles, was Yocbell jonjt beibringt, um
Merk's Perfönlichfeit in günjtigerem Licht ericheinen zu faffen,
ift sehe wenig überzeugend und der Verjucd eine Verwandtichaft
der Grundanichanmgen bei Merd und bei Mofer in refigiöfen
und der Minifter fr.
*) Tarınftadı, Hofbucpgandlung von A. Kingaihöfer. ID. 20 Bi.
462 Litteräriiche Streiflichter.
md politiihen Dingen nachzmveifen, it mehr fünftlih als ein-
feuchtend. Wenn aud) Yoedel’o gute Abficht anzuerkennen it, jo
bleibt es doch auc) nad jeiner Schrift bei der bisherigen Aufiallung
von Merd’s Charakter.
Gewifiermafen gehört and) zur Goethelitteratur das eigenartige
Buch von Albert Freybe: Fauft und Barcival. Eine
Nacht: und eine Yichtgeftalt von volfögeichichtlicher Bedeutung, *)
doch Hat es fid) eine weitere Anfanbe geitellt. U. Freybe ift einer der
eifrigiten und trenejten Schüler A. Yilmar’s, der fid) bie
Erforichpung und Hervorhebung der ccht volfsthümlichen Elemente
im Leben und in der Pitteratur zur Hauptaufgabe gemacht hat;
wir verbanfen ihm fon eine ganze Meihe von, ein feines
Verftändnih für alle Aeuferungen des deutichen Volfsgeiftes
befundenden anregenden und befehrenden Arbeiten, in denen aud)
die Firchlichen und politiihen Anihasungen feines Meifters vielfach
zu Tage treten. In feinem neueften, uns hier beichäftigenden
Bude behandelt er das Karfreitagsepos Rarcivnl und das Ofter:
drama Fanft, biefe Markfteine der beiden großen Fitteratrepochen
in ihrem Gegenfage zu einander. In Goethes Fauft erblit er
eine Biologie des deutichen Geiftes der neueren Zeit. Schon die
Fauftiage, Fügrt der Verfaifer aus, hat ein antifutheriiches
Gepräge; die Tragödie Goethes zeigt nicht nur bieies, jondern
it and) antibibliich, ihr Thema ift die Schranfenfofigfeit des
Menichengeiites. Die Fauftiage bringt die Konfequenz des Abfalls
von Gott zu vollem Ausdruck; in Gacthe's Dichtung nelangt der
moderne, vom Glauben der Reformation und dent Evangelium
abgefallene negative Protejtantismus zu unübertr her poetiicher
Daritellung. Diefe jeine Muffaiung jucht num Freybe mit fefter
Konjequenz an den einzelnen Szenen des Gocthe’ichen Dramas
in eingehender, oft ehwas verjhlungener, aber origineller und
angiehender Ausführung naczuweiien. Cs ift gewifjermaßen ein
bibfüch-hriftlicher, mitunter theologiicher Kommentar zu Goethe's
Fauft, den der Verfaffer in feinem Buche uns bietet. O. Yilmar
bat in feinem Buche über den Fauft jhon früher etwas Aehnlices
unternommen, aber frenbe geht in der folgerihtigen Durchführung
*) Gütersloh, Trud und erlag von C. Verrelsmam. +2. 80 Pi.
Litteräriiche Streiflichter. 463
feiner Auffaifung weit über ihn hinaus. ud) den zweiten Theil
der Dichtung zieht er in den Kreis feiner Betrachtung hinein.
Er ficht in Fanft die Naft: und Nubelofigleit der modernen Welt
verkörpert und findet im zweiten Theil des Dramas die hodmrüthige
Kultur des gottentfremdeten jehuldbeladenen deutichen Geijtes nad)
allen ihren Richtungen dargeftellt. Diejer entarteten modernen
ftellt Freybe die Grallultur der Demuth und Selbftverleugnung,
wie fie in Wolframs Pareival geichildert wird, gegenüber umd
entwidelt unter Tariegung des Inhalts die tiefe religiöfe Bedentung
diefer großen Dihtung, in der er einen Vorboten der Neformation
fieht. Daran fchlichen fi mehrfache Larallelen im Einzelnen
jwiicen dem im Fauft und im Rarcival zur Erfcheinung fommenden
Seifte. Das Buch endigt mit einer ernjten Mahn: und Buhrede
an das deutiche Volk, wieder umzufehren zu Gott und feinen
Evangelium, wie 8 die Neformation an’s Licht gezogen. Mag
man ihm mn zuftimmen oder zu vielem den Stopf Ichütteln, ein
ernftes gedanfenvolles Buch it cs jedenfalls, das uns bier vorliegt
und die Originalität der darin geltend gemachten Gefihtspunfte
sicht unwillfürlich an. Die Gedanfenkreife, in denen ih) Freybe
bewegt, liegen weit ab von der Heeritrahe der gegenwärtig
berrihenden Litteraturbehandlung und Goctheforihung und fie
wird ihm jchiwerlich Beachtung jchenfen. Aber Leier wird er
fiherlid) finden, die fih au durd) die etwas fchwerfällige Dar:
ftellung und den oft jehr verihfungenen Caybau nicht werden
abjehreden laifen, denn auch da, wo cs entichieden Widerjpruc)
berausfordert, ift das Buch anregend und zum Nachdenken auffordernd.
Zum Schluß wollen wir noch zwei Gedichtiammlungen einige
Worte widmen. In der fatholiihen Weit Tentichlands it Sehr
gefeiert, insbefondere wird von der ultramontanen Wrejfe Teit
längerer Zeit häufig rühmend und preifend genannt der weitfäliiche
Dichter FW. Weber. Das veranlaßte mich feine feßten Gedichte
und fein Epos „Dreisehnlinden“ fennen zu lernen. Die Gedicht
fammlung führt den Titel „Heritblätter”. Nacgelafjene
Gedichte von FW. Weber.‘) Naddem wir fie geleien, freuen
wir uns jagen zu fönnen: Hier ft ein edhter Dichter und das
=) Paderborn, Trud und Verlag von Ferdinand Schöningh. IM. SU Pi.
464 Eitteräriiche Streiflichter.
find wirkliche Gedichte! Weber, der 1894 in hohem Alter geitorben
ift und daher eigentlich einer früheren Zeit angehört, ragt weit
hinaus über die Mafje der jogenannten Poeten unferer Tage und
üft ein wahrhaft bedeutendes Talent. In feinen Gedichten fpricht
fic) wirkliche Herzensempfindung, idealer Sinn und tiefe Lebens:
auffaflung aus, dazu it die Korm jo Mar und vollendet, daß es
ein wahrer Genuf it fid) in dieje Dichtungen zu vertiefen. Die
„Herbtblätter” enthalten einestheifs die poetiichen Hervorbringungen
aus den legten Jahren des Verfailers, andererfeits eine große
Anzahl von Iugendgedichten, man wird zwifhen ihnen wohl einen
Unterichied in der Yuffaijung des Lebens, aber feinen in ber
Form bemerken. Liebes: und Lebenslujt, Frühlingsfreude und
Schnfucht, der ernite Kampf des Lebens wie die Wehmuth bes
vorgerüdten Altero fommen in ihnen wechjelnd zum Ansdrud,
überall aber ipricht fi) ein febendiger friiher Naturfinn aus.
Außer rein Lyriichem bejonders Ihön ilt „das Frauenherz‘
und „das Woltenichlof” — findet fid aud) nicht wenig Dibaktijdhes,
darunter gehaltvolle Sprüche, endlic) eine Anzahl epiicher Dichtungen,
von denen wir als befonders gelungen Wodan auf den Karpathen,
Triftans Tod und den Gladiator hervorheben wollen. Die
Sammlung enthält jehr viele vortrefflihe Ueberjegungen aus dem
Dänifcen, Englihen und vorzüglid aus dem Schwebiihen,
namentlich Gedichte Tegners und Nunebergs; cs it merkwürdig
und dharakteriitiich, daß diefer Weitfale fi jo ehr zu der
oefie des Nordens hingezogen gefühlt hat. Spesifüch Katholiihes
findet fi) in Webers Gedichten nur weniges und für einen
Proteitanten durchaus nichts Abjtoßendes, U tramontanes haben
wir garnichts bemerft. Auf die Dichtung „Dreischnlinden” werden
wir ein anderes Mal näher eingehen und fie zu würdigen verjuchen.
Möge der edle Dichter allmählich auch bei uns Eingang finden!
Ganz anderer Art ift die Gedihtfammfung: Lieder aus
der Heinjten bütte.*) Cs it ein zufammenhängender Zyklus,
in dem das jelige Glüc eines jungen Chepaares und dann ber
verzweifelte Schmerz und trojtlole Nummer des Gatten über den
Verfuft feiner jungen Frau, die bei der Geburt ihres eriten
*) Dresden, Drud und Verlag der Truderei Glöh. IM.
Litterävifche Streiflichter. 465
Kindes, welches nicht zum Leben erwacht, durd) den Tod ihm
entriffen wird. Es jind weder befondere Erlebnifie noch tieffinnige
Gedanten, die bier zum Ausdruc gelangen, der Verfafier fpricht
mır allgemein menichliche Empfindungen aus. Die Form biefer
Lieder und Gedichte it oft recht mangelhaft, und neben wahr
und tief Empfundenem findet fich nicht wenig Umklares und nicht
jelten rein Brofaiiches. Aber weil die Grunditimmung diefer
poetifchen Herzens. und Ceelenergüfie wahr und echt üt, und fie
allgemeinmenfchliche Stimmungen in Äreud und Leid widerneben,
jo macht das Hanze troß alter Mängel im Einzelnen doch auf
den eier einen wehmüthig ergreifenden Gindruc, zumal der
Zuflus verföhnend flieht, indem der Dichter Troft bei dem
findet, der in die Welt gekommen it, allen befüimmerten und
geqwälten Herzen Frieden und Nuhe zu bringen.
H. D.
Aranendilder aus der neuen deutichen Yitteratur:
geihihte. Lon Tito Berdrow. Mir 10 Poriräis in Yihtdrud.
Stuttgart, Deut und Verlag von Greiner und Pieiffer.
Ein Yun. das wie geihaifen erichein, edlen umd feingebitdeten Franc
in die Danp gegeben zu werden! Es enthält Die Yebeusbilder von Eva König,
Yertina von Krim, Karoline von Ginderode, Minden Verslich
Atteite von Aleift, Emma UWhland, Mathi Fröhlich, Charlotte Zrieglig. Yenaw's
Mutter, Sophie vorwenchal und Marie Behrends. Was dieies Wert vor ande
ähnticen populären Effay's ausjeidmer, üt die Vereinigung feifelnder, geiftvoller
Tarfietung wit Ütterarbiftoriicer Grümdlichleit. Der Lerfaffer berichtigt manchen
verbreiteten Jeribmm mit den beiten Orhmden, ohne doch jemals trocen und
Mamgweitig zu werden; das üit aber ur möglich, wo der Tarjteller feinen Stoft
völlig in der Gewalt bat. Ari, elegant und jeinfinnig geicrieben, verftehen
85 diefe Auffäpe, den Yeler in den piucologiichen Reis zu verftriden, den man
von der Vehanblung der zarten uud do To imnigeftarfen Wechfelbegiehungen
zwifchen unferen grofien Dichtergeftienen und ihren weiblichen laneten mit
Hecht erwarten darf. ch glaube, das Buch als cin Geichenfwerf bezeichnen zu
dürfen, das gerade der baftifpen Araucnwelt beionders willfommen fein wird.
Ernte, gediegene Yehie, bei weichen das Neinmenichliche ebenio feine Nedhuung
finder, wie das geicichtliche Vildungsbenärfnih, it vielleicht nirgends fo belicht,
mie im baltifchen Dale. Das rubige Leln, das fi iu gedanfenvollem Sinuen
fortioiun, verftein man in unierer Heimarh vielleicht immer noch beffer,
als — anderswo.
cu
Kitten
tifche Streiflichter.
Guy de Maupaffant: Die Erbihaft, Roman.
Teutfch von Narl Rosner. Berlin, Schufter und Yoeffter. 1
Man it heutzutage fehr licht bereit, ein Dichterifches Wert für „unfittlich“
zu erflären, wenn 5 cin Problem der Unfittichleit bejandelt. NG zu
garnicht daran, Dah auch das vorliegende Ya) bei Vielen diejen Uetheil anfeim:
fallen wird. Die Fabel des Nomans it derart, dahı ich mich fcön hüten
werde, fie bier nadhzuerzühlen; fie it gen; amd garnicht Talonfähig. und —:
‚„aman darf 05 nic vor fenichen Chren nennen, 1as feufche Derzen nicht entbefren
tönen“. Jusbefondere, die „Löfung des Aonflifts“ au nur anzudenten, ift
ganz unmöglich. Und doc) glaube ic, dab dem Dichter nichts gelegen
Hat, als die Abiicht, ein unfitrliches Wurcd zu Ähreiben. Sch faife den Noman
als eine äyende Satire auf die tiefe moralifche Lerfommenpeit einer gewiffen
„anständigen“ Geieicait auf. ie die „Anftindigfeit” diefer len Vonrgeoifie
mr eine erbärmliche Maste Üt, hinter der fich die niedrigite Charafter« und
Gefinnungslofigfeit verbirgt, das wollte Maupaffant veranfdaulichen. Nicit
mit dem flammenpen Pathos des moraliiden Wuhpredigers, fondern mit der
iqmeidenden Jronie des lächelnden Weltmannes, deffen Yüdpeln eben dem
Nundigen zu verftehen giebt: „Sabt Euch mur immer fo moralildh, wie Ahr
wollt, — mir föhnt hr ja Doch nichts vormadhen, ich Femme Euch nur zu gut“.
Tb ihn eine bewufste moralifche Abficht dabei leitet, oder nur menfchenveradptende,
Högmilche Schadenfreude, das wage ich nicht zu emiheiden. Wenn am Schluh
diefelbe Geielficpait, die fid) focben nod) vor unferen Augen im tefften Schmuge
der Gemeingeit gewälzt Hat, den Trmph der Voruegmfeit ud Moralität
feiert, dabei von ihren Areifen auf das Vereiilligite unterftägt ud anerkannt
wird, fo liege in diefer Schilderung Maupa| Bohn, wie id) ihn grimmer
mir garnicht denfen fan. Mertvürdig, dah diefer fo falt, jcharf und überlegen
Beobachtende Dichter im Wahnfiun zu Grumde gegangen it. Da der Noman
in feiner Art cin Meifterfiüd Üt, wird ar Der leugnen wollen, der das
offliche nicht vom Sünftlerüichen, das Moraliiche nicht vom Aetpeifchen zu
trennen weil. Die Charaftere erinnern etwas am das Milieu in Alaubert’s
„Madame Vonary“. Hier, wie dort, gziftig che Snferiorität, Strcbertgum,
Nohbeit und heuchlerüige Werlogenheit - cin nettes anftändiges Gefindel.....
Bro. Grotthui.
Herausgeber und Kedafteur: Arnold o. Tideböhl.
Aesimoaeno nei
ypom. Para, 23. Hoi 1806 1.
Truderei der „Bahifigen Monarsigrift”, Niga,
Beilage
Baltifchben Monatsschrift.
1896.
Altes Blut. Skizze von Sploa Teiln 2 2 2200.
Holde Augendeielei, chen des Siattufow .
Der alte Stark. Erzählung von Aerander Yaron Dengden 105
Dr. Bertram. Biographiice Sfige von E. v. Sculy 167.
Um ein Stüdchen Samt. Erzählung von Gabriele Baronin
hlippenbadh‘- z 12. 4, “russian eh
Aus MW. v. Dittmar’s Neifebriefen (18 Isis). Mit:
getheilt von &. v. Eiröder. . 2... 205. 7.
Gedichte. eue Gedihte von Del
Ion Sylva Tejta. Glüd.
Mengden. Stummungsbile. 2
Yon %
X. dv. Schröder (103 5.) Geimarbgrun.
Mittagszauber. Bon Y. v. Schröder uk
Berliner Kunftbriefe. Von J. Norden 32. 76. 107. 235. 2
317. 361. 385. 419. 439
an H. D. Mafton, Napoleon I. und
die Srauen, Napoleon I. zu Di Yang. Graf Reinhard; Fürit
Vismart’s 50. Geburistag, Ein Gedentduc; Horit Hohl, Tie pofii
Aeden Vismard’s; Nogge, Womas Carlyle; Kern, Zu deutihen
Tigtern (W F.); Ingram, Geidichte der Sklaverei; Sommerfeldt,
Franesco Spiera; Neincde, um don VBonen; Mus dem Yeben
Theodor d. Vernhardi’s; Bertelpeim, Biograpbüide Blätter; Kömmel,
Stalieniiche Eindrüde; Haabe, Erzählungen 83 #1; Münd, Ammerfungen
zum Tert des Yebens; Das Tentiche Heid ISTL- ISO, Fur bäuerlichen
Glaubens: und Sittenlehre von einem thüringiichen Yandpfarrer; Aroter,
Gefdichte der griedhiichen Yitteramr; Dubatic, Sopyofles; Als dir
Großvater die Grohmutter nahm, cin Yisderbuch; harlimg. \ung:
Seven; Weitbrect, Myaläna (10 f.1; Nititenfo, Jugenderinnerunge
Ehitipp Rathufus Nugendichte; omas Carlyle, Sozielpolitiihe
Schrifien; DO. Bachr, Gelammeli läge; Nice, Yict und Schatten;
Fontane, Bor dem Stamm (208 fi); Rod, Beiträge zur Ohihie ver
politiichen een und der Hegierungspraris; Sorel über Montesgwict,
erde dd ie)
om M. Der Lergiec. Lo
nv. Andrejanofl. F
Nempe (fir Tas Mid des Lords von King)
on Su.
#3 Heröftfäden (OD.
nen. Enge
in
y
Litteräriiche Notizen von N. €. Arbrn. vo.
Banıngarı, Göhes „Gcheimeiffe” und „dien zogeuden“; Fildern,
Görhes Sonneitenfran; Müller, Tas Wem d.6 Gumers; Berbed,
Erzügfumgen (213 #1); Turgwan, Tie Ceneralin Wonaparie; Dans
jafob, Ans meiner Jugendztz Nentfch, Grundbegriffe der Wolfe:
wirtbichaft; Mudolf 9 100 Jahre foniervatiner Rotisit und
Lineratur; Viktor Hebn, Nalion; olde Kurz, Nalienifche Erzät
lungen; Nenatus, Nds von Bargula Ju der
Fünfmillionenftadt; YBurba Nudalf Zaharias Peter; Münd,
Ungerrichtsjiele ud Unterricistunit; Aüidher, Arie Streifzüge gigen
die Unfeitil 28 15 Yampredt, Ale ud neue Nichtungen im der
Geidicrsmifienihaft; Miühtdamer, Dentihe Geicicte unier deu
Narolingen; Schybirgiun, Turauan, Die
Nuiferin Jofphine; Hildebrand, Tagebuhblätter eins Sonntags:
phitojophen; Gerade, Meine Ertebuifie als Dorfpaitor; Nice, Geichichten
Hefftein; Wilbrandt, Baer und Sohn und andere Geichi
1 Mitten, Deuslhe Geihirhre im Jeitalter Der Gegenreformation
jährigen Nriegss; OGundlac, Heldentisder dir deurichen
Saifergeit; Treitiopfe, Neden im Neihsage; Nentich, Wandlung,
Berrelpeim, Geiftesgetden (Tante, wepkr ad Galilei, Mörcesı (
W. von Cettingen, Tanicl Eyodewisdi A271; Kiszler, Derrupranii,
in Baer; Amötel, Has der Aranyiengeis; Wättman. Aus dahin
geb; Hari, Meiwihte der Woltlinerenie: Weihenfels, Guctbe im
Stun ud Tran; Gaarhans. Auf Gürh u Nation;
Nöbell, Der AntisRedsr Wirds; rende, Aauft md Parsival;
A W. Weber, Herbbliter; Yider aus der Meinften Düite 110 Ti.)
iichte Fümlands
Berorom,
Sranenbilder, Guy de Waupalfant, Div Er
Beilage
zur
Baltifchen Monatsfchrift.
Danuar 1896.
Inbalt: Neue Gedichte von Kelene v. Engelhardt.
Altes Blut. Stkige von Sylva Tejta (Sreifrau Stael
von Holftein-Tejtama).
Kunftbriefe. IV. Don J. Norden.
he Umfchan. Don D. D.
£itterärif
Nacdrucd verboten.
Digtized by Google
ei,
Neue Gedihte
von
Helene von Engelhardt.
Nacdeud verboten,
Unfre Welt.
W fragen nicht nad) Weltgetrieb',
el Kad) bunter Luft und lautem Glüd,
Denn unfre Welt ift unfre Lieb’,
Wir ziehn uns fill darein zurüd.
Die Waage draufen fteigt md fällt,
Und morgen finft was heute gilt, —
m unfrer Bruft Äft unfre Welt,
Wo from der Born der Treue quillt.
Vom heitgen Strahl der ic’ erhellt,
Schaut uns dies Heim fo traulich an —
Es wohnt ein Fried in unfter Welt,
Den uns die Welt nicht rauben fann!
eo Welt für uns in Nichts zerfällt
it ihrem wirren Wechfellauf,
Und aus dem Nichts fteigt eine Welt
Loll Sicbesfeligfeit uns auf!
Gedichte.
Dleanderblüthe.
Tage voll Jubelraufh —
Nächte voll Sternenjchein —
Serge Erinnerung
Wieget mic, ein.
Sonnig Sröperien,
Duftendes Zauberreich
Durch) den DOrangenhain
Säufeln die Lüfte weich!
Sprühender Wogenfchaum,
Tiejblaue Waferbabn,
Hoc auf dem Gardafee
Schwantt unfer Kahn.
Drunten am Uferfaum
Schimmern die Grotten all,
Droben vom Relfenhang
Vrauft der Ponale-Fall.
Tiefer gen Weiten fchon
Neigt fi der Sonne Bahn,
Träumend am Ujerrand
Hielt unfer Hahn.
Tiefer der Abend jant,
Cüftchen entichliefen all,
Seife vornehmlich taum
Naujchte der Wogenjchwalt,
Ueber uns loderte
Südliche Sternenpraht —
Hand in Hand Inufchten wir
Stumm in die Nacht.
Durch unf're Seelen hin
3og es wie SHimmelsttaum
Stumm bradft die Wlüthe du
Yon Üleanderbaum.
Gerichte. 5
Immortellen.
Nebeltalter Serbitesahend —
Um die Giebel fauft der Wind!
An dem Arm cin Vlumenförbehen
Tritt zu uns ein ärmlic ind.
ntend für geringe Gabe
Neicht fie ihre Blumen dir,
Und ein Anmmortellenfträufichen
Vieteft du mit Lächeln mir.
Tb ich, Lichter, dich verftanden?
Wir, für die der Liebe Licht
DBüthen jehuf, die nimmer welten,
Scheu’ der Zeiten Wechfel nicht.
Nebeltalter Serbftesabend,
Schncogeftöber niederrinnt —— —
Selig wer Novenbertagen
Maienwonne abgewinnt!
Einer mu der Yente fein.
Nie die Sonne golden fintet!
Sicht und Duft im Netherblau!
Altes blintet! alles trintet
Abendfried' und Himmelsthau!
Dft in old" geweihter Stunde
Streifen wir durch Wald und ich,
Gottes Stille in der Nunde,
An der Bruft ein neues Lied.
Abende in Licht verfläret --
Gtodentlang und Spätrothihein —
Nie viel uns au Gott gewähret,
Einer muf der Sopte fein.
Gedichte.
Sinnend fhneift mein Geift zuüde,
Sagen muß ich's ftaunend mir:
Tiefer als im erften Glüde
Hängt mein Lieben heut’ an dir!
Heilige Sieber Mind aus Even!
Wie uns Jahr um Jahr verftrich,
Tefter ftets mit taufend Fäden
Mammert’ ih mein Herz an dich!
Durd) der Erde grüne Matten
Süß, ad, pilgert fih’s zu Iwein...
Siehft du fern den näht'gen Schatten?
Einer muß der Sopte fein!
Der alte Park.
Im den Lüften fang die Lerche,
Da mein Schiff verlief, den Port,
Und im Blau die Schaar der Störche
Schwebte heim zum fernen Nord.
Sinnend folgt mein Wil dem Fluge
Durch das blaue Aetherner:
Op dort einer mit im Zuge,
Der mir Areund von altershert
Fern im Nord in ftillen Areife
Sagt ein fhattig.alter Park
Dorthin geht des Wogels Neife,
Zieht ihn Schnfucht, tief und fiat.
Schlüffelblumen blühn im Orafe,
Veilehenduft entführt der Weit;
Wie dem Pilger die Cafe
Winkt ihm dort jein heinijch N
Gerichte.
Niefenftämm’ im Sturme fhauennd,
Sitberpappeln, dicht belaubt,
Mond” Jahrhundert überdauernd,
Wiegen dort ihr greifes Haupt.
Bienenfchwärme ziehn in Schaaren
Zu dem wilben Rofenbaum ... .
O5 aud) fern feit langen Jahren,
Wohl nod) Fenn’ ic jenen Raum!
Störche, die die Luft durhfchifften,
Mahnten mir im tiefften Mark
Meiner Heimath grüne Triften,
Meiner Heimath jhatt'gen Part.
Wo ich jeven Vogel Tanne,
Jeder Baum mir Freund fo gut,
Wo mit Namen ic, benannte
Setbft der Störhe junge Brut.
Wo als Mind id) über jeden
ein gehüpft mit frohem Schwung,
Wo mir taufend goldne Fäden
Anüpfte die Erinnerung!
Wo ich folgte insgeheime
Kndifch-unbewuftem Drang,
Stammelnd meine erften Reime,
Sallend meinen erften Sang.
Wo des Liedes Hinmelsfunken
Ahnend Taum mein Herz bewegt,
Wo mein Genius, [hlummerteunfen,
Seil” die Flügel crft great!
Wohl num reiften mandie Keime
Und mand' Nahe bin id, entfernt;
Dafı wir überall daheime,
Hab’ id) unterdefi gelernt.
Gerichte.
Aber dach mit taufend Theilchen
Halten fie die Seele feft,
Eitberpappeln dort und Reildhen,
Hofenbaum und Stor—henneft.
Gleid) den Störhen, den entflon'nen,
Hängt das Herz auch tief und ftart
A dem Rain, dem grün umgog’'nen,
An dem fernen, alten Part.
Martha und Maria,
Herr, an jedem neuen Morgen
Höre mich von Neuem flehn:
Cap in mir an Marthaforgen
Nicht Maria untergehn.
Drüngt der Tag mic Stand um Stunde
Mit gar manderlei Gebot,
Ton’ in meiner Scele Grunde
Doc) die Mahnung „Eins it noth".
Steilft du mich in Tautes Treiben,
Das von bunter Luft exhelt,
Sa miv's im Gevächtnif; bleiben:
„hr feid nicht von biefer Weit.“
Soll des HYaufes jhlichtem reife
Schaltend id) die Nräfte weihn
Mahne doch dein Geijt mid I
„hr Tebt nicht von Vrod allein“.
&o, in deines Geiftes Leiten,
Gaubensftart und dienjtbereit,
Ungefährret af; mich fehreiten
Durd die Martha: Thätigkeit.
Gerichte.
Auf dafı Martha willig Teifte
Was ihr aufgetragen il,
Doch Maria, ftark im Geifte
Ahres Zieles nicht. vergi
Bis der Werktag adgeihloffen,
Martha ftil zur Nofte geht,
np Marin Kchtumflofien
Zu des Sabbatl)s Wonn’ erficht.
Altes Blut.
Size von Splva Tefta (Kreifran Staöl v. Holitein-Teftama).
PS}
Natbrud verboten.
sn 23. December, 65 find num fehon etliche Jahre her, ah
ein junger Chevalier Garde- Offizier in einem Goups eriter
Nlafje der Baltifchen Bahn. Er Fam von Petersburg und
jollte an der Station Laisholm ausfteigen, um die MWeihnachtstage
bei feinem Oheim auf Sarbad) zuzubringen. Das Neifeziel fchien
nicht befonders lodend, Kurt Namsloh’s jdhönes Geficht, das gewiß
recht heiter ausfehen Fonnte, hatte einen mifmütigen Austrud.
hrgalt eriter late durfte er fich's jo bequem
machen, wie er wollte und das that er: legte die weiße Müte,
Handfhuhe und Säbel auf den Sit gegenüber, entnahm feinem
Neifefact einen gelben franzöfiichen Noman und begann, die Wange
in den weichen Biberfragen feines grauen Mantels gejehmiegt, zu
lefen. Die Lektüre konnte feine Aufmerkiamfeit jedoch nicht feileln,
er warf das Buch wieder in den Sad, zündete fh eine Cigarette
an und blickte, blaue Ningehwöltchen blajend, melancoliih in die
Kandfcaft. Da gab es aber abjolut nichts zu fehen, als wirbelnden
Schnee über weißen Flächen unter bleigrauem Himmel, Der Be
ichauer empfand bald die einjchläfernde Airfung des monotonen
Bildes, ftredte fih in feiner ftattlichen Länge aus und ward für
Stunden aller Langenweile entrüct.
Altes Blut. 11
In den umbewachten Zügen eines Schläfers jpienelt fi der
Charakter oft bejonders deutlich, — hier cine männliche Energie,
von der man das Vejte erwarten durfte, falls etwas füme, des
Wollens werth. Vorausgefegt auch, dal dieies Etwas fi in nicht
zu ferner Zeit einfände, che die Großitadtluft ihren enfnervenden
Einfluß allzu ftarf geftend machte. Ihr verdanfte das jugendliche
Antlip bereits den abgefpannten Zug und die nervöfe Bläffe.
Der übernädhtige, tanzmüde Liebling einer vuhelofen, genufs
franten Welt, jchlief fich grünblid) aus. Als er erwachte, war fein
Ziel nicht mehr fern. Ausgerudt, jdienen feine Gedanfen eine voft-
gere Färbung angenommen zu haben: fie trugen ihn um zwei Abende
zurüd in den Balljaal, und pfölich war iym, als funfelten ihm die
Gluthaugen der Gräfin Helenfa Grablinfta an, verwirrender benn
je. und er vermeinte ihre einfchmeichelnde Stimme zu hören,
wie fie fid mit den weichen und dach marfigen Nängen der Mazurta
mifchte, die fie Beide fo meifterfaft tanzten. Und nie Hatten fie
getanzt, wie an jenem Abende, — gleichfam getragen von wogender
Schnfucht und zagender Hoffnung, und dann wieder hingeriffen im
tollen Wirbel teiumphirender Leidenjchaft!
Lichte fie ihn?
Neulich, auf der Eisbahn, Hand in Hand dahinfliegend, war
fie fo traumverforen, fo Hingebend weich gewefen, da er meinte bis
Ende der Welt werde fie ihm folgen — und er hatte den
en Augenblick verpaßt!
Am nächiten Abend hatte fie ihm den Gotillon verfagt, ein
Fpöttiches Lächeln auf den Lippen, das ftolze Nöpfchen Faum zum
zum Gruß geneigt.
Sie war unberedenbar in ihren fchillernden Stimmungen: als
er fich auf dem Bahnhof von ihr werabfchiebete, nahm fie feinen
Ordrideenftrauf gnädig auf. Na, er glaubte jogar eine Thräne in
ihren Sphinraugen fhimmern zu fehen, als fie feine echte mit
ihren Elfenfingern feithielt und fajt gebietend fagte: Auf Wiederjehn
in vierzehn Tagen, in Paris.
Er trug Rah; und Urlaub in der Tajche.
Acht Tage beim Ihm mußten genügen, was follte er wohl
fänger bei dem alten Manne beginnen, der ihm ganz fremb war.
Als einer Anabe war er zufegt in Sarbad) geweien und hatte mr
12 Altes Blut,
eine dunkle Erinnerung an einen Autfchfchlitten, zwei graue Wind-
hunde und eine Speifefanmer, in der es nad) Aepfeln und Pfeffer
fuchen vo. Auch des alten ftrammen Herrn Fonnte er fich ents
finnen, der ihm feinen erften Cäbel fchenfte. Heute hätte ihn die
ichönfte Klinge von Toledo nicht jo erfreuen Fönnen, wie damals
jene hölzerne Waffe. Freundliche Grinnerungen. — Und bennod),
was jollten der Chm und er mit einander anfangen? Sie lebten
in ganz verfchiedenen Welten und würden fid) gewil; nicht verftehen.
Ueber folden Betrachtungen erreichte er die Halteftelle.
üttlerweile war cs mondhell geworden: Die beiden Ein
fpänner, die ihn erwarteten, hoben fich fcharf, als jchwarze Silhouette
vom weißen Grunde ab. Er jegte fich in den eriten; der graubäi
tige Kuficher ftopfte die Bärendede jorgfältig ein, das Gepäd wurde
dem Nachfahrer übergeben, und fort ging 8, unter Schellengeklingel;
eine zweiftündige Fahrt.
Mic lautlos und jeierlidh war co in den tief verfchneiten
Tannenwäldern. In Monaten, nein in Jahren, hatte ihm jo gran:
diofe Naturftille nicht umfangen. Weltfern entrüct waren ihm auf
einmal der Yallfaal und Gräfin Helenka; in diefen Nahen pahte
fie nicht.
*
Unterdeffen brannten in Sarbad) einige Lampen mehr als
gewöhnlich. Der alte Yaron ging, die Hände auf dem Niücen,
zoifchen Speife, Nanin: und Vorzimmer auf und nieder. Gr ber
fand fi in Wartejtimmung, obgleich die ehrwürdige englifche Uhr
im Speifegimmer ihm verficherte, dafs nach eine gute Stunde
dauern Fönne. Im Vorhaufe betrachtete er aufmerfjamer, denn jeit
lanag, die Elchichaufeln, Nehgehörne und Auerhahntöhe, welche die
weiigetündhte Wand zierten.
Sb der Junge wohl Näger it? An Peteroburg aufgcwachien
wer wei — na, das fommt fchon -- altes Blut, Nägerblut
vertängnet fi nicht.
Er lieh fich in einen grünledernen Schjel am Kamin finfen,
itectte fidh die lange Pfeife an und dachte darüber nach, wie Alles
fo anders gefommen war, als cr fih's geträumt hatte.
Altes Blut. 13
Als er das Stammgut Sarbad) antrat und feine Alda heim-
, hatte er gehofft ein Haus. zu genden, dauerhaft wie die
junge Ciche am Thor. Aber fie waren alfein geblieben, er und
jeine teaute Gefährtin, und nun beruhte die ganze Zukunft auf zwei
Augen: den Iebenshuftigen, des einzigen Sohnes feines, im Lauf der
Jahre ferngerücten Bruders. Diefer, ein ausgezeichneter General,
ganz erfüllt von den Intereffen feines Berufs, Hatte zwar ein warmes
Herz für die Heimath behalten, aber wie felten befuchte er fiel
Seine Fran, aus baltiichem Gefchlechte, jedoch in Moskau aufge:
wachjen, war eine Fremde, eine Städterin. Sie begleitete ihm
ungern, und mochte auch den Mnaben nicht mijfen in den ihr jtets
zu furz dünfenden (ferien, fonberfich feit fie Witte war. Leit
feinem eriten Befuce in Sarbacdh war der Fleine Kurt zu einem
Äcönen, jchlanfen Menfchen aufgeichoifen. Seine große Photographie,
die ihn in GalaUniform, den Helm auf dem Kopfe, darftellte, jtand
auf dem Staminfims, Der Ohm betrachtete fie gern, er hatte Wohl:
gefallen an dem Jungen. Tante Alda hatte ihm jo lieb gehabt,
als er noch ein Meines drolliges Kerlhen war; fpäter jah fie ihn
micht wieder. Cs waren mun bald zehn Jahre hev, dafi fie in der
Famitiengruft bei denen ruhte, die vormals jorglid, und Fröhlid)
bier gewaltet haiten; wie einfam fühlte ex fi, jeitden.
Hord), Schellen, wahrhaftig, das mußte der Junge fein,
Ieni und Ani, die zwei Tedel, die auf dem Wolfsjell
Schlummergarn fpannen, fuhren jählings auf und jtürpten mit gel:
fendemn Getläff in's Vordaus. Man hörte Jemand vor der Thür
den Schnee energifch abitampfen, und dann ericien eine Hohe Geftalt
im grauen Militeirmantel.
Der Ohm ben nen Neffen herzlich, begleitete ihn fogar
die Treppe hinauf in jein Zimmer, obgleich er fid) vorgenommen
hatte ihm nicht zu verwöhnen.
Kurt gefielen die laufe, der jilberne Toilettenjpiegel, die
dazu gehörigen maffiven Leuchter, die grünfeidene Vettdecde - - nein,
das war garnicht To primitiv, wie er fih die Ginrichtung eines
weltentrüdten Landhaufes gedacht hatte.
Einige Vürftenftriche und fie begaben fih hinunter. Der
Ihm fa wieder in feinem grünen Sorgenituhle am Kamin, Murt
ihm gegenüber, den braunen mi auf dem einen, den jchnargen
14 Altes Blut.
Arni auf dem andern Knie, ihre frummen gelben Pfötchen ftreichelnd,
hörte er Jagbabenteuer md Gefhichten aus der Vergangenheit, von
Menfchen, die Fängit unterm Nafen jchliefen.
Der Ohm lebte in einer frijhen Grinnerungswelt und, wie
alte Leute meift, ließ er fid) nicht leicht aus dem gewohnten Ger
danfenkreife herausloden. Cs war ihm offenbar weniger brum zu
tun fi mit den Anfhauungen und Erlebnifien des Neffen vertraut
zu machen, das würde fehon mit der Zeit fommen, als ihn in die
eigenen einzwweihen. Ein treffficher Erzähler, feffelte er auch jehnell
das Interefie des jungen Mannes für das alte Sarbad) und die
Schiejale der Bewohner hier und auf den Nachbargütern. Urwüchfige
GSeftalten, Wefen mit kräftigen Lichtern und Schatten — es lohnte
fich jchon fie Tennen zu lernen.
Kurt bejaf; die Nunft des licbenswürdigen Zuhören, fragte
geicheit, lachte gefcheit umd machte treffende Vemerfungen. Beim
Mbendeijen wurde das Gefpräch lebhaft fortgeieht, an ber feinen
runden Tafel, der jchönes Familienfilber, altes Kryftall und Porcellan
ein gebiegenes Gepräge gaben. Der junge Truthahn und allerlei
Eingemachtes waren au) nicht übel. Hernad; wurden einige Friedens:
pfeifen geraucht und wm zehn Uhr ging man zu Welt. Der Neife
müde war mit diefer Findlichen Stunde ganz einverftanden. Als er
fid) die grünfeidene, Tante Alda’s Ihönfter Stantsrobe entjtammende
Dede, über's Ohr zog, fühlte er id) jehr heimich in feinem Nejte.
Um fieben Uhr ward an die Thür geflopft — der Morgen
graute noch) nicht einmal! Peter, der Kammerbiener erjdjien, zündete
zwei Kerzen an und meldete, der alte Baron erwarte den Jung,
beren am Kaffeetifh).
Kurt recite und ftrecfte fi und drehte fid) wieder zur Wand.
Peter wiederholte feinen Auftrag unerbittlic).
Kurt warf fid) herum, fprang entjehloifen aus dem Bett und
fleidete fh mit fummer Nefignation und gewohnter Sorgfalt:
Hafirzeng, Mandelerime, Pomade hongroise mußte hervorgefucht
werden; wm dreiviertel Acht erft war er unten. Der Ohm hatte
jein Frühftüct beendet und tauchte: Das jhönfte Kreifewetter, fagte
er. Der Tag ift Fury, du mußt dic) fertig halten, um feine Zeit
zu verfieren, wenn die Meldung fommt, dah die Elche Stand ge
Altes Blut. 15
halten haben. Nach einem Stünwetter, wie da6 der leten Tage,
werden fie leicht wanderliftig.
Zur Genugthuung des alten Waidmanns gerieth Nurt beine
bloßen Gedanfen an Elche in freudigfie Erregung. Einen Eid)
hatte er noch nicht geichoilen. Seine ftattlichite Weute war bisher
ein Wolf gewejen. Den Kaffee trinfend, fchilderte ex lebhaft die
Wechjelfälle diefer gelungenen Jagd in einem Moor, fo nah von
Petersbung, daher an Negrimms Leiche die Gloden der Nianfs-
Nirche hatte läuten hören; dann fuchte er mit Peter Leibpelz. Mübe
und Pelsftiefel zufammen, die ihm pahten wie beitellt, denn der
Ohm und er hatten die gleiche Hohe jchlanfe Figur.
Eine leichte Yüchie, wie er fie zu führen gewohnt war, gab
&8 leider nicht, nur ein Vefauceur, NKaliber 16, num, das muhte
auch gut fein, wohl zwei Dugend Eldje hatte der alte Herr damit
erlegt. Diefer fah den Vorbereitungen, Nath extheilend, mit höchftem
Intereffe zu. Dah ihm gerade jet die Gicht jo plagen mußte!
Um zehn Uhr jagte ein Schlitten in den Hof und auf der
Schwelle des Speifegimmers erfchien Förfter Albrecht, eine Hünen
geftalt mit von Eisgapfen ftarrendem Nothbart. Fünf Eiche jeien
gekreift, berichtete er. Eine jehr große Fährte Iaffe auf einen ftarfen
id) fchlichen.
Im Nu war Kurt angepelst und umgürlet. Der alte Herr
opfte ihm mit Waidmannsheil auf die Schulter umd fort ging cs,
meben Albrecht auf dem Strohjad, jo jahmell der Heine zottige Gau
Laufen fonnte, dem großen Walde zu.
Kurt Hätte fid) einen jener prächtigen Träber vor den Schlitten
gewünjcht, wie fie auf dem Nenffi in faufender Gefdwindigkeit
dapinftürmen; bald aber geriethen fie in Schmectriften, in denen
fol ein Stolof; bis an den Hals verfunten wäre und alles Fury
und Fein gefchlagen hätte, während das Grave Landpferdhen feine
Lajt mit züher Geduld. durchichleppte.
Am Waldesfaume Harte ein Treibertrupp. Yautlos
gingen fie ab, geführt von zwei Bufchwächtern. Albrecht fuhr nach
eine Stvede weiter, hielt dann, band das Pferd an eine Birke, warf
igm eine Derte über, jehritt mod eine Weile auf demfelben Wege
fort und darauf rechts auf einer Linie in den Fort Dinein; Nurt
folgte, immer in die tiefen Zufipuren feines Vordermannes tretend.
16 Altes Blut.
An einem breiten Graben, hinter einem Schirm von Tannen-
grün, wies Albrecht dem Jungherrn feinen Stand an, flüfterte ifm
einige Muthmahungen zu, von wo die Thiere wohl fommen würden,
und verfchwand.
Vor fid) hatte Kurt weißbefrorene Kieferftänme ohme Unter:
holz, eine weite Säulenhalle, in die er tief Bineinfehen Tonnte,
Würden fie hier durchftreifen? Das Herz fehlug ihm bei der Nor
ftelfung. Dort, Finke, dem Graben entlang war es ganz licht; hohes
goldbraunes Schilfgras wiegte fich) im leifen Windhaud).
Albrecht hatte gejagt, der grofie Hirich dürfte wohl jchon ab
geworfen haben — das wäre ein Jammer! Aber wer weiß, Kurt
von Namsloh hielt fi für einen ausgemachten Glüdsvogel, vielleicht
befam er doc) noch ein paar Schaufeln zu fehen.
Er hob das Gewehr, nahm einen dunklen let an einem
Stamme jenfeit des Grabens prüfend auf's Korn, etua auf ficbzig
Sıhrätt, und ließ die Flinte wieder finfen.
Jost trat die bisher verfchleierte Sonne hervor. An einer
Tanne zu feiner Nechten gligerten an den tiefhangenden Zweigen
bafelnußgroße Eisfryitalle.
Von diefer Größe müfen die Brillanten im Diadem fein,
das ich meiner Helena fehenfen werde, fagte er fidh. Welhe Pracht
in ihrem jchwarzen Haar! Ob fi wohl mit dieienm Walde ein
folcher Schmud faufen Lehe?
Er exichraf über den Gedanken. Sollten dieje ernften telzen
Niefen einjt fallen, um einen Tand — für eine Frau, bie mohl
nody feinen ihrer Holden Wide an eine hochragende Tanne ver:
jchwendet hatte? Nein, der Schmud muhte andersiwo herfommen!
Jet erfönte auf der rechten Alanfe ein Ianggezogener Horn:
ruf und auf der linfen antwortete ein gleider; banm begann das
waidgerechte Treiben: ohne Gefchrei, nur hier und da an’s Holz
fehlagend, rücte die Treiberlinie in guier Ordnung vor.
Kurt vernahm noch nichts; der verichneite Wald dämpfte den
Schall. Da, leije in weichen Schnee, kamen in gemächlichem Trabe
ein Thier und ein Kalb, in fehräner Nichtung, an ihm vorbei. Am
Graben jiusten fie und nahmen dann das Hinderniß mit jchwer:
fülligem Sprunge. Lange fah er ihnen nah: im Echilfinoor drüben
btieben fie mehrmals fichen, ricdwärts äugend, als erwarteten fie
Altes Blut. 17
noch ihresgleichen. Naum waren fie verfchwunden, als ein wahres
Indianergeheul von der Treiberfette her ericholl. Offenbar war
man man dort des Kirfcdhes anfichtig geworden, und hatte diefer
Diiene gemacht, fid zuwrüczuwerfen.
Dem jungen Waidmanne jehlug das Herz abermals und zwar
gewaltig, denn jegt vernahm er ein Vreden und Nrachen: auf der
Führte der erjten Elche kamen, in geitretem Galopp ein Schmal
thier und ein Spieher heran. Eben wollte er auf legteren anlegen,
als ein mächtiger Schauffer die Zwei in rajender Flucht überholte.
Jept, im entjcheidenden Augenbfic, war Kurt ganz faltblütig,
ex fief den Hirich bis an den Graben fommen, den er mit hohem
Sprunge nahm, und ert als er ihn auf freier Fläche hatte, gab er
Feuer: einmal, zweimal —- noch einen Zap und der Waldesrieje
ftürgte dröhmend zufammen. Nod einmal hob er das jtolze Haupt,
dann janf er jchwer zu Boden, die Glieder ftredten fid; er
verendete.
Kurt Hätte fiumphivend aufjauchzen mögen. Schneller als
der Gedanke war er jenjeit des Grabens, ev wuhte nicht wie. Als
er aber neben dem großen Todten jland, wurde ihn ganz feierlich
zu Muth; 08 fehlte nicht viel und er hätte die Mübe abgenommen.
&r Hatte jedod) feine Zeit fih feinen Empfindungen hinzugeben, denn
ichon eilte der Förfter herbei und mit Freudengebrülf nahten die
Treiber. Ehe der glückliche Schüge wuite wie ihm gejchab, hatten
zwölf Hände in Faujthandfcuhen ihn gepact und dreimal mit
Hurvah gewippt.
Nun wurde der Eld) aus
Sümpeln und Stubben heraus
gejchleift und in die nächite Anfiedlung nad) einem Schlitten geidhictt,
Kurt und der Förfter begaben jid) zu dem il
Es war far und alt geworden mittlerweile. Als fie ein
halbes Stündehen gefahren waren, hielt Albrecht bei einem Wald
fnechthäuschen und bat um Erlaubnif, drinnen feine Pfeife anfteden
zu dürfen. Nurt jtieg mit ihm aus, weil er das Jnmere einer
folden Wohnjtätte jehen wollte. Ja jeben! Er jtolperte über die
bohe Schwelle und vanıte fi beinab den Schädel am niehrigen
Thürbalten ein. chen fonmte man nichts; «5 war jtodfinfter in
der Stube, und ein beihender Nauch trieb Thränen in die Augen.
Albrecht warf ein paar Scheite auf die Feuerftelle, einige Klammern
Veiloge zur Yaltıigen Monatöfgrift. NLA, Heft 2
18 Altes Blut.
fladerten auf und beleuchteten die jchwarz verräucerte Stube, in
der auch das nothwendigite Geräth zu fehlen dien. In der Ede
ftand ein Vett, auf dem ein Häuflein zerlumpter fhmusiger Kinder
Tauerte.
Albrecht zündete jeine Pfeife an und fie gingen hinaus. Aus
dem verfallenen Viehitall fam ein Weib. Cs entfchuldigte fich wegen
der unjauberen Kinder; 6 jei Feine Zeit gewejen, fie zu waschen.
Albrecht jagte, heute wäre Heiliger Abend, da follte fie den
Kleinen doch ein reines Demd anziehen.
Heiliger Abend! Kurt war das ganz entfallen. Die armen
Mürmfein bier follten doch) auch eine Freude haben; er veriprad)
ihnen etwas zu jchien. Warum lebten die Leute jo elend? Cal)
8 unter den andern bemoojten Dädern am Waldrande nicht
bejjer aus?
Albrecht erwiderte, die Anfiedler wären alle glei jehlimm
daran, weil Tophus, Faltes Fieber und Diphteritio ihre Arbeits:
fräfte aufzehrten. Das Fönnte erjt anders werden, wenn ein großer
Kanal die umliegenden Sümpfe trocten lege, ud, in der Furcht,
den Jungheren möchte es befrembden, dafı diefes nicht jhen längit
aeicheben jei, nannte er die Summe, die eine jolde Anlage toten
würde: ca. taujend Rubel, und fügte hinzu, der alte Baron gebe
alljährlich für wohlihätige und gemeinnügige Zwede mehr aus, als
die Gutsfaffe zu tragen wermöge. ie Nanalarbeit jei immer
binausgejchoben worden, weil es bisher an noch dringenderen Mih-
ftänden nicht gefehlt hatte.
Dann berichtete er in jeiner fachlichen, verftändigen Weile
über die Bachtwerhältniife: in der Waldgenend waren die Höfe Hein
und die Summen gering, aber der Boden fo jchlecht und verfumpft,
da; die Yeute uch die wenigen Nubel mr mit äufßerfter Anftren
gung aufbringen fomnten.
Kurt hörte und fragte mit einem intenfiven Intereffe an Etwas,
das geitern noch nicht für ihn eriftirte: die heimathlide Scholle.
Faft hatte er den Glch darüber vergeffen. Als er aber zu Haufe
aus dem Schlitten Äprang, jitterte ihm jeder Nerv in ftolzer Areude.
Wie jung er ausfah, wie frifeb und energifch Feine Mienen nud
Worte waren, alo er dem Tbm fein Folojlales Gtüd berichtete.
war fichtlich erfreut und fuhr ihm faft zärtlich Durd’o raus
Altes Blut. 19
haar, den Scheitel in der Mitte verwirrend, der ihn für einen
Maidmann zu Fünjtlich deuchte: So redht mein Junge! Seht waren
fie ganz vertraut mit einander.
Im Speifezimmer ftand ein Weihnachtsbaum. Der alte Herr
hatte ihn mit Peter eigenhändig gefhmüct und Nurt mußte aud)
nod) vergoldete Pefferfuchenhergen anhängen. Dann wurde jchnell
ein fleines Diahl eingenommen; die Leute hatten heute Wichtigeres
zu thun, als für die Herrfchaft zu Eochen.
Während des Gfiens chen, es war mittlerweite dunfel ge
worden, hörte man auf dem Flur ein Geraune und Geftanpfe.
Sobald der Tijch abgeräumt war, wurde er in’ Unendliche
verlängert, mit Sinnen bedect und mit guten Gaben: Tücern,
Shawls, Käfthen, Dieffern, bunten Bildchen und Najchwert belegt.
Peter entzündele die Lichte am Baum und unter Führung bes
Schulmeifters drängte fih eine Schaar Buben und Mädchen in die
Stube, qualmend wie eine vegenfeuchte Schafheerde. Der Lehrer
trennte die Lämmlein von den Vöcklein, ftimmte feine Geige und
intonirte ein Weihnachtsfied, das die Kinder aus voller Kehle auf
falfend richtig, wenn aud) theils Heifer wie die jungen Hähne, mit-
fangen — Ins das jchöne Weihnachts-Evangelium und dann gab
der Herr das Zeichen an den Tifh zu rücen. Mit Hilfe mütter-
licher Puffe und Anuffe ordnete fi das Völtchen. Als jeder an
jeinem Plab, ging der alte Yaron die Neihe entlang, ermuthigte
die Schüchternen, ihre Herrlichfeiten einzuheimfen, feherzte mit ben
Aufgeweckten, unterhielt fi mit den Müttern und Flopfte die Aleinen
auf den Kopf. Na, er war recht rührend, ber fonjt fo geitrenge
alte Herr. Die Haushäkterin flüfterte Nurt zu, ex gebe fid) jo viel
Müge jeit dem Tode der gnädigen Frau. Alles," alles mühe jo
jein wie zu ihrer Zeit und wie hatte die geforgt für Alte und
Junge, Kranke und Gejunde.
Hurt entdete zu feiner Genugthuung einige volle Worraths-
förbe für überzählige Gäfte, an denen eben fein Mangel war, aber
& reichte dodh nad), um einen großen Zuderfad mit MWeifbrot,
Aepfeln amd Piefferfuhen zu füllen, den er fid vom Ohm als Ge-
fchent ausbat und Albrecht für die Kinder im Walde einhändigte.
Yald nachdem die frohe Feier mit einem Xiede geichloffen
hatte, erfcholl draußen Hörnerflang. Der Ohm warf feinen Pelz
20 Altes Vut.
um und ging mit Kurt hinaus. Da (ng der mächtige Sirih von
Fadeljchein beleuchtet.
Wahrhaftig ein Pradtitüd, Junge, du haft ein unmenfchliches
Gü gehabt, vief der alte Waidmann, dem Jungen die Hand
ichüttelnd. Cin Zwölfender um Weihnachten! Ich habe allerdings
am 2. Januar einen geweihten Hiric) erlegt, das mar aber ‚blos
ein Gabler.
Heute fonnte Kurt nicht wie geftern um zehn Uhr fehlafen
gehn. Die Elhjagd allein hätte ihn bis über Mitternacht in ver:
gnüglichen Gedanken wachhalten fönnen. ber fo viel anderes nod)
wirbelte ihm im Kopf herum: der Kanal, der nicht den zanzigft
Theil von dem Toten follte, wie da6 Diadem, welches er für Gräfin
‚Helenfa räumte, und der für wohl hundert Menjchen Lebensfrage
war. Die Pachten —- was Einer im Jahr mit Angit und Pühfal
dem fargen Boden abrang. betrug oft weniger, als was er fi mit
Kameraden zu Verfrühftüen nicht felten geitattete. Ja, wäre «6
denn anjtändiger Weife möglich, die Erträge des Gutes, wenn es
einmal ihm gehören follte, auswärts zu vergeuden, während baheim
ichreiende Nothftände fortdauerten. Nein, das wäre geradezu chrlos.
Sein Kopf fdhmerzte — er war an jo ernites Sinnen gar
nicht gewöhnt. Das mußte alles in Nuhe überlegt werden. Er
Fonnte ja auch die Neife nach Paris aufgeben und um jo länger
bier bleiben ; vielleicht wäre es dem einfamen Chm eine Freude.
* +
Mufte ypan denn in Zarbad immer um fieben Uhr aus den
Federn, fogar am erften Feiertag? Ja, da erit recht. Der Ohm
wollte zur Nice, bis zu der man fünfzehn Werft zu fahren hatte,
und der Gottesdienjt begann um zehn. Sturt werftand zwar fein
ehftnifch, aber 8 war bad) Telbitverftändlich, daf er mittam.
Um halb neun ftiegen fie in einen breiten Schlitten, vor dem
eine jchmuce Troifa, von jelbjterzogenen Golbfücyien, ungeduldig
ftampfte und die Schellen jchüttelte. Cs wurde eine Injtige Fahrt,
wenn's auch bisweilen bedenklich fchief ging. Der alte Herr hatte
feine Freude an den Thieren. Der rechts, mit den weißen Binter
fühen, ging zum eriten Wal im Dreigefpann und tadellos.
Altes Blut. 21
Michel war ein ganz famojer Einfahrer. Selbftbewußt jaß er denn
aud da, mit regungslos vorgeitredten Armen, den umfangreichen
Leib im blauen Pelze, von roter Schärpe ummwunden, die Vären-
müge auf die Augenbrauen gedrüdt.
Die Kirche war bereits dicht gefüllt und mander Hals wurde
Länger, als der Sarbadher Herr mit dem ftattlichen Begleiter zu
jeinem Gejtühl fchritt.
Nachdem das erte Lied gefungen, nahmen zwei Damen in
der Bank gegenüber Plap: Die eine alt, die andere jung, Veide
von Hohem Wuchs mit ernjt:mildem Musdruf im fchönen ovalen
Antlig; der einen dichte Haarwellen jchneeweiß, der anderen
goldbraun.
Kurt Fonnte die Predigt nicht verftehen, aber die Andacht,
welche fich in den edfen Zügen der beiden Frauen jpiegelte, theilte
fich ihm mit,
Nac) dem Goltesdienite warteten fie das Herausfrömen der
Gemeinde ab. Der Ohm that dasjelde, dann ging er mit Nurt
auf die Damen zu und jtellte ihnen den Neffen vor. Cs wurden
ein paar Worte gewechjelt und die Herren aufgefordert, Morgen in
Erxlenhof zu jpeifen. Worauf fie hinaus gingen, die Mutter am
Arm der forgiamen Tochter.
Wie viel Würde in der Haltung der Einen, wie viel Anmuth
im Gange der Andern. — Edelfrauen jeder Zoll, dachte der nach:
folgende Kurt und half ihmen in ben Schlitten.
Auf dem Heimmege erzählte der Chm Mancherfei von Frau
von VBrandau, feiner jehr verehrten Nachbarin und der fchönen
Gerda, die er Fiebte wie fein eigen Kind.
Ia, die Erlenhoffche Frau, das ift jo Eine vom bejten alten
Schlage — wie führt fie Haus und Hof, feit fie Witwe ift und
wie ergieht fie die Jungen, fie fann Ehre einlegen mit ihren Pri-
manern. Der Erlenhofer war aber au) ein Pradhtmenfch, wie jollte
das junge Volk da nicht gerathen. Altes Blut ift eben eine ficere
Garantie für Gut wie Böfe, ein Faktor, mit dem ftets geredinet
werden muß.
Die Zeit fhien Nurt endlos bis zur Abfahrt nach Grlenhof,
die er mit unbegreifficher Ungeduld erwartete und doch erzählte der
hm höchft intereffant aus der Xergangenheit von Sarbad) und
232 Altes Blut.
derer von Ramsloh, die eng mit einander verfnüpft war, denn Jahr:
hunderte lang Hatte hier
Ein ftolz Geichlecht gejeffen
An feinem feftgebauten Serd,
Am Waidwerf feine Zeit gemefjen
Mit Armbruft, Habicht, Yund und fd.
Der Empfang im jtattlichen Erlenhef war äuferit herzlich.
Kurt fühlte ih im heitern Nreife fofort eingefebt und gefiel Allen,
was fein Gönner mit Genugthuung bemerfte.
Ton nun an gab cs ein tägliches Herüber und Hinüber
zwifchen Erlenhof und Sarbach. Die zwei flotten Schüler hatten jeden
Morgen einen neuen Schladhtplan erfonnen: Fuchsjagden, Schlitten
fahrten und Gerda war immer dabei. Sie hätte feine Stunde die
Aameradicaft der Brüder, jest feltener Gäfte, miffen mögen.
Auf der Sarbacher Stauung wurde eine fpiegelblanfe Cisbahn,
mit Tannenbäumdhen eingefaft, hergerichtet. Gerda war eine vor:
‚zügliche Yäuferin, ichfug fie auch feine funitvollen Bogen nach vüd:
wärts, wie Helenfa. Diefe Beiden hätte Kurt gern einmal beifanmen
gefehen, fie fehienen ihm entgegengefeht wie Feuer und Mafier und
Beide jo entzüdend!
In Helenka’s Augen fprühte eine Flamme: unheimlich, däme:
nifch, als önnte fie ihr Liebftes in Afche verwandeln und dann
wieder wurde ihr Schein fo fanft, Foienb und fehmeichelnd, daf er
fi den Menfchen in’s innerfte Herz ftahl.
In Gerba's Biden jhimmerte ein Licht wie aus Froftallenem
Grunde: vein, ruhig, märcentief. hm war fo wohl in ihrer jelbit-
vergeffenen fonnigen Nähe. Ahre gedanfenreichen freundlich heiteren
Worte hätte ev nicht taufchen mögen gegen die herausfordernden
itachelnden Geiftesblige Delenfa’s, die auf ihn wirkten wie ein
pricelnder Nervenreiz, In all ihrem Thun lag eine jo beruhigende
Sanfte Sicherheit. Und wie jchön fie war von einer Schönheit,
die Feine Nünfte Fenmt und boch nicht altert, fi) nur verwandelt,
wie ex 09 an der Mutter ja. Einfach und edel in jeder Linie,
in jedem wechjelwollem Ausdrud.
Ehe er fid"s felbit bewußt geworden, war er verliebt in
Gerda. Verliebt — nein. Das war er j—hon oft geweien, diesmal
Altes Blut. 23
aber Hatte eine ernfte ftarfe Neigung fein innerftes Wejen ergriffen
und ihn verlangte mehr darnad) ihrer Kiebe werth zu fein, als dieje
Liebe um jeden Preis zu gewinnen. Sonit jelbjtbewuht und fieg-
gewohnt, war er jest zagdaft geworden und dad) fühlte er es mit
itillem (Süd, daß eine innere Webereinftimmung ihre Seelen ver:
band. Am Flügel namentlich, wenn er fang und fie ihn begfeitete,
war 66 immer, als flutheten die Töne aus einer inneren, tief
gemeinfamen Empfindung zujammen.
Es kamen aber aud) Tage, da fie ihm ferner gerüdt fhien.
Der Verkehr auf Exfenhof wurde ümmer lebhafter; die prächtige
Schlittenbahn benugend, fanden ih Gäfte ein von nah ımd fern
und er jah Gerda plöglich von Verehrern umfcwirrt, denen Ber
wandtjchaft oder alte Betanntjdaft einen recht vertraulichen Ton
anzufchlagen erlaubte. Da war namentlid) ein Vetter, Heinz d. Nons-
berg, Majoratsherr auf hden, ber ihm Himmelangit machte; ein
blonder Rede, den Alle lebten und vermwöhnten, Gerda nicht aus-
genommen. Sie jchien ihn zu ihrem Nitter auserforen zu haben.
Aber was wollte Hurt eigentlich? Cr fragte fich'o felbit.
Was hatte er ihr zu bieten? Ein Leben in der Haupfitadt? Da
hätte fic jo wenig hingewolft wie Helenfa in den Sarbader Wald.
Sie, die allen Schein hafte, die jo viel Nüglihes und Inhaltvolles
in jeden Tag hineinlegte und Vergnügungen nur als erfrifchendes
Nebenbei betrieb. Harmlos wie ein Rind, gewöhnt an Sonnen
ichein, freie Luft und goldne Morgenftunden. Und dennod) betrachtete
er fi prüfend im Spiegel, ob er wohl ftattlicher jei als Vetter
Heinz, aber er Fonnte es nicht ergründen — Gejchmadsiache. Iener
war mindeftens zwei Zoll länger und hatte noch) breitere Schultern
— und die Augen — ja, wenn er nur gewußt hätte, ob fie blaue
oder braume vorzog! Dann fann er wieder über Eigenihaften nach
— Heinz war gewih; ein Fieber treuherjiger Menfch — er hätte ihn
ja jelbit gern gehabt, wäre er ihm eben nic)t jo verdammt unbe:
em gewejen.
Ad was, Nonsberg und Genofien, er felbit war der echte,
dem fie fh anvertranen durfte er wollte fie glüdlid) machen,
die ganze Kraft feiner Scele daran fegen, ihrer würdig zu fein!
Eines Morgens forderte der Chm ihn auf, mit ihn die Wirth:
ihaft zu befichtigen und fie gingen durch allertei wohlgefüllte Alceten
24 Altes Blut,
und Neller, fahen fi verichiedene Betriebe, den Majtochjen- und
Kuhftall an, in welchem achtzig blanfgeftriegefte Friefen das Ange
des Nenmers erfreute. Gin folder war Surt zwar nicht, um jo
mehr verftand er von den Füllen und da waren Pracıt-Eremplare
unter den Anglo:Chften, von denen er fich nicht trennen fonnte.
Wie viel Verftändniß, wie viel Arbeit und Mühe ftedte in
dem Allen, was er auf diefem Nundgange fa — und für wen
plagte fi der alte Dann, der gewiß; oft lieber der Nuhe gepflegt
hätte, als fid mit Mirthichaftsbüchern, perfönlicher Aufficht und
erlei Schwierigkeit abzugeben. — Hatte er auch Freude am
en, fo war co doc eine Freude im Hinblidd auf die Zukunft,
die ihm nicht mehr gehörte. ir wen war hier Alles jo jorgiam
gefammelt und gepflegt worden? Für ihm, der fid) bisher um den
lieben alten Ohm, dem er ein großes Maaf Dank ichuldete, fauım
mit einem Gedanken befümmert hatte. Während di in ber
Dämmerftunde ein Schläfchen hielt, überdachte Kurt das Alles auf
einem einfamen Spaziergange und 5 war nicht mur Lictät und
Dankbarfeit was der junge Mann für den alten empfand, fondern
ein Gefühl naher Verwandticaft, jeit er Wurzeln zu jchlagen begann
in dem heimathlichen Boden.
Co fam 6, da er Abends am Namin, Jrni und Arni auf
den Nnieen, rücbaltlos Alles, was ihn bewegte, ausiprehen
fonnte. Derweilen jahen ihn aus blauer Naudwolfe ein paar alte,
aber falfenhelle Augen wohlwollend an. Augen, die mancherlei
wahrgenommen, die tiefe Blide in zwei junge Herzen geihan hatten.
Was Kurt dann zu hören befam, jtellte ihn, mit feinem
Ainfchen und Hoffen, auf ficheren Yaden und mehr noch: gab ihm
einen Vater, zu dem er in Ehrfurcht und Liebe aufblidte.
‚Helenfa hatte prophezeibt, er werde fich nad adıt Tagen in
Sarbach vor Langermeile an feinen Sporen aufhängen, wenn er
nicht vorzog fie auf dem Parquet rue de Wetoile Nr. 44 Hivren
zu Laien. Nun waren drei Wochen nur allzu jdnell verflogen
und Kurt fuhr nad Erlenbof, jein tapfereo Herz grofer Entich!
und nicht geringer Bangigfeit voll.
Als er fh durd die Schwarzerlen-Allee dem Haufe näherte,
z0g er die Yeinen an und lich den Fucho im Schritt gehen.
Altes Blut. 25
itte er Gerda's Neigung gewonnen? Warum war das jo
ichwer zu ergründen, bei ihr, die fein Nänfefpiel fannte, ihm fo
ruhig, mit offener Theilnahme, in die Augen jah, feinen warmen
Händedrud ebenfo feit erwiberte? Und doch war fie unnahbar in
ihrer angeborenen Hoheit und er mußte micht, was fie für ihn
empfand. Frau v. Brandau war ihm wohlgefinnt, das wuhte er,
fie zeigte ihm mehr, als nur das Antercjie für den Neffen ihres
lieben alten Nachbarn. Wie ev biefe Arau verehrte, — er wollte,
er hätte bie eigene Vhutter, die er zärtlich) liebte, jo hoch. itellen
tönnen. Aber diefe Art jugendlicher Zuneigung gewinnen nur
Frauen, die ganz felbitlos Find und bei unwandelbar firengen Grunl
fügen der Jugend ein grafies Herz voll Wärme entgegenbringeı
die ihr Lebelang den Weg der Pflicht gegangen find, beiter als fei
« ein Nofenpfad.
Er fand fie allein: (Gerda mit den Brüdern und Heinz war
in's Paiterat gefahren. Sie jah im großen Geialon am Feniter
an ihrem Stietrahmen, auf den eine Altardeke von rothem Plüic)
geipannt war. Sie grüfte ihn freundlich wie immer. Er nahm
ihr gegenüber Pag auf einem iteiflehnigen Stuhl und fchwieg.
Sie fief die fleihige Hand mit dem goldenen Fingerhut ruhen
und fah ihn fragend an.
Nun muhte er jprehen ud als er erit begann, da drängten
fich ihm Gedanfen und Gefühle in folcher Fülle auf die Lippen,
daf; er ihrer faum Meifter wurde. Seine beredten Icbenswarmen
Worte bewegten die Höhrerin tief, aber das verriet ihr ruhiges
Antlit nicht. Sie hatte noch nie den Wunjch gehabt ihre Tochter
zu verheirathen -— im Gegentheil; Kurt war ihr jompathifc), aber
fie war darum noch nicht überzeugt, daf er für Gerda der Nedhte
jei. Gteichmähig ihren goldnen Faden ziehend, lieh fie ihn reden,
ohne ihm einmal zu unterbrechen, das war graufam und plöplid)
hielt er inne. Nun war eo an ihr fich zu Äufern und mit athemz
lojer Spannung erwartete er ihren Vefcheid.
Yieber Namsloh, fagte fie noch furzem Befinnen, Name, Ver-
mögen, einnehmende Berfönlichteit machen Sie in hervorragenden
Maahe zu dem, mas man gemieiniglicd eine wünfchenswerthe Partie
nennt. Verargen Sie 09 einer alten Frau, mit vielleicht veralteten
Ideen, nicht, wenn fie noch mehr verlangt: nämlich einen Mann
26 Altes Blut.
von unerjchütterlich feitem Charafter. Zie haben noch feine Gele
genheit gehabt fich als folder zu erweiien. Sind Sie um's Jahr
desfelben Sinnes, fo fommen Sie wieder.
Und Gerda, fragte er beffommen —- wird fie warten? Darf
ich ihr von meiner Liebe fagen?
Nein, erwiderte Frau u. Yrandau entjdhieden. Gerda joll
frei fein, wie Sie es find. Jit ein wahres und tiefes Gefühl für
Sie in ihrem Herzen erwacht, jo wird cs wohl ein Jahr überdauern.
Das wäre feine echte Liebe, die nicht auszuharren vermöchte. Den
Sharakter, den id) meine, fette ich in Ihnen voraus. Er wird fid)
nicht nur in Ahrer Liebe bewähren, in Ihrem geduldigen Werben um
ein Kleinod wie Gerda, fondern in Ihrer Treue, in Allem wozi
Sie einft in der theuren Heimat berufen fein werden.
Das Wort „Heimath“ hatte Heute einen neuen jchönen Klang
für ib Er fühte Frau v. Brandau's Hand wenn möglich mit
noch innigerer Verehrung als jonit, und ging. bgleich es herrlich
gewefen wäre Gerda im Sturm zu erringen, ihr in der nächten
Stunde fein ganzes übervolles Herz auszuidütten, nicht ablaffend
bio fie fein, empfand er bod) Lebhaft, wie berechtigt die Forderung
ihrer Mutter, und beugte fid) ohne Murren.
Der Ohm unterdefien wanderte rauchend rajtlos auf und ab.
Einmal haderte er mit fih nicht auch gefahren zu Gerda’s
Zärtfichfeit für ihren alten Freund hätte wohl ein Körndyen zu
Kurt's Gunten in die Wagichale gelegt. Dann lachte er in fd
hinein: dem Jungen fekundiven, das fehlte nod. Habe mir meine
Alda auch allein erobert. te mir da jede Einmifchung ichönftens
verbeten. Wird ihm nicht fÄwver fallen, dem Schlingel, ich feinen
ha zu holen. Wenn der nicht gefällt, po Vombenelement, dann
müßten die Frauenzimmer rein närrifc) geworden fein. Sterne vom
Himmel verlangen, he! Aber Gift auf feinen Erfolg nehme ich dach
nicht. Die Erlenhofihe — Sut ab, alle Bochachtung und nod)
einiges — aber fÄmrrig iit fie doch bisweilen mit ihren romanti-
ichen Einfüllen.
Also Hurt endlich anlangte, muhte ev fofort Nede ftehen, wie
viel lieber au, er allen Fragen aus dem Wege gelaufen wäre.
Der alte Herr dien erwartet zu haben, dah er die Braut
gleich mitbringen werde und Hub grimmig zu poltern an, al er
Altes Blut. 27
nicht einmal das Nawort aus der Tajche zog. Bald jedoch calmirte
er fich und lobte, wie gewöhnlich, die Weisheit feiner Nachbarin.
= X, ja, man muß der Jugend nicht zu viel Aufwafler geben.
Ibm war's fchon recht, dafz der Junge fi) erit tüdhtig und arbeittam
auf der eigenen Scholle zeigen follte, die er ihm um Georgi anver-
trauen wollte. Er zweifelte nicht an feinen foliden Cigenfchaften,
die lagen den Namslohern im Blut.
Der legte Abend in Erfenhof und nichts jagen zu dürfen von
dem, was ihm die Bruft Iprengte, welche Folter! Sie jahen
Alfe gemüthlich plaudernd am runden Tijch, im Schein der Lampe.
Nein, das hielt er nicht aus, erhob fid) rajch und öffnete den Flügel:
Wolfen Sie ein Abjhiedstied fingen? fragte Gerda in etwas
wehmüthigem Ton. IL ich Sie begleiten?
Er nictte nur mit einem etwas zagen Biel auf die Hausfrau.
Zu fpredhen hatte fie ihm verboten, aber nicht zu fingen. für
Liedesworte war er nicht verantwortlich.
Bitte ein Inftiges — nicht von Scheiden und Mieiden, rief
Heinz.
Andre Städtchen, andre Mädchen, jchlug ein ungezogener
Bruder vor.
Gerda wurde roth und noc) röther als Kurt das Heft öffnete
und anftimmte: „Die Liebe, ja die Liebe ift eine Himmelsmadt“.
Es war ein Gfüc, da fie nicht rücwärte jah, wie Mama’s
Antlig über der Arbeit gejenkt blieb, wie der alte Nachbar vergnügt
fchmungelte, wie die Brüder, die Frehlinge einander anjtießen und
Vetter S in nervöfer Ungeduld an feinem blonden Schnurrbart
Salt juchte.
Kurt hätte das Alles nicht angefochten; feine ganze Seele war
jo erfüllt von einer Himmelsmacht. Pit dem legten Uccorde jprang
Gerda auf, froh daf biefer Sang, der ihr in allen Nerven nad:
üterte, ein Ende hatte, aber num jtand fie ihm dicht gegenüber und
ihr et mit leuchtenden Blicken in die Augen jdauend, ehmetterte
er es noch) einmal jubelnd hinaus: Die Liebe, ja, die Liebe ift eine
Kimmelsmacht !
Sie war jept nicht mehr voth, jondern jehr bleich geworden,
als fie an ihm vorüberging, neigte fie das Tchöne Haupt ein wenig
— war es Zultimmung?
28 Altes Blut.
Famofes Lied, riefen die Brüder wie aus einem Munde.
Hat es dir gefallen, Gerda? fragte Heinz leicht ironifch. Ich
fann cs auch fingen, wenn du cs nod) einmal hören willit. =
Er erhielt feine Antwort.
Der alte Herr mahnte zum Aufbruh. Der Schlitten jtand
schen ft vor der Thür und die Pferbe wurden unruhig bei ber
Kälte. Der Abjchied Fam Allen vecht, denn die Gemüther waren
zu erregt, um den harmlofen Gonverfationsfaben von vorhin weiter
zu jpinnen. Nur die Brüder, die Nedkobolde, hätten aufheulen
mögen, daß ihnen ihre Veute fo fehnell entwifchte. Die Schweiter
allein auf's Horn zu nehmen, wenn Er jort war, hatte ja feinen Zinn.
Verzeihung, flüfterte url, als er Frau von Brandau die
Hand Füfte.
So hatten wir nicht gewettet, entgegnete fie leife, aber ihre
Lippen berührten feine Stirn — das war Abfolution.
Gerda fagte ihm ein herzliches Lebemopl und auf Wieberjehen;
ganz umbefangen, obgleid) ein böfer Yube fie in den Arın Eniff.
Die Jungen, die für ihn jehwärmten, fielen ihm um den Hals.
Nur Vetter Heinz reichte ihm etwas würdevoll und fteif die Rechte,
die er ganz befonders Fräftig fehüttelte, To daf; dem Andern ein
heiteres Lächeln über das gutmüthige Antlip flog; es ihien nicht fo
ernjt gemeint mit der Gegnerfchaft.
Als Frau von Brandau fihh zur Nuhe gelegt hatte, wurde
ihre Thür leife geöffnet, Gerda im weißen Gewande jchlüpfte hinein,
fniete am Bette nieder, barg den Kopf in's Kiffen und fchluchzte.
Bum erften Mal im Leben verlor fie ihr [dhönes Gleichgewicht und
benahm fich jo thöricht. Frau von Yrandau wuhte wohl, was das
zu bedeuten habe, jtweichelte ihr fanft das Haar und lich fie fih
ausweinen. Dann kam aus vollem Herzen die Frage: Warum it
er gegangen ohne mir von feiner Liebe zu jagen, anders als in
Liederworten, fo öffentlich, vor Heinz und den Nnaben?
Die Mutter z0g fie zärtlich an fi und vertraute ihr Rurt's
Antrag und ihre Erwidereng an, mit den Worten [cließend: Einem
Rlattergeifte, einem Wandervogel gebe ich did nicht, du mein
theures Kind.
Gerda umichlang fie liebevoll und fagte mit ftrahlendem
Lächeln, während ned) Thränen in ihren Wimpern hingen: Ich
Altes But.
werde die feine, denn er it freu wie Gold, — fein Namsloh war
ein Flattergeift!
Das junge Evelfräulein glaubte nicht minder feit an die Straft
d08 alten Blutes wie der Ohm auf Carbad.
Und Heinz? fragte die Mutter.
Gerda machte große Augen. Heinz? — den habe ich immer
als älteften Bruder betradhtet, das will id) ihm morgen jagen, wenn
er cs nicht weiß. Wie viel Vettern haben für did geihmwärmt, du
meine jchöne Mutter, und find hernadh Waters bejte Freunde ge
worden. Gute Nacht. Kurt ift ein ganzer Mann, dem du dein
Kind vertrauen fannit. — Vete für ihn!
Gute Nacht, mein Liebling. Gott jegne did) und ihn — und
fie mmarınten einander lange und innig, froh, da; nichts Unaus-
geiprochenes mehr zwifchen ihnen ftand.
Kurt war als träume er, wie er wieder im Wagon jaß und
feinen Dienjte zueilte, den er nun bald quittiren follte, und doc)
war diefe ganze neue Welt wahr und wirklich: fein jühes ftolzes
ich, fein Meurer alter Gönner, fein Heim, fein großes weites
Arbeitsfeld und die taufend Augen, die ihm hoffnungsvoll ent
gegenfahen.
Hatte er noch einen Gedanken für Helenfa?
Ia, wie hätte er fie icon ganz vergeffen fönnen? Er fragte
fich fogar, ob er einer Untreue jenuldig jei, aber er durfte fid) frei
iprechen. Hatte fie denn etwas anderes verlangt als Weihraud) in
ichimmernden duftenden Wolfen? In lichterloher Echwärmerei hatte
er ihm ihr gefpendet, wie mancher andere auch. Gräfin Helenfa und
Ahresgleichen fragen nicht nad jener Himmmelsmacht, die das Herz
auf weißen Schwingen aus dem Weltgefümmel trägt.
* *
Wieder hielt funfelnder Zroft die merdifche Erde umfangen,
Weihnachtsferzen hatten gebrannt umd mit hellem Schellengeflingel
fouften die Schlitten duch tiefverjchneite Wälder: unter
weicher weifier Derfe, hatte das mämliche Anjehen wie jeit Jahren.
an fonnte nicht ahnen, was feit dem lebten Frühjahr alles Neues
geichaffen war; aud) der breite Manal, der unerjchöpfliche Slutben
30 Altes Blut.
in die Mühlenfianung zum Vortheil des emfigen Näderwerts und
zum Heil der Sumpfgegendbewohner ergoffen Hatte, verbarg Fich
im Schnee.
Am Kamin jah der alte Herr und raudıte. Auf dem Wolfe
fell zu feinen Fühen träumten Jeni und Ani fo lebhaft von ihren
Heldenthaten im Fucs- und Dacsbau, baf die gelben Pfötchen mit
unter heftig zu graben jdhienen, und bisweilen ein leifes ausbruds-
volles Knurren den tapfern Gefellen entjchlüpfte.
Sieh‘, Kind, jo habe ich auch die Iepten Dahre Winterichlaf
gehalten und vom Fett der Erinnerung geyehet, fagte der alte Mann
mit dem Pfeifenftiele auf die Heinen Schlafjäde deutend, zu Gerda,
die eben ein Tüfchehen an feine Seite rückte und ihm mit Tiebevoller
Sorgfalt feinen Thee bereitete. Yeht, wo Ihr bier feid, babe ich
wieder eine Gegenwart. Er nahm ihre Hand in die feine. In den
alten ägeraugen, die fajt jugendlich heil aus dem verwitterten
Antlig fehanten, Fonnte fie Iefen, wie licht diefe Gegenwart feinen
Lebensabend verflärte.
Und in Dir Lebt uns die Liebe chrmürdige Vergangenheit,
erwiderte fie zärtlich.
Der wir das Bolte verdanfen: die Liebe zur Heimath, fagte
eine fiefe Stimme hinter ihr: Die unferer vollen arbeitefrohen
Mannesfraft bedarf und Schäpe birgt wie diefen! Numt zog glüc‘
ftrahlend diejenige an fi, die feit einer feligen Woche fein Cigen
war und wollte ihr eben noch viel Liebes und Zärtliches fagen,
mußte es aber auf fpäter verfparen, denn Peter erjchien mit der Pot.
Von unfern Studenten, rief Gerda vergnügt, einen Brief
öffnend, der mur wenige Zeilen enthielt. Sie tommen morgen nad)
Haufe, wie wird Mamaden fi freuen, und dann, mit Letter
Heinz, zu uns. Du haft ihnen eine Värenjagd verfprachen, behaupten
fie umd die haben fie auch verdient, mit ihren brillanten Examen.
So mögen fie den Braunen mit „vivat academia“ aus dem
Lager jehredten, lachte Kurt, und läuft er Heinz vor die Flinte, jo
jei er ihm gegönnt: Glück macht grofmüthig! Aber da iit ja nad)
etwas für mich — und er zog eine goldgerandete Karte aus dem
Gowert: Helenka heirathet den erften Secretaiven an der rulliichen
Votjehaft in Paris. Das freut mich — das wahre Milieu für fie.
Eine entzüdende Diplomatenfran wird fie werden und es wie feine
Altes Blut, al
zweite verjtehen, die Elite des Eiprits und der Eleganz in ihren
Salons zu vereinigen.
Was meinft du zu einer Kochyeitsreife nach Paris? fragte
Gerda lächelnd: Glüc macht großmütbig!
Reifen! nein, mein Lieb, dies traute Heim it unjere Welt —
und jegt ein Lied!
Sie jepte fh an den Flügel.
Was willit du dem fingen, Licbiterz
Die Widmung natürlid.
ie Fannte die fehöne Venleitung auswendig und er fang aus
tieffter Seele:
Du bift die Ruh‘, Du bift der ricden,
Du bift vom Himmel mir befchieden.
Daf Dur mich liebft, macht mid mir wertb,
Tein Bid hat mic vor mir verklärt.
Du hebft mic, licbend über mich,
Mein guter Geift, mein befres Ich.
Der alte Herr bliete zu dem AJugendbilde feiner Aldn auf
und nite der Tieben Gefährtin zu: Sieh‘, mein Engel, unfer
Hoffen, Streben und Lieben Icbt fort. —- Wie die Alten jungen,
jo zwitfchern die Jungen — md Gott wolle fie fegnen.
Aunftbriefe.
IV.
$ Menfchen fein fih an, Weihnachten zu feiern. Ein
"23° beifpiellojes Gedränge berricht namentlich in der Friedrichs
” ftadt, im Stralauer Viertel, in der Leipziger Strafe und
zwifchen Potsdamer Vrüce und Potsdamer Thor (alter P lab).
Denn in diefen Stadttheilen liegen die meiften, größten und jchönften
Läden, vor denen einigen man fürmlich uceue bilden muß. um,
wenn man enblid) hineingelangt, nad) eine halbe Stunde zu warten
in „drangvoll fürdhterlicher Enge”, bis die Stimme einer der er-
matteten Verfäuferinnen an das Ohr der ermatteten Näuferin jhlägt:
„Schon bedient, Gmädige Frau?" Und die gnädige Frau — nein,
ich bin im beiten Zuge, Ihnen Scenen zu jhildern, und wenn's
auch für Manden zur Zeit auf der Strafie und im Laden viel
hutiger und intereffanter hergedt, als im Theater, jo führt mid
meine Berichterftatterpflicht doch zu diefem zurück,
Es hat Vieles gegeben, jeitdem ich Ihnen das legte Mal
vom Berliner Theaterleben erzählte. So Vieles, daf; id natürlich
darauf verzichten muß, Alles zu berühren.
Hreife ich zum Nächjtliegenden, fo heift's nicht von deutjcher,
fondern von franzöfticher Bühnenfunft und Wühnendichtung plaudern.
Go üft lange ber, daf; dem Berliner franzöfifcheo Theater etwas
Altägliches war. Fünfundzwanzia Nahre mindeitens. Vor dem
großen Ntriege fam fait alfwinterlid) eine Nomödiantentruppe von
Kunftbriee. 33
jenjeits der Vogefen herüber und weihte die Berliner ftudirende
Jugend im Koncertfaale des 8. Schaufpielfaufes in die Geheimnifle
und Reize frangöfifcher Bühnenfunft ein. Dann aber war's plöglich
infolge naheliegender Gründe aus damit. Exit in den allerlegten
Jahren veriret fi dann und wann eine Truppe hierher. Bor ein
paar Mintern jpielte fo eine provinzielle Operetientruppe in Berlin;
im vorigen Fam Herr Antoine, der Begründer des „Thöätre libre“,
herüber und wurde von ben Ktreifen der „Freien Bühne“ ebenjo
willfonmen geheifien, wie jene von den Rreifen, in denen man fich
nicht langweilt. Das war chen aud Alles. Und die Sarah Vern-
Hardt, obfehen ihre Mutter, wie indiserete Foriher ergründet haben
wollen, eine Verlinerin gewejen jein foll, die beiden Goquelin’s,
Feore, Momnet-Sully, die Neichemberg und die anderen Wander“
apoftel parifer Theaterruhms — fie wiefen haerfüllt das Anfinnen
zurüd, das „pays des prussiens“ jemals mit einem Vefude zu
beglüden, während befanntlich ihre bichtenden und fchriftjtellernden
Landsleute, Dumas und Sardou an der Spige, fi nicht das ge
tingfte Gewiffen daraus machten, die hübjdhen Tantiömen einzu:
ftreichen, die ihnen die deutfchen Ueberfegungen und Aufführungen
ihrer zahllofen Werke alljährlid) abwerfen. Und männiglich ift ber
fannt, daß franzöfiiche Vühnenlitteratur in Deutjchland, und zumal
in Berlin, einen nur zu guten Abfag fand. Und nicht bloß die jo zu jagen
ernftere, fondern erit recht bie leichtere und Leichtfertigere. Macht
hier dod) ein Theater, das „Nefidenztheater”, gar ausichliejlid) in
frangöfiichen Komödien und Pollen und mit großem Erfolge. Wohl
zum Theil deshalb, weil den meiften ganz unbefannt, wie dieje
Bühnendichtungen fid) im Frangöfiicen, von Franzofen gemimt, aus-
nehmen. Mer fie fo gejehen, ber fann an ben beutfchen Ueber:
jegungen und an ihrer Interpretation durch beutjche Künftler ges
wöhnlich nicht Gefallen finden.
* *
*
Das beftritten num wohl viele und meinten überlegen: „Dich-
fung it Dichtung und Schaufpielfunit Schaufpielfunft.“ Sie fonnten
fidh aber jet eines Befferen belehren Inffen. Denn es fand fid
eine muthige Frampöfin von Auf, bie mitten in des Lünen Racen
Beilage zur Baltifgen Nonatöfgrift. XLILL, Geft 1. 3
3 Rumftbriefe.
hineinfprang, lachend und trillernd. Anne Judic, die Schöpferin
eines eigenen Genres, das nicht groß ift, in dem fie aber Großes
feiftet — nod) immer! — und das die Mitte hält zwijchen Vaude
ville und Operette und wo fi um eine meift recht blödjinnige
Handlung allerlei Geiftesolüthen und wigige, pridelnde, oft recht
zweideutige Liederchen vanfen. Großmama Anne Jubic aljo war
biefe tapfere Franzöfin, die mit einer eigenen Truppe nad) Berlin
fa, um bier fängit icon befannte Stüde von Hennequin und
Viillaud und Vifjon ımd aud) Sardou einmal im Original aufzu
führen. Sie Fam, fah, fang und fiegte ... Die Berliner, die da
glaubten, am Ende würde der Scene-Chauvin durch bie Liebens
würdige Nechnung der greifen Gaftipielerin einen polternden, vaj
felnden Streich machen, irrten fih gründlid. Co gab jogar eine
Woce hindurch einen Eleinen Judic-Kultus und das Fofette „Neue
Theater“ des Herrn Lautenburg war allabendlih Zeuge fautejter
Dvationen. Die Kunjt der Jubdie — die Kunft fid) jung zu
haften vor Allem — und die anmuthigen Reize ihrer Spiel: und
Vortrageweife in Ehren: wie wäre wohl der Beifall gewejen, wäre
fie jünger, auf dem Gipfel ihres Könnens jtchend, und mit einer
befferen Truppe hergefonmen! So aber Fonnte der Nenner der
Jubic und franzöfifcher Bühnenkunft überhaupt mitunter fih eines
gewijien Lächelns nicht enthalten, wenn ev hier und da in der Preife
gar zu begeifterten Serzensergüffen begegnete. In manden Füllen
war es aber allerdings vitterliche Gialanterie, as den Ausichlag
gab und über einen Fehlbetrag himvenfehend im Webrigen fi an
dem vielen Guten und Neizvollen ergögte, was Anne Judic_ ned)
immer bietet...
Und nach der Chanfonette und dem Yaubeville famen fteif
beinige, Eunfigeredht drapirte Alerandriner: nach ben Ejprit md den
Zweidentigkeiten der Sardon und Meile — der Pathos und die
Yeidenfchaft der Nacine und Gorneille; nach der Judic die
Segond-Weber, die 5 veritanden hat für die hervorragenbite
unter den jungen frangöftichen Tragödinnen zu gelten, die Lertre
terin der Traditionen altfranzöfiicher Wühnenhocfchule, wie fie die
Comedie franenise und das Odron noch immer pflegen im Hafii
chen Nepertoir, während auch fe jegt jhon lange im modernen dem
Vodernen zu feinem echte verhelfen. An einem Sonntag verab
Kumftbriefe. 35
ichiedete fich Anne Judic in „La femme & papa“ und am Mon:
tag darauf ftellte fich im jelben „Neuen Theater“ Mme. Segond-
Weber als „Phädra” vor. Aber die Hafjiiche Tradition biejer
Künftlerin und der traditionelle Klafficisimus ihres pielplans be:
hagte dem Berliner fihtlid weniger und obzwar Mme. Segond-
Weber weit jünger und jhöner, als Mme. Judic, fo zog er den
priefeinden und pifanten und anmuthigen Gefang diefer dem pathe-
tüchen und mägchenreichen Zingjang jener entjchieben vor, was aud)
ganz zu begreifen, umfo mehr, als dieje zweite Truppe noch fdjlechter
üft, als die Judic'ihe... Es war leer, recht leer bei Heren Lauten:
burg und er mochte froh fein, dafj Mime. Segond:Weber nur 6
Abende für Verlin frei hatte, während ihre Vorgängerin 14 Mal
fpielte . .
Aber intereffant waren fie doch, die Nacine’fchen und Cor-
neille’fchen „tragedies“ zwifchen al den modernen Sittenjtücen,
Yebensausjchnitten, Charakterbildern und Poilen, die jegt die Bühnen
beherrichen. Und Hatte die gelungendfte der Aufführwigen, die der
„Pbädra”, immerhin zum großen Theil auch nur bie Vebeutung
eines „succös de enriosit@“, wie fie e8 in Paris nennen — man
überzeugte fi dabei doc) anbererfeits, dab die wahre Dichtkunft
immer jung und „modern“ bleibt; nur das Gewand, in dem fie in
diefem Falle vor uns hintrat, war veraltet, verihoilen und forderte
den fin-de-siecle-Theaterfreund zu einem Lächeln heraus.
Freilich) — mandes Mal hat auch das fin-de-sidele-Produft
jeloft Fein befjeres Loos, als belacht zu werden, weil 6 umver-
ftanden bfeibt. -
Da gab © zB. im Schaufpielhaufe einen Heinen Dreiafter
von Theodor Wolff. Er it ein Neffe des bekannten Annoncen
Königs und Milfionärs Rudolf Vlofje und gehört fomit zum großen
der Schriftiteller des „Verliner Tageblatts”, das befanntlich
viel in Wälfchthum macht. Much Theodor Wolff, ein nad) ebenjo
junger, als begabter Schriftiteller ift von feinem Ohm nad) Paris
gejdjieht worden, das trop allem Xielen in Deutichland nod) immer
als die Hauptichule jeglichen Gejchmads gilt. Und Herr Theodor
Ei
36 Runftbriefe.
Wolff ift fehr gelehrig und gefehiet und ein echter, vediter Voufevarb-
Stilift und „eausonr“ geworden, ber in deutfejer Epradie franzö-
fich fehreibt. Num ift er aud) unter die Dramatiker gegangen und
abermals möchte man fagen, er hat ein franzijifces tüd in
deutfcher Sprache geliefert. Nicht etma im Lindau'fchen Gheifte.
Nein — dur) die Grazie und den Aumftgefehmad, die als Eelbit-
zwerf in „Niemand weiß; es” eben, erfejeint es wie aus frangöft
{chem Hirn und Empfinden herausgeboren. Aber in dem biendend
ihönen Nahmen, nebenbei bemerkt in ftreng japanifchem Stil (bie
Dichtung fpielt nämlich in Japan) ift ein Stück büfteren Symbolis-
mus gefaft und — für Eombolismus hat der Berliner nichts übrig,
dazu ift er zu „helle“. SHätte er Wolff den Vorwurf gemacht, daf
da nichts Selbftändiges üt, daß Malterlinf und Lerlaine u. A.
Gevatter geftanden haben, dafı der japanijche Aufmen das Piitmachen
einer parifer Mode, da; es bebauernswerth, wenn ein beutjcher
Dichter feangöfifch zu empfinden und zu fcaffen beginnt — jo wäre
die abfehnende Haltung begreiflich geweien. Aber fie richtete fich
nur gegen den Anhaft als foldhen, der von ber tragifchen Gefchichte
des fehönen japanifchen Mäbchens Tajo gebildet wird, Die ben wilden
Maler Yori liebt, aber einen Alten heirathet, dann jebod)
Hori in die Arme finft, der ben Alten in der Stille der Nacht
erdoleht und fi) in’ Gefängniß auf die Folterbanf führen
täht, ohme das Schweigen über feine That zu bredien, während Tajo
fich den Ölnfigen Yatagan in die Bruft flöht. Worauf es dem
Dichter anfam, das war Stimmung an fih zu erzeugen, traumver-
forene Märchenftimmung. das düftere Gejehid maferiich zu erfafien,
das über dm Licbeopaar im jhönen Japan brütet . .. Und dabei
kam ihm die Negie in fteigiebigfter Weife zur KHülfe durch eine
ebenfalls märchenhaft jchöne Ausitattung. Aber vergebens; vergebens
auch das Wemühen Aein’s, der den Alten gab, des Frl. v. Man:
burg and. Mattowoifh's wache und Handlung blieben der Mafie
umverjtändlich und wenn fihh ihrer eine Stimmung bemächtigte, fo
war 08 Die des Ufo...
Diehr gefiel jChon eine andere, diefes Mal eine wirklich fran-
zöfifche Vühnendichtung, Edmond Notand’s Komödie „Die Noman-
tiihen.“ Sudwvig Fulda, der reiche Franffurter Patrisierfohn, der
Frankreich und die Franzofen gut fennt amd zwifchen zwei eigenen
Runftbriefe. 37
Dichtungen immer irgend eine dramatifche Gabe des Nachbarvolfs
für die deutfche Bühne bearbeitet, hatte die Ueberfegung geliefert
in fein policten erfen. Das Lefing-Thenter brachte die eigen-
artige Novität. Roftand fchöpfte aus dem Born mittelalterlicher
Dramatit und thut hier zu dem, was einjt das Mefen italienischer
vomedia del’ arte bildete, modernen Wi und fin-de-siöcle-
Sarkasmus hinzu, jowie eine Dofis Schäferjpielpoefie des 17. und
18. Jahrhunderts. Und fo gab's eine Lujtige Traveftirung derer,
bie die Nomantit außerhalb im Leben fucen und heraufzaubern
wollen und erit jpät merfen, baf fie längft im eigenen Herzen Iebt
und nur da zu Haufe ift und daß die fhlidhte Wirklichkeit rei) an
Poefie fein Tann.
„Richt wahr? Die Porfie erblüht aus treuer
Serzinnigteit aud) ohne Abenteuer . . .
Ja! Denn es leuchten für ein liebend Maar
Am nadgemachten Himmel echte Sterne . . .
Und thöriht fuchten wir in weiter Ferne
Die Poefie, die in uns jelber war.”
Das wird uns an den Erfahrungen eines Liebespaares und
den Erlebniffen feiner närrifdhen romantittollen Qäter ggeigt....
Eine ergöglice Komödie, phantaftifch in der Handlung, phantaftiic)
aud) in der Austattung. wie denn ;. B. die Mitwirfenden fid) in
der Tracht verfchiebener Jahrhunderte zeigen, ohne daf es ein
Mastenjeft gäbe. Damit follte wohl angedeutet werden, ba die
Nomantiktollheit nicht einer Zeitepodje allein angehört. Ganz brachten
die deutfchen Nünitler das grazile Sächelehen, das mit einer Föltfichen
Rarodirung des „unglücjeligen Liebespaares von Xerona“ ein:
jeßte, nicht heraus.
€s nahm fi) mandes ehvas jchwerfällig und daher mitunter
albern aus. Auch jo was mühte man durchaus von Franzofen
felbft gefpielt fehen.
38 Kunftbriefe.
Da nun heute fo viel von Franzöfiichem die Nebe, jo paht
aud) Paul Lindau redt gut in den Nahmen, er, der feinerzeit der
lautejte Verfünder und Verbreiter der Bühnenfunt Frankreichs in
Deutfchland war. Er ift jegt befanntlich ntendant des einjt jo
berühmten Hoftheaters zu Meiningen geworden. Der langjährige
fehneibige und wigige ITheaterkritifer, der fruchtbare und früher
glüctliche Dramatiker hat fomit, wie mancher jeiner Zeitgenoiien, wie
DOsfar Yumenthal ;. B., der Direltor des Lefjing- Theaters, oder
Otto Vrahm, der Leiter des Deutjchen Theaters, num auch die Mög-
fichfeit nad) den „theories“ die „exemples* zu fiefern, nach ber
Porfie —- ihre praftifche Vethätigung. Man war daher geipannt
auf den Beginn feiner Intendantenherricaft. Und er trat in ber
That mit einem förmfihen Programın hervor in Form eines Ein:
afters, der unter dem Titel „Die Venus von Milo“ eine Anek:
hote aus den Tagen der Herrlichfeit griechiicher Antite nicht unge
ichieft dramatifch behandelt. Da giebts u. X. einen harten Pleinungs-
ftreit über die alte und die neue Nunft. Der Mäcen Agathon und
der Bildhauer Sfapas führen ihn und der Rünftler geht als Sieger
hervor mit ber Tirade:
„Ach! Die Jungen! Alten!
Braucht’ id) den Aundreim nimmermehr zu hören!
Dem Phidios, unfer aller grofem Meifter,
Der nun feit fehzig Jahren im Eiyfion
Den hitigen Streit der Schulen mild belächelt, —
Schon ihm Hang gellend, Freifchend in den Ohren
Das dumme Lied von Alten und von Jungen!
Was in der Aumft ift alt? Was jung? Gicb Antwort!
Vielleicht ift Phivdias alt, der ewig Junge?
Am Ende altert auch Unfterblichteit?
Und ift nur wahr, was unfre Augen jehen?
Steig’ nur hinauf, Areund, zur Akropolis,
Vetradt' am Parkhenon das Bild des Zus,
Und fag' mir: ift das wahr, in Deinem Sinnet
Das Bild hat freilich Mind und Stien und Naje
Und Ohren juft wie wir —— menfchliche Züge!
Und doc) ift's anders — mas? Mir fehlt das Wort,
Runfthrief. Er)
Doch fühl‘ ich's deutlich: nenn’s das Göttliche,
Das übermenjchlich Schöne, jchanrig Schre,
Nenm’s wie Du willt! ch nenn’ 06 einfach Aunft!
Und fteh' ich vor des nrofen Gottes Vilonif,
Dann fühl’ ib woht, wie hinter diejen Brauen
Der Donner jchlummert, wie das mädt'ge Auge
In Zorn entflammend Fenerblige fpeit,
Und wie die Fluth fi ftaut und grollend fchäumt,
Und die beftürzte Erde furchtfam bebt,
Wenn er des Yauptes fehwere Cole [chüttelt.
Das ift das Göttliche, das ift die Aunft! —«
So entjcheidet Paul Lindau die moderne, viehumftrittene Frage
von Wahrheit oder Schönheit in der Nunit... Er hat nicht viel
Freunde im Verlin, wie fich das auch bei der hiefigen Aufführung
der „Venus von Milo” — im Leifing-Theater — zeigte und er
fann ficher darauf rechnen, daß man hier hölfifch aufpaffen wird,
ob und wie er jein Glaubensbefennmiß praftiich bethätigen wird.
Es hat etwas Mihliches, mit cinem feierlichen Programm hervor:
gutreten, wenn es fich auch in griehiicher Gewandung verbirgt und
in (muttönenden Verfen ausipricht .
Das find jo einige Zeiten aus der Verliner Theaterchronit
der Ietten zwei Vtonate. Auch auf den anderen jtcht Vieles ver:
merft, wenngfeid) eo rafcher vergefien wird.
Dofi Yudmig Fulda aud) mit einer eigenen Neuheit erichien,
natürlich im „Deutichen Theater“, das verftcht fich ebenjo von jelbit,
wie daß Felir Bhilippi im Leffing-Theater besgleichen ein neues
Schaufpiel brachte. Sowohl „Nobinfons Ciland“, das übrigens
nicht zu den befien Sachen Fulda’s gehört, obfchon die dee recht
glüdlich war, die Nobifonade zu modernifiven und fo zu beweifen,
dab; auch heute noch im fulturlofen Lande vet wohl der wahre
Werth) deo Menfchen fich zu bethätigen Gelegenheit hat, wie auch
Pbilippi's „Dornenweg“ find Tendenzitüce, aber wo der heiter
Franffurter lacht und fcherzt, da väfonnivt meiftene der fühle Ber:
finer unbarmderzig und jo hat Philippi auch diefes Mal einen harten
Gonflift zwifchen Wahrheitopflicht und Mutterliebe hart und fcarf
dramatifirt, ohme dafı man darüber hinwegtäme, nicht Mandıes bloh
40 Aunftbriefe.
als Pofe aufzufaflen. Darin hat er viel Verwandtes mit Voh,
nur daß biefer noch weit büfterer und wuchtiger ift, wie jegt wieber
in feinem neueften Drama „Die neue Zeit“, das im „Neuen
Theater“ nicht allzuviel Beifall fand, objhoen gerade das gewöhnliche
dortige Publifum, ebenfo wie das des „Verliner Theater“ an Rüh:
vung und Grihütternng nie genug haben kann.
Daß aber darum beide Stüce, wie natürlich aud Fuloa's neuejte
Dichtung die Runde über alle deutfce Bühnen machen werben -
das ift ganz zweifellos. So gelangen fie wohl aud nad den Cit-
feeprovinzen, was von den Arbeiten Wolff’s und Noftand's fauın
anzunehmen lt.
Auch Mifch’s „Nahruhm“ und Ernjt Nosmer’s (Arau
Bernftein) „Tebeum“ dürften vielen Lefern vorgeführt werben, umfo
eher, je weniger fie ehvas Neues bringen, objchen Nosmer zu den
Erforenen des „Deutfchen Theaters“ mit feiner Pflege des Moder-
nen gehört.
Und zudem ift’s Zeit, dal; ic abbrede ... Hanje's Schluß:
und Abjchiedegaftipiel im ngl. Schaufpielhaufe wird erft das nächfte
Dial beiprodien werden fönmen ... Cs ift der Schwanengelang
einer alten Echule und ——- bezeichnend genug — es !hut gar Vielen
weh, dafj es ein Schwanengefang. An Ende Fommt’s auch wirklich
anders.
Berlin, im December. I. Norden.
Litterärifhe Umfhan.
Be
PM] ogteic) die Ei
“
TR
vatur über Napeleon I. eine unermehliche und
> faum mehr überjehbare ift, erfcheinen doc) noch immer neue
Vücher über ihm in Frankreich. Während aber unter dem
zweiten Naiferreich, abgejehen von ben durch Napoleon IIT. infpirirten
und von ihm angeordneten Gejhichtsdarftellungen, des Kaifers uner-
jättlihe Groberungspolitif j—harf verurtheilt und feine Perfon bitter
feitifirt wurde, wofür befonders Lanfreys Werk den beiten Beweis
fiefert, und zulegt noch Taine feine geiftreihe, aber fchonungslofe
Analyje von Napoleons I. Charakter und Perfönlichteit gegeben hat,
it in den legten Jahren wieber ein gewiffer Umfchwung in ber
Auffaffung feines Charafters eingetreten. Die parlamentarifche
Corruption, die Unfähigkeit der fortwährend wechfelnden Regierungen,
ebenfo wie der Kammern haben das demofratifch-parlamentariiche
jem in weiten Streifen völlig discrebitirt und man fehnt fich
inftinetiv wieber nad) einem wirklichen SHerrjcer, einem genialen
Manne, der mit ftarfer Hand das Staatsfhiff leitet. Diefe Stim-
mung fommt auch der Beurtheilung Napoleons I. zu Gute; feine
Perfönlichleit beginnt den Franzofen wieder in einem günftigeren
Sichte zu erf—einen. Bejonders über fein Privatleben, den Hof,
das Treiben in den Tuiferien find im Lepten Jahrzehnt zahlreiche
Schriften veröffentlicht worden, unter denen die Denfwürdigfeiten
der Arau von Nemufat und nod) mehr ihre Briefe die erfte Stelle
einnehmen. Im neuefter Zeit hat fich befonbers Friedrid Maffon
"2 Litterärifche Umfchm.
mit der Perfönlichfeit Napoleons I. beichäftigt, zuerit in feinem
Yuce Napoleon I. und die Frauen und dann in dem Werke
Napoleon I. zu Haufe. Der Tageslauf in den innern Gemädern
der Tuilerien. Beide find von Csfar Marfcall von Vieberftein
ins Deutiche übertragen‘). Das zweite Fient uns in dritter Auflage
vor. Maiton's Puch giebt eine fehr intereffante Meberfiht über das
tägliche Leben des Naifers; wir jehen Napoleon recht eigentlich im
Schlafroct, ja im Bette, wir lernen alle feine Cigenarten und eigen“
!hümlichen Gewohnheiten fennen, erfahren feine Tageseintheifung
und werden mit feinen Aerzten, feinen Kammerdienern und feiner
geibwache befannt gemacht. Cbenfo wird une bie mechfelnde Alci-
dung Napoleons I. genau beichricben, wir wohnen feinen Mahlzeiten
und Abenderhofungen bei und werben mit der peinfich genau betinmmten
Hofetifette vertraut. Xor allem aber gewinnen wir durch Vaifon’s
Durch einen vollen Einblick in die raitlofe Thätigfeit und unermüb-
fiche Arbeitskraft des Naifers. Er arbeitete eigentlich ununterbroden
die ganze Woche hindurch und zeinte fc der Vevölferung nur am
Sonntag; noch am Abend fnät jah er an feinem Arbeitotifch und
ichen. in der Nacht Ins umd arbeitete cr wieher. Nur auf dieje
Weife war es ihm möglich, allen auf ihn einbringenben Anforde
rungen zu genügen, zumal da er fich in allen wichtigeren ragen
die perfönlihe Enticheidung vorbehielt. An Arbeitiamfeit und umer-
müblicher Erfüllung feiner Negentenpflichten Fam ihm feiner ber
Fürften jener Zeit aud nur entfernt gleich, er leftete darin wirffich
Benwunderungswürdiges. Maifen’s Werk it in feichtem und fliefendem
Stil geichrieben. die Daritellung lebendig, 6 bietet eine beichrende
und zugleich angenehme Lecture. Die Weberiekumg üft lesbar, aber
nicht ausgejeichnet.
In die Napoleontiche Zeit füllt zum
Thätigfeit des Grafen Neinhard, d
oben Wilhelm Can in einem bedeutenden, auf mehrjährigen
Stubien und reichen fitterärifchem Material beruhenden Buche
geichildert hat?). „Aus einem Würtembergifchen Wagifter Tann
Alles werden,“ dies befannte Wort findet auf Neinhard feine
33 Eeipzig, Heinrich Schmidt & Cart Günther. 3 M. 60 Pi.
>) Bamberg. 6. C. Buchner. 10 M.
Litterärifche Umfchau. 43
volle Anwendung. Ein an Umfhwüngen und Wechielfällen reiheres
Leben als das feinige läßt fi faum denen. Gin Zögling bes
theologifchen Stiftes in Tübingen, eifriger Dichter und begeifterter
Verehrer der Kantjhen Philofophie, wird er Vicar bei jeinem Later
in Balingen. Dann gebt er nad) der Schweiz, wird Hauslchrer in
Bordeaux, wo er, ein Ichwärmerifcher Anhänger Rouffeau's und von
foomopolitiichem Freiheitsfinn erfüllt, in ben Kreis der Männer
gerät, welche ipäter unter bem Namen der Girondiften fo befannt
geworden find. Mit Jubel begrüßt er die evolution und ging
mit feinen renden nad Paris, wo er bald eine Stellung im
Minifterium des Auswärtigen fand und zur Schredenszeit mit Mühe
der Guillotine entging. Darauf wurde er Gefandter der franzöfifchen
Nepublif bei den Hanfeftäbten, organifirte dann in Toscana die
Hepublif und war 1799 drei Monate Diinijter des Auswärtigen in
Franfreic als Talleyrands Nachfolger. Napoleon ernannte ihn zum
Gejandten bei der hefvetifchen Nepublit und dann wieder in Hamburg;
er Fichte Neinharb nicht und ließ ihn feine Ungnade burdh die
Ernennung zum franzöftfchen Nefidenten in Nafiy, was eine Art
Xerbannung war, fühlen. Dort geriet Neinhard in ruffifche
Gefangenfchaft, aus der er bald wieder befreit wurde. Nachdem er
dann urze Zeit aus dem Staatsdienit geichieben war, beitimmte ihn
Napoleon zu jeinem Gefandten in Kafjel bei König Jerome; er follte
deifen Benuffihtiger und Mentor fein. In biefer fÄhwierigen
Stellung bat Neinhard von 1808 bis 1813 gewirkt. Nach Napo-
leons Sturz ichloß er Fi Ludwig NVII. an und blieb ihm aud)
während ber 100 Tage treu. 1816 wurde er franzöfiicher Gefandter
am deutjchen Vundestag in Frankfurt a/Dt. und bekleidete dies Amt
bio 1829, wo er feinen Abfchied nahm. Unter Ludwig Philipp
wurde er Pair von Frankreich und Mitglied der Afademie der
moralifcen und politihen Wiffenichaften, er ftarb 1837 zu Paris.
Talleyrand, obgleich jhen dem Tode nahe, hielt ihm in der Afademie
die Gepähtnißrede, in der er übrigens fih auf Koften Neinharb’s
verherrlichte. Welche Wandlungen muß der Plann durchgemacht
haben, welher es vom Tübinger Stiftler und Freiheitsihwärmer
zum Napoleonifchen Diplomaten und Pair von Frankrerch gebracht
hat! Nine aus dem Fosmopofitifchen Geifte des vorigen Aahrhunderts
it ein foldhes freimilliges Aufgehen in eine andere Nationalität zu
4 Sitterärifche Umfchau.
verjtehen. Vollfommen war jie doch nicht, denn Reinhard fühlte
fich nur politifch als Aranzoje, dem Gemüthe, dem innern Leben
nad blieb er Deutfcher und verleugnete in jeiner äußern Unbeholfen:
heit und fchwerfälligen Nede bis zulegt nicht den Schwaben. Durch
diefe Doppeleit feines Wejens Fam ein tiefer Zwielpaft in fein
Leben, den er oft genug fchwer empfand und der feine Gemüths-
ftimmung verbüfterte. Mehr als einmal hat ev daran gedacht, Frant-
reich ganz zu verlaffen und fid) dauernd in Deutichland wieder an:
zufiedeln, aber Gharakterichwäche und Ehrgeiz ließen biefen Entichlufi
nie zur Ausführung fommen. Einem charakteritarfen Manne wäre
6 and) unmöglid) gewejen, nad) einander der Nepublif, Napoleon
und Ludwig XVII. zu dienen. Neinhard aber lieh fc, wie er
05 bezeichnete, vom Schiejal treiben und erfüllte in jedem Amt
teeu feine Pflicht, wie jchwer fie ihm aud wurde. Und welche
Aufgaben hatte er zu erfüllen! Am Hofe Ieromes muhte ex nicht
nur den König überwachen, jondern auch, den Epäher und Aufpafier
auf alle deutjchen Negungen und Erhebungsverfuche machen. Als
Yundestagsgeiandter hatte er die Aufgabe, die früheren Rheinbund:
itaaten unter franzöfifchen Schug zu nehmen. Lang fchliet feine
Charakteriftit Neinhards mit den treffenden Worten, er fei das
Tehrreichite Beifpiel von deuticher Treue für fremdes Volfsthum, er
hätte aber hinzufegen follen, gegen das eigene, und darin liegt das
Widerwärtige und Abtohende von Neinhard’s ganzer Lebensthätigkeit.
E. M. Arndt hat dody nicht unrecht, wenn er Neinpard den deutjchen
Apoftaten, den willigen Schergen des Forfiihen Zwingheren nennt
und gegen feine Verherrlichung eifert. Neinhards zwiefpäftiges
Weien ft der ftrafenden Nemefis nicht entgangen. In feinem
Adoptivvaterlande war er niemals vecht beliebt und wurde als
Diplomat zweiten Nanges bald vergefien; mo feiner fpäter noch ge:
dacht wurde, geichah es mit Geringichägung oder gar mit erum-
alimpfung. In Deutfchland dagegen wurde er über Gebühr hod-
aefbägt und gepriefen und blieb eben wegen feiner wunderbaren
ebensentwicklung vom fehwäbifhen Pfarrvicar zum frangöfifchen
Gefanbten und wegen feiner zahlreichen freumdfchaftlichen Beziehungen
unvergeffen. Durch feine Frau Chriftine Neimarus gehörte Reinhard
jener befannten, ganz von aufflärerif—en und freigeifteriihen Inte:
vefien erfüllten Hamburger Familie an, der Leffing einft fo nahe
Kitteräriiche Umfcan. 45
geftanden hat. Durch fie fan Reinfarb mit vielen bedeutenden
Männern der damaligen Zeit in Verührung. Der Glanz feines
Lebens aber war die Freundidaft mit Goethe, dem er 1807 in
Narlsbad nahegetreten mar und mit dem er Dis zu deo grofen
Dichters Tode in lebhaften brieflihen Gedanfenaustaufch jtand.
Goethe fprad) fid) gegen ihm über bie Zeitverhäftnifie fowie über
die fitterärifchen Richtungen und Perjönlichfeiten offener und vüd-
baltlojer aus als gegen die meijten feiner jonitigen Gorreipondenten,
wie dag der jhon vor 45 Nahren gedrudte inhaftreiche Briefwechjel
zwifchen beiden ausmeift. Unter den zahfreichen von W. Lang ver
öffentlichten Briefen nehmen die nad Inhalt und Form gleich an-
zichenden von Frau Chriftine eine ber erften Etellen ein. Aber
aud) jonit enthält das Yud), defien Inhalt ein reicher und mannig:
faltiger ift, bewerfenswerthe Beiträge nicht nur zur politifchen
Geschichte, jondern auch zur Kenntnif; der fitterärifchen und Guftur:
verhäftniffe der denfwürdigen Periode vom Tode Friebrids des
Großen bis zum Sturze Napoleons. Sehr zu bedauern ift 08,
dafi es Lang nicht gelungen, Einfiht in den zu Paris von einem
Nacjeommen ftreng verfchlofien gehaltenen Nachlaß Neinhards zu er:
langen, in dem fi Aufzeichnungen des alten Dipfomaten über die
wichtigeren Abjchnitte jeiner politifchen Thätigkeit vorfinden follen.
Wenn fih nad) deren Bekanntwerden wohl im Einzelnen Manches
in der vorjtehenden Lebensfchilderung modifieiven wird, im Großen
und Ganzen werden die Nefultate von W. Lang’s Forichungen
gewiß; beftehen bleiben.
Die Feier von Vismart’s adıtjigitem Geburtstage, die, einen
ganzen Monat während, ihres Gleichen in der beutfchen Gefdichte
micht Hat, erhielt ihren eigentlichen Glanz und ihre wahre Weihe
durd; die Neden und Anjprachen, welche der große Staatsmann mit
itets friiher Geiftesfaft und umerichöpflicher Gedanfenfülle an die
Deputationen umd Huldigungszüge richtete. Diefe Zeugnifie keffter
pofitifcher Weisheit, die zugleih mit bewunderungswürdiger Kunjt
und Gewandtheit an die befondern Verhältniffe der verihiedenen
glüchwünfchenden Gruppen anfnüpften, verbienten «6 in vollitem
Mafe, and) jpäter nad gelefen und beherzigt zu werden. Go war
daher ein glüdlicer Gedanfe von Karl Wippermann cine voll:
jtändige Sammlung diefer Neben und Anjpradhen zu veranftalten;
46 Litterärifhe Umfchau.
fie ift unlängft unter dem Titel: Fürit Bismard’s 80. Geburts
tag. Ein Gedenfbuch erihienen!). ALS Cinleitung ift der
Veridht über die bedeutfamen Huldigungen der Deutichen aus Pojen
und Weitpreufen vorausgejchidt. Cs werden dann jedes Mal die
Anpradien und Glücwunfchadrefien der Deputationen und Vereint
gungen mitgetheilt und dann die Erwiderungen des Fürjten gegeben
In einem handlichen Bande hat man fo alle Erinnerungen jener
glänzenden Tage beifammen. Da fo viel geboten wird, fann man
den Wunfd nicht unterdrüden, der Verfajier hätte dod) noch einen
ritt weiter gehen uud eine kurze Beichreibung der Fejtlichfeiten
hinzufügen follen. Wei diefer Gelegenheit drängt es uns mit einigen
Worten der großen von Dr. Horft Kohl veranftalteten Fritifchen
Ausgabe der politifhen Neden des Kürten Bismard zu
gedenfen, die nunmehr mit dem 12. Bande abgejchloffen vorliegt).
Wir haben den erften Yand biefer Nusgabe an einem andern Orte?)
jeiner Zeit eingehend bejproden und den Werth und das Verbienit
derfelben gewürdigt. Dept wollen wir in aller Kürge über den
Inhalt der folgenden Bände berichten. Yand IT bis IV umfajlen
die Zeit von 1862 bis 1870, aljo die Periode, in welcher Vismards
glänzende atsfunit in beftigem Widerftreit mit der Volksvertre
tung die größten Erfolge errang. Der Herausgeber Hat alles zum
Verftändniß der Neden Bismards Erforderliche, ja nur Wünjchens
werthe hinzugefügt, fo gleid) im IT. YBande eine Furze, aber injtrue
five Vorgeihichte des Conflicts als Ginfeitung vorausgeicict. Aud)
die wichtigen Commiffionsverhandlungen find, fo weit Bismard an
ihnen theilnahm, volljtändig mitgeteilt, jo die denfwürdige Nede am
30. September 1862, in der Vismarcd das berühmte Wort von
der Herftellung ber deutjchen Einheit durd) Eifen und Blut (fo, nicht
wie gewöhnlich umgefehrt lautet es anthentiich) iprah. Aud) Bis-
mards große Denkjchrift über die jchleswig-holfteiniiche Frage wird
zum Verftändniß der Situation abaedrudt. Amı IV. Bande wird
wieder eine Furze inftruftive Worgefchichte des deutjch franzöfifchen
Nriegeo gegeben und die dazu gehörigen Atenjtüce mitgetheilt,
’, Münden, E 9. Ved’jce Verlagsbuhhandlung. 3 M.
?, Stuttgart, Verlag der F. 6. Gotta’jchen Buchhandl. Nachfolger, a 8 M.
%) Düna« Zeitung 189%, Nr. 212-214
Litterärifche Umfcan. 17
ebenfo die wichtigiten auf die Herftellung des beutichen Neiches fi
degichenden Adreffen und Anfprachen binzugefügt. Band V bis VII
umfafen dann die Zeit von 1871 bis 1879, die Periode des Nulturs
fampfes, der wiederholten Steuerreformpläne Bismards, d
bahnverjtaatlichung und des Soctaliitengefepes. Der größte Theil
der Reden des Fürften in diefen Bänden beichäftigt fi mit dem
Kuftutampf, für deifen Vorgefchichte die wichtigiten
mitgetheift werden, im Anfang
fege abgedrudt. Die von beiden Seiten mit leidenichaftliher Erre
gung damals geführten Nämpfe treten in den Neden Vismard’s dem
Lejer mit vollfter Lebendigkeit vor Augen. Der VII. Band leitet
zu der großen von Vismardt durchgeführten Steuer: und Wirthichafts-
veform herüber, deren Lorgeichichte Nohl ebenfalls in Iehrreicher
Zufammenfafjung befeuchtet. Der jchwere Kampf, in dem Bismard
diefe Neformen durchfegte und bei dem die bisher jo mächtige na-
tionalliberale Partei in Cppofition zum Kanzler trat und daburd)
ihre einflußreihe Stellung einbühte, erfüllt die Neden des VILL-
Bandes. Die Neden des IN. Yandes, von 1881 bis 1883 reichend,
bejchäftigen fich mit der grohartigen, ganz aus Vismard’s Geifte
bervorgegangenen Arbeiterichuggeiehgebung und beziehen fi) weiter
auf den Anfchluh Hamburgs am das Zollgebiet des deutichen Neichs,
zu dem der Kanzler trog alles heftigen Widerftrebens Hamburg
Aud) die Neden des N. Yandes beicäftigen fid) mit der
Fürforge für die Arbeiter, insbefondere mit der Unfallverficherung.
andererfeits mit der Verlängerung des Socinlijtengefeges. Dazu
fommt dann die Nolonialpofitit, die Viomard jeit 1855 energijch
betreibt. Auf fie und die Zollpolitif beziehen fi) and) die Neden
des XI. Bandes. Eine der gewaltigiten Reden Vismards ijt die
vom 13. März 1885, in der ex fih mit dem größten Naddrud
gegen den Hader der Parteien md dns Webergemicht der Partei
interefien wendet und mit dem berühmten mpthologijcen Hinweile
auf Xofi und Hödur jchloß. Enplid) Fommt in diefem Bande die
Wendung in der Kolenpofitif der Negierung und das energifche
Vorgehen gegen die nalionalpofnif—hen Beftrebungen in Pofen zur
Sprache. Der XI. Yand umfaßt die Neden aus den legten Jahren
von Vismard’s Anntsthätigkeit von 1886 Bis 1890. Zumäcit
handelt es fich in ihnen um die völlige Beilegung des Streites mit
48 Litteeärifche Unfchan.
der fatholifchen Kirche: alle dahin gehörigen Aktenftüce find beige
fügt. Dann titt Vismard auf's Entichiebenjte für die Erhöhung
der Friedenspräfenzitärke des Heeres ein. Als der Neichstag fie
verwoirft, erfolgt die Auflöfung deiielben und die Vildung des Car
tells. Am 6. Februar 1888 bielt dann Wismar jene mächtige
Rede, deren Schlufwort: Wir Deutfche fürchten Gott, aber Tonit
nichts in der Welt, einen Beifallsfturm innerhalb und außerhalb
des Neichstages Hervorrief. Diefe Rede ift nach Anhalt und Um
fang — fie dauerte 21/, Stunden — eine der größten, bie Vie:
mare je gehalten hat md zugleich die Iete aus der Neihe jener, in
welchen er feine Politif dem Reihstage in großem Stil entwickelte.
Von monnmentaler Größe, chlichter Einfachheit und ergreifender
Herzensbewegung ift dan weiter ber Nachruf, welchen ev am 9. März
1888 Naifer Wilhelm T. im Neichstage widmete. Den Schluß des
Bandes bildet die authentifche Daritellung der Entlajfung Vismards.
Aedem Bande it ein forgfältiges Perjonen- und Sadhregifter
beigefügt. Wo es nöthig, begleitet der Herausgeber den Tert mit
Anmerkungen, in denen er auf frühere Aeußerungen Bismard’s hin
weift oder die Stellen aus den Neden der Abgeordneten, auf die
Vismard fd, jpeciell bezieht, wörtlich mittheilt oder endlich erfäu-
ternde VBemerfungen giebt. Mit Net nennt fd diefe Ausgabe eine
fritifche, denn der Tert der ftenographiidien Protofolle ift forgiam
geprüft und viele Fehler darin find von H. Kohl verbefiert worden.
Visweilen ift der Herausgeber freilich unferes Erachtens zu weit
genangen und hat an manchen Stellen die jtenographiichen Berichte
geändert, wo deren Wortlaut uns feiner Beanftandung zu nnterliegen
scheint. Vefremdet hat cs uns und wohl aud) mandje andere Lejer,
daf; der Herausgeber es für nöthig gehalten hat jedes Iateinifche
Gitat nicht nur, fondern aud) jebe Inteinijehe Wendung in ben A
merfungen zu verbeutjehen, ebenfo aud) jedes Inteiniiche und griedhiiche
Fremdwort. So um nur ein paar Veifpiele aus dem NIT. Bande
anzuführen, wird heterodox, furtim, pretium affectionis, bona
fides, ja jogar salus publien überfegt. Diefe Ueberfepungen der
befannteften und gewöhnlichften Nusbrüce jcheinen uns mit dem
ganzen Charakter diefer grohen Ausgabe im Miderfpruch zu ftehen
und wirfen geradezu ftörend. Für gnoranten, die folder Beleh
rung bebürfen, find bod) weder Wismard’s Neben gehalten noch it
Sitterärifche Umfchan. Ei)
für fie diefe Ausgabe bejtimmt. Die Vanquiers, Naufferen und
Grofinduftrielfen, die folder Belehrung allenfalls bedürften, haben
ja ihren Büchmann und Heyfe, aus denen fie fid im Nothfalle die
erforderliche Auskunft holen fönnen. Im Neichstage haben gewih,
als Bismard die Neden hielt, auch Dance gejejlen, denen das La=
teinifche fremd war, aber der Kanzler hat es doch nicht für möthig
gehakten, deshalb gewohnte Ausprüde aus den alten Spradien zu
vermeiden. Es wäre ein frauriges Zeichen für den Verfall der
Haffifchen Bildung in Deutichland, wenn wirklich weite Kreife der
Gebilveten jolcher Ueberfegungen bebürften.
Dieje nun abgefchlofiene Ausgabe der politiichen Neben Bis
mards ijt ein wahrhaft monumentales Werk, deffen würdige, einfad)
vornehme Ausitattung der Größe und dem Merthe des Inhalts
entfpricht. Da der Preis diefer Ausgabe ein verhälmißmähig
höherer iit, jo wird die Sammlung der Neben Bismard’s von
Böhm und Dove daneben ihre Geltung und Verbreitung behalten
und geringern Aniprüden werden die Auswahlen von Ilracmer
und Stein genügen. Aber für den Hiltorifer, den Staatsmann,
den Politifer und Publicijten wird Kohl’s Ausgabe der Neden
Bismard’s unentbehrlich und allein verwendbar fein und bleiben.
Ein unermeßliher Schat volitiicher Weisheit, vrigineller politischer
een, mäcjtiger Anregungen it in biefen Neden dem beutichen
Volfe und den deutfchen Staafsmännern zur praktischen Venugung
und Aneignung dargeboten; die Gegenwart jcjeint es nicht zu ver:
ftehen, davon rechten Gebraud) zu machen; um jo nachhaltiger und
erfolgreicher wird cs, dejjen find wir gewiß, die Nachwelt thun.
Am 4. December n. St. find es hundert Jahre, dah einer
der größten und originelfften Geifter Großbritanniens das Licht der
Welt erblidt hat, der Schotte Thomas Garlyle. In diefem Anlaf
ift kürzlich erfcienen: Chriftian Rogge, Thomas Garlyle. Ein
Gedenkblatt zur hundertiten Wiederkehr feines Geburtstages'). Dieje
Schrift it troß aller Kürze eine recht gelungene Zujammenfaffung
aller wejentfi—hen Momente in Garkyle’s Leben und Entwidlungsgang
und fie giebt zugleich eine gedrängte Weberficht über feine hervor:
ragendjten Werke, wobei namentlich feine Vedeutung auf jocinfem
') Göttingen Bandenhold & Nupreht. 1 M. 20 Pi.
50 Citterärifche Umfchau.
Gebiete hervorgehoben wird. Nogges Büchlein ann allen, bie bisher
von Garlyle wenig oder nichts wußten, warm empfohlen werden;
fie wird als Einführung in die Lectüre und das Stubium feiner
Werte ehr gute Dienfte leiften. Wer fich dann eingehender mit
Garlyle zu beichäftigen und genauer mit feinen Werten befannt zu
machen Neigung empfindet, dev wird das Bud) von Schulze-Gaevernig
zu Nathe zu ziehen und vor allem Frondes große Biographie zu fndieren
haben. Wir müfjen an diefer Stelle der Verfudjung wideritehen auf Garz
Inles Bedeutung als Hiftorifer und focialer Schriftitellernäher einzugehen
fowie feine außerordentliche Berfönlichkeit und fchriftitelleriiche Eigen-
art näher zu charafterifiren: wir Hoffen, das bald bei einer andern
Gelegenheit thun zu fönnen.
Beiträge zur deutichen Litteraturgefchichte enthalten die Eleinen
Schriften von Franz Kern, von denen unlängit der erite Band
unter dem Titel: zu deutfchen Dichtern erfchienen it!). Der Ver-
feifer, ein verdienter Pädagoge, zuleht Director des Fölnifchen Gymna-
fiums in Berlin, hat fi durch einen umfafjenden, tief eindringenden
Gommentar zu Goethes Tafio und din eine jeharffinnige Neform:
iohrift über die deutjche Zaptehre, Fowie durdy eine eingehende
Aürdigung von Nücerts Weisheit des Brahmanen bekannt gemacht,
außerdem eine inhaltweiche Biographie des Stettiner Schulmanns
und Dichters Ludwig Giefebrecht geihrieben. Die in dem vorliegen:
den Yande vereinigten Auffäge find von dem Sohne des Verewigten
sufanmengeftellt worden, der auch cin anfpredendes Lebensbild
Franz Kerns vorausgeiciet hat. Die 12 Auffäge behandeln faft
alle neuere Dichter, nur der erite Über Angelus Silefius geht in
eine frühere Zeit zurüd. Der Verfafier Hält fi) bei der Bejpredung
der einzelnen Dichter von allem Rhraienhaften und Ucberihwänglichen
fern, feine Charakteriftifen find in ruhigem, mitunter etwas Fühlen
Tone gehalten. Mean erkennt leicht, daß ihm das Nomantifche,
das eigentlich Pyrifche ferner ftcht und daf; feiner imnern Neigung
und Richtung mehr die Gedanfeniyrit zufagt. Daher erörtert Stern
Schillers Jdeale vom Menfchenglüct in vortrefflicher Weile und giebt
von Ar. Nückert, der fein Liebling it, eine jchöne und treffende
Charatteriftit, aud) Senaus Pocfie entwicelt er mit Sympathie in
) Berlin, Nicolaice Verlagssuchhandfung. 3 M.
itterärifche Umfchau. 31
einem anziehenden Vortrage. Dagegen jcheint ms Nern Upland
und bejonders Eichendorff nicht voll zu würdigen, wenn c aud) in
deren Chorafteriftifen wie anders wo nicht an feinen Bemerfungen
fehlt. Gegen Platen endlich ift er gradezu ungerecht, indem ex ihm
das wahre Dichtertafent gänzlich abipriht. Das; zulegt Feliv Tahns
Dichtung Harald und Theamo eine eingehende Veipreduug und
Würdigung findet, hat uns jehr gewundert. Diefem jchnellichrei-
benden Autor der Tageslitteratur ift Dadurch, wie durd) die Anreihung
an die wirklichen echten Dichter eine fehr unverdiente Ehre zur Theil
geworden; wir begreifen nicht, wie ein jo feinfühlender und ar
urtheilender Mann wie F. Kern in einen folden Jerthum hat vers
fallen fönnen. Die Auffäge diejes erfien Yandes bieten eine gute
Einführung in das Verjtändnif der bedeutenditen Dichter diejes
Jahrhunderts; der zweite Wand, deifen Ericheinen man wohl bald
entgegenfehen Fann, wich wahricheinfich eine weitere Folge von wohl:
durchdachten und belehrenden Charakterüitifen bringen.
Bei ber ion der „Balt. Mon“ find ferner folgende Schr
Veiprehung eingegangen:
od, Mar, Geihichte der deutichen Litteratur. GHeichent-N
(Stuttgart, ©. I. Göfhewice Verlagsbuchhandtung.)
Kurz, Irolde, Nalienifche Erzähfungen. (Cbendateibft-)
Münd, Wilbelm, IAnmerhmaen zum Tert des Lob
N. Gaertnar’s Verlag.)
Koch, 6., Beiträge zur Gejdichte der politiicen Joren und der Negierungs:
prayis. 2 Bünde,
1. Abfotutismus und Parlamentarismus.
1. Demotratie und Konftitution. 1T50--1791. (Ebendai
Neuß, Eleonore Fürftin v, Philipp Nathufns Yargendjahre.
(Berlin, W. Serh.)
Aus dem Leben Theodor dv. Vernhardi's. Fünfter Band: Tagebuc)
blätter aus den Fahren 1863-1861. (Leidzig, S Sigel.)
Das deutihe Reid von 1871-1895. Ein biftoriher Nücbtid auf
die erften 25 Jahre. (Berlin, N. von Derer's Verlag.)
Mütter, Dr. Z., Das Wefen des Humors. (Münden, U Lüneburg.)
Euttner, WG. v, Ein Dünen. Roman aus der Gegenwart. (Dresden
€. Pierfon's Verlag.)
zur
gabe, ach.
, abd. (Berlin,
52 Sitterärifche Umfhau.
Grolfer, Balduin, Zehn Geichidten. ‚(Ebendajetbit.)
Kreper, Mar, Ein Unberühmter und andere Gefhichten. (Ebendafelbit.)
Niemann, Aug, Der Agitator. Roman. (Ebendafelbit.)
Kaemmel, ©, Zalieniiche Eindrüde. (Leipzig, Fr. W. Brunow.)
Bähr, Dr, D., Gefammelte Anffäpe. MM. Band. Mufläpe politifchen,
foginfen, wirthfcjaftlichen Inhalts. (Ebenbafefbit.)
Earipte, Thomas, Soziatpolitifhe Schriften. Aus dem engliichen über.
don €. Pianntuce. Mit einer Einleitung und Anmerkungen heran
P. Henjel, Privat-Dozent in Strahburg i. Ei.
(Göttingen, Bandenhoed u. Ruprecht.)
Tragddien. Iu newer Ueberfepung von star Hubatjch.
(Bielefeld, Velhagen u. Mafing.)
Fulda, Ludwig, Die Kameraden. Luftfpiel i
(3. ©. Eotta’iche Buch., Nachfolger.)
Vaumgart, Herm., Gocthes Geheimniffe und feine „Iudiichen Legenden“.
(Ebendafelbit.)
her Dentwürdigfeiten. Hrag. von Theodor Sciier
. Band: Jugenderinnerungen des Rrofeilors Afegander
Arvanowitic Nititenfo. Aus dem Auffilden überjept von N. Türftig.
Ebendafelbft.)
Shuige, Dr. Sicnm, Der Zeitgeift der modernen Litteratur Europas
Einige Kapitel zu vergleichenden Litteraturgeichichte. (Dale, Kacme
mern & Co)
Meinede, Friedrich, Das Leben des Generalfeldmarjhalls Hermann
von Boyen. IB. (2. ©. Gotta’fche Buch, Nachfolger.)
Vrümmer, Franz, Leriton der demffchen Dichter und Profaiften des
19. Jahrhunderts. Vierte Ausgabe. 1. Lief. (Leipzig, P. Reclam jun.)
Hartwig, Arthur, Grinmerungen. Vier Erzögfungen. (Arensburg,
Verlag des Arensb. Wochenbl.)
3 Aufzügen. Zweite Aufl.
Beilage
Baltifchen Monatsichrift.
Februar 1896.
Inhalt: Gedichte.
Holde Jugendefelei. Skige von Schtfcedrin.
Kunftbriefe. V. Don J. Worden.
Eitterärifche Umfhau.
Uacydrud verboten.
—
Gedihte
Renjahr!
I neue Jahr tritt Leife ein
Verpüllten Angefichts —
Mag Ichredensvoll die Antlig fein?
Gteicht'8 einem Bild des Lichts?
Sei uns willtommen neues Jahr,
Bas du aud) immer bringft —
Ob weihe iloden in das Haar,
Ob Luft, ob Reid bewingft.
Ob du uns führeft raue Bahn
O6 fanften Blumenweg —
Nur vorwärts führe, nur hinan,
Dann gilt uns gleid) der Steg!
Und zufft du una zu Kampf und Streit,
So gieb uns freub'ge Kraft,
Die unverzagt zu jeder Zeit
Ar Wert des Friedens fhafft.
Die Treue fei unfer Panier,
Die Liebe unfer Schwert,
Der Schild des Glaubens unfre Bier,
So find wir wohl Keisefrt.
*
56
Gedichte.
Und ift ums biefes’neue Jahr
Das Icpte auf der Erd’ —
Billtonmen fei es immerbar,
Benn’s jel’gen Tub beicjeert.
Nicht fremd ift uns das neue Jahr,
3 ift ein Jahr des Her -—
Hoc) über ihm frahlt ervig Mar
Der Gnade Himmelftern.
Sylva Zefa.
Glüd.
Du fragft mich, Kind, „was ift denn Glüd?“ Ya, Glüd?
Was fag’ ic) dir, wie mal’ id) es in Worten?
Num denke Dir: die Herrlichite Mufit
Grklänge Dir in jeligen Aktorden;
Ein tiefer Strom unendlich Mar und groß
Trüg? fie Dir zu; Du brauchteft nur zu Laufchen,
Und Hingeftredt auf üppigeweihiem Moos
Umgäbe Lenzhaud; Die, und Waldesraufchen.
Den? Div dazu der Jugend volljte Kraft,
Das heil'ge Recht, ein Vaterland zu fchühen,
Den frommen Glauben, der da Wunder haft,
Den reinen Etolz, da Schönfte zu befiben;
Vereine das zu einer Harmonie
Und — Tannft Du deine Seele drein verfenfen,
So afnft Du’s wohl; Ded) ganz begreifft Dus nie —
Das Glüd läßt fi nur fühlen, niemals benfen. er
Bergfee.
Der See Liegt tief im Dunllen,
Der Bergwald jcjließt ihn ein;
Gin Sonnenlächeln ftreifet
Die Waffer und den Stein,
Wie Liebesglutherinnern,
Das Leuchtend trofterheilt
Tief in die düftre Grele
Des Weltverlafnen fällt.
Alerander Frhr. von Mengben.
Gedichte, 57
Stimmungsbild.
God) ragt im Ser das Marmorhaus
Unter wehenden Wipfeln;
Da fliegen die Vögel ein und aus
Bon den wehenden Wipfeln;
Der See fehmiegt fofend fich am den Stein,
Dein fviegelt fid) geldner Sonnenichein,
Sch feh’s allein...
Die Wolten droben ziehen fchnell
In gelbem Glanze;
Vald dunfel der Wald, bald wieer Heil
In gelbem Glange;
Ein Kahn fchteimmt in der Fern’ vorbei,
Gefchmücht wie der Nadjen einer Zei,
Die Erd bededen Schatten grau
Und grau den See;
Kalt wehts und tamig vom Marmorbau
Und von dem See.
&o über mein fonnenftoh Gemüth
Urplöplich der alte Nebel zieht —
Und die Hoffnung flieht... .
Victor von Andrejanoff. }
Palm 118
Berb 14: Der Herr ift meine Macht und mein Palın und ift mein Heil,
Der Herr ift meine Macht, mein Heil,
Mein Lobgefang, mein Segen,
Mein Palm, mein Preis, mein töftlic Theil
Auf allen meinen Wegen ;
Der Here ift meine Zuverficht,
Mein Troft, mein Glüd, mein helles Licht,
Ich will dem Heren Iobfingen.
58
Gedichte.
Des Herren Rechte muß ja boch
Den Gieg zuleht behalten,
Er waltet als ein Herrfcher noch
Und wird aud) ewig walten;
Des Herren Rechte ift erhößt,
Und wer zu ihm um Glauben fleht,
Den wird ex nicht verlaffen.
Im der Gerechten Hütten Mingt
Des Herren Lob mit Schalle.
Des Herren Sieg mit Freuden fingt,
Die ihr ihm bienet, alle!
Den Tod zerbricht fein Heilig Wort,
Ic) werde Ieben, fort umd fort
Des Herren Ruhm zu finden,
Balter Remy.
IE
Macbrud verboten.)
Holde Zugendeielei.
Aus dem Ruffifcien des M. €. Sfaltyloff (Schtihedrin).
Se ift Abend. Der junge Dichter Kobyljnikor (gleichzeitig Tiich-
vorfteher der Goupernements-Berwaltung) figt brütend vor
einem fanber bejchriebenen Bogen Papier in feinem bejcheidenen
Stübden und faut mit unfäglichem Ingrimm bald an der
Feder, bald am feinen Nägeln. Cs geht fchen auf fieben;
nod eine Stunde, und die Wohnung des Nathes Lopatnitow
erftrahlt im heiteren Slanze der Weihnachtäferzen ; noch eine Stunde
— und fie tritt in den Saal, in einem kurzen weißen leibchen
(den leider zähft fie erft fünfgefn Sommer) frifd und fröffid)
und umtoittert von dem Duft Tieblicfter Unjchuld.
„Nun Herr Kobyljnitow, Haben Sie Ihr Wort gehalten ?“
fragt fie ifn.
Bei diefem Gebanten fpringt Kobyljnifow wie von der Tarantel
geftochen in die Höhe umd greift mit beiden Händen nad) feinem
Kopf. Er beginnt einzujehen, daß er feinem Gebicht ein gar zu
breites Fundament gegeben Hat. Echon zwei Strophen, jede von
adıt Verjen, find fertig und fauber abgefchrieben, dad; nad) der.
Entwiclung, die der Grundgedanke dabei erfahren hat, läßt fi
au nicht annähernd abfehen, worauf das Gedicht Hinauslaufen
werde. Gr hat ber erblühenden Schönheit bes jungen Mäbchens
fon einen reichen Tribut ber Vegeifterung gezollt; er hat bereits
60 Holde Zugendefeei.
bes NMeidhens gedacht, bes Lilienhaljes, ber „Wänglein gleich
Hlaumigen Pfirfhen® und endlich auch,
Etwas, was ich gern befänge,
Aber gar nicht nennen darf!
Sept Iegt er fi) bie Frage vor, wer alle biefe Schäge
befigen foll: ber fchlotternde Greis im Sifberhaar, oder der Dichter,
ber fchtuarzgelodte?
Sag’ mir, wefjen Helbenantlig
Diefes Herz dereinft entflammt ?
Ber den Pfirfih. . . .
Aber da verfagt ihm die Phantafie endgiltig den Dienft. Ein
Reim auf Antlit will fi nicht finden Tafjen; er geht ba ganze
Alphabet durch und findet nichts als „Bandlig", „Cantblig“,
nDantlig*, „Bantlig*.... der Teufel Hole diefe Ungereimtheiten!
„Nein — aber was nun? was mm?“ fößnt er in heller
Verzweiflung. „Soll ich denn gleich das erjte Mal zum wort-
brüdigen Schurken werden ?“
Aber die Beit fließt unterdeijen, taub gegen feine Verzweiflung,
unaufgaltfam dahin und rückt ben Zeiger der Uhr erbarmurgslos
vorwärts — Kobyljnifom blidt fchmerzvoll auf: nur noch 5 Minuten
biß fieben.
„Nein! um nichts in der Welt gehe id) Hin!“ ruft er aus
und finft in tieffter Erihöpfung auf den Stuhl zurüd. „Lieber
bfeibe ich Hier ganz allein figen, Tieber gehe ich ohne Abendeffen
fchlafen, als da id) zum Schurken werde!"
„Bandlig!* Höhnt unterdefjen eine unbarmberzige innere
Stimme”
„Pfui über biefe Niedertracht! Wie mer dieje Dummheiten
in’3 Gehirn kommen! Da ift weder Sinn noch Verjtand 1!
KRobyljnitor fpeit aus vor Werger.!
„Um nichts in der Welt gehe ich Hin!“ wiederholt er, ver-
finft aber doch wieder in tiefes Sinnen,
Die Jugend beginnt im mit femeichelnden Stimmen zuzte
reden. Bor feinen Augen erfcheint der Kerzendurdhftrahfte Saal;
in ber Mitte fteht der Weißnachtsbaum mit Bändern und gliperndene
Flitterrverk gefchmüdt, bie Biweige gebogen von der Laft ber
‚Holde Iugendejelei. 61
fodenden Näfchereien. Und dort ift aud) das weiße Stleidchen
und das liebliche Gefichtchen, umrahmt von dunklen Locen. Hinnmel!
welche Anmuth in den Linien diefes Untliges! welche ZFrilche,
welcher Zauber in diefer eben emporknospenden Mädchenbruft! Und
wie fo Hell und fröhfid) Mlingt ihr glodenreines Laden durd) dei
Saal! Juft jo, wie wenn die liebe Sonne aus trüben Regenwolfen
hervorfugt und Alles ringsum zu freudigem Lächeln erwedt: «8
Tächelt ber Bach, der furz zuvor nod; feine fchlammigen Fluten
träge dahinwälzte; ed lächelt die nahe Wiefe, welde eben noch
ihren Blüthenteppic; vor ben Regen- und Kältefhauern des finftern
Umwetter8 verbergen mußte; «3 Tächelt jelbft der Stantsrath
Voplarfor, ber zwanzig Mal nad) der Reihe am Kartentiiche
ein mürrifches „Pafje“ Hatte vernehmen lafjen. Ad! und num
beginnt fie gar zu tanzen! — und wie jo ganz anders fteht
ihr das, al8 den Uebrigen. Man ehe, ober beffer gejagt, mar
höre nur, wie 3. B. Naftja Poplarofow oder Njuta Smuschtichinstyy
tanzen! „Die Roffe ftampfen, die Erde dröhnt!" Sie dagegen!
Unhörbar, jaft unfichtbar fchwebt fie über den Fußboden dahin,
mit ihren fchlanfen Fügen die Erde Taum berührend, gleichjam
als fehwänge fie fich höher und immer Höher hinauf, um fchtießlich
ganz gen Himmel zu fahren.
Aber außerdem ift auch das Übendefjen nicht ohne Reiz.
Schon wird ber lange Tiich im Hintern Zimmer gedect, und obgleich
die Hände Andrei’s, des Hausfnechts, nicht ganz fauber find, fo
läßt fih doc) bei der guten Kiiche des Haufes feinen Augenblick
daran zweifeln, daß fowohl frifcer Stör, wie fetter gebratener
VBradjs und Alles, was dem Vorabende eines jo hohen Feites wie
Weihnachten gebührt, auf die Tafel fommen werde.
„Und mn muß ich diefes Ped, haben,“ dentt Kobyljniforo,
aber fein Entfchluß ift Schon matter, ohne die frügere Energie der
Entfagung. Weberhanpt) erweift fih, daß die Bilder feiner Phantafie
eine merflid)e Erfchfaffung in feinem ganzen Organismus hervor-
gerufen haben.
Sept [hlägt e3 fieben und Kobyljnitow erhebt fi) mechanifd,
vom Stuhl und begiebt fih zum Sleiderjchranf.
„Bandlig“, „Dantlig!* flüftert plöglic) eine feindliche Stimme
md bringt ihn auf halben Wege zum Stehen.
62 Holde Zugendefelei.
Eine Minute dauert noch der innere Kampf, endlich fiegt
die Jugend. Kobytjnifor wirft fid, eilig in den Frad, blidt noch
einmal auf die zwei zierlich in’8 Meine gejhriebenen Strophen in der
fcwadjen Hoffnung, da fie au) in diefer unfertigen Geftalt ifren
Dienft Teiften könnten, aber bei jorgfältiger Prüfung wollen ihm
die Verfe noch weniger gefallen ala zuvor. Wo Aerger wirft er
fie bei Seite und läuft auf die Straße.
Draußen ift e8 dunfle Nacht, eine jener finfteren fdhauerlichen
Nächte, wie fie nur in abgelegenen Provinzialftädten vorfommen, wo
der Branntweinspächter ned) nicht durch janfte obrigkeitliche Mafregeln
zu der Ueberzeugung geführt worden ift, daß «8 feine Pflicht fei,
den Spiritus für die Straßenbeleuchtung zu fpenden. Ein heftiger,
cneidender Wind Hläft dur; die Straßen, den feinen Schneeftaub
zu förmlichen Säulen emportirbelnd und bricht fic) Heulend unb
winfelnd an den Eden und Dächern der Häufer. Ein wahres Glüd,
daß Kobyljnifow nicht weiter als dreißig Schritte zu gehen hat,
fonft könnte der Wermfte nur glei wieder umkehren und fid
einfam in feinem Poetenftübchen an die Vollendung der verwünfchten
Berje machen.
„Bandlig!" heult der Sturm ihm plöglich mit voller Gewalt
in bie Ohren,
„Pfui zum Teufel!” brummt Kobyfjnitomw und watet, jid)
fefter in feinen Mantel hüllend, mit Anjtrengung durch bie tiefen
Schneemaffen, welde der Wind auf dem Trottoir zufammen-
geweht hat.
Aber da glihert bereit Licht durd) den wirbeinden Schnee,
‚äuerjt fchrwac; wie ein fleiner unftiger Kreis, aber nad) und nad)
wird e3 größer und beftimmter und bie hell erleuchtetden Fenfter
der ftantsräthlichen Wohnung bieten fich dem Auge in ihrer ganzen
verführerifchen Pracht dar.
Halb erftarrt und vor Kälte fhauernd betritt Robyljnitor
den Flur des erfehnten Haufes und e8 bauert längere Zeit bis e&
ihm gelingt, jeine vom Schnee berangirte Toilette wieder in Orbnung
zu bringen.
„Ad, junger Mann, Bitte treten Sie näher!“ begrüßt ihn
der Haushere Ivan Dementjitich Lopatnitom. „Nun wie ftehta?"
Haben Sie die Kapuftnitowfche Sadje erledigt?"
‚Holde Jugenbefelei. 63
„Sie ift fertig!" antwortet Kobyljnitor und benft dabei:
„wenn Du wüßteft, daß ich, ftatt an der Kapuftnifowfchen Ucte
zu arbeiten, drei volle Stunden mit Verjemaden zugebradht habe.“
„Das ift recht, fonft Hätte der neue Chef una Beide mit
Haut und Haaren aufgefrefien.“
Aber während er mit dem Hauäheren fpridt, wei Kobyljni-
tor doch einen forjdjenden Blid zur Seite zu werfen und ba
bemerft er zu feinem unfäglichen Entzüden, daß genau ein ebenfo
forjhender Blick hinter dem Weihnachtsbaum Hervor auf ihn gerichet
ift. Er beeilt fid) daS Gefpräd; mit dem liebenswürbigen Haus:
Herm abzubregen und eilt auf Flügeln der Sehnfucht dorthin,
wo ihm ein Paar warmblieende Augen in Eindlicher Unhänglichteit
ein aufrichtige® Willtommen entgegenftrahlen.
Vieber Lefer! Ic weiß nicht, ob Du jemals in der Provinz
gelebt haft, aber ich, der e8 fich wohl fein ließ zu Wjätla, der da
florirte zu Perm, der fein Leben genoß zu Mjäfan, fich des tiefften
Seelenfricdens erfreute zu Tıver, id) Tann verfichern, daß die Erine
nerungen an ben Weihnachtsbaum zu den lieblichften und unaus«
Töfehlichften meiner Vergangenheit gehören. Erftens weht ein jo
eigener friedenbringender, feiertäglicher Hau) durd) bie Luft und
Tichte freubige Gebanfen werden wach bei dem Anbfit der brennenden
Beihnachtsferzen und diefer vollen rothwangigen Gefichter, bie in
munterem Geplauder und fröfichem Gelächter ihrer Feftfreube
Ausdrud geben. Bweitens aber, was find das dod) für herrliche
Gejchöpfe, diefe Kinder! Wie aufmerffam und gejpannt bliden ihre
Mugen Weuglein drein! und wie jo gar nicht gleichen fie ihren
Vätern, welche gleichfalls Hier umherftehen und mit Ungebulb ben
Augenblid erwarten, wo man fid) an den grünen Tiic) fegen Tann,
oder da3 Signal zum Angriff auf den Imbißtifh und die Flafchen-
batterie gegeben wird. Der eine Vater hat fid) mädjtig in die
Breite gelegt; fein rundes Gefiht fhaut drein wie ein Schweizer
Nabfäfe, jogar die Nafe ift verjchwunden, aber fieh mal an, fein
Söfndsen ift jcjfanf und bräunfich, die Heuglein Bligen mur jo, das
tömifche Näschen ift fein wie gemeihelt. Ein anderer Vater fieht
wie ein Künftler aus: er ift fChwarzäugig, |chlant, bfeih — kurz, wie
man zu fagen pflegt, ein intereffanter jeune homme, aber fein
Söhnchen Hat Aehnlichteit vom Gouverneur und biefer von einem
64 ‚Holde Fugendefelei.
Heujcober. Und num ftehft Du da und bfidjt auf diefe Iodigen
lädjelnden Kinder und denkjt wohl: It es möglich, wird Wanja
wirffic dereinft Rath der Getränfeverwaltung? Wird jene jlinfe
bligängige Zjätjä wirklich einftmals Frau Bice-Gowerneur? Und
bei diefem Gedanfen erfaßt Dich ein leichtes Grauen.
Kolla, mein Freund! la Dein fröhliches Tanzen jein, denn
Du wirft niemals Rath der Getränfeverwaltung! ber PBopanz
tommt und treibt alle Räthe fort.
Kjäljä, mein liebes Kind! drehe Deine runden Aermchen nicht
fo und fege Dein Köpfehen nicht fo coquett auf die rechte Seite,
niete dem Mitja Prorehin nicht jo freundlich zu, denn Mitja wird
niemals Vice-Gouverneur! der Popanz fommt und jet alle Vice
Gouverneure außer Etat — wegen Entbehrlichkeit.
„Nun, haben Sie’S gebracht?" fragt unterdefien Nadjenka
unferen Stobyljnikon.
„Ih... Nadejchda Imanowna, id... ic) habe e8 begomen,
aber noch nicht beendet” — ftammelt Kobytjnifow.
„Ic aber glaube, daf Sie nur geprahlt Habe und gar nicht
dichten können.“
Und Nadjenka jehrirrt davon wie ein Wögelhen.
„Bitte, Nadejchda Imwanorona, id) Habe wirklich jhon vedht viel
fertig. gefehrieben“ ruft Kobyfjuifom ihr mit flehender Stimme nad.
Aber Nabjenka ift jhon längft fort md ziwitichert bereits
unter ihren Freundinnen.
„Sieb fchnell Her!” bittet Nutja Smufchtichinsty.
„Mes dames! wir wollen e3 im Schlafzimmer Iefen*, jagt
Naftia Poplanfow.
„Es giebt nichts zu lefen! e3 war eine Ieere Prahferei! er
fan gar nicht Verfe maden!" antwortet Nabjenfa mit einer
Stimme, der fie mit Anftrengung einen gleichgittigen Ton zu
geben fucht, die aber dennod) vor innerer Betrübniß bebt. „Mes
dames, wir wollen in heute nicht in unferer Gefelljchaft dulden.“
Unterdeffen ift Kobyljnikow Herangefommen.
„Nadjenta!” ruft er mit flehender Stimme.
Nabjenfa wirft das Köpfchen zurüc und fieht ihn fo ftolz
an, daf der arme Poet fic) felbft ganz dumm vorkommt.
‚Holde Jugenbefelei. 65
„Was find das für Vertraulicfeiten?“ ruft fie und dazu
no) jo Iaut, daß Kobyljniforw fid) fcheu nach allen Seiten umbtidt,
denn ihm wird ernftlich bange, Papa Lopatnitom könne diefen ent-
rüfteten Ausruf gehört Haben.
Darauf ftürmt die ganze junge Gefellfcaft in's Nebenzimmer,
den num ganz vernichteten Kpbuljnifow allein lafjend.
„uch, der Arme, wie leid er mir täut“, bemerkt Njuta
Emujhtihinsty.
„Ad; was, ein Prahlpans, weiter inichts!“ erwibert falt-
bfütig die graufame Nadjenfa.
Knbyfiniom fteht da, als hätte er unvermuthet ein Sturzbab
erhalten. In feiner Seele ift e8 finfter und leer und wie zum
Hohn gehen ihm unterdefjen zwei fchlechte dumme Verfe durch
den Kopf:
Gar nichts, gar nichts will mich tröften,
Gar nichts, gar nichts mic erfreur,
Und diefe dummen Derfe junmen ihm wie eine zudringliche
Müde unaufgörlih in den Ohren.
„Was für ein verwünjchter Abend! Buerft jene dummen
finnlofen Reime und nun auch nod) diefe Albernheit!" denkt Kobylj»
nifor und wird voth vor Scham,
Der Gejellfaftsabend aber nimmt unterdefien feinen Verlauf.
Papa Lopatnitow Hat im einem hohen Preferencefpiel dem
Staatsratt; Boplarofo drei Unterftiche beigebracht und das Unglüc
be3 legteren ift thatfädjlic, fo beifpiellos groß, daf alle Antoefenden,
fogar bie Mitfpielenden, ganz gebrüdt und Tpracjlos bafiten, gleich-
fam al3 wollten fie durch biejes trübe Schweigen dem fdhwerbe-
troffenen, ohnehin fchon unter der VBürde einer zahlreichen Familie
feufgenben Unglüdsmann ihr Veileid bezeugen. WBoplartor jelbft
figt da, roth wie ein Krebs, und fcheint noch nicht recht fafjen zu
fönmen, was ihn betroffen hat. Cr vergißt fogar fich den Verluft
anzufchreiben und malt mit dem Finger irgend eine unerhörte Zahl
auf Tuch. Seine Gattin, bie gerade in’3 Spielzimmer hineinficht,
macht fofort Tintzum Tehrt und ruft fo laut, daß «8 die ganze
Gejellfcgaft Hören Tann: „Mein alter Narr verliert natürlich wieder!“
Die Kinder lärmen umd freuen fi. Mitja Borubin fucht
Waffjä Satipkin Har zu madjen, daß er ihm feine Portion Nüffe
66 ‚Holde Jugenbefelei.
abzutreten habe und begründet feine Forderung damit, daß, wer
viel Näfchereien it, mit der Zeit ganz bünne rumme Strohbeindhen
befomme, Manja Kulagin forbert ihren Bruder Safha auf, vor«
zumadjen, wie die Truthühner auf ihrem Hofe „Sdravje shelajem
wasche Blagorodje“ rufen. Senja Borubin, ein budliger boshafter
Knabe, fäuft, ald ob er ahnte, was in Kobyljnitorw’s Seele vorgeht,
auf biefen zu umd zieht ihn wegen jeines Verhäftnifjes zu Nadjenfa
auf, wobei er fi) fogar dunkle Anfpielungen auf gewifje Intimitäten
erlaubt, die zwilhem Nadjenta und dem Primaner Prodorom
beftanden haben follen. Der Iegtere Hat ji in eine Ede zurüd-
gezogen, bohrt fich die Nafe und amüfirt fi) augenfcheinlich vor
güglich dabei. Nobyljnifom, der den boßhaften Porubin gern in’s
Ohr gefniffen hätte, Tann feiner feider nicht habhaft werben, denn
der Feine Catan windet fi ihm, nachdem er fein Gift von fich
geiprigt hat, wie eine Schlange aus ben Händen. —
Nadjenfa flattert inzwiicen im Zimmer Hin und Her und
lacht und fchwapt abfichtlich bejonders laut und fröhlich, wenn fie
an dem erbitterten Boeten vorüberfommt. Diefem hat Senja
Vorubin einen böfen Gebanfen eingegeben.
„Wie foll man auch) nicht fröhlid) fein, wenn der Heißgeliebte
Vrodoromw zugegen ift!“ zifcht er durd) die Zähne als Nadjenta
wieder an ihm ‚vorüberfommt.
Nadjenfa wird bfufroth und macht Miene nmzufinken.
„Was jagen Sie da!" fragt fie, vor ihm ftehen bleibend.
„Nichts! ich fage blos, daß e& fein Wunder ift, wenn gewifje
Zeute vor Freude außer fich find. Der liebe Prodorom ift hier!“
wiederholt Kobyljnifom, mit feinem Uprjchfüffel fpielend.
„Ich Hoffe, dak von diefem Uugenblid Yes zwilhen uns
aus ift“, plagt Nadjenka heraus und entfernt fi augenblidlich.
„Ganz wie Sie befehlen!" ruft ihr Kobyljnifow nach: „was
will e3 denn auch fagen, mic) zu verabfchieden, wenn man den
lieben Procdorow in Referve hat!“
Die Beleidigung erbittert dag arme Heine Herzchen Nadjenta’s
aufs tieffte, und zwar um fo tiefer, als in dem Vorwurf Kobylje
nifow’3 allerdings ein Körnchen Wahrheit ftedt, In der That hat
8 eine furze, aber wirklich nur ganz kurze Zeit gegeben, two Nabjenfa
fich für Prodhorom interefficte, MS frühreifes Kind Hat fie fie) (dom
Holde Jugenbefelei. €7
zeitig ihre eigenen Gedanken gemacht. Ihre Lindifche Phantafie
Hatte Prochorom mit allerlei Tugenden und Geiftesgaben unsger
ichmüdt, bie diefer gar nicht bejaß. Damals hatte fie c3 gelicht,
ihm allein bei Seite zu nehmen und ihm mit einer geroißen
Wichtigkeit gefagt: „Yeht, Prodhorom, wollen wir von Ihrer Zukunft
fpredjen!"
Aber Prochorom Hatte nur eine Bafjion: das Nafenbohren, und
pflegte mit wirklichen Intereffenur von Näfchereien zu fprechen, benn er
war ein nerfättlicher Vielfraß und ein feidenfdjaftliches Ledermaul.
Die Paifion Nadjenfa’3 war bald geihwunden; fie war fogar
überzeugt, daß Niemand etwas bemerkt Hätte....... umd mu
plögtich! Nabjenfa fäuft zum Weihnachtsbaum, macht fid) allerlei
zu fhaffen und [wagt ohne Aufhören, aber das Heine Herzchen
arbeitet heftig und jeher. Mitten in einem Sage fühlt fie plöplic),
daß etwas ihre Bruft beffemmt, daß etwas ihr heiß in die Mugen
tritt. Sie reißt fid) von ihren Freundinnen lo3 und läuft fort in
die inneren Gemächer.
Kobyljnitow fieht Alles mit an, begreift aber nichts. Er fieht
Nadjenfa fröhlich und vergnügt und benft nur: E8 wird ir wohl
das Band von einem Schuh aufgegangen fein, da fie fo jchnell
davonläuft. —
Aber Nadjenka Hat unterbefjen ihr Gefichtchen in’s Kiffen
gebrüdt und benegt e3 mit Heißen Thränen. Unb je reicjlicher
die Thränen fließen um fo leichter und milder erjcheint die Kränkung,
welche diefelben verurfaht hat, um fo mehr drängt fi ihr eim
anderes Gefühl auf, ein Gefühl, das ihr armes Herzdhen gleichzeitig
mit geheimen Bangen unb ganzen Strömen von Freude mb Gtüc
erfüllt.
„D Du garjtiger Kobytjnitow!* ruft fie zum legten Mat
aufichluchzend. „Armer Ditenka!“ wieberholte fie gleich) darauf,
in füßes Simmen verfinfend,
Die Lichter des Weihnachtsbaumes find inzwifc—hen niedere
gebrannt; auf ein gegebene Zeichen ftürzen fd die Kinder in
müßten Durdjeinander auf ihm umd werfen ihn zu Boden. E&
entfteht ein allgemeiner Wirrwarr; man hört Schreien, Winfeln und
triumphirende Ausrufe. Genja Prorubin cntwidelt, tro feiner
Verfrüppelung und Edwäclichkeit, eine erftaunliche Gewandtheit;
68 Holde Jugendefelei.
3 gelingt ihm, faft die Hälfte aller Koftbarkeiten de Baumes in
feine Tafche zu prafticiren. Der Primaner PBrodorom macht au
Diiene, mit den Uebrigen zufammen auf'3 Fouragiren auszuziehen,
aber e8 gelingt ihm auch nicht ein einziges Gonfectchen zu erhajchen,
denn die Kinder mälzen fi, um feine Beine nnd Lafjen ihn gar-
nicht heranfommen. Schließlich ergreift ihm noch die Wärterin der
Heinen Poplamfom ganz ungenirt an der Hand und führt ihn aus
der Kinderfchnar fort, indem fie ihm bie Karten Worte zuruft:
„Schämen follteft Du Dich, Herr! Solch) ein großer, ertwachjener Menich,
und will fi) mit den Sindern Herumbalgen! Faft Hätteft Du
Mafchenfa mit Deinen Stiefeln das Händchen zerquetfcht,“
Die Hätte fi Nabdjenta geihümt, wenn fie Beugin biefes
Auftritts geivefen wäre.
Aber ihre Abwefenheit wird erft bemerft, nachdem der Baum
bereit3 geplündert ift. Papa Lopatnifow beunruhigt fich exuftlich,
und jchiet fi Ihon au, fein Töchterdhen aufzufuchen, al3 diefe
im Saal erjcheint.
Nadjenfa ift etwas blaß, aber auf die Frage ded Vaters:
„Halt du Kopfweh ?“ antwortet fie: „Nein Papa!" und al8 er
weiter fragt, ob ihr Magen etwa nicht in Ordrung fei, flüftert
fie, ihr erröthendes Gefichtejen an der Bruft de Vaterd bergend:
Über was fällt dir ein, Papa ?*.
„Was fehlt dir denn, mein Herzchen?“ fragt er weiter.
„Ad, Papa, was du auc Alles fragt!“ fpricht fie und
fäuft davon.
Während diefes Verhörs fchlägt das Herz Kobyljnifows immer
unruhiger und unvuhiger und plöglich wird «8 ihm Kar, weld
einen fchlechten Streich er gefpielt, als er Nadjenfa eine folche
Niederträchtigkeit in’3 Geficht fehleuderte. Mit Zorn, ja mit Hab
blict er auf Senja Prorubin und fucht ihn mit einer vergoldeten
Wallnuf Beranzuloden; aber Senja fcheint abermals zu ahnen,
was in der Seele Kobyljnifoms vorgeht: er rührt fid) nicht vom
der Stelle und zeigt jeinerfeit3 auf einen großen Haufen vergoldeter
Nüffe, die vor ihm liegen.
„Nun, warte mr! Wir werden fchon fpäter abrechnen“,
denft Kobyfjnitow und fehaut im felben Mugenblid inftinktiv zu
Radjenfa hinüber.
‚Holbe Iugendefelei. 69
Von dort bliden ihm zwei graue ungen mit berfelben
Tindlichen Anhängkichteit md Bärtlichleit an, mit der fie ihn bei
feiner Ankunft Hinter dem Weihnachtsbaum hervor begrüßten.
Die angewurzelt ruhen biefe tiefen, großen Augen auf ihm, als
ob fie gar nicht fähig wären, anderswo Hinzubliden. Kobyljnitom
überfommt 3 ahmugsvoll; «8 ift ihm, als ob das Blut aus
feinem Herzen ftröme und fi Tropfen für Tropfen in feine Bruft
ergiee und zum Zerfpringen anfülle. Co felig, fo gehoben, fo
mutig fühlt er ich plöglich.
„Nun fehen fie doch mır Nadjenfa an!“ flüftert Frau Por
parofor Frau Prorubin zu, „fie fann ja die Ungen von diefem
Milhbart garnicht abwenden, als ob fie ihn gleich verfchlingen
wollte.“
„Verliebt! Anna Petrowna, verliebt wie ein Kätchen“,
antwortet Wama Porubin mit boshajten Achfelzuden.
„Ich wundre mic) mır, to biefer alte Narr feine Uugen Hat?«
„Warum dem nicht? Für ein Deädchen ofme Mitgift ift
auch) diefer eine amchmbare Vartie!“
„Aber doh . . . . immerhin... ."
„Warum kommen Sie nicht zu mir?“ fragt unterbefjen
Nadjenta Kobyljnitow in jenem Halbunterdrüdten YFlüfterton, den
die Stimme unwilltürlih annimmt, wenn wir von Dingen reben,
die alle unfere Lebensnerven zugleich erregen.
Kobyljnifow antwortet nicht; er Fann nur jeufzen.
„Warum kommen Sie nicht zu mir,“ wiederholt Nadjenta.
Er fdhweigt noch immer, obgleich ihm das Herz jchier zer-
Äpringen will, vor Schnfucht, fi zu erffären. Er fühlt, daß wenn
er auch nur ein Wort fpricht, fein Halten mehr jein wird: er wird
ich Nadjenta zu Füßen werfen, er wird das liche gute Gefchöpfchen
in feine Arme nehmen und am jich preffen oder aber aud) in
Tränen andbrechen und laut, Tat zu fhludjzen begmen.
„Warum geben Sie mir nicht die Hand?“ fährt Nadjenta fort,
„Nadjenfa!* ringt e3 fic) endlic) aus der Bruft Robylinitows Io8.
„Was fprechen fie da für Dummheiten?*
„Engel!“ ftöhnt Kobyljnikow.
„Und warn werde id) da verfprochene Gedicht haben?“
Daltifge Monatöfgrift Bd. SLIV. Heft 2 5
0 Holde Jugenbefelei.
Robytjnitor will eben antworten; er will ihr erzählen, daß
die Verje Teine Fabel find, daß das Gedicht faft ganz fertig ge=
worden, daß er nicht nur eins, mein! zehn, zwanzig, Hundert
Lieber dichten will, zur Verherrlichung feiner lieben Heinen Nadjenta,
als plöglich der böfe Bube Prorubin Alles verbirht.
„Bandit I" piept er, Kobyljnifow faft zrwifchen den Beinen
Hindurd) fpringend.
Kobylinitor glaubt den Böfen felbft aus dem Munde des
Ruaben zu hören.
„Woher weißt du das?“ ruft er Hinter dem Suaben Her-
laufend, den er num aud) wirklich erwiicht. — „Nein, age mir, woher
du das weißt ?“
„Mama! Mama! Kobyljnitow Mmeift mich!” Heut Senja
aus vollem Halfe.
Bei biefem Schrei läßt Kobyljuifow feine Beute unwillfürlich
fahren und begimt jogar Senja den Kopf zu reicheln.
„Streichle mr, ftreichle nur!“ zifcht die junge Schlange.
„Mama, er fchlägt mich, weil ich ihn mit Nadjenfa erwifcht habe.”
&3 beginnt ein Verhör.
„Wollen Sie mir gütigft jagen, DmitriNitofajeroitfch, was Ihnen
das unjchuldige Kind gethan hat ?* inquirirt gefräntt Mama Porubin.
„Ihr Sohn hat mir eine Ungezogenheit gefagt!” erwibert ganz
außer Faffıng Kobpfjmikom.
„Mama, id) Habe ihm garnichts gefagt!” Magt feinerfeits
Senja unter geheucheltem Schluchzen.
„Ihr Sofn Hat mir „VBandlik“ zugerufen!“ führt Kobylje
nitor plöglich heran.
„Bandlig? was heißt VBandlig ? und in wiefern ift biefes
Wort für Sie beleidigend?"
Bei diejen Worten fchüttelt Mama Porubin bedenklich) beir
Kopf umd breitet verwundert die Arme aus.
„Nun ja! Bandlig, Cantlit, Dantlig, Fantlig!* höhnt Senja
boshaft und tanzt vor Kobyljnifor Hin und Her.
„Bitte fehen Sie jelbft!" jagt Kobyljnitom.
„Qch jehe, ich jehe Alles! Schämen follten Sie fi, junger
Mann. Senja, laß den Herrn in Ruh’ und tvage nie mehr ein
Wort mit ihm zu fpreden.“
Holde Iugendefelei. 1
Damit jegelt Fran Porubin majeftätiich von dannen, Senja
im Echlepptau mit fi) führend, fieht fi) aber unaufhörlich um,
als käne bie Peft Hinter ihr drein.
Kobyljnikoro fühlt fich jehr unbehaglic; er begreift, da er nicht nur
Nabdjenka compromittirt, fondern fc aud) in ihren Augen lächerlich
gemacht Hat. Wieviel Dummheiten hat er bereits an diefem Abend
begangen? Mindeftens drei: erftend hat er fich durd) unfinnige
Neime aus dem Concept bringen Iaffen uud in Folge deffen fein
Gedicht nicht vollendet, während es doc weit einfacher gemwefen
wäre einen Ver ungereimt zu laffen (das fommt fogar bei den beften
Dichtern vor !); zweitens hat er Nadjenfa eine große Ungezogenheit
über ihr Verhättnif zu Prochorow gefagt; und drittens Hat er mit
dem boöhafteften Buben der Stadt angebunden, der num wahre
fheinli in der ganzen Stadt Lärm fchlagen und den ärgften
Scandal hervorrufen wird. Kobyljniforv kommt e3 fo vor, als
feien Aller Blide auf ihn gerichtet, al brüce fi) in allen Mienen
ftrengfte Mißbilligung aus, ja al3 würde jogar der Hausfuecht
Andrei jogleid) den Vefen ergreifen, um den Berführer fünfgehne
jähriger Mädchen aus dem ehrbaren Haufe auf die Straße zu
Kehren. Kobyljnitomw überläuft e8 Heiß und falt; um feiner Ver
wirrung Herr zu werden, eilt er rajch ind Herrenzimmer.
Da figen die Herren an mehreren Tifchen beim Startenfpiel.
Der Präfident de Kameralhof3 fpielt mit dem Gouvernements-
procureue Woift-Grandiffimo — gegen den SKameralhofsrath und
den Bataillonscommandeur. Der Herr Bräfibent ift nicht gerade
bei befter Laune; er hat zwölf Mal Pique ohne AB und als dreis
zehnte Karte Cocur-Biwei. Gr fpielt die Bique-Zwei aus — das AB
hat fein Partner, der aber die Farbe natürlich) nicht verfolgen fanır.
„Ich fie auf Eapitalien!" Hagt der Herr Prafident, — „denn
die find alle frei, alle frei" —
Der Procureur geräth in WVerlegenheit; er begreift die Gis
tuation und fucht zu errathen, was die dreizchnte Karte feines Partners
fein Lönnte. Der Präfibent fieht das und zeigt ihm, um die Sıtu-
ation zu Mären, die Coeur-Ziwei, natürlich nur in der Abficht, den
Procureur zu rajcherem Spiel zu veranlaffen.
Dagegen Tommen dem Kameralhofsrath die hohen Karten nur
fo zugeflogen ; nie fehlt es ihm an Handfarten, nie an Unter-
5
72 Holde Jugendefelei.
ftügung, aber jein Glüc madit ihm feine Freude, denn er fühlt
€, daß er feinen Vorgefepten damit erbittert. Darum fucht er
fich auf jede Weile zu entfQhuldigen. Wenn er die Karten aufr
nimmt, fo zudt er die Adjfeln, als wollte er fagen: „Immer
biefes vermaledeite Glücd!* Wenn er einen Stid; nimmt, fo fegt er
die Karten nicht ruhig bei Seite, fondern jchfeudert fie verächtlich
von fi, als mollte er jagen: „Da ift jchon wieder fold ein
Hundefohn von AB!" Aber der Präfident ninmt davon gar feine
Notiz, jondern erboft fid) nur noch mehr über feinen Untergebenen.
„Aus weldiem Grunde deden Sie Ihr Spiel auf?" fährt
er ihn an.
Der Rath, der feinem Borgefegten einen Stich zumenden
will, verfeugnet Farbe.
„Haben Sie fein Coene?* inguirit ftreng der Bataillons:
commandeur.
„Nein — ja doch!” ftammelt ber Rath.
„Nicht einmal zu fügen verfteht er,“ denkt der Präffbent.
Kobgjnitor ficht den Spielenden zu und hat mır den einem
Gedanten, wie er durd) irgend eine Grofthat diefen Abend in einer
Weife bejchließen könnte, daß damit bie Scharte aller drei Dumm-
Heiten auf einmal ausgewept würde. Plöplich wird ihm fo wohlig
und fröhlid, zu Sinnen: er fieht ein großes erleuchtetes Zimmer,
in Mitten desfelben fteht Nadjenfa in ihrem meihen Tarlatankleid-
hen und neben Nedjenfa fteht er jelbft, beide mit Champagner«
pofalen in den Händen; die Gäfte fommen auf fie zu, gleichfalls
mit Champagnergläfern, ftoßen an und gratuliren ihnen.
„Iwan Dementjitih" — fpricht er mit bebender Stimme, indem
er unter dem Banne diefer feligen Pfantafiegebitde anf den Haus-
herrn zutritt: „geftatten Sie mir einige Worte unter vier Mugen“.
Iwan Dementjitjch blickt ihn etwas verdroffen au, weil dieje
unerwartete Unterbrechung ihn beim Spiel ftört. Als er aber be-
merkt, da Kobpljnikom am ganzen Körper zittert, wird er beforgt.
„Was ift Ihnen?“ fragt er — „Sie Haben doch nicht gar
die Kapuftnifowfche Wete verloren?“
„Ich — bitte unter vier Augen“ wiederholt Kobyljnikow.
Ivan Dementjitfch geht mit ihm abjeits.
„Run?“ fragt er.
Holde Iugendefelei. 73
„Ih... ich möchte...“ ftottert Kobyljnitomw, dem plöplic)
aller Muth entfchrwunden ift.
„Aber fo fprechen Sie doc, mein Bejter, und Halten Sie
mid) nicht auf!“ bemerft Iwan Dementjifh ärgerlich.
„Ich bitte um die Hand Nadejchda Iwanorwnas“, plapt Ko-
byljniforw heraus.
Ivan Dementjitfh dreht den Freier gegen das Licht und
fieht ihn einen Mugenblict beforgt an. Dann fehrt er fofort an
den Ktartentifch zurüdt und macht nur eine abmwehrende Handbewegung,
als wollte er eine Fliege von der Naje vertreiben. Kobyljnitow ift
ftare vor Schred; er läßt nicht mır die Arme finten fondern nicht
aud) in den Kniefehlen zufammen; e3 wird ihm ganz grün vor den
Augen und das Zimmer dreht ji im Sreife umher. Cr begreift
nur da8 Eine: diefes war der vierte und allerdummmfte Streich.
Plöplich ficht er etwas vor feinen Füßen hin und hev hüpjen: e8
it Senja Prorubin.
„Ad, das ift der vierte!“ Höhnt der böfe Buße, offenbar
die geheimften Gebanfen errathend, die Kobyljnifors armes Herz
bedrüden.
Kobyljnitomw Hört e8 nicht einmal, er ift vernichtet, entehrt,
obgleich Papa Lopatnitow gleich an den Kartentiich zurüdgefehrt
ift und mit der größten Gerfenruhe, als ob nichtS vorgefallen wäre,
fieben in Pique angefagt hat. Prorubin tanzt unterbefen vor dem
Unglüdtichen Hin und her und höhnt forhvährend: „Erich, etich!
das war der vierte.“ Kobyljnitor drücdt fich vorfichtig an der Wand
Hin, um ixgenbivie unbemerkt in’s Vorzimmer zu gelangen. Senja
Prorubin bemertt e8 und fprengt das Gerücht aus, Kobyljnitom
habe Magenfdmerzen. Kobpljnifow hört biefe Verfeumdung und
bleibt ftehn; er Iehnt fih an die Wand nnd fchaut fühn brein;
aber vergebens, die Verleumdung hat fen ihre Wirkung gethan.
Unter den jungen Mädchen Hört man flüftern: „der Arme!“
Nadjenfa wird roth md wendet fi) ab; offenbar find ihr vor
Shan und Schmerz die Thränen nahe.
„Bandlig“, flüftert fein verfluchtes Gedädtnig und Kobyljni-
Tom jpringt, wie von einer Wespe geftochen, aus dem Zimmer fort,
durd) feine Flucht ein Tuftiges Kichern unter den jungen Mäbehen
hervorrufend.
74 Holde Jugendefelei.
Und wieder fipt Kobpljniforo in feinem einfamen Stübehen;
er fit und weint bitterlich. Vor ihm liegt die Rapuftnitomfche
Mcte und die Thränen fliehen nur jo aufs Papier; darauf jteht:
„E83 petitionirt der Kaufmann SKapuftnitom,
worin aber feine Bitte befteht, befagen folgende
Runfte, — dod) feine Augen find verfchleiert und fein arınes
Herz will in Etüde fpringen.
Durd) die Thränen aber und das herzbredjende Schlucdhzen
Hindurch fehimmert heil das Bild des lieblichen Mädchens: er
glaubt ihren frifchen Wehem zu fpiiren, den Schlag ihres Heinen
Herzens zu Hören.
„Mitenka", fpricht fie und läßt ihr Lodenköpfhen verihämt
auf feine Edjulter finfen.
„Mes dames“, flüftern bie jungen Mädchen ringaum: „Mes
dames! Kobyljnitomw Hat Deagenfchnierzen.*
Kobyljnitor fpringt auf und läuft im Zimmer umher, greift
fid) dabei nad) dem Kopf und macht alle jene Bewegungen, die
einem Verzweifelten anftehen.
„Bandfit!* ruft plöplich das mentrinnbare Gebächtnif.
Kobyljnikorw beit fid) vor Ingrimm die Lippen blutig, er
jept fich wieder mund nimmt abermals bie Kapuftniforjche Aete vor,
in ber Hoffnung, darin die Erinnerungen des Abends zu erftiden.
Aber Hinter der Vretterwand regen fi die Hauswirthe —
Nleinbürger. Cie find allem Anfchein nad) gleichfalls joeben vom
Befuch Heimgefehrt und im Begriff jchlafen zu gehen. Man hört
tiefes Athen, man Hört das Deffnen einer Commobde, man hört jenes
Rafcheln, welches das Austleiden und Zubettegehen immer zu ber
gleiten pflegt. Endlich ift Alles ftill.
„Bit Du eine dimme Gans ober nicht?“ fragt der Haus
wirth) feine Gattin: „bit Du eine dumme Gans oder nicht?“
„Schlaf Dich aus, Trunfenbold; bedenfe a8 morgen für ein
Feiertag ift”, ermahnıt die Gattin. —
„Nein, fage mir, bift Du eine dumme Gans ober nicht?“
wiederhoft der Hausherr Hartnädig.
Hinter der Vretterwanb hört man ein erfehüitterndes Gähnen.
Kobyfjnitom nit tiefer und tiefer und endlich fint fein Kopf ganz
‚Holde Jugendefefei. 75
auf die Kapuftnitowiche Acte. Er träumt vom Weihnachtsbaum,
er träumt, daß er mitten im erleuchteten Saal fteht, aber neben
ihm fteht nicht Nabjenka, fondern der Kaufmann Kapuitnifom und
petitioniet, worin aber feine Bitte befteht, bejagen
folgende Punkte... .
Ne
Aunitbriefe.
V.
&" in Gran Alles... Aber fein vornehmes Silbergrau, wie
> 8 mancher Landichafter der Natur nach im fein Bild
Hineinzuzaubern weiß, namentlich in unferen Tagen der Stimmungs-
malerei. Nein — ein Häßliches Graugrün und fehmuiges Gelb-
grau. Cie nennen e& hier „Winter“, fügen aber Hinzu, daf Berlin
aud) jhon andere Winter gejehen hat. Mag fein. Meine Lejer
aber, die die deutfche Reichshauptftadt zumeift mur in der fommerlichen
Hälfte des Iahres zu befuchen pflegen, Lönnen fich fchwerlic) eine
Vorftellung davon madjen, wie häflich Berlin in folhen Winter
fic) ausnimmt. Und zu den fchönen Gtädten gehörte e8 ja nie.
Die Stellen, mit denen e8 fi) fehen lafien Tann, find gar bald
hergezäßtt, rafcher und leichter, als all’ die Mißgriffe, die bei der
Auzgeftaltung von Neu-Berlin während der Iepten zwanzig Iahre
in äfthetifcher Hinficht begangen worden find, angefangen bei der
verunglücten Wahl des Plapes für das Neidjstagsgebäude und der
fprichwörtlichen Hählicjfeit des in feiner Nähe fichenden „Sieges-
fpargels*, wie ja der boshafte Berliner Voltswig die Siegesfäule
abgetauft hat.
Man fehe fi) mer ein Mal mit den Augen des Künftlers
ober auch nur mit Schönheitsfinm Vegabter die Hänferzeilen und
Pläge, die Brunnen und Denkmäler der Neichspauptjtadt an:
fast nirgends ein fhöner Anblick, fajt nirgends ein Harmonifcher
Kunftbriefe. 77
Abjchluß und Gefammteindiud. Was hätte man — um nur ein
Veifpiel anzuführen — in Paris oder Wien aus dem Potsdamer
Plap gemacht und ficher hätte man dort einem Denkmal, wie das
Zuthers, eine bejjere Stelle anzuweifen gewußt, al3 hier gejchehen.
Doch das ift ein Kapitel, deffen Behandlung für ein anderes
Mal vorbehalten bleiben mag und id) fehre zurüd zu dem, wovon
id) ausging.
® *
*
Gran in Grau Alles. Auch auf dem Gebiete der Heurigen
Winter-Kunftfaifon, aus der mur das Menzelfeft und bie beiden
dem Altmeifter zu Ehren, den Nacjtommnen zu Nugen veranflalteten
Ausstellungen in der Afademie der Künfte und in der Nationale
gallerie als eine ftrahlende Epifode hervorleuchten inmitten eines
eintönigen Einerlei,
Aber doc) ift das nur der Gefammteindrud, deu ber rüdwärts
Blicdende gewinnt. Sieht er näher zu, befinnt er fi auf das
Einzelne, fo Hat er feit der Beit, wo im October die Thore des
Ausftellungspalaftes beim Lehrte Bahnhof geichloffen wurden,
immerhin manches Schenswerthe geichaut, Wiffenswerthe Tennen
gelernt. Und gerade, weil die Phyfiognomie Berlins jept jo gar
Häßtich ift, find die Heinen Kumft-Ansftellungen, die ung unauzgejegt
geboten werben, fozufagen eine wahre Wohlthat, die einigen Erfag
bietet für die mangelnde Befriedigung fünftlerifcher Anfprüche und
Anregungen im nüchternen Strafen- und fontigen Außenleben
Berlins .. ...
&s fehlt Hier nicht an Kunftvereinen, die in ihren Räumen,
fei e8 zu Handels- oder zu Bildungszweden, wiederholt oder aud)
fortlaufend den Winter über Augftellungen veranftalten, wie vor
Allem der „Verein Berliner Kiünftler” im Architeftenhaufe in der
Wilpelmftraße. Doc) nicht diefe Ausftellungen find 8, die ge=
meinhin da8 Interefiantejte bieten. Das finden wir vielmehr in
den Kunftfalong der Firmen Ed. Schulte und Frip Gurlitt.
€&3 find die beiden bedeutendjten KunftHandelfirnen Berlins.
Das heißt, richtiger Hiefe «8 Vilderhandelfirmen, denn faft nur
Bilder befommen wir dort zu fehen, und zwar nur Originale,
vornehmlich Delgemälde und MUquarelle, feltener Stiche und Rar
78 Kunftbriefe.
dirungen. 3 erimmert Einen hier nichts an den Laden. Es find
eben wirttih Kunftfalons. Kein Verkäufer ift zu fehen, feinen
Sadentifch giebts, feine „Raffe" aufer der zur Löfung der Ein
frittöfarten. Tide Teppiche decten ben Boden; fehwere Vorhänge
umrahmen die Thiröffnungen; ftilvolle Scffel und Divans laden
zum Sigen ein; zwifden den großen und Heinen Gemälden an den
Wänden Hier und da eine Statue, eine Vafe; auf einem Sefel,
wie zufällig, ein Bild aufgeftellt; Miles in den dunfleren Nadje
mittagsftunden im Scheine eleftrifchen Lichts, deren Lampen an
der Dede, aber Hinter Blenden angebracht find. Das Gefchäfts-
Kurean ift von biefen Räumen vollfländig getremt.... Sowohl
bei Scyulte, u, d. Linden 1, an der Ede des Parifer Plapes, als
bei Gurlitt, in der Leipziger Straße 131, zwiichen dem Leipziger
PBlag und der Wilhelmftrafge, befteht jchon feit ein paar Jahrzehnten
die Sitte, das ganze Jahr hiudurd, Ausftelungen zu veranftalten.
Groß find fie natürlich wicht, aber immerhin giebt mitunter
doc) 100 und mehr Nummern. Das rumde Jahr Hindurd) werden
diefe Augftellungen alle drei bis vier Wochen regelmäßig erneuert
und dabei beträgt der Abonnementspreis für 12 Monate bloß
3 Rum. Ein lächerlich billiger Preis, wenn man bedenft, wieviel
man hierfür im Laufe des Jahres zu fehen befommt, Der intime
Charakter biefer Ausftellungen, wo mandjer Kinftler ganz anders
zur Geltung zu kommen vermag, al8 auf den großen internationalen
Bozars der fommerlichen Gefammtausftellungen in Berlin, Vünden
u. f. w., fo daß; der Nuhm diefes und jenes Künftlers tHatjächlich
von diefen Kunftfalons aus feinen Weg in bie große Maffe ger
nommen hat, die günjtige Lage der Ausjtellungslotale, die Ber
quemlicjfeit, die fie den Bejuchern bieten — das Alles zufammen
Hat 3 bald dahin gebracht, daf e3 zum guten Ton gehört, fein
Abonnementsbilfet bei Schulte und Gurlitt zu befigen, wie feine
LZoge oder feinen Logenfig in der königlichen Oper. Nachmittags
vor Ti, jo zwifhen 1 und 3 Uhr, wenn man die Linden
Hinunterfehlenbert, ober auf der Leipziger Straße flanitt, da tritt
man dann wohl für eine halbe Stunde in die Salons ein, in
Straßentoilette, die Herren aud den Hut nicht ablegend, nyan ift,
namentlich in der erften Woche jeder einzelnen Austellungsperiode,
zumal in den Wintermonaten, fiher, Bekannte zu treffen. Sunfts
Kunftbriefe. 79
Tritifer und Schriftfteller und Künftler, Vertreter der Welt des
BVollglanzes und des Sceins, unjceinbare wahre Kunftfreunde
neben Progen, die die Mode mitmachen, reelle Käufer und ver«
bifjene Krittler, Leute, die mur fehen, andere, die fich bloß jehen
Iafjen wollen, mitunter au) foldje, die auf ungefährliche Weije fi
hier ein Mendezuous geben fönmen und, anfcheinend ganz und gar
in bie Befpredhung einer itafieniihen Landichaft oder eines natırrar
Kitifcen Yauernnedhtes vertieft, von durchaus anderen Dingen
TedvEen 2...»
. *
*
Das größere Local Hat Schulte aufzuweifen; er verfügt unter
Anderem fogar über einen jdönen Oberlichtfaal. Aber Fünftlerifch
höher fteht wenigftens in diefem Jahre wohl der Salon Gurlitt.
Dian gewinnt bei Schulte den Eindrud, als ließe er fh zumeift
die Werfe in’s Haus hineintragen, während Gurlitt mehr prüft
und fihtet und — fucht. Un intereffanteften find natürlich immer
die Einzelwerfe ganz junger, nenauftauchender SKünftler, fobann
Sammelaugftellungen älterer, endlich einzelne neue Werfe von alt«
berühmten Meiftern, d. 5. Meiftern aber jtets der Neuzeit, die
beiden Firmen haben faft ausfchliehlich die moderne Kunft im Auge.
63 wäre übrigens ungerecht, wollte man Schulte'3 Aus»
ftellungen diefes Winter8 verurtheilen. Wuc, er Hat manchen jehr
guten Griff gethan. So war «8 ein ebenfo pietätvoller, als
glüclicher Gedanfe, da8 Andenken des Liebenswürdigen jüngjt ver-
ftorbenen märkifchen Landihafters Bennewig v. Löfen dur
eine Sonderausftellung von Skiggen und Studien in Del und
Aquarell zu ehren. Gerade diefe Ausftelung Hat uns deu Werth
de3 Künftlers beffer erichloffen, als all’ die vielen großen Bilder,
die von ihm in bei Ießten Fahren zu fehen gewefen find. Much
die größeren Augftellungen der Berliner May Uth md Walther
Lentikan, die beide in den legten Jahren fic) in der Aquarell»
Tcchnit bedentjam entwickelt Haben, beanfpruchten neben dem befonderen
ein allgemeines Intereffe. Das Gleiche gilt von der Sammlung der Ger
mälbe und Skiggen des Münchener Wilhelm Volz, ein Dalerpoet
Böclinfcher Schule, wenn man fo eine Anfehnung und Empfindungs-
verwandtjhaft bezeichnen mag, die der junge Kinftler in Bezug
80 Runftbriefe.
auf den alten Meifter zeigt. Unter den „Modernen“, die bei
Schulte zu finden waren, feien auch) die Toforiftifcy fehr originellen
Bildniffe, Acte, Stillteben des Impreffioniften im Stile des Parifer
Bernard, Kurt Herrmann, fowie die Landfhaften BHiTipp
Frand’3 genannt, ferner Frig Burger mit feinen naturaliftie
fchen, ebenfalls durdjaus von Paris beeinfluften Portaits. Diejelben
Naturaliften, die unlängft mod) fo gern Fabrifarbeiter, Adertnechte
n. {. w. malten, namentlich, wern fie zur Naffe der „Erniebrigten
und Bedrüdten" gehören, um das Doftojewstifche Wort zu gebrauchen,
— jet fuchen fie die Objefte für ihre Stubien in den entgegen-
gefepten reifen ud fo begegnet man Männerportraits aus den
Kreifen de Chie’8 und des Pichuett'3, die das Entziiden eines jeden
Mobefchneiders und Gigerl’3 ausmadjen fünnen, denn ebenjo wahr:
heitögetreu, wie einft jene Hungerfeider, find jegt diefe Upperten
gemalt. Ob diefe Bildniffe mehr der Amıft Rechnung tragen, a8
jene, mag der Lefer feibft entfeiden. Brillant gemalt find bie
Sachen entfehieden, aud) bie Burger’fdjen, und für dharakteriftifche
Typen unferer Zeit können fie ohne Zweifel ebenjo gelten, wie die
des Elends md des Jammers.
Noch viel Anderes, In- und Wusländifches, gab e8 bei
Schufte zu fehen, was erwähnenswert) wäre, aber id muß mich
kurz faffen. Nur eines Landsmann fei mod) gedacht, des Profefjors
Eduard v. Gebhardt, der einen „Chriftus als 12 jähriger
Knabe im Tempel zwifcen den Schriftgelehrten“ ausftellte. Der
Gewohnheit gemäß verjeßt uns der Maler ins beutfche Diittelalter.
Der Tempel wird zur Sacriftei einer chriftlichen Kirche, die jüdifchen
Schriftgelehrten werden zu gelehrten Theologen und hodweifen
Kicchenätteften, die dem am Schmalende eines grünverhangenen Tifd)es
figenden blonden, einem Eftenfnaben gleichenden Jefus gefpannt
ober vertoundert zuhören. Links im Hintergrunde dringt Dlaria
erregt herein, vom Cchliefer mühfam zurücgedrängt. Die Aus:
bildung der Gefichtözüge der Männer, der Ausdrud Jefu und
feiner Mutter, das Dämmerlicht zwifchen den dunkten holzgetäfelten
Wänden der Sacriftei, ihre ganze ftilgerechte niederdentfche Ein»
richtung, das durch die Thür hereinfluthende Licht, die Trachten
u. f. mw. — das ift Alles fo überzeugend gemalt, wie immer bei
Gebhardt, und wie immer auch hat man die Empfindung, da; er
Kunftbriefe. 8
im Detail allzu viel geben till. Zedodh) — das ift Gefchmad-
jache, wie auch feine ganze Manier, bibfifche Vorgänge in die Zeit
der deutfchen Renaiffance zu verlegen. ...
* *
*
Altbefannte Namen von beftem Klang boten uns die zier-
fihen Kataloge der Gurfittien Ausftellungen. Darunter aud)
größere Sammelausftellungen. Co gab’3 eine Thoma-Aus-
ftellung, bie 56 Bilder und Original-Steindrude aus den Jahren
1866— 1894 bot. Mit diefem jüngft fo viel genannten Franke
furter Maler Habe ich mich im erften „Kunftbrief“ fon ein-
gehender bejchäftigt und ich bemerfe nur, daß diefe Sammlung
mich 5loß in meinem damaligen Urtheil beftärft Hat. Sehr
intereffant waren übrigens die Steindrude, Auch mehrere Leibl
stellte Gurlitt aus, ganz vortreffliche Portraits und Genre-Kopfz
ftudien. Danı befamen wir bort fünf hier noch) unbelannte Böd-
Tin zu fehen, zur größten Freude al’ der zahlreichen Verehrer
diefes eigenartigen Farbendichters und Humoriften von genialer
Unverfrorenheit, die er namentlich wieder in der „altrömifchen Bachus-
fefteOrgie" zu Schau trug -— in einer Weife, wie Tüngere e3 ihm
nacjzumadjen vergeblich fid) mühen. Zu ihrem Veften, dem da
fie das Urmefentliche des jchtweizerifchen Meijters, der übrigens
jegt ganz in Slorenz lebt, nicht zu treffen oder nicht zu erreichen
vermögen, jo kehren fie wohl von dem Wege um, der Einem ver-
ftändlich wird eben nur an der Haud Bödtin’s jelbit. Lenbad
und Liebermann — Leptever fogar mehrfad) vertreten und
zwar durchtveg jehr gut — fehlten cbenfo wenig, wie Frih v.
UHde und Adolf Menzel, von dem einmal eine ganze Reihe
fhönfter Handzeichmngen zu fehen waren. Von Ausländern feien
namentlich der Römer Pradilla und der aflbefanute englifche
Farbenefjeftler WhHiftler genannt. Viel von fid) reden machte
die Decemberaugftellung bei Gurlitt, auf der über 100 Bilder
von deutfchen und frangöfifchen Künftlerimmen zu fehen waren. Aus
Berlin und Münden, aus Hamburg und Wien, aus dem Haag
und Amjterdam, aus Paris und Prüffel ftammten die Urgeberinnen
der Werfe und fogar St. Petersburg war vertreten, dur bie
82 Kunftbriefe.
Londfhafterin P. ECouriard. Diefer Kreis Funftbefliffener
Damen verricth wicder einmal, daß fie ebenjo fehlecht nicht bloß,
fondern aud) mitunter ebenfo gut malen Lönnen, wie ihre männlichen
Kunftgenoffen und daß fie ebenfo wie biefe in allen Richtungen
und Stilarten, vom offenherzigften Naturalismus 6i8 zum befremd-
lichften Symbolismus, und vom pinfelfchwenfenden Impreffionrismus
6i8 zum gewifjenhafteft tüftenden Seinigteitsfultus, zu Haufe zu
fein vermögen. Nur die große, zwingend gewaltige Erfindung
feheint ihnen verfchloffen zu bleiben ud andererjeit8 weiß man
ihren Bildern gegenüber nie fo recht, wieviel Nachempfindung und
Anlehnung mit im Spiele ift.
- *
*
Dafı all diefe Ausftellungen von ihren Veranftaltern natür-
lich in erfter Linie zu Verfaufszweden bejtimmt find, braucht wohl
nicht mod) erft befonbers Hervorgefoben zu werben. Wohl aber,
daf wirklid baar gefanft wird. Den leichteften Abjag findet das
Allgemeinverftändliche, unmittelbar an Herz und Kopf fi, Wendende.
Steht einmal unter einer tollfühnen Phantafie, einem gewagten
Verfuc) die Infchrift, „Verkauft“, fo weih man aucd) gleich, ganz
ebenfo wie bei den verfauften Werken erfffaffiger Künftler, wie
Bödlin, Leibl u. j. w., daß der Käufer ein richtiger Sammler
ober aber ein Fanatiker ift — eine Beobachtung, die jeder regel»
mäßige Ausftellungsbefucher übrigens überall machen Tann.
Bie follte 08 aud) anders fein.....
3. Norden.
Berlin, im Januar 1896.
a
sestsesgususuererersrerrren
wertsettren
Kin Gefchichte der Unfreiheit nad) ihren verfchiedenen Formen,
als Sklaverei, Hörigfeit und Leibeigenfchaft, und in ihren man«
nigfaltigen Werzweigungen Bis ehwa zur großen franzöfifchen Mer
volntion wäre eines der wichtigften Kapitel aus ber Kulturgefchichte
der Menfchheit. Eine foldhe Darftellung, welche dem Urfprung der
Sklaverei bei ben verfchiedenen Wölfern nachfpürte, ihre Geftaltung
im Orient und dan ihre jo ehr verjchiedenartige Entwicelung bei
Griechen und Römern behandelte, ifrem allmählichen Aufgören bei den
Völtern Europas nacjginge, enblid) die im Mittelalter fid) aus
Bildende neue Form der Unfreifeit, als Hörigfeit und deren Aus-
artung zur Leibeigenfchaft, |hilderte — eine folche Darftellung, um=
fafjend und auf gründficher Forfchung beruhend, würde eine Fülle
Tehrreicher und anziehender Grgebniffe liefern umd nad) den verfcjieben-
ften Richtungen Hin Licht verbreiten. Die Bedeutung der Religion
für diefes ganze Gebiet würde fid) dabei deutlich herausftelen und
die entfcheidende Einwirkung des Chriftenthums auf die Befeitigung
der Sklaverei, obgleich «3 diefelbe nicht von vornherein prinzipiell
befämpfte, Har zu Tage treten. Iedenfalls ift die Aufhebung der
perfönlichen Unfreiheit einer der größten Fortjehritte in ber Ent»
widelungsgefichte der Weenichheit. Die Lobredner der Gegen-
wart, die zugleid; erbitterte Ankläger der antifen Sklaverei und
mod) mehr der mittelafterlichen Hörigteit find, follten übrigens nicht
vergeffen, daß, wie die Blüthe der antifen Kultur auf dem Unter-
8 Kitterärifche Umfchan.
grimbe der Stlavenarbeit berufte, ebenjo auch der glänzende Anfe
ihwung der modernen Induftrie nur durch eine neue Art von Uns
freiheit möglic, geworden ift; die heutigen YFabrifarbeiter befinden
fid) zu einem großen Theile in einer jchlimmeren Lage als die
athenifchen SHaven und die Hörigen des Mittelalters. ine Ge-
fdjichte der Unfreiheit nad) den oben angedenteten Gefichtspuntten
würde freilich, wenn fie auf forgfältiger Forfchung beruhte, das
Werk eined ganzen Lebens fein und Hätte viele Vorarbeiten noch
erft zur Vorausfegung. Mu foldjen fehlt e3 für einzelne Perivben,
wie 5. B. die antile Welt und einzelne Länder Europas, aller-
dings nicht und fehon eine Zufammenfteffung der bißferigen Forfchun-
gen und Nefultate wäre ein Ddantenswerthes Unternehmen. Cine
folche verheißt uns das Bud) von John Kells Ingram: Ger
ichichte der Sklaverei und der Hörigfeit, redt-
mäßige dentfhe BearbeitungvonteopoldKatjder.‘)
Allein fchon der Umfang desjelben ftimmt unfere Erwartungen
herab; wie Tieße fi) der ungeheure Stoff auf 200 Seiten Heineit
Formats auc) mir einigermafen erichöpfend behandeln? Der Ber«
fafer erklärt denn aud), er habe fein Büchlein nicht für Facjgelehrte,
fondern für denfende und gebildete Laien gefchrieben, verfichert
aber zugleich, er hoffe Hinfichtlich des Thatjachenmateriald nur ganz
Richtiges zu geben. Das vorausgeicicte Verzeichnih der Quellen,
auf die fid) Ingrams Arbeit jtügt, zeigt aber große Lüden, ber
fonder3 die Nichtbenugung der zahlreichen beutichen Forjcungen
ift zu bedauern. Aus der deutfchen Litteralur Hat der DVerfaffer
mr Böch’s Stanthaushaltung der Athener und Sugenheim’s Ges
fhichte der Aufhebung der Leibeigenfhaft in Europa, zwei an
Bedentung und Werth ehr verfchiedene Werte, benmpt. So weit
feine Quellen oder vielmehr Hüffsmittel ausreichen, hat Ingram ben
Stoff überfichtlich und zwedmäßig zufammengejtellt. Die Gefdichte
der Stlaverei im Alterthum ift im Ganzen befriedigend, wem aud)
mande Liden fich finden. Dagegen ift die Entwicelung der
Hörigfeit fehr bürftig, für Deutfchland ganz ungenügend, da der.
Verfaffer nicht einmal G. 2. von Maurer und ©. Waik fennt.
Die Aufgebung der Leibeigenfcaft in den Staaten Europas wird
1) Dresden umb Leipzig. Derlag von Carl Reiffner. 2 M. 80 Pig.
Kitterärifhe Umfcau. 85
Hung, aber dem Zwee des Buches entfpredhend, dargeftellt. An
befehrendften find die drei legten Abichnitte, welche die Befeitigung
des folonialen Sflavenhandels, die Abichaffung der Negerftiaverei
und die Sklaverei im mohamedanifchen Orient behandeln ; das Iepte
Kapitel enthält aber weniger, als der Titel verfpricht, — inden
darin nur die Verhältwiffe in Sanfıbar, der Türkei und Marofto
erörtert werden. Im einem Anhang wird dann moch kurz die
Sklaverei bei den Egyptern, den alten Hebräern, den Chinefen und
Indern behandelt. Als Ueberblid ift daS Bud) von Ingram braud;-
bar und dem Laien wird e3, trog ber bemerkten Mängel, vieles In=
tereffante und Belehrende bieten.
Eine vielgenanmte Perjönlichteit aus der Gejdhichte der Re-
formation in Jtalien behandelt die Schrift VBilhem Sommer»
felt3 Francesco Spiera, ein Unglüdlider. Aus
dem Normwegiihen von 9. ©. W. Hanjen.!) Francesco
Spiera, ein angefehener Nechtsgelehrter und Wdvofat in
Eittadellan im Oberitalien, Hatte den evangeliihen Glauben
angenommen md wurde ein feuriger Werfündiger desfelben in
feiner Baterftadt. Deswegen vor das Kebergericht in Venedig
eitirt, verlor er Muth und Kraft umd jchwor feinen Glauben
nad) dem ihm vorgelegten Formular ab in Sommer des Jahres
1548. Nun aber ergriff ihn die furchtbarfte Verpweiflung, er war
überzeugt, die Sinde wider den heiligen Geift begangen zu haben,
wüthete gegen fic) felbft wie ein Nafender und erfrantte zulegt.
So verbrachte er vier Monate nad) feiner Abichwörung, zuerit in
Padua, dann in feiner Vaterftadt. Sein Zufpruch, feine Tröftung
von Seiten der fatholifchen Geiftlichen, feiner Freunde und Befann-
ten, fo tie anderer von nah und fern ihn aufjuchender Perfonen
Half etwas, Spiera Hatte für Alles eine Widerlegung. Unter bei
entfeglichften Seelen» und Gewijjendqualen ftarb der Unglüdliche
endlich im November desfelben Fahres. Der gleich) nad) feinem
Tode veröffentlichte Bericht von Spieras Verzweiflung machte über-
al im Europa großen Eindrut und au, fpäter ift fein Schidfat
vielfach gefchildert worden. Nachdem in unferem Fahrhundert
€. 2. Both, Sizt und Rönneke eingehend über ihn gehandelt, hat
1) Leipzig, A. Deichertfche Berlagsbuchhandlung Rachfl. 1 DI.
Sattifge Monatsigrift. W. XLIV. Yeft 2. 6
86 Kitterärifhe Umschau.
der italienische Neformationshiftoriter Comba neues Material zur
Gefchichte des merfwürdigen Mannes entdet und veröffentlicht.
Anf feine Forfchungen gründet fih Sommerfelts Schrift. Er findet
die Erklärung von Spieras unerjdütterlicher Verzweiflung, wir
glauben mit Recht, in befien fefter Unhänglichteit an Calvins ftrenge
Prädeftinationglchre. Die Schrift hinterläßt einen ernften, ja er-
fchütternden Eindrud; was fie fhildert, ift eine eindringlide
Warnung vor Ölaubensverleugnung aus Menjhen-
furdt und wider die innere Meberzeugung.
Die gewaltigen Ereigniffe von 1870 und die Hufrichtung des
Deutihen Reiches haben die wunderbare Reorganifation des preußi-
ichen Etnates am Anfange diefes Jahrhunderts und die glorreichen
Kämpfe und Siege ber Wefreiungsfriege etwas zurücgebrängt.
Aber wer fih in den Zufammenhang ber Dinge vertieft, wird den
Blid doc) immer wieder zu jenen außerordentlichen Fahren zurüce
wenden, im denen der Grund zu alle dem gefegt worden ift, was
fich fpäter grofjartig entwicelt Hat; damals ift der Yaum gepflanzt
worden, der fpäter jo ftolz feinen Wipfel zum Himmel empor-
geftredt hat. Die Größe der Männer, deren Genie und jchöpfer
rifche Kraft den zertrümmerten Staat auf neuen Grundlagen wieder
aufrichtete und das vernichtete Heer neugeftaltete und zum Giege
rüftete, wirft auch) Heute woch nad). Der ideale Schwung und die
glühende Vaterfandsliche jener auferordentlicen Männer ergreifen
auch heute nod) Ieben, der ihnen näher tritt. Theodor Lindner fagt
in feiner deutfchen Gefchichte fehr treffend: Unter ihnen find Heroen
ohne Fehl und Tadel, zu denen man mit ehrfürchtiger Ber
wunderung auffhaut; Ieuchtendere Vorbilder gibt e$ nirgends in
der Gefchichte. E83 war dod) eigentlich nur ein Heiner Kreis von
Männern, von denen bie ganze Bewegung, die ympulfe zu Allem
ausgingen, aber Jeber von ihnen war aud) eine Heldenperjöntichfeit
von eigenartigjtem Charaftergepräge. Allmählic Haben die meiften
von ihnen eine würbige Darftellung gefunden. Stein’8 Leben hat
Perg und dann der Engländer Seeley befchrieben, Gneifenau’s
Heldenfeben ift von Perg und 9. Delbrüd gejchildert worden,
Scharnhorft Hat endlid) in Mar Lehmann den berufenen Biographen
gefunden und Glauferwig” Lebensdarftellung durd K. Schwarg ijt
zwar in Form und Auffaffung wenig befriedigend, bietet aber doc)
Litterärifche Umfcau. 87
reiches Material. Seht wendet fi) das Intereffe der Hiftorifchen
Forfhung and den Männern zu, welche neben jenen Herven als
deren Mitarbeiter und Helfer in zweiter Reihe ftehen: Cart von
Srolman und Hermann von Boyen erhalten endlich auch ihre
Biographen. Nur jenen Großen gegenüber ftehen fie in zweiter Linie,
zu andern Zeiten, bei andern Bölfern wären fie Männer erften Ranges
gewefen. Mit Grolman’3 Leben werben wir ung fpäter befchäftie
gen, für jegt gehen wir auf Voyen’3 Biographie näher ein. Der
Feldmarjhatt 5. v. Boyen Hat fehr eingehende Erinnerungen aus
feinem Leben aufgezeichnet, die von dem Theologen Fr. Nippold
in brei umfangreichen Yänden vor einigen Jahren in nicht ganz
zwedmäßiger Weife herausgegeben worden find. Diefe Erinnerungen
find ein foftbares Denkmal des Heldengeiftes der Befreinngäfriege
und durd; ihre Treue und Zuverläffigfeit eine Höchft werthvolle
Quelle für die Gefchichte jener Zeit. Aber fie reichen nur bis zum
Jahre 1813 umd, wie jede Selbftbiographie doc) mr ein unvoll-
Tommene® Bild ihres Werfaffers giebt, fo ift das bei Boyen’s
ihlichtem und verfchlofjenem Charakter ganz befouders der Fall.
8 ift daher mit Genugthunng zu begrühen, daß ein jüngerer
Hiftorifer, Friedrich, Meinede, auf H. von Spbel’8 Anregung 8
unternommen hat, da8 Leben des Hochberdienten Mannes in ange»
mefjener Weife zu jhildern. Zunächft liegt dev erfte Band bes
Werkes: Das Leben des Generalfeldmarjdalls Her-
mahnnvon Boyen von Friedrid Meinede:) und vor.
Das Bud) beruht nicht mur auf dem gefammten Handfehrifttichen
Nacjlap des Feldmarfhalls und anderen ardivaliihen Materiale
und zieht außerdem alfe neueren Veröffentlihungen heran, jonbern
3 ift eine wirkliche Biographie im vollen Sinne des Wortes. Der
Verfafer Hat fich nicht damit begnügt, den äußeren Lebensgang
feines Helden ausführlich darzuftellen, er hat fich die viel höhrre
Aufgabe geftellt, die innere Entwidelung von Voyens Charakter
und Perfönlichteit darzulegen, nacjzuweijen, wie die geiftigen Strö-
mungen der Zeit, die Aufklärung und die Sant’sche Philofophie
bildend und fördernd auf die Entfaltung feines Wejens eingewirkt
1) Stuttgart, Verlag der I. ©, Gottarfcen Buchhandlung Nachfolger.
8 Mitt.
or
88 Litterärifche Umfchan.
Haben. ES ift dies DMeinede in vorzüglichem Mafe gelungen und
das diejer Aufgabe befonders gewidmete vierte Kapitel ift einer der
glängendften Mbfchnitte des Buches. Auc) die Ausführungen über
die allmäglidje Umwandlung ber mifitärifchen Anfehauumgen Boyen’S
von der umbebingten Bewunderung de fridericianifchen Heeres zur
Rertretung burchgreifender Neformideen, die fid) nur im Princip
noch von der fpäteren großen Reform unterfchieden, find vortrefflich.
Der Berfafjer behandelt das Leben VBoyen’3 fteis im Bufammen-
Hange mit den allgemeinen Greignifjen; darin, wie it der vertieften,
weitblictenden Muffaffung fehen wir ein Hauptverdienft des Buches.
Mit Boyen’s Teilnahme an der großen Meform des Heeres ber
gümnt feine Hervorragende Mitarbeit an der Herbeiführung der Ver
freiung und Erhebung des Staates. Die grohen Führer der Ne-
form werden von Meinede Kurz, aber vortrefftid) charakterifirt und
die wohlabgewogene, mafvolle, im Grunde aber dod) nicht günftige
Charakterijtif Friedr. Wilhelms IU. fei als fehr nelungen befonders
hervorgehoben. Boyen’3 verdienftvolfe Ihätigkeit bei der Errichtung
der märfifchen Sandwehr und bei der Organifation des Landfturms,
feine ruhmreie Mitwirfung als Generalftabschef Bülow’s bei den
glänzenden Siegen von Groß-Beeren und Denmewig, fowie bei
der Eroberung Hollands tommen dann zu eingehender, Har und
fcharf gehaltener Darftellung. Zulept wird Boyen's größte That,
das Wehrgefeg von 1814, welches er als Kriegaminifter nad) den
Vorarbeiten und Then Scharnforft’3 entwarf und durchfehte und
welches, wenn aud) mit mamigfachen Mobdificationen, die Grund-
Tage der preußifchen Armeeorganifation bis heute geblieben it, im
Bufammenhange dargelegt. Wenn wir etwas an dein VBuche ver-
miffen, jo it «8 die häufigere Verwendung individueller Züge,
manches der Art aus den „Erinnernngen“ jähe man gerne in ber
Darftellung des Verfaffers vertvendet. Höchft intereffant find die
zwei Selbjtcharakteriftilen und Selbftkritifen Boyen’3 aus den Jahren
1502 und 1803, welde Meinete mittheilt. Man kann zweifeln,
06 8 recht iit, folche rückhalticje Gntüflungen des Innern, die mır
für Gott umd das eigene Muge beftimmt find, der Deffentlichfeit zu
übergeben ; vollfländig wird das nie gejchehen Lönnen und aud) Hier
find einzelne Auslafjungen notwendig gemefen. Aber wie fie nun
einmal vorliegen, machen fie einen tiefen Gindrud; nur ein hoher Sim
Litterärifhe Umfchan. 8
und ein Charakter von umbedingter Wahrhaftigkeit können fo mit dem
eigenen Ich in’3 Gericht gehen. Ieder Anflug von Genialität fehlt
Boyen’s Perfönlichkeit, feine file, wenig nad) Außen tretende Natur
barg jedod) tiefe Leidenfchaft in fich, große geiftige und militärifche
Begabung verband fich in ihm mit. eifernem Pflichtgefühl, ein erniter
Nationalismus vereinigte fic) bei ihm mit großer Gemüthstiefe, idealer
Sinn und völlige Selbftlofigfeit geben feinem Charakter das Ger
präge, und die heißefte Vaterlandsfiebe, die ihm zur Religion wurde,
erfüllt feine ganze Seele. Das vorzügliche, dem Buche beigegebene
Portrait, welches Boyen im Alter darftellt, drüdt, namentlich in
den Augen, ebenfo Klugheit wie Kindlihfeit aus. Möge der Schluß-
band des trefflichen Werfes nicht allzu Tange auf fich warten lafjen!
Ein wichtiger Beitrag zur neneften Gejchichte ift der fünfte
Band des Werkes: Aus dem Leben von Theodor von
Bernhardi, welcher den Nebentitel führt: Der Streit um
die ElbherzogtHümer Y). Die bier veröffentlichten Tages
buchblätter reichen vom 1. Januar 1863 bis zum 18. Februar
1864, umfaffen alfo nur wenig mehr al8 ein Jahr. Der Konflikt
zwifhen dem preußifchen Wbgeordnetenhaufe und der Aergierung,
der Aufjtand in Polen und die durch den Tod des Königs
Friedrih) VII. von Dänemark brennend gewordene Schlesrig«
Holfteinfche Frage find die Hauptgegenftände, mit denen ji) die
Tagebuchaufzeichmmgen Gefchäftigen. Vernhardi ftand mit vielen
Hochftehenden und angefehenen Männern in Verbindung, er wurde
mehrfach aud) zum Tafel des Mönigs gezogen, Hatte perfünfiche
Beziehungen zum Krouprinzen und deffen Gemahlin, verkehrte mit
Miniftern und Diplomaten, kurz, Halte reichlich Gelegenheit vieles
zu hören und zu erfahren, was den meiften andern Menfchen vers
borgen bleibt. Es ift daher erflärlic, daß fich in dem Vuche viele
interefjante Aufichlüfe über Perjonen und Zuftände finden und
daß manche Mitteilungen gemacht werden, die von Hiftoriichem
BVerthefind. Dahin rechnen wir befonders Berharndi’s Unterredungen
mit dem Krieggminijter von Moon, die Wenferuugen König
Leopolds I. von Belgien in der langen, Bernhardi gewährten
Audienz, endlid die Schilderung des Treibens am Hofe des
1) Leipgig. ©. Hixel, IM.
90 Litterärifche Umschau.
Auguftenburger3 in Gotha und feiner Umgebung. Bei weiten
wichtiger aber al8 burd) bie einzelnen hier berichteten Thatfacdhen
erfdjeinen uns diefe Tagebudjblätter als Spiegelbild der damals in
den einfichtigften und unterrichteften Streifen herrjchenden politifchem
Anschauungen und Urtheile; daß diefe von einem jo fcharfblienden
und Mar urtheifenden Marne, wie Vernhardi, aufgezeichnet find,
gibt ihnen erhöhte Bedeutung. Vernhardi Hagt mehrmals über
die allgemeine Plantofigfeit und feine Aufzeichnungen beftätigen
diefe IHatfache durchaus. Aber nody eine andere Wahrnehmung
drängt fi dem Lefer diefes Bandes fortwährend anf: die ver-
fhjiedenften Perfonen, nicht zum wenigften Vernharbi jelbit, fucen
fortwährend auf den König, den Kronprinzen, einzelne Minifter
und andere deutfehe KFüriten im Sinne ihrer Partei und ihrer
politfchen Anihanung einzwoifen, damit die Negierung zur
Aenderung ihres Epftem$ oder eunzelner Daßnahmen genöthigt werbe.
Doß ein folches Vorgehen, eine folde Einflugübung in nicht ver»
antwortlicher Stellung dem Fonftitutionellen Syften, deffen Anhänger
and Vertreter fie als eifrige Liberale doc waren, durchaus wider
fpricht und wenn fie gelungen wäre, nothtwendig zu einer Art von
Nebenregierung hätte führen müffen, ähnlich der fo viel gehaßten
Gamarilla unter Friedrich, Wilpelm IV, nur mit entgegengefegten
Tendenzen, darüber fcheint fid) teiner diefer eifrigen PVolititer Har
geworden zu fein. Berngardi fommt wohl mitunter eine Ahnung
diefer Sachlage, fo wenn er 5. B. einmal meint, wenn man der
Regierung ernftliche Oppofition mache, müffe man fich aud) bereit
Halten an ihre Stelle zu treten, und er hat mitunter das richtige
Gefühl, daß diefes nanze Treiben und Wirken im Grunde dod
zved- und erfolglos ijt, das Ichrt fein Ausiprad: man vermag
fehr wenig, wenn man wicht jetbt in den Gefchäften üit; aber er
Tann e3 doc nicht Tafjen gemeinfam mit feinen Freunden immer
wieber zu verjuchen, durch) hochgeftellte Perfonen auf den König in
ihrem Sinne einzwwirken und das Minifterium zu veranlaffen, nady
ihren Vorausjepungen den Staat zu Teiten. Bejonders die autd«
wärtige Politit mödpten fie nad) ihren Geficjtspunften gehandhabt
jehen und üben an deren Führung die fcjärfite Kritit. Es ijt
jehr bezeichnend, da VBernhardi zu Vismard nicht in der geringften
Beziehung fteht, alles was er von ihm und feinen Meußerungen
Litterärische Umfchau. 9
berichtet, hat er nur von Hörenfagen und dennoch urtheilt er über
feine ‚Bläne und Abfichten ab, als wären fie ihm völlig bekannt.
Wenn der Herausgeber in feiner dunfeln Vorrede meint, Bernhardi
ftehe in feinen Anfichten-und Uxtheilen hoc; über dem Durchichnittsr
liberalismus jener Tage, ift das nur zum Theil vihtig. In
einer Frage allerdings, in der er volle Sadhfenntnih bejaf, in
der Frage ber Armeereorganifation, war fein Urtheil volltommen
frei von der damaligen Parteiverblendung und Hat fid) glänzend
bewährt. Im Uebrigen war Bernhardi ein Altliberaler und, ob»
gleich ein entfehiebener Gegner der demofratifchen Fortichrittspartei,
doc nicht frei von den Schwäcjen diefer dbortrinären Politiker,
wenn er auch die realen Mächte im Staatsfeben befjer würdigte,
als die meiften feiner Gefinnungsgenofjen. Gerade in den Fragen
der auswärtigen Politif, über die er bejonders jadverftändig zu
urtheilen glaubte, zeigt fi) die Unzulänglichkeit des doctrinären
Standpunfts am deutlichiten. Cr findet, Bismard Habe ohne
politiches Programm das Minifterium übernommen und tadelt forte
während die PBlnnfofigteit feiner Bolitit, fieht ihn ganz der Kreuz-
geitungspartei verfallen und meint immer wieder, Bismard wolle
Schleswig-Holftein den Dänen überfaffen. Dah Bernhardi Bismards
geniale Politik, die damals auf oft ehr verjcjlungenen Wegen ihr Biel
verfolgte, nicht erfannte und begriff, daraus fan ihm fein Bor
wurf erwacjen. Uber da er von einem Gtaatsmanne, defjen
Genie er früher felbft anerfanıt Hat, glauben Eonnte, er lafje
fih mur von den äußeren Umftänden bejtimmen und handle ganz
siefe und planlos, das it Fchwerlic) zu entf@julbigen, od) weniger,
daß er aus bdiefer feiner Anficht aud fremden Staatsmännern
gegenüber fein Hehl macht. Bernhardi lich fich durch feine faliche
politiiche Auffafjung der Dinge und dur) das an jic) jehr chren-
werte Bejtreben, an der Losreißung der Eibherzogthümer von
Dänemark mitzuwirken, dazu beftinmen, in den Dienft des Auguften-
burgers zu treten, für ihn jenen dur nichts zu rechtfertigenden
Brief an Napoleon III. zu fehreiben und als fein Agent nad) London
zu gehen, wo er natürlid) nid)t3 ausrichtete, aber über die Stimmung
der maßgebenden politifchen Kreife gegen Preufen und Deutichland
Iehrreiche Erfahrungen machte. Von feiner früheren Werthihägung
der politifchen Weisheit und des weitgehenden Einfluffes Herzog
92 Sitterärifhe Umfchan.
Eruft IT. von KRoburg ift er in diefen Tagebudjblättern völlig zurüd»
gelommen; er durchjchaut den theatralifchen und egoiftiichen Charakter
diejed Fürften ganz und gar. BVergeblich Hat ber eitle Herzog
feine pofitijche Thätigteit in drei fehtweren Bänben felbft verherrlicht;
man Fan die Nachwelt auf die Dauer dod) nicht tänfchen und bie
Wahrheit Tommt zufegt immer an’3 Licht. E3 Hat großen Meiz,
die urfundliche Darftellung der Gefchichte biefer Zeit in Gybel's
Wert mit Vernhardi's Tagebuchblättern zu vergleichen und die
Staatskunjt Bismard’s, wie fie wirflich war, den hier ausge
fprochenen verfehrten Urtheilen, fhiefen Auffafjungen und uubes
gründeten Veforgniffen gegenüber zu ftellen. Cs ift ein troftfofes
Bild der damals in allen Kreifen Preußens herrfchenden Verworrendeit
unb pofitifchen Unreife, weldjes man bei dev Lektüre des vorliegenden
Bandes der Aufzeichnungen Bernhardi’s erhält; auc) die Diplomaten
von Beruf, wie Graf Vernstorff, Savigny und andere zeigen nicht
viel größere Einficht als die Uebrigen, von dem gefchäftigen Herrn
Geffden, der fid) nachher durd; feine Gegnerfchaft gegen Bismard
fo befannt gemacht, ganz abgejehen. So werden diefe Mufzeichnungen
wider Beruhardi’s Willen zu einen glänzenden Denkmal für bie
überlegene finatsmännifce Einficht Vismard’3, der allein den
Bufammenhang der politifchen Verhältniffe Europas durchicjaute
und auf dem Boden der Realpolitit feine Ziele verfolgte. Neinen
Genuß gewähren dem Lefer Bernhardi's Neifebeobachtungen in
Belgien und England, ebenfo feine Kumftnrtgeile; man bewundert
feinen fdarfen Blid und feine ricjtige äfthetifce Auffaffung. Auch
fonft begegnet man vielen treffenden und guten Wemerkungen in
dem Buche. Manches hätte ohne Schaden für den Inhalt gekürzt
werden, manche Wiederhofung fortgelaffen, and) wohl einzelne auß«
gedehnte Gefpräche zufanmengedrängt werben fünnen. Wir jehen
den fechften Bande wit Spannung entgegen. Wird in ihm fich
Bernhardi das Verftändniß der Staatsfunft Bismard’3 zu erfhließen
beginnen ?
Von ben biographiihen Blättern) liegt uns das
vierte Heft vor, mit welchem der erfte Bad fchlicht, das dritte it
ung noc) nicht zugegangen, Wir heben aus jeinem mannigfaltigen
1) Berlin. Exnft Hofmann.
Sitterärifche Umfhan. 93
Inhalte die Charakteriftit Rudolf von Gneift'3 von Zofeph Reblich
and die pietätvolle Würdigung H. von Sybel’3 durd) feinen einftigen
Schüler E. Warntrapp bejonders hervor, an bie fi) E. Betiche's
Auffat über Gottfried Keller ald Maler anreiht. Sehr interefiant
find die von TH. Wiedemann mitgetheilten Briefe Leopold Rante’s
aus Italien an Warnhagen von Enfe von 1828—1830, die einen
bebentfamen Beitrag zu Nanle'3 Biographie liefern. Auch die
5 Briefe von €. M. Arndt an Karl von Raten aus den Jahren
1844—49 lieft man, \vie alles, was von diefem termdeutjchen Manne
tommt, mit Vergnügen. Nicht eigentlich in den Nahmen ber Zeit-
chrift gehören zwei Briefe Karl Hillebrand'3 über das Lefen als
Bildungsmittel; aber fie find fo inhatreich und beachtenswerth,
daß man fich ihrer Veröffentlichung freut. Wir wünfchen ber
Beitjchrift beften Fortgang, möge ber neue Jahrgang an anziehenden
biographiichen Auffägen und Mittheilungen ben erften noch übertreffen.
Schon wieder ein nenes Bud über Italien! werden viele
unmuthig ausrufen, wenn ihnen die Schrift von Otto Kaemmel,
Italienifhe Eindrüder) zu Gefichte fommt. Man würde
aber irren, werm man darin eine Meifebefehreibung oder eine Schif«
derung der Kunftwerke Staliens zu finden glaubte, Der Verfafier,
‚Hiftorifer feines Zeichens, hat mehrere Frühlingswochen des vorigen
Jahres dazu benupt, Italien vom Norden bis zum Süden zu durche
ftreifen und theitt in dem vorliegenden anfpruch3lofen Wücjlein die
Eindrüde mit, welche er von Land und Volk erhalten hat. Die
geniale Auffaffung und glänzende Darftellung eines Bictor Hehn
wirde man in der Schrift vergeblid) fudhen, aber e& ift ein wohle
wollender, fachfundiger und unbefangener Beobachter, welcher daraus
fpricht und defjen Ausführungen wir gerne folgen. Er giebt zu-
nächft beherzigenäwerthe Winfe, wie man in Stalien reift und betont
mit Necht, daß, um im dent fchönen Lande mit Genuß und ohne
Aerger zu reifen, die Kenntnig der italienifchen Sprache abfolnt
unentbehrlich ift. Das Kapitel über den Volkscharakter und das
Voltsleben in Stalien ift eines ber anziehendften in dem Buche;
der Verfafjer erkennt die großen Vorzüge ber Italiener durchaus
an, verjchweigt aber aud) ihre Schwächen nicht. Auc) der Abfchnitt:
1) Leipzig. Br. Wilf. Grunew. 1 M. 80 Pf.
94 Kitterärifche Umfchau.
Volkswirthfgaftliches und Soriales enthält des Lehrreichen und
VBeachtensiwertgen nicht wenig und fordert zur Vergleihung mit
den deutfchen Verhältniffen auf. Ueber die römijche Kirche urtheilt
der Verfaffer mit Villigfeit und die Cchattenfeiten des itaftenifchen
Nationalftants verfhweigt er nit. Wir folgen ihm gerne, wenn
er und die Eindrüde fehildert, weldhe er von deu italienischen Land»
haften im Norden und im Süden erhalten hat. In dem leten
Abjhnitt über die Städte als Hiftorifche Denkmäler verbinden ji,
die Wahrnehmungen des Neijenden mit den Anichauungen des
‚Hiftorifer8 in intereffantefter Weije. E3 ift eine fehr bemerfens-
werthe Beobachtung Kaemmel’s, daß es in Italien faft gar feinen
freien Bauernftand giebt, fondern nur Pächter und Tagelögner und
ebenfo, daß das Vürgertfum der Städte fi) weit hinaus auf die
Dörfer erftredt. Für denjenigen, der Italien noch nicht gefehen
Hat, wird Kaemmel’3 Büchlein eine nüpliche Worbereitungsleftüre
jein und dem, der das Land der Sehnfucht für alle Nordländer
f&jon fennt, wird c& viele angenehme Nüderimerungen erweden.
Bei der Fülle von Werfen über die dentihe Litteratur muß
jedes nene Buch diefer Urt erjt feine Epriftenzberechtigung erweilen.
3 herrfcht auf diefem Gebiet eine foldie Ueberproduftion, daß
man jeder neuen Erfdjeinung diefer Art mit beredjtigtem Miftrauen
entgegentritt, zumal wenn fie den Charakter eines kurz zujammen-
faffenden Hanbe oder Lehrbuds trägt. Um fo mehr jdeint 8
geboten, auf ein Bud) hinzuwveifen, daß, obgleich e8 die Form einer
furzen Ueberficht hat, dod) der Beachtung und Verbreitung durchaus
werth ift. Es ift dag Mar Koh’3 Gefhidhte der deutjhen
Litteratur. Der Verfaffer, Profeffor an der Univerfität zu
Breslau, hat e8 verftanden, die Mafje der neneren Forfchungsrefultate
in einem Heinen Raume zufammenzudrängen und giebt in einem
kurzen Sage, oft nur in einem Worte, die Ergebnijfe umfaffender
gelehrter Unterfuchungen. Bejonders werthvoll ift dadurd) der die
ältere Literatur behandelnde Theil des Buches, aber aud) für die
fpäteren Perioden find alle wic)tigeren litterärzhiftorifchen Arbeiten
verwerthet. Daß durch das Streben, möglicjft viel Stoff in die
einzelnen Säge hineinzubrängen, bisweilen Schwerfälligfeit und
1) Etutigart. 6. I. Göfchen’fche Verlagshandlung. Gefepentausg. 3 Mr.
Litterärifche Umschau. 95
Schwerverftändlichteit entfteht, ift bei der Ausführung einer Aufgabe,
wie die hier gejtellte, faum zu vermeiden. Auch in den Urtheilen
über manche neuere Dichter wird man vielfach anderer Meinung
fein als Koch. Am wenigften Tonnen wir ung mit feiner überz
Ichwänglichen Bewunderung der Mufifdramen Richard Wagner’s,
in denen er gleichfam den Gipfel und Abfchluß der neueren beutjchen
Litteratur fieht, einverftanden erklären; wenn wir aud zugeben,
daß fie weit über ben andern Operntegten ftehen, jo fünnen fie,
rein ald Werte der Voefie betrachtet, dod) auf feinen hohen bic)«
terifchen Werth Anfpruc) madjen. Zu dem modernen Naturalismus.
nimmt Koch) eine abrvartende, wem auch nicht jehr günftige Stellung
ein; hier wäre ein entfchiedenes Verwerfungsurtheil am Plage
gewejen. Kod’s Litteraturgefdjichte Tann Allen, bie fid) mit dem
gegenwärtigen Stande der Forfchung bekannt machen wollen, warır
empfohlen werden und aud) derjenige, der mit dem Entwicelungs-
gange der deutjhen Litteratur vertraut ift, wird das Buch nicht
ohne Nugen und Velehrung zur Haud nehmen.
Dit der neneften Litteratur bejchüftigt fid) eine beachtenäwertge
Schrift von Siegmar Schulte: Der Beitgeift ber
modernen Litteratur Europas. Einige Kapitel zur ver-
gleichenden Litteraturgefchichte.)) ES werden darin die Haupt»
richtungen ber mobernen Litteratur und ihre Vertreter in Franfs
reich, Rußland und Skandinavien behandelt, während Deutjchland
einer fpätern Veröffentlichung vorbehalten bleibt. Ju einem ein-
leitenden Kapitel fpricht fich der Werfajfer über den Buftand des
Beiftesfebend in der Gegenwart aus und gelangt dabei zu einem
trofilojen Nefultat; er findet, daB die Menfchheit fi in einer
Periode des Niederganges befinde und dem Abgrunde ber Barbaret
fi nähere, da überall Zeichen tiefer Entartung fi) kundtgun.
Dean könne fic) Leinen größeren Gontraft benfen, fagt er, ala ben
zwifchen der hoffnungsfreudigen, den höcjiten Zielen zugewandten
idealen Stimung der Geifter am Ende de3 vorigen Jahrhunderts
amd der pefjimijtifchen, an jedem höheren Biele der Meenichheit
verzweifelnden, jteptifchen und materialiftifchen Geiftesrihtung am
Ende de3 gegemwärtigen. Schule fieht den Grund des geiftigen
1) Halle a. ©. Berlay v. €. U. Anemmerer, 1 DM. 20 Pi.
% gitterärifche Umschau.
Niederganges unferer Beit im Verfjchwinden des Glaubens an das
Gute und deffen endlichen Sieg in der Welt, a da8 Ewige, an
Gott. Wir fönnen diefen Ausführungen mır vollfommen beipflichten.
Ebenfo treffend und wahr ift, was er über das Ariom der Moder-
nen: man mühe die Wirklichkeit darftellen, und die damit verbune
dene neue Aefthetif jagt, forwie was er über den völligen Gegenjag
zvifchen der Haffifhen und modernen Litteratur auseinanderfeht.
In zwei weitern Abchnitten führt Schulge dann überzeugend au,
wie der philofophifche Materialismus die Grundlage ber modernen
Litteratur ift und wie fie gang und gar von den Lehren des
Darwinismus beftimmt und beeinflußt wird. Der Menfc ift ur-
fprüngfich Thier, das ift die Grumdvorausfegung diefer Litteratur
und die Refte und fortwirkenden Cfemente diejer Thierheit im
Velen und Handeln des Menfcen nachzuweifen und darzuftellen,
betrachten die naturaliftiichen Schriftfteller als ihre eigentliche Auf-
gabe. Nachdem der Verfafjer hierauf die Hauptvertreter de mo-
dernen Naturalismus furz, aber treffend, meiftentheils durd) ihre
eigenen Ausiprüche dharafterifirt Hat, geht er auf die Heilmittel
über, welche aus ihrer eigenen Mitte gegen die fortfchreitende Ents
artung der Menjchheit in Vorfchlag gebradjt werden. CS ift iehr
Ichrreich und für daB tief in dem Menfchenherzen wurzelnde Ber
dürfniß nad) einem höheren Biel, nad) einem idealen Bwede des
Dafeins bezeichnend, daf fogar diefe modernen Naturaliften, welche
die rüdfichtslofe Befriedigung der Begierde, die Herrichaft des
thierifchen Zufticts al das eigentlich Menfcjliche verkiinden, do)
genöthigt find, für das Menfchendafein irgend einen Bivet aufzu-
fuchen. Rad) Aufführung der verfchiedenen von den Hervorragend»
ften modernen Naturaliften proponirten Heilmittel zur Hebung der
Menfehpeit geht Schule näher auf Niepiche's Mhilofophie der
Geiftesariftofratie ein, in der er mit Mecht eine Reaction gegen bie
vom Naturalismus geleugnete Jubividualitit des Menfhen fieht.
Er hebt die Echwächen diefer Theorie treffend hervor, nrtheilt aber,
anferes Erachtens, zu günftig über diefe nach einer anderen
Nichtung ebenfo wie der Naturalismus verderblide, wahrhaft teuf-
fifche moderne Weisheit Zum Schluf wird der Myfticismus als
eine nothiwendige, aber in feiner Entartung ebenfalls frantHafte
Reaction gegen den Naturalismus behandelt. Diefer Abjcnitt
Litterärifche Umfehau. 97
fordert am meiften zu Bedenken mb Einwendungen heraus. Das
Wefen der deutjchen Romantit am Unfange diefes Jahrhunderts
verfennt der Verfaffer vollftändig; «8 aus Fr. Schlegel’ Lucinde
herzuleiten und zu erllären, ift ganz verfehrt. Yud) da die Haupt-
ftätte der muyftiichen Nomantit in der erften Hälfte diejes Jahre
Hunbert® nicht in Dentjchland, fondern in Frankreich gerveien fei,
müfjen wir durchaus beanftanden. Endlich feheinen uns die jata«
nifchen Poefien von Charles Baubelaire, Rollinat und anderer
nener franzöfifcher Autoren in jede andere Rubrik eher, als in die
des Mpfticismus zu gehören. Der refigiöfe Standpuntt des Ber-
faffers ift ei ernfter und wohlmeinender, aber etwas verj hwonmen
und unbeftimmt. Mit einem vagen Theismus wird man die gewaltige
Macht desliaterialismus und Naturalismng nicht erfolgreich befümpfen,
dazu bedarf 8 eines pofitiven, fraftvollen, gefeftigten refigiöfen
Glaubens. Die Darftellung ift oft etwas breit und weitjchtweifig
ab Teidet an manchen Wiederholungen. Aber die Schrift berugt
auf forgfältigen Studien, it Lehrreidh und berührt angenehm durch
ihre ernfte Haltung. Wir empfehlen fie angelegentfid) allen, bie
fid) nod) nicht völlig von den Theorien und Lehren des modernen
Naturalismus Haben berüden und umftriden Lafjen, zu aufmerkjamer
Kectüre und ernftem Nacjdenken.
€3 ift eine wahre Erquiclung, wenn mau, auß der miasmati-
fen Stidfuft des modernen Naturalismns heraustretend, wieder
einem Dichter von idealer Geiftesrihtung begegnet. Der hervor-
tagenbfte deutfhe Humorift de Iegten Menfchenalters, Wilhelm
Naabe, hat mod) lange nicht die verdiente Anerkennung und Wür«
digung gefunden. Er Hat fi) in der Tangen Reihe feiner dichterie
ichen Production, deren Zahl vielleicht zu groß ift, immer ernfter
und immer tiefer entwicelt, Nachdem er zuerft mit Kleinen, meift
Kiftorifchen Erzählungen, in denen ein Halb fhaftgafter, Halb ironi«
iher Humor oft zur Erjdeinung fommt, begonnen, hat er die
Näthjel des Lebens, die Frrgänge des Menfchenherzens, feine Ver
f&ränftgeit und Größe in immer neuen bicjterüchen Werfen mit
tiefem, oft je hwermithigem Humor gejehildert. In drei Vänden
gefammelter Erzählungen) ftellt er jept feine früheren
1) Lerlin, Berlag von Olte Iante.
9 Litterärifche Umfchan.
fleinen Arbeiten zufammen. Der uns vorliegende erfte Band ent
hält mande wohlbefannte Stüce, die man aber gerne von Neuem
Tieft. Wir heben davon drei al8 befonders anzichend umd für
Naabe’3 Darftellung in der erften Periode feines Schaffens harafter
xiftifch Hervor: die fehwarze Galeere, das legte Recht, aus dem
Leben des Schulmeifterleins Michel Haas, in weld' Iehterer Nos
velle ber Grzäßferton vom Anfange de vorigen Jahrhunderts vor-
züglich getroffen ift. ber auch die übrigen Erzählungen des
Bandes find des Lefens werth. Diefe furze Hindeutung auf das
Erfcheinen bdiefer Sammlung möge die Freunde ernfter poctifcher
Zectüre, namentlich foldhe, die Ranbe noch nicht fennen, auf fie auf«
merkjam machen; bie ideale Tendenz und bie fittliche Reinheit find
nicht ihr geringfter Vorzug.
Einen ganz andern Charakter al3 diefe Erzählungen zeigt
Raabes meueftes Werk: Die Akten des Vogeljangs.')
Der räthfelhafte Titel beharf der Erklärung. Der Vogelfang iit
die Tändliche Vorftadt einer Meinen Refidenz und die Akten find
die Aufzeichnungen, welche der Oberregierungsrath, Karl Krumhardt
über fein gemeinfames Jugendfeben mit Velten Andres und Helene
Trogendorff im Vogelfang unmittelbar nad} dem Tode feines Jugend-
fremdes madit. Das Buch fängt eigenthümlid) genug mit einem
Briefe von Helene Trogendorff an den Berichterftatter an, worin
fie ihm den Tod Veltens meldet. Dann erjt beginnt die Erzählung
von dem Leben im Vogeljang. Die Schilderung des Bufammen-
Tebens, der thörichten Streiche, de3 Etreited und der Wiedervers
Fühnung von Velten und Helene find meijterhait, 8 ijt ein wahres
Söyll, in das ums der Verfaffer Hineinverfegt. Aber and) der
Ucbermuth, die derbe Ausdrudsweiße, die Auflehnung gegen jede
Autorität bei den heramvadhjenden Gymmajiaften, wie der Trog
und Eigenwille des Mädchens find vortrefflicdh aufgejaßt und mit
bervundrungswürdiger Kunft zum Ausdrud gebradht. Wuc) die
Eitern ber beiden Knaben, die Frau Doctorin Andres und der
Oberfecretär Nrummharbt find wahre Prachtgeftalten; jene, eine
Fran von dem liebevofliten Herzen und phantafiereihen Kopfe,
allen winderlichen Einfälfen und Handlungen ihres Sohnes bereit»
') Berlin. Derlag don Otto Jante.
Litteräriiche Umschau. 99
tilliges Verftändniß entgegenbringend, diefer, ein braver und wohl-
wollender, aber allem Phantaftifchen von Grund aus abgeneigter
Kanzleimenfch, ber fein höheres Ziel fenut, al8 feinen Sohn ftudiren
zu laffen und dann eine höhere Stellung in der Beamtenhierardjie
einnehmen zu fehen, als e3 ihm, dem Unftudirten, wergönnt gemefen.
Auch der alte einfache Bürger Hartfeben, bei dem Helenens Mutter,
eine verdrehte Dentjchamerifanerin wohnt, ift eine rechte Charakter
figur, ebenfo die Frau Fechtmeifterin Feucht. Der eigentliche Held
des Romans aber ift Velten Andres, defjen Weien durch di
Göthe’ichen Werfe bezeichnet wird: Ein leicht bewegtes Herz It
ein efend Gut Auf der wanfenden Erbe, Diefen ganz eigenartigen
Charater Hat Raabe mit wunderbarer Kunft dargeftellt und mit
fefter Hand bis zu Ende durchgeführt. Won früh a fug)t Velten
durd) Celbftironifirung fein Herz zu verbeden und zu fdügen.
AUS der reichgeworbene Vater Helenens feine Frau und Tochter
nad) Amerika zurüctuft, da folgt er ihr fpäter, dem die Liebe zu
ihr erfüllt fein Herz. WS fie dan doc) einen reichen Yankee
Heirathet, fehrt Velten zu feiner Mutter zuriic. Cr fucht durd)
Selbftverfpottung und Ironifirung aller Empfindungen Göthes der den
angeführten Verfen voransgehenden Mahnung: „fei gefühllos“ nad)=
zufommen, Cr verbrennt und verfehenft nach dem Tobe feiner
Mutter allen ihren Nachlah, weil er fein Eigenthum auf Erden
mehr haben will, Wer aber gefühllos und ohne igenthum auf
Erden fein will, der Hat auf ihr nichts mehr zu thun, defjen Herz
it geftorben. Und fo geht denn der Zdcafijt Velten zufegt unter,
in feinen Tegten Stunden von Helene Trogendorff, die Witte
geworben, gepflegt. Dieje Helene ift die unigmpathiichite Gejtalt
im Buche. Ein jchwermüthiger, oft düfterer Humor durchzieht
da Merk und wirkt nicht felten tief ergreifend. Die Darjiellung
ift etvag manirirt, Wiederhofungen desfelben Ansoruds und
mannigjache Umfchreibungen find dem Humor eigenthünfich. Es
ift ein ernftes, tieffinniges Buch, diefe Akten des Vogelfangs, feine
Lektüre für jugendliche, Hoffmungsfroh in die Zukunft blidende
Gemüther. Aber Menfchen gereiften Geiftes, die das Wejen diefer
Welt in der Schule der Erfahrung fennen gelernt haben, werden
es mit theinehmendem Verftändniß Lefen und nicht ohne cin Gefühl
der Wehmuth aus der Hand legen. HD.
»
*
*
100 Litterärifche Umfcau.
Bei der Nebaltion der „Balt. Mon.“ find ferner jofgende Sepriften zur
Veipzedjung eingegangen:
Aroter, G., Geichichte der griedifchen Litteratur. 1. Band: die Pocfie,
Keipsig, Fr. W. Grunon).
Verbed, D, Der erfle Befle. Die Neuenhofer Mlude, Maria Neander.
Drei Ergählungen. (Leipsig, Fr. W. Grunow).
Als der Großvater die Großmutter nahm. Ein Liederbuch)
für altmodifche Leute, Dritte vermehrte und verbefierte Aufl. (Beipsig.
Fe. MW. Grunen).
Siäarling Henril, Junge Helden. U fe Hjälms und Palle Löwe
Spaten. Aus dem Dänifchen von P. I. Willapen. (Bremen, I. Heinfius
Nachfolger).
Genficen, ©. %, Parrhausfegen. Eine Dicptung. (Berlin, A, Dunder),
Rirdner, Lie. Dr. Fr, Die beutjcje Nationallitteratue deB 19. Jahr
Hunderte. (Heidelberg, Cg. Weib).
Memoiren des Grafen Gruft von Münnic. Heraudg. von
A. Jürgenfohn. (Stuttgart, I. ©. Gultarjche Buchhandlung, Radjolger).
Hörihelmann, D. F. Profi Andrens Knopfen, der Reformator Rigas.
Leipyig, U. Teicherliche Verlagebuchandlung. Georg Böhme).
Beilage
zur
Baltifchen Monatsichrift.
März 1896.
Inhalt: Das Recht der Lords von Ningiale. Bal-
lade von L. v. Schröder.
Der alte Stard. Erzählung von Alerander
Stehen. von Mengden.
Kunftbriefe. VI Bon 3. Norden.
Litteräriihellmidhau Xon H, D.
Nachdrnd verboten.
Das Necht der Lords von Kingjalct).
Ballade von 2. v. Schröder.
Johann de Couren, ein Nitter werth,
Gar treu cr war feinem Herrn,
Nein Andrer jchwang fo gewaltig das Schwert,
Nein Andrer fchmang 8 fo gern.
„Dem König Richard gehört mein Arm,
Dem Löwenberzen mein Blut!
Für König Nichard der Feinde Schwarm
geriprengte er uftig und gut.
Doch als Aönig Nichard fant dahin
Und Here ward König Johann,
Der fihlug in Yanden mit argem Si
Nönig Richards treueften Man.
‚Meinen Bruder Richard du ichteft jehr,
Mit ihm wur wollteft du zichn!
Xah mi
Jam Turm nun traue um ihm.
Zu Werd, du Ahörichter Könt
Jet Halte den Franfen Stand!
Zu ftreiten rüden fie driuend heran
Um das fdöne Normannenland.
„Meinen beiten Nitter fen’ id Dir —"
Der Franfen König entbeut —
„Stell Deinen bejten, fie Kmpfen hier,
Entjepieden jei 05 noch) heut!”
9 feiern mn Schwert und Speer,
Fohann,
*) An diejes berühmte Necht, Das jich jeit vielen Jahrhunderten fchon
in der Kamilie der Aingfales fortgeerbt hat, wurden wir vor einigen Monaten
erinnert, als die Runde vom Tode eines Yord Aingfale dur) alle Zeit
104
Johann, du thörichter König Johann,
Wie Hei die Heu’ Dir erwacht!
Du Haft Deinen beiten Kittersmann
Geworfen in Kerfers Nacht.
Der Nönig podht an des Nerfers Thor:
„Mich reuet, was ic, geihan!
Tu guter Ritter, tritt eilig hervor,
3u fehten für uns auf dem Man!“
Johann de Conrey, ein Nitter gut,
Tas Wort cr fhweigend gewährt,
Er jept auf's Daupt fi den Eifenhut,
Er fcwingt fich gerüftet aufs Pierd.
Er wirft den fränfifchen Nittersmann
Gewaltigen Schnwungs in den Sant
„Kür Did, mein König, ich bier gewann
Das jcöne Rormannenland!”
„Nimm, edler Kitter, nimm Tanf und Lohn
Und fordee, was Dir gefällt!
Was bieten ich fan von Englands Ihren,
Es fei Dir gewähret, Du Gelb!”
0 fei mir gemährt, vor Englands Herrn
zu ftchn mit bedestten Haupt,
Und Söhnen und Enteln in weitefter Feen’
Sci nimmer das Vorredht geraubt.“
„Nimm bin die Gnade für ewige Zeit,
Aür Söhne and Entel, nimm Gin!
Sie zeuge, daS berrlichite Ehrentleid,
Von dem herrlichften Niterfinn."
„And wer die Strone von England trägt,
Sei ftolz auf Dich und Dein Ned,
Und Lafs c$ auc, dauern umentwegt
Fortab vom Gefchlecht zu Geicpledh."
ee
der alte Stark.
Erzählung von Alerander reiferen von Mengden.
Il
Id) verbrachte meine Sommerferien im elterlichen Haufe in
ber Hafenjtadt N., die zu jener Zeit mod) ein idylliiches Nejt war
und nur wenig an den jtolzen Handelsplag gemahnte, zu dem fie
fi mittlerweile ausgemwadjien hat. Id war zwanzig Jahre alt
und Student.
Die Kommilitonen weilten jest größtentheils fern und ganz
feife nur fchlug das Braufen der Welt an die Thore der Jugend»
ftadt. Eigentlihe Langeweile aber verjpürte ih nie. Id ging
den Hafen hinab bis an die Mofen, wo an deren jteinernem Fu
in der frifchen Salzluft tie Wogen des heimathlichen Meeres bran-
beten, ich jagte im Stadtwalde nad) Wildtauben oder am Strande
nad) Möven oder auch: id) fchlenderte gemädhlich durd) die Gafjen
und Gäßgen der guten Stadt, die friedlih und traulich mit ihren
Mauern und Gärten aus dem Grün unzähliger Yinden emporwud)s,
und liebäugelte verjtohlen mit dem Farbenbande an meiner Bruft.
So that id) aud) an jenem fhönen Juninadmittage, der mich
mit dem alten Start zufammenführte. m der jonnigen Schwüle,
die über der Stadt ausgebreitet lag, fah ih im fpärlichen Schatten
der gegenüberliegenden Häuferzeile eine fleine vornübergebeugte
Geitalt die Strafe abwärts eilen. Die ungleichen, vuetweilen Schritte,
die fahrigen Bewegungen der furgen Arme, das Cigenthümtiche
ir
106 Der alte Stard.
der ganzen Erfcheinung: das fonnte niemand anders als der alte
Start jein.
Ich eilte hinüber und ihm nad.
Der Alte jehritt rüftig aus, den Nopf zur Erde geienft, in
der Rechten einen fehveren fAhwaryen Nnotenjtot, den er bei jedem
Schrüte wuchtig und Elappernd auf das Mlafter ftich. Wie ich
näher heranfam, bemerkte ich, daß; der duntele langichöhige Not,
den er Irug, an den Näthen glänzte und die pumpen Stiefel an
feinen Fühen geflict waren. Das war auch früher j—hon fo geweien.
„ser Stard!“, vief ic, „Herr Stand!”
Er hielt inne und wandte fih um, den Kopf feitwärts ge:
Tehet, wie neugierig und eritaunt, daß ihn jemand anrede.
Ein befonderer, merfwürdiger Nopf mit einem weitläufigen,
gelbfic bleihen, von unzähligen Fälthen bedertten Geficht, aus
dem unter hoher Stien Heine, trübe Augen ehvas mihlranifch mid)
anblicten. Dann aber, wie ich meinen Namen nannte, leuchtete
cs in den Aenglein auf, pfiffig freundlich und wehmüthig: ver-
müglich und über dem breiten Laden, weldeo den borftigen
pnurrbart in die Höhe hob, verfhwanden fie fait ganz unter den
Falten der Liber.
„Sie, junger Here!“, ftieh er mit ftarfer, vollender Stimme
hervor, welche einzeine Confonanten befonders auffällig betonte, und
drüdte mir herzlich die Hand: „Aus Dorpat zurüd, was? und «6
geht gut?" Er wies fchlau lädhelnd auf meine bunte Mübe. „Na
was frage ich! wenn man die friich auf dem Nopfe hat, Fann es
einem nicht fehlen!”
Seine Wenglein bligten ımd er fodt mit dem Stod auf-
geregt umher.
„Wahrhaftig nicht!” wiederholte er. „Schen Sie, junger
Her, es find an die fünfundvierzig Jahre her und doch ift cs mir,
als wäre cs erjt geftern, wie der Fernando Tften, mein liebiter
Freund — Gott habe ihn felig! — auf mich zutritt und die Freude
leuchtet ihm von feinem braven Geficht und er drüdt mir von
hinten her ganz fachte und verftohlen etwas auf den Kopf. Nun
ic) merfte ja gleich, daß; es der neue Dedel war. Na, und was
da folgte, der Zug in die Kneipe, und die Glücwünfhe der andern,
und von dort ins Weihe Hof... ."
Der alte Stard: 107
Der Alte Hatte fhmell und eifrig geipradien, jegt erloih der
Glanz in feinen Yugen, er ichwieg und fait bejhämt jenfte er den
Bid zur Erde.
„Verzeihen Sie, daß id) Sie mit alten Geidichten be-
täjtige,“ fagte er dann, mit einem eigenen, wehmüthigen Lächeln.
Er reichte mir die Hand: „IK muß gehn.“ Etwas wie Mitleid
regte fid in mir. Id mochte mich nody nicht von ihm trennen.
Kangjam gingen wir die Strafen hinab, bie mir vor einem un
anfehnlichen Haufe, deifen Thür zwei uralte Linden bejchatteten,
jtehen blieben. Ich fannte es wohl, denn im Erdgeichof lag die
Törnerfche Eonditorei, in der ich zuweilen voriprad. „Hier wohne
ich“, jagte mein Begleiter und deutete mit dem Mnotenjtoc zum
zweiten Stodwerf hinauf, wo am Biebel ein bejcheidenes Feniterchen
fihtbar war.
Wir Hommen die dunkle Treppe empor, die nur von der
Vodenfufe Her einen jEhwachen Schimmer von Yicht empfing. Der
Treppe gegenüber lag eine Thür. Während der alte Star
auf die Zehen Hob, um auf dem Gefimje nach dem Schliff
taften, ertönte von innen ein Inutes freudiges Gebell. „Leda”,
vief der Alte, und etwas Warmes, Jnniges legte fid) in den Ton
diejes Wortes.
Wie er öffnete, jprang uns an der Schwelle eine body
beinige gelbgeffecte Hühnerhümdin ftürmifc) entgegen amd an dem
alten Stard empor, dejen Geficht und Hände fie winfelnd zu feden
fughte. „Nujd) Dich, Lada, Fujch Did,” wehrte diefer die Lieb
fofungen mit liebevoller Strenge ab, „was joll der fremde Herr
von Dir denken!" Das Thier gehorchte, wandte fid) mir zu und
Inurrte leife und mihtrauid).
Id) fhaute mich um. Ein fleines, halbleeres Gemad, dns
von Verwahrlofung iprad) und in dem wohl nur jelten ordentlich
aufgeräumt wurde. Die Fenfter Halb erblindet, Wände und Dede,
die urfprünglid) weih getündht waren, jegt grau und brödelnd. Ju
der Eife ein j—hmales tannenes Bett, einige Stwohftühle, ein voher
Tifch, auf melden Daffen von Papier, weißer und farbiger Pappe
und verjchiedene VBuchbinderwerkjeuge ansgebreitet lagen, daneben
ein bürftiges Geftell mit Büchern und Zolianten in brammen falbs-
levdernen Einbänden, — Ueberrejte einer Jamilienbibfiothef wie
108 Der alte Stard.
6 Ichien. Das war die ganze Einrichtung. Ober dod) nicht, denn
über dem Bett war ein Nehfell gelpannt, von weldem herab an
Nägeln ein alter, aber gut gehaltener Vorberlader und daneben,
fich freugend, ein verrofteter Schläger mit großem farbigem Norbe
und eine Furze Pfeife mit angeräuchertem Kopf hingen. Die
Strömung bildete eine altmodijhe Studentenmüge von jener breit:
ichirmigen und maifigen Form, wie fie vor fünfzig Jahren in Dorpat
beliebt war. hr uriprünglides Grün hatte das Alter bis zu
einem lichten Gelb verwittert, und die Nundung war von un-
zähligen Landesvätern zerfegt. Wie etwas Ehrwürdiges grühte fie
von ihrer Höhe in den öden unmwirthlihen Raum.
Der Alte war meinen Bliden gefolgt, nun lachte er mit
jeinem bejonderen, gutmüthigen, fajt findlichen Laden; „Etwas öde,
nicht? Doc) jo wie Sie's hier jehn, wohne ich jdon fo mandes
Jah, ic) mit meiner Lada. Nm, nnd man gewöhnt fich chlicklid)
md danft Gott, da; ein Unterichlupf für uns da ft.“ Gr jprad)
nicht Hagend, nicht unzufrieden oder verbittert, fondern jo, als ob
fi) alles von felbjt verfiände. „Und dann,“ fuhr er fort, „aud)
unten habe ich viel zu danken, er giebt mir das
ia halb umfonft. Ein braver Mann, Gott vergelte
es ihm. Mit dem Pappen und Kleijtern da,” er wies auf den
Ti) — „Lüme ich nicht weit.”
„Ein wenig Grün Habe id) hier auch“, begann er nad) einer
fleinen Paufe wieder und trat an das Fenfter, von dem jid ein
freundlicher Ausblid auf den von Yinden und Objtbäumen bein
denen Hausgarten bot. „Ich freue mid) täglich dran und Nadı-
mittags Ichleicht fid) wohl aud) ein Sonnenftrahl in meinen Winkel.
Das ja hübjdh, obwohl . obwohl nur ein Schwacher Erjat
für einen, für den cs nichts Schöneres gab, als in Wald und
Vujc umherzuftreifen.“ Er feufzte leife.
„Zie waren Jäger?” fragte ich theilnehmend.
„Das wollte id) meinen, Herr.” Die Stimme des
Alten nahm einen energiichen Nlang an, der das „r“ dumpf vollen
lief. „Und ein richtiger Jäger, denfe id." Cr deutete auf das
Gewehr an der Wand. „Wo md wohinterher find wir Beide
nicht gewejen? Die Yeda freilich, es ift fhade um das junge Thier!
Der alte Stard. 109
Ich jage fait garnicht mehr, cs ws fo wenig zu Idiehen hier,
und dann — man wird alt .
Er Hlopfte der Hündin, deren Augen auf ihren Herrn gerichtet
waren, leife und bedauernd den ichönen Kopf. Cs fiel mir auf,
mie ungepflegt und mager das Thier war, aus dem bürren Leibe
fahen die Rippen deutlich hervor. md dann dachte id), wie jo
gut die beiden, Herr und Hund, zufammenpaßten, dem Aeußern
fowohl als dem Weien und dem erftaunlichen Daafe gegenfeitigen
Verftändniffes nach, das fie für einander an den Tag legten, ja,
wie fie fih, fo zu fagen, ähnlid) jahen.
„Sehen Sie, die Yeda hat einen Stammbaum, um den fie
mandjes Rennpferd beneiden würde,” nahm der Alte das Geipräd)
wieder auf, „io leicht und mühelos Läht fih ihr Uriprung ver:
folgen viele Generationen Hindurd. Den Urgrofvater, Ponto hiel;
ex, Habe id) nod) jelbit in Dorpat beieifen.”
„Wie lange ift das her, Herr Star?” fragte ich erjtaunt.
„D, an bie fünfundzwanzig Jahre.“
Id) rechnete in Gedanfen nad). Xor fünfundvierzig Jahren
war er auf die Univerfität gefommen und vor fünfundzwanzig
befand er fi noch immer dort. Eine hübfche Zeit. Wljo gegen
zwanzig Jahr muhte er ftubirt Haben. -
„Und num erzählen Sie mir etwas aus dem alten Dorpat,“
unterbradh mid; Start in meinem Gedanfengang. In feiner
Stimme lag eine jehnfüdhtige, erwartungsvolle Wärme. Er z0g
mich auf einen Stuhl nieder und fegte fi) dicht neben mich auf
den anderen und zugleid) legten im Zimmer.
Gerne folgte ich jeiner Aufforderung und während id) die
Schleufen meiner jugendlichen Verediamfeit öffnete, hingen die Blide
des Alten gefpannt an meinen Lippen und in feinen Augen mar ein
eigenes Sprühn und Leuchten, wie von mühfam unterdrüctter freudiger
Aufregung. Nie Hatte id) einen danfbareren Zuhörer gehabt. Yeim
Abichiede drüdte er mir warm die Hand, und in feinen Augen
fcjimmerte es feucht. „Id danfe Ihnen, id) höre fo gern etwas
vom alten Dorpat!*
I.
Es war nicht gerade Günftiges und Ermunterndes, was ich
inzwiiden über den alten Start erfubr, daß er trog jeiner grauen
110 Der alte Ztard.
Haare nur ein verbummelter Student, da man nicht wille, wos
von er lebe, dai er in fehledhter Gefellichaft verkehrte, gern trinke
und eine gänzlid iolirte Stellung einnehme. Ich mochte nicht
daran glauben, eö fchien mir gehäffig oder dod) übertrieben. Und
wenn die MDienjchen auch hie und da Recht hatten, was Fünmerte
85 mich? Lachend überiprang id) im Gefühle meiner jtudentiichen
Sowverainität die Schranken, welche man zwifhen iym und mir
aufrichten wollte, und id) war feitdem ein häufiger und gern
geiehener Gajt in der Törnerichen Dadıitube.
Gerne entfinne id) mid) der jtillen und gemüthlichen Stunden,
die ich in der Gejellichaft des alten Start zubradhte, und der
Unterihied in unferen Jahren that der Cigenartigkeit unjeres
Verfeprs in meinen Augen nicht allein feinen Abbruch, fondern
fügte ihm auch einen bejonderen Neiz hinzu. Der Hau) eines
gewilfen weltfremden Vehagens jchien von den verräudherten
Wänden der vergeffenen Vodenklauje auszugehen, wenn wir
friedlid) dort oben bei einander jahen, während Leda, die mic,
längit nicht mehr anfnurete, zu unjeren Fühen jchlief. Dann
flebte und pappte der Alte an feinen (hen und Kartons, meine
Blicke folgten den Bewegungen feiner Hände und id) überlich
mid) dem feichten Geplauder über irgend welde gleichgültige
Dinge, in das mein Wirth nur Hin und wieder furze Be:
merfungen mifchte. Er war überhaupt wortfarg und zurückhaltend,
der alte Stark, nur wenn die Nede auf Dorpat Fam, wid) jein
einfilbiges Wejen erfreulichen Beredjamteit, dann veränderte
fich fein ganzes Wefen und mit bligenden Aeuglein und jchallender
Stimme begann er von jeinen eigenen Yurfchenjahren zu berichten,
anichaufich, Iebendig, oft mit bem eindringlichen Humor wehmüthiger
Selbjiironie. Merkwürdig mur, dab fein ganzes Fühlen, Denfen
und Erinnern jo ausjchliehlid) in der alten Wiufenftadt zu wurzeln
und fid in ihr zu vereinigen fhien, während er feiner perjönlichen
Schidjale und der Creigniffe feines eigentfihen Manneslebens
faum anders als mil einem flüchtigen Worte gedachte.
Mir war cs Längjt fein Geheimni mehr, in welden Ver:
hältniffen der alte Star lebte, daf er oft Hungerte md darbte
und mit feiner Hände Arbeit kaum das Nothenbigite erübrigte.
Andrerjeits begann id) die Erzählungen der Yeute über feinen
Der alte Stard. 111
Lebenowandel für eitel Nlatfh zu halten. Der alte Viann friftete
ein völlig jtilles und zurüdgegogenes Dajein, er verkehrte fait
mit Niemandem und trinken hatte id) ihn nie geiehn. Man that
ihm Unrecht, gewiß: er war nur arm, einfam und glülos.
As man num vollends von verichiedener Seite über meinen
Verfehr mit dem Alten zu fticheln begann, trat ih mit Wärme
für den Angegriffenen ein und fertigte die Spötter energiich ab.
So fühlte id) mid) allmählich) in eine Vejhügerrolle hinein:
gedrängt, die meiner jugendlichen Eitelfeit wol gefiel und zu ber
mic) das Jntereife, das id an meinem neuen Velannten
nahm, auch zu befähigen jchien. So viel in meinen Kräften
itand, juchte ih cs aud) practiich zu bethätigen. Ich verichaifte
dem alten anne in einem befreundeten Haufe einige nothdürftig
bejoldete Aushülfejtunden, ich vermittelte mit Hülfe eines Kommi-
litonen, deiien Vater Kaufmann in der Stadt war, den flotteren
Abjag jeiner Papparbeiten und fo mande Gigarre aus dem väter:
lichen Vorrat fand in der Törnerichen Dachitube Ziel und Zwed
ihrer Bejtimmung.
I.
Eines Nachmittags jahen wir wieder nad alter Art bei:
jammen. Ein Somnenjtrahl war durd) das Feniter geglitten und
funtetnd auf dem alten Schläger haften geblieben, defien Klinge
er in jlühfiges Silber tauchte. In der bejonderen Beleuchtung
erregte die Waffe meine Aufmerfiamteit. Jh nahm fie vom
Nagel und betrachtete fie jorgfältig. Die vojtige, nur nod) Idwad)
in den Nieten Haltende Ninge aus bejtem Stahl war ungemein
breit md an ihrem oberen Theil mit fdönen Damascirungen
bedeit, der Korb unbequem und von altmodiidher Zorn, das
Ganze auffallend fehwer -- eine fogenannte Plempe.
„Führten Sie zu Ihrer Zeit immer jo wuchtige Waifen?”
forfchte id) umd lieh den feife ächpenden Schläger durch die Yuft
faujen.
Der alte Start jchaute von jeinen Näftden und Kartons
auf und nidte zerfireut. Dann trat ex jdmell Hinzu, nahm mir
die Waffe aus der Hand, befichtigte fie, pußte an der inge und
Ying fie vorfichtig an ihren gewohnten Pag. Doch fehrte er
112 Der alte Stard.
nicht zu feiner Arbeit zurüd, mit gejenftem Saupte blieb er vor
mir jtehn und feine Lippen murmelten etwas. „Bald vierzig
Jahre!” vernahm ich undeutlich, „und faft hätte id; cs vergeffen.”
Ein Ausprud fummervollen Vorwiurjs fat auf feinem Antlige
hervor und er fhüttelte den Kopf. Dann erinnerte er fid) meiner
und fdhredte auf.
„Entijuldigen Sie,” fagte er leile, „id werde Ihnen
jeltjam vorgefommen fein. Die da oben ijt Fernando's Klinge,
Fernando Tftens, Sie haben ja durd) mich von ihm gehört. Nun,
mit jener Waffe in der Hand ift er gefallen. Wer Hätte das
denfen önnen: er, der beite Schläger des alten Dorpat, gegen
einen täppiihen Wilden! Freilich, tolltühn war der Fernando
immer and an jenem Tage einfad) unfinnig. &s war, als ob er
die Gefahr herausforderte, wie bie Hape mit der Maus fpielte
er mit dem Gegner. Parirte fajt garnicht, fing die Hiebe mit
dem Helme auf oder Lich fie burchpfeifen. Nun, und der andere —
man fan ihm das nicht verübeln — wird fuchswild, aud) fürd)tet
er für feine eigene Haut und das mit Recht. So haut er drauf
108, daß die Funken fticben, einerlei wohin, immer trah! trad!
tradh! Und da mit einem Mal jaujt es herein, mit der ganzen
Breite der Klinge jauft e8 herein — und dann ein unheimlices
Ziichen, ein Pfeiffen, — nur mit Mühe fange id) einen zweiten
wüthenden Hieb auf, denn ich natürlich fetundirte dem Fernando.
Aber er Hatte jhon am erften genug. Er taumelt, ftürzt, wir
fangen ihm anf, fdhleppen ihm ans Fenfter auf die Yanf. Der
Slider aud) gleich heran und ihn unterfucht. ‚Furctbare Blutung!
Lungenhieb, tödliche Abfuhr, meint der Arzt, wie er bie jer-
fchnittene Ader unterbindet und den Verband anlegt, ‚hledhte
Ausfihten!” Und nun zurüd mit dem jlerbenden Freunde auf
dem ftohenden Wagen, adt Wert zurücd in die Stadt! DO, die
Fahrt, id) vergeffe fie nie! Wie wir unfer Quartier endlich
erreicht haben und ihn ganz fachte, jachte die Treppe Herauf tragen,
da Löft fi) der Verband und das Blut flieht aufs Neue, jtärfer,
ftärfer, im Vogen, wie eine Fontaine jprigt cs heraus! Diesmal
half feine Nadel und fein Lappen. Noch in der Nacht jtarb er
in meinen Armen, mein armer Fernando, mein....“ Er voll:
endete nicht, fondern trat an fein Vett und zog umter dem Kopf
Der alte Stard. 113
fiien ein einfaches dunkles Lederpolfter hervor. „Zehn Sie, auf
biejes Kiffen hatten wir jein Haupt gebettet, da er veridied.
Die dunfeln Fleden hier und dort find Vlutstropfen aus feiner
Todeswunde. Die Zeit hat fie nicht fülgen fönnen, ebenfowenig
wie der Tod unfere Freumdichaft. Die Klinge da und jenes
Kiffen hier. nahm id) aus Fernando's Dinterlaifenidaft an mich.
Seit Jahren ruhe ich darauf und,“ feste er mit flüfterndem Tone
binzu, „id närriicher Nerl bilde mir ein, ba; der Kappen Leder
die Gemeinichaft zwiihen uns aufrecht erhält...“
„Zie haben viel an ihm verloren?“ fragte
tert und mit dem Gefühle, etwas recht Git
Selbftverftändliches, gefragt zu haben.
Er Hob die Augen und ah mich halb eritaunt, halb ver-
ftändnißlos von der Seite an. „Verloren, viel verloren, meinen
Die? D, ja! Einen guten Theil meines Selbit, und id habe
66 nie wiebergefunden.”
Er rad) jäh ab md begab fd mit unfiheren Schritten
an feinen Tifdh zurüd, wo er laut und übereifrig zu hantiren
begann — —
id, innerlich,
ältiges, weil
*
* *
Wie id), in Gadanfen verfunfen, die enge bimkle Treppe
niederftieg, jah ic am Eingang der Gonditorei Tüörner jtehn, der
fich etwas in der Thür zu ihaffen machte. Cr war ein jtattlicher,
bübicher Mann mit gellen Augen, roten Wangen und ftroh-
blondem Schnurrbart.
„Ab, Sreundicaft mit bem alten Start geichlofien!” begrüßte
er mich in feiner munteren Weife, welhe Worte und Säge Enapp
und lärmend hervorjtieh. „Habe Sie oft nad) oben gehen jehn.
Sich amüfirt mit dem närrifchen Naup, mas? Jhr Gaudium
gehabt mit dem alten Stnaben?”
Es ärgerte mid. „Ic wühte nicht, was Ihnen das Nedht
giebt, in diefem Tone über Herrn Start zu reden,“ braufte ich auf.
Törner jcien etwas verdugt, lieh fid) aber nicht aus der
Fafung bringen.
„D, nichts krumm nehmen,“ meinte er freundlich, „nicht
ungemüthlich werden. Werden mir dad) erlauben, nach meinem
alten Miether zu fragen oder was man fo Wiether nennt, ha ha!
114 Der alte Stard.
Hat jest freilich feine jolide Zeit, wird bann traurig und bas
jtedt an. Sollten ihm aber jehn, wenn der Nojenfeld da ift und
ihm auf die Beine Hilft,“ und er machte die Bewegung des
Trinfens.
Ic) jah mir den Dann genauer an. Aus feinen offenen
Augen jprach unverfennbares Wohlwollen und id) hatte Beweiie,
dab er co mit dem alten Einjiedfer oben gut meinte. Zugleich fiel
mir ein, was man in der Stadt über Star redete und dah der
reichgewordene Tifhlermeifter und jegige Viöbelfabrifant Nojenfeld
grade nicht zur beiten Gefellihaft zählte. in höchft unangenehmes
Gefühl überfam mich und ic) empfand die Neigung zu wider:
jprechen.
„Das ann nicht fein,” entgegnete id, „ic weih genau,
Herr Star trinkt nicht. Es jei denn,“ fügte ich emas umficer
hinzu, „daß man befondere Stünfte anwendet, um =
Törner lachte grade heraus. „Nünjtel Der kommt immer
freiwillig. Abwarten. Na, adieu!” md mit minterem Gruß
verichwand er in ber zur Gonditorei führenden Thür.
Iv.
Einige Tage ipäter fand ic) den alten Star am Arbeits
tüc, wie er voth und erregt mit einem groben Bleiftift auf der
rauhen Platte vedjnete. Bei meinen Eintritt jprang er auf und
jeigte mir ein aufgeräumtes, ja ftrahlendes Gefiht. Der borjtige
Schnurrbart war fühn in die Höhe geitrichen, die Lippen j—hmun
gelten und in der Haltung der fleinen Geftalt lag etwas
Freies und Friidhes, wie id) cs bisher an ihr nad) nicht wahrge
nommen hatte.
„Sin Slüdstag!” begrüßte er mich mit fejten Dandichlage
md jenes findlihe Yächeln, das mid) immer rührte, flog über
die verrungelten Züge. „Denen Sie Sich, ih bin heute ein
reicher Mann.” Cr deutete auf die Brufttaiche. „Vaare breihig
Nubel jteden drin, viel gutes fdönes Geld, Der Schmehmann
auf dem Markt hat mir für die Näftchen und Kartons jehr gute
Preife gezahlt; eo jei große Nachfrnge,“ meinte er. „Und dann
iit and) das Monatohonorar für die griediichen Stunden einge
floffen, alles an einem Tage!”
Der alte Stard. 115
Er jtürmte im Zimmer Hin und her, blieb dann vor mir
ftehn und blinzelte mich lütig an. „Da habe ich mun gerechnet
und geredinet, wie ich das viele Geld am beften eintheile. Ich
habe Schulden. Da ift der Törner unten, der auf Miete und
Noftgeld wartet; nun mit dem mache id) es jpäter ab, — und
Schuhter und Wäfcherin und nod) mancher andere.” Er iprad)
aeihäftig und athemlos, als wäre ihm ein umerwartetes Glüd
widerfahren und er wille fih mun damit noch nicht abzufinden.
Dann griff er hajtig nad) Müge und Anotenftud. „Sie verzeißn,
doch ich muß gleich bezahlen gehn. Das nimmt Zeit und feine
Schulden fann man nie früh genug (os werden. Na, ja, Led,"
fprad) er auf den Hund ein, der Eugen Auges zu ihm emporiah,
„matürfich fällt heute auch für uns was ab, wollen uns einen
guten Tag macjen. Komm nur, komm, mein Thier.“
Mit fait jugendlicher Gelenfigfeit eilte er die Treppe Hinab.
Draußen verabichiedeten wir uns und theilnahmvoll icaute ich
ihm nad. Das Haupt fait fühn erhoben, mit Hirrendem Nnoten-
jtod und weitausgreifendem Schritte, die treue Leda an der Seite,
9 der fleine Dann dahin, wie ein Feldherr, der in einen
greichen Kampf jchreitet. Wie viel Aindfiches und Naives, wie
viel Ehrliches und Zuverläffiges lag in diefem Weien! Wieder
war id) geneigt, Törner und den anderen nicht zu glauben — --
V
Die Ferien gingen ihrem Ende entgegen. Won einem Aus:
flüge zu Verwandten zurüctgefehrt, gedachte ich nur meinen Noffer
zu paden oder vielmehr von forglicen Mutterhänden paden zu
fajien und wiederum dem Quell der Wiflenichaft zuzueilen, den
id) bisher nur ganz aus der Ferne hatte jprudeln hören. Ich
ftattete meine Abichiedobefuhe ab und vergaß natürlich meinen
alten Freund und Schügling nicht. Co befrembdele mic, dah ich
ihn nicht zu Haufe fand, obwohl er um die Mittagsitunde jonjt
nicht auszugehen pflegte.
Am Abend befuchte mich der Kommilitone, mit dem ich die
Neife nady Dorpat antreten wollte und wir famen überein, bei
Törner eine Partie Villard zu ipielen. Das Billardzimmer lag
fints vom Buffet, an das fi ein paar Speife und Lejeräunme
116 Der alte Stard.
ichloiien. Qon dort her ericoll bei unierem Cintritt durd) die
halbofiene Thür Inuteo Gelächter, Gläferklang und wirreo Durd)
einanderreden. Es ging dort offenbar hod) her. Törner, der
feine Gäfte immer jelbft bediente, lief mit Gläfern, Zlajhen und
Tellern ab und zu.
Während wir unfere Partie fpielten, fcien drüben die
Fröhlichfeit zu wachien. Cine Vermuthung jtieg plöglid in mir
auf. Ic) fragte Törner, der am Buffet Grog bereitete, nad ber
Iuftigen Gefellichaft.
Törner fchmungelte unter feinem gelben Schnurrbart. „Der
Nofenfeld und feine Bande,” jagte er vergnügt und in einem
Tone, als ob fid das von felbjt veritände. „Da geht es immer
fidel zu.” Er goß Cognac in die dampfenden Släfer und meinte
mit einem faumigen Seitenblid: „So treiben fie's chen feit
vorgeftern. Mein alter Miether it einer der Luftigiten.”
Ic fchaute ihn ungläubig an.
„Warum follte er nicht!” meinte Törner pfiffig. „Sagte
ich's Ihnen nicht?” Cr Hordhte auf und legte den Finger auf die
Lippen. „Hören Sie nur, da erzählt er eben eine Gejchichte.”
Vom Buffet aus lich fi, da die Thür grade geöffnet war,
die im Nebenzimmer verfammelte Gefellihaft deutlich, überihaun.
Id) traute meinen Augen faum. In der hell erfeuchteten Stube
an dem mit zahlreiden Flaichen und Gläfern beiegten Tiiche, fahi
der alte Stard, die Arme aufgeftügt, die Yeine bequem von fid)
geftredt, eine Cigarre im Vlundwinkel, inmitten einer ihm eifrig
laufenden und lärmend zuidanenden Nunde und feine tiefe
rollende Stimme tönte vernehmbar zu mir herüber.
„Ufo wie id) Shnen jagte, Her..x..m. Ich fie da
in meiner Sneipe. Vornehm jah ich nie aus...“
„Nicht zu beiheiden, Starchen,” mahnte fein Nebenmann,
ihm vertraulich mit der fetten, beringten Hand auf die Schulter
Hlopfend. Ic) erfannte Nofenfeld. Sein vothes gedunienes
Schlummergeficht erglänzte wie der Vollmond und unter der
goldenen Brille hervor, die ihm ein grotesf:gelehrtes Anfchn ver-
fieh, fahn ein paar Kleine, verichwwommene Augen gutmüthig ver:
fhmigt in die Welt.
„Nicht unterbrechen,“ jchrie ein anderen,
Der alte Stard. 17
„Stille, Herren," tommandirte Stard. „Alle id jite da
und es treten drei Fremde ein. Die Fremden wollen mid) provo:
eiren. „Höre, fragt der eine und gudt mid) an, „bit Du ein
Schneider?” „Nein,” fagte ic) ruhig. Darauf der Zweite: „Bit
Du ein Schufter?” „Nein.“ Nun kommt der Dritte: „Bijt Du
ein Schladhter?” Da fpringe ich auf. „Ia,“ fage id, „ih bin
ein Schlachter und verftehe Ochfen jeber Art vor ben Sopf zu
hauen.”
Brüllender Beifall erioll ringsum. „Bravo! gut gegeben!
da eapo!" Rofenfeld fchob ihm gemädjlic) ein groies Glas
Gognacgrog zu. „Profit, Ir Wip foll leben, alter Junge.“
Der Alte liebäugelte mit dem Getränk, che er das Glas an die
Lippen jete und mit gewaltigem Zuge zur Hälfte leerte.
„Stard, noch) eine Geicichte!” mahnte Rofenfeld.
Der Angerebete warf den Kopf herum, aber (angiam, fait
verädhtlich, und wie er num um ic jhaute, dien er fi auf die
Gefellfichaft zu befinnen. „IA mag nicht,” Fnuerte er.
„Dacyen fie feine Gedichten,“ drängte Nofenfeld zärtlich,
was frinfen wir umterdefjen?”
„Ic jtimme für Nothwein,” clug der Nachbar zur Linfen
vor, ein dürrer junger Mann mit fpärlichem Ninnbart und jchreiend
buntem Stips, offenbar ein Advotatenschreiber.
„Nothwvein, ja natürlich,” rollte Star, der bie Negung
von vorhin überwunden hatte und mun ganz im alten Fahrwailer
Schwamm. „Nothwein ift für alte Nnaben eine von den beiten
Gaben! Her damit!" Er fippte leicht mit dem Kopf vornüber,
richtete fid) aber fofort wieder empor.
„Qörner, eine Flajche!” beitellte Rofenfeld.
„Schmedt gut und ift frei,“ warf der Schreiber gegen
Star gewandt ein.
Der Alte mah den Vorwigigen mit einem furzen und
umvilligen Bid md jegte fi in Politur: „Scht Herren...“
Ruhe!” rief der Möbelfabrifant in den Lärm hinein, „es
fommt.”
„Da hatte ich mic) aljo mit einem veruneinigt. Scidt der
mir eine Forderung, einen dummen Jungen wie man’s nennt.
Nun, der die Votichaft auszurichten Hat, tritt jehr aufgeblajen
E
118 Der afte Stard.
und anmahend auf mich zu und jant zu mir To von oben herab:
„Döre, der und der jciet dir einen dummen Jungen.“ Da fneife
ich die Angen zufammen, fege die Hand über die Stirn — jcht
jo — firire ihn und fage ganz ruhig: „Ih Sehe ihn.“ Der
Erzähler jtarrte mit nicht mihzuverftehender Beziehung dem
Schreiber in’s Geficht.
Wieder erhob fi lautes Gelächter. Nur der Schreiber
ftimmte nicht mit ein, ev war bla geworden und mujterte feinen
Nachbar mit tüdiihen Bid. „Was Haben fie damit jagen
wollen?“ fragte er plöglid und erhob fd) drohend. Der alte
Star enwiderte nichts; im fich zujammengefunfen, mit geidyloffenen
Augen, job er auf dem Stuhle da. Er ichien völlig beraufht.
In demfelben Augenblick wechjelte ich mit dem Kommilitonen,
der bereits durch mid) von dem alten Stardt erfahren, ein Zeichen
des Einverftändniffes und gleichzeitig überichritten wir die Schwelle
des von Weindunjt und Tabadodampf erfüllten Zimmers. Drinnen
wurde eo bei unferem Eintritt plöglich ftill; überraicht idauten
die Zecer empor. Auf den gerötheten Gefidhtern malte fich)
Unmillen über die Störung, Ansrufe wurden laut, im Hint
geunde jchlug jemand mit feinem Glaje dröhnend auf den Tiidh,
und der Schreiber trat auf mich zu und fragte fred: „Was
wünjchen Sie hier?”
Ih fchob ihn fehnveigend zur Seite und trat an Nofenfeld
heran, der in diefem Mreife die meifte Autorität zu genichen
fchien und mid unter feiner goldenen Brille hervor überrafcht,
aber nicht unfreundfich mufterte.
Id bitte der Störung wegen um Entichuldigung,“ Tagte
ich höflich, aber bejtimmt, „doc werden Sie zweifellos mit mir
einer Meinung fein, daf; mein Bekannter,“ ic, dentete auf
den alten Start - dringend der Nuhe bedarf und nicht mehr
in eine Gefellichaft gehört. Id hatte Nofenfeld an der richtigen
Stelle gefaßt. Yangfam und mit einiger Mühe beugte er feinen
diden Körper zu dem Schlafenden herab und Elopfte ihm fanft
auf die Schulter. „Was ift Ihnen, Stardchen?” Und als feine
Antwort erfolgte: „Ja, ja, Sie haben Recht. Schade, er war
heute jo aut aufgelegt. Wollen ihn zu Bett ichaffen, ich helfe
Ihnen,“
Der alte Stard. 119
Der Alte fuhr plöglih auf und fah mit Icerem, glafigen
Did umber. Mo er mic) erfannte, nahm fein Auge einen
furhtfamen, fajt entfegten Ausdrud an und er lallte ein paar
uuverjtändlihe Worte. Widerjtandslos ließ er dann alles mit
ich gefchehen, als wir ihn mit Nofenfelds Unterftügung die enge
Treppe empor geleiteten und unter Leda’s Häglichem Gewinjel
zu Bett bradıten.
VI.
5 ging bereits gegen Abend als cs an die Thür meines Stübdens
Mopfte. Auf mein Herein öffnete fid) die Thür und der alte
Stark erihien auf der Schwelle. Wie hatte er fid) verändert!
Meiner und bürftiger als je zuvor erfchien mir feine Geftalt, Die
Aeuglein lagen tief eingefunten in den Höhlen und trübfelig hingen
bie grauen Strähne des Schnurbarts über die faltigen Mund-
winfel. Cr machte einige Schritte vorwärts und blieb dann, auf
den Stod geftügt, mit bittender Miene ftehn. „I Fomme von
wegen geftern Abend,“ begann er jtodend, „es it mir leid.”
Dich durdzudte ein bitteres, fait wiberwilliges Gefühl
gegen den Alten, da ich des Auftritts bei Törner gedachte. Doc)
peinficher nod) berührte mich die bemüthige Entfchuldigung aus
dem Munde des Greifes. Ich wehrte ab.
„Nein, nein,“ wiederholte er bejtimmt, „es üit mir leid. Und
damit fo etwas nicht wieder vorfommt, Habe id) dem Törner gefündigt.”
Die Bitterfeit in meiner Seele jhwand dahin und ich em:
pfand nur herzliches Mitleiden für den Alten. „Haben Sie eine
neue Wohnung gefunden ?
„a, dort irgend wo zur Stadt hinaus, an der Tüna.
Grade genug zum unterfrichen für mich und die Leda.“
Mit fharfer Aralle jharrte es draußen an der Thür. Fol),
das peinfiche Gefpräd; abbreden zu fönnen, fprang ich auf und
öffnete. Mit einem mächtigen Sag jhoh; Leda herein und begrüßte,
an mir vorüberftürmend, winfelnd ihren vermißten Herrn.
In dem alten Stard fhien etwas vorzugehen. Bald jah er
zur Seite, bald auf mid) und rüdte unruhig auf feinem Stuhle
hin un her.
„Sie reifen morgen?“ fragte ex enblich gepreit.
Id) nicte.
120 Der alte Stard.
Der Alte jah vor fi nieder, dann fagte er zögernd: „Wer
weiß, ob ums noch ein Wicderfehn vergönnt it... Und bach ft
«5 mein jehnlichfter Wunich, dat; Sie mid) richtig beurtheilen .. .
Wollen Sie, junger Freund, wollen Sie mir ein Stündehen jchen-
fen, damit id) ihnen erzähle, wie es mir im Leben ergangen ?“
Ich erwiderte nichts, aber aus meiner Miene (as er bie
Zuftimmng.
Der Alte jtühte, wie um feine Gedanfem zu fammeln, den
grauen Nopf in die Hände und ftarrte eine Minute lang vor fich
hin. Dann begann er leifen Tones. —- —
. P
Ich bin hier in der Nähe geboren und aufgewadjien, als
Sohn eines landiichen Pajtors, unter vielen Mädchen der einzige
Knabe. Mein Later war ein einfacher, frenger und frommer
Mann von Hohem Pflichtgefühl, und in diefem Geifte fuchte er auch
mid) zu erziehen. Nad) dem übereinjtimmenden Wunfhe der
Eltern jollte ich in feine Fuhtapfen treten, Theologie ftudieren und
wenn möglich einft diefelbe Kanzel beiteigen, von der herab er
fonntäglich feine fchlichten und eindringlichen Predigten hielt. —
IA war ein gewedter Junge, eindrudsfähig und voll Phan
tafie, und lernte leicht. Anfangs leitete dev Vater jelbjt meinen
Unterricht, fpäter wurde ein Hauolchrer in’s Pajtorat genommen und
ich erhielt in dem Sohn unferes Patronats- und Majoratsherrn,
Baron Titen, einen Vitfchüler und Nameraden, mit dem mic,
fo fange er febte, innigfte Bande der Freundfchaft verfnüpft haben.
Ferdinand, oder wie ic ihn mit feinem Spignamen von Dorpat
her zu nennen gewohnt bin, -- Fernando übertraf mid, wenn
aud) nicht an Begabung, jo doc an Ausdauer, Eifer und leif.
Was feine Character- und Yerzenseigenfchaften anging, fo habe ich
feinen biederern und trauern Menichen gefannt und ein Zug ritter-
licher Rühnheit erhöhte noch den Neiz feines Wefens. Was war
er auch äußerlich für ein jehöner Junge! Blond, hoc und fchlanf
gewachien, mit ausbrudsvollen Zügen, ein Meifter in allen Leibes:
übungen! Wie die Tanne den Wachholder, jo überragte er mich
und co war fein Wunder, da er in Allem und Jedem auf mich,
den schwächer gearteten, einen fiarfen und wohlthätigen Einfufs
ausübte der mir leider nun zu früh verloren gegangen ilt.
Der alte Stard. 121
Wir follten beide in Dorpat jtudieren. Fernando ging {don
ein Jahr vor mir dahin ab, während mein Vater es für gut fand,
mic) noch für ein Jahr auf das Gymnafim nad) WM. zu icicen.
Dann fam die Zeit, wo aud) mic) die alma mater in die Schaar
ihrer Jünger aufnahm.
Nun, Sie werden aus meinen früheren Mittheilungen
erfahren haben, dab ich ein friiher und fröhlicher Student gewejen
bin. Aus dem Zwange ber Schule befreit, ging mir in Dorpat ein
ungewohntes, verlodendes Leben auf. Die neuen Eindrüde und
die Pflichten der Yandsmannfdaft nahmen mich bald ganz gefangen,
das Gefühl meiner jungen afademifhen Freiheit ging mir über
alles und Yurfchenkuft und Burfhenteid Habe id) aus vollen Zi
gen genoffen. Ic würde das nimmermehr bedauern, wenn id)
Mah zu Halten und meine Zeit richtig einzutheilen veritanden
hätte. So aber arbeitete ich wenig und planfos und die Nollegia
fahn mid) nur jelten. Von völligem Müfjiggange rettete mid)
Fernando, mit dem zufammen ich wohnte und der mir, wie einjt
in der Ninderzeit, ftügend und Helfend zur Seite jtand. Xon ihm
Hätte Niemand jagen Fönnen, daß er ein Ducmäufer war, denn
wie faum ein anderer ftand er mitten im Getriebe des forporellen
Lebens. Aber im Gegenfag zu mir veritand er cs Arbeit und
geiellichaftliche Pflichten zu vereinen und dem Studium feiner
geliebten Wiediein, das er, der fünftige Majoratsherr, nit als
Vroterwerb, jondern aus aufrichtiger Neigung erwählt, gab er
fh aus voller Seele, wenn aud) ohne Ueberhajtung hin. Wenn
ex mich dann einmal gehörig ins Gebet genommen; wenn dazu ein
Brief aus der Heimat; eintraf, in dem mein enttäufchter Vater
anfragte, warn ich denn eigentlic) das Examen machen werde, —
ja dann Half es für die nächite Zeit. Innerlich verdrojien, während
draußen die freie goldene Sonne lachte und vom grünen Dom
herab laute Vurjhenlieder erflangen, jegte id) mic an die
theologiichen Vücher und abjolvirte, mühfam genug und heimlich
mit ganz anderen Gedanken beihäftigt, meine Studien und
allmählid) aud) mein erites Eramen. NAum aber das Schwierigite
vorüber war, lachte mir das Leben auf's Neue. Bis zum Sc)lu
eramen war es noch weit, über der bunten Folge von Paufereien,
Kommerfjen und Konventsfragen vergaß id) nur gar zu gern die
Pr
122 Der alte Stard.
trübjeligen Streitigfeiten ber alten Rirdenväter und vielleicht hätte
ich mic) trob Fernando’s Warnungen überhaupt nicht um die Zukunft
gefümmert, wenn mir nicht der Gehanfe an fie, an Hanndhen
gekommen wäre...
Ja ich hatte mich inzwiichen gebunden. Die Umgebung bes
damaligen Dorpat bot eine hübihe Jagd und zu Zeiten wimmelte
der Embach von Enten und anderen Wafjervögeln. Num, id war
ichon damals ein leidenichaftliher Nimrod und nichts Schöneres gab
6 für mich, wenn ich mich einmal aus dem bunten Strudel des
Gorpslebens feitwärts drüden und in meiner Art ansruhn wollte, als
mich mit meinem treuen Hunde und das Gewehr an der Schulter
in Flur und Wald zu tummeln, Im Hodjommer auf ber Jung-
wilbjagd verirrte ich mid) eines [dhönen Tages auf einen abgelegenen
Pachthof und Halbverichmachtet, wie wir beide, Dann und Hund,
waren, trat id) in das Haus und bat das friiche blonde Mädchen,
das mir im Flur begegnete, um Waller. Sie bradhte mir nicht
Wajler, fondern eine Schüfjel fhöner jüher Mild, von der aud)
Ponto feinen Theit abbefam. Das behagte mir, — umd fie gefiel
mir überhaupt, das liebe Hannden, in ihrer janften, freundlichen
Unbefangenheit, — To gut, daß id) den Weg zu ihr jpäter noc)
inmal, und natürlich wie zufällig, zurücfand und mich allmählich
öfter einftellte. Defter, als c9 dem Later Hanndens, einem
alten, grämlichen penfionirten Lehrer, ber fi) zu feinem Bruder,
dem Pächter, auf's Land zurücdgezogen, lieb jein mochte, denn er
verhehlte fein Dißvergnügen an dem jagenden Theologen feines:
wege. Das Hatte nun weiter nichts zu bedeuten, ich verlobte mich
dennoch) mit meinem Sanndıen, freilich nur heimlich, ganz heimlich.
Exit wenn id) den geiftfichen No angezogen und die bayur
gehörige Pfarre erworben, follte id) offen als Freier hervortreten,
fo hatten wir’s abgemadt, Bannden und ic und die nädjiten
Verwandten. Nur mußte id dem Alten jchon jegt verfprechen,
nad) dem Schlußeramen die Flinte für immer an den Nagel
zu hängen. Nein, fo weit fam es nicht.
Wohl aber nahte die Zeit, wo ich im Talar auf der Kanzel
der Univerfitätsficche meine Probepredigt über ein vorgeihriebenes
Thema Halten follte. Ich hatte die Rede hübjc) ausgearbeitet, mum
amd fie ging ja aud), wie mir jadjverftändige Kollegen fagten. Frei
Der alte Stard. 123
Ipredien war aber meine Sadje nie gewefen, alles was an ein
Eramen erinnerte, machte mic) fopfiden und vor der Stunde,
wo id) vor der ganzen Gemeinde meine Stimme erheben follte,
empfand id) eine Höllenangft. Da hief; es denn fleißig memoriren,
um zu beftehn, denn ablefen war verboten. Aber am Abende vor
dem enticheidenden Sonntage muhte es fi) gerade treffen, daß
ein Landsmann feinen Geburtstag feierte, an dem ic) nicht fehlen
durfte und der feucht genug ausfiel. Wergeblich mahnte Fernando
ab, die Gejellichaft der fröhlichen Kommilitonen erfchien mir gar
zu verfodend. Exit als es vom Thurm der Johannisfirche drei
ihlug, begab ich mid) mit nichts weniger als farem Ntopfe auf
den Heimweg.
Am Morgen war mir goltesjümmerlid zu Muthe. Ich
warf einen Vi in das Konzept meiner Predigt. Die jhwarzen
Vuchitaben auf dem weißen Bogen tanzten vor meinen Augen
und id bemerkte mit Entiegen, dah id) von dem Inhalte nur
bfutwenig wuhte. Draußen aber ertönte, die Hörer einfadend, die
Stoce ber Univerfitätsfieche in Hellen, weithin fcallenden Schlägen.
Mit wanfenden Knien beftieg ic) die Kanzel. Die Räume
ber Kirche verfehwammen vor meinen Augen und drunten, wo die
Gemeinde jah, eridien mir alles wie eine graue, wirre Majle.
Nur allmählid) lernte id) fie unteriheiden; die jtrengen, erwartungs-
vollen Diienen der Profefjoren, die Gefichter befreundeter Landsleute
und Kommilitonen, Fernando’s gute, etwas bejorgt blidende Augen
und dort im Hintergrunde auf der Seite wo die Frauen faßen,
auch Hanndhens blondes Köpfchen, das mir aufmunternd zuzuniden
ichien. €s half doc) nichts, eine furdhtbare Angit ergriff mich,
wie ich fie felbft im Eramen nicht gefannt. Und dann begann
id) zu reden. Meine Stimme Hang mir wie eine freinde, vor
der id) mich fürdhtete. Werzweifelt Hielt ih trogdem den Hauptfaden
feit, er entichwand mir nicht ganz, wenngleid) aud) häufig Paufen,
Stodungen und Unterbredungen eintraten und ich meine Zuflucht
zum Sonzept nehmen mufite. Ich bemerkte wohl, wie die Brofefloren
unter Kopfihütteln auf ihren Sigen rudten und einander Blide
zumarfen, über deren Vebeutung mir fein Zweifel blieb, wie die
Miene Fernando’s, der gerade vor mir im Gange ftand und deiien
Augen mich unausgeiegt beobachteten, einen befümmerten Ausbruc
124 Der alte Stard.
annahmen. Nach Hannchen wagte ic) nicht zu fhaun. Mit einem
Gefühl, das id Niemand gönnen will, jtieg id, als ich geendet,
die Stufen der Ranzel herab und verihwand in der Safı
Draußen erwartete mid) Fernando. Cs waren gewiß liche,
freundliche Worte, die der gute Junge mir gab, aber ich verftand
fie nicht, ich entwand mich ihm und eifte fürt. Cs zog mich zu
Sannchen. In der Tiefe der Nitterftraße, zu der id) in athemlojem
Gange gelangte, Jah ich einen weißen Schleier leuchten, Hanndens
Schleier, und dann erkannte ich ihre fhlanfe Geftalt in dem anfprud)s-
fojen grauen Kleide.
Id) holte fie ein und z0g fie mit verwirrter Entfhuldigung
von der Tante, mit der fie gerade ging, hinweg in eine ftille
Strafe und von dort dem Dome zu. Droben war cs jo jhön
und jtill unter den raujchenden alten Yäumen, die id) fo jchr liebte.
Heute aber hatte id) feinen Sinn für ihren freundlichen Gruß,
doc) allmählid) wurde «6 ftiller in wir; die Cinfamfeit that mir
wohl und vor allem Hanndens Nähe. Erft jest fonnte ich ein
Wort finden. „Hannchen,“ fagte ich dumpf, ohne aufzuichauen,
„Du bit focben Zeugin meiner Niederlage geweien; gieb mich
auf, aus mir wird im Leben fein Paitor ..."
Sie Hatte geweint, dod) tapfer drängte fie die Thränen zurüd,
wie fie mir nun mit janften Worten Muth zufprad.
6s tröftete und erhob mid).
Id offenbarte ihr meinen heimlich jcon längit gehegten
Man, umujattsn und Philologe zu werden. Ich wollte
tüchtig arbeiten, jpäteitens in 3-4 Jahren fertig fein, um dann
eine Anftellung zu juchen und die Geliebte als mein Weib heim-
zuführen. „Aber bis dahin ift es nod) lange,” jdloß id meine
Ausführungen und bei diefer Ausficht fanf mein eben nad) gehobener
Put). „Wirft du nicht müde werden zu warten, mein Danndhen?
MWirft du jtark genug jein, zu mir zu halten, an mid) zu glauben?“
Sie hatte mir jchweigend, mit einem etwas wehmüthigen
Lächeln zugehört. It blieb fie jtehn und jah mid) aus ihren
großen, Hugen Augen erregt und finnend an. „Ich bleibe bir treu,
fowagr id) dir vertraue,” fprad) fie mit jeltfamer Betonung der
feßten Worte. Grit jpäter, als es hen zu ipät war, habe ich
den Zinn ihrer Antwort ganz begriffen.
Der alte Star. 125
Der bdämmernde Laubgang, in dem wir wandelten, lag
menfchenftill und verlaffen. Ih umfahte Dannden, ich dankte ihr
und fühte fie innig auf den vothen, friichen Mund. -
Zu Haufe erwartete mid) ein Brief meiner Mutter, der mir
den pföglichen Tod des Waters meldete und alle droben auf dem
grünen Dom geiponnenen Pläne und Träume jählings vernichtete.
Da mein Vater ohne Vermögen geftorben war, jo war id) von
nun an auf mid) felbjt geftellt und darauf angewiejen, mir einen
Erwerb zu fuchen, der das MWeiterjiudium ermöglichte. Unter
Zuftinmung Hanndens, die fih ergeben in die neue Prüfung
ihite, nahm ich eine Vauslehrerftelle in der Umgebung von
Dorpat an.
Ein ganzes Jahr verbrachte id in der Ausübung des neuen
Berufes. Da warf mir ein glüdlicher Zufall ein Fleines Stipendium
in den Weg, weldes mit dem bereits Erworbenen mic) in den
Stand fepte, das unterbrodene Studium wieder aufzunehmen.
Triumphirend fehrte id nach Dorpat zurüd, doc ich jubelte zu
früh. Im diefe Zeit fällt das unfelige Duell, in welchen mein
unvergeßlicher Fernando blieb. Mit dem ganzen Pomp jtubentifcher
Ehren, unter Scjlägerklivren und Liderklang, trugen wir unferen
geliebten Senior zu Grabe. Dann galt c8, einen zweiten
ichmerzlihen Abichied zu nehmen von meiner Braut. Der
Vater Hanndens nämlich Hatte, einer grilligen Laune nachgebend,
beichlofien, nach Niga, jeiner Vaterftadt, überzufiedeln, natürlid)
follte Haunchen ihm folgen. Mit dem erneuten Helöbnife meiner
Trene und mit feiten Zufiherungen für die Zufumft trennte id)
mid) von dem thenern Mädchen, und wer es damals gewagt
hätte, den Grnft meiner Abfichten zu bezweifeln, der hätte einen
Gang mit mir bejtehn mühfen auf Yeben und Tod! Als aber der
Keifewagen Hanndens aus der herbitlich entblätterten Allee des
einfamen Pachthofes auf die Landitrafe bog, als die Geliebte fid)
noch einmal vorbeugte und mit wehendem Tajcentucde mir den
Abjchiedsgruß zumwinkte, da war cs mir plöglic, als follte id)
niemals wieder in ihr blühendes Antlis, in ihre Lieben, guten
Augen fan; etwas jtand in mir auf, düfter und feindlic, und
als id) ihm in das finftere Antlig jah, da war co die Angit
vor der Zufunft, das Mißtrauen aegen mid) jelbit!
126 Der alte Stard.
€s ift doch nur fehr bebingungsweife wahr, daß ber Menfch
fich felbit fein Schidjal jchmiedet. Gewiß wäre dann, dah; das
Wertjeug, mit bem ausgerüftet er in bie Melt tritt, bod) oft gar zu
leicht im Feuer des Lebens jcmilzt oder jchadhaft wird und viele
nie die Meifterihaft erringen, fondern ewig Stümper bleiben in
der Kumjt des Schmiebens. Nein, ebenfo richtig ift es, daß ein
Jeder mit gewiffen Anlagen geboren wird, die unabhängig von
feinem Lcbensgange und feiner Erziehung in ihm fortwirfen, fo
lange er athmet. Mit dem Willen allein ijt nichts gethan,
außer bei wenigen Auserforenen. Was aber jeder braucht, ift
ein wenig Sonnenihein, ein wenig Liebe, Anhalt, Schu in der
rechten Weije, — furz, ein wenig Gfüc. Ich gehörte nie zu den
Willensträftigen. Ic war immer leihtlebig, Ihmwac, und von den
Eindrücen des Augenblids abhängig. IA bedurfte mehr, viel
mehr als die anderen eines jicheren ftetigen Ecubes, eines
unmittelbaren Anhaltes, um auf der richtigen Bahn zu
bleiben. Das alles wurde mir jept fo recht Mar. Seit Fernando
todt und Hannden fern waren, begannen mir bie wohlthätigen,
treibenden Kräfte zu fehlen, die meinen Entichlüffen bie redhte
Ausführung und meinem Herzen Muth und Zuverficht verlichn
Hatten. Von Hannden tamen ja Driefe genug, liebe und gute
Briefe, die ich fo gern Ins und denen ic) fo gern glaubte. Doc)
die fummen Zeichen genügten nicht, mir den (ebenswarmen Haud)
ihrer Perfönlichteit, ihren freundlichen Bli, ihr Icbendiges Wort
zu erjegen, fie ftähften mich nicht gegen die Verfuchungen und
Locungen des mid umraufchenden Lebens. —
So geihah 6, das ich mich umfonjt abmühte und es dad)
zu nichts Nechtem brachte. Bald fehlte c6 bei mir an diefem,
bald an jenem Vorwände find ja leicht zu finden, — mas
mir aber wirklich mangelte, war die rechte, thatfräftige Strebens-
fuft und wo follte id) fie herzaubern, da fie nicht in mir felbjt
wohnte? Wohl quälte mich zumeilen das Bewußtiein eines
Unred)tes, das ich gegen mich, noch mehr aber gegen Hanncen
beging, indem ich das ihr gegebene Mort nicht einlöfte, in
der nächften Stunde aber verfdludte ich diefe Bebenten mit
billigen Selbftvertröftungen und belog, wenn and) abjichtelos,
ebenjo mich, wie id das Vertrauen der Geliebten täufchte.
Der alte Stard. 127
Darüber verrannen nuplos Semefter ımd Jahre und ih wurde
ein alter Student, —
Zulegt fam cs, wie es fommen muhte. Hannchen jchrich
mir ab. Sie fünne mir nicht mehr vertrauen und bitte, fie ihres
Tremvortes zu entbinden; auch habe fie i—hen anders über fich
beichloffen. Der Brief vernichtete mich, aber er zeigte mir Har,
was ich zu thun hatte. Meine Neue war ohnmächtig, meine Liebe
rechtlos geworden. Ic durfte Hannden nicht mehr an mein
Dafein fefleln, jeitbem ich jelbjt fühlte, daß ich ihrer unwerth
geworben. Und jo fanbte ich ihr mod an demfelben Tage Ning
und Wort zurüd. Sie hat das beffere Theil erwählt, denn noch
fürzlich erfuhr id), daf fie in glüdlicer Che lebt.
Bisher hatte ich noch ein Ziel vor Augen. Jebt bühte ich jede
Luft am Streben und den legten Neft jenes gefunden Ehrgeizes
ein, welder der Vater alles Tüchtigen und aller Thaten ift. Ic
ftubierte nicht eigentlich und nahm auch am Vurjcienleben feinen
wirklichen Antheil mehr, ich lebte jo für mid) hin, — id) bummelte —
und das ift das Gefährlichite. Ohne böfen Willen, aber aud) ohne
Kraft, mir Rechenschaft über mic) jelbjt abzulegen, j—hritt ich auf der
geneigten Bahn fort. Mit der Zeit aber fand id) mid) in mein
eben, e6 genügte meinem erlahmenden Willen, meiner erihlaffenden
Energie. Nad) außen hin vereinfamte id) und verkehrte nur nod)
mit ganz Wenigen. Standen dad) meine Zeitgenoffen fhen Längit
in Amt und Würden, und die meine Schüler gewefen, jah ih nun
als Studenten und Korpsbrüder wieder. Es entging mir nicht,
daß die jungen Leute über mid die Achieln zudten und den
ergrauten Kommilitonen mit fdhledhtverhehftem Spott betrachteten,
wenn nicht gar offen gegen mic) fid) etwas herausnahmen, wofür
id) in meiner Lage fein geeignetes Mittel der Ahndung fand.
Id war gegen zwanzig Jahre in Dorpat Student geweien, als id)
mich jtreichen lieh. Tropdem blieb ich dort wohnen. An die
Stadt feffelten mich nicht bloß rein materielle Gründe, die Regelung
alter Verbindfichfeiten, fondern — was joll ich's leugnen? — id)
liebte das alte Nejt, in dem ich jeden Winkel fannte nnd in
welches die Gewohnheit mich fo feit eingeiponnen, daß id ein
Grauen empfand vor der übrigen, mir fo gänzlid) unbefannten
Welt. Nach der Heimath zog mich nichts mehr, feit auch meine
128 Der alte Stard.
Mutter todt war. Wovon ich unterdeiien lebte? Nun, Fümmerlid)
genug von Stundengeben und Kopiven, und lange hätte es nicht
fo vorgehalten. Da wurde mir durd) Vermittelung eines ehemaligen
Kommilitonen eine Unterförjtertelle auf einem Privatgute in
Kurland angeboten. ch fagte fofort zu: was hatte id) in meiner
Lage zu wählen und zu müfeln? Außerdem behagte mir mein
fünftiges Ant, gab es mir dod) Gelegenheit, meiner Jagbleidenichaft
ausgiebig zu fröhnen.
Und fo verließ ich Dorpat auf Nimmerwiederfehn. -
Die Herrlidfeit meiner neuen Stellung dauerte nicht allzu:
lange, id) vertaufchte fie gegen den grade vafant gewordenen
Poften eines Nommiflairen auf einer einfamen Strandjtation nahe
der Grenze. Dort habe ich lange Jahre gelebt, wenn man unter
Leben verjteht, dab man erwacht, iht, trinkt, fich niederlegt und
einen einförmigen Dienft verfieht, ohne Anregung, ohne echte
Freude und rechtes Leid, ohne von Welt und Menjhen etwas
zu hören. Mit dem Wogenjchlage des Meeres, den der Idarfe
Dftwind zum Stationshaufe herübertrug, vauichten im öden Einerlei
Vionate und Jahre an mir vorüber und die hohen Kiefern, welde
mein Dad) umfcatteten, fangen jtets dafjelbe melandoliice Lied.
Id fam mir vor wie ein Verbannter, aus der menjhliden Ge-
fellichaft Ausgeftohener, und doc) follte mir ein Heines Ercii
das grade diefem Lchensabjchnitte zugehört, beweifen, wie fchr
ich noch mit der Welt zufammenhing und wie Unrecht ich hatte,
mit meinem Pefimismus gegen mich jelbjt und gegen die
Menichen.
Zu jener Zeit wurde, namentlid im Frühjahr und Herbit,
wenn die Nächte alt, lang und dunfel waren, an beiden Zeiten
der Grenze ein Iebhafter Schmuggelhandel betrieben. Die Seele
diejer gejegiidrigen Unternehmungen bildeten gewöhnlid) Juden
und unter diejen ragte der rothe Schlom bejonders hervor. Ein
Jeder fannte, ein Jeder bezeichnete ihn als Schmuggler und doc)
war ihm nichts anzuhaben. Seine Schlauheit und Gericbenheit
war allen Nachitellungen gemacjen.
Wie ich eines Tages an meinem Tijche Eintragungen in
das Pojtbuch mache, that fi) leile die Thür auf. Herein trat
Der alte Stark. 129
mit feinem gewohnten pfiffigen Gefihte der rothe Schlom und
begrüßte mich jo recht unangenehmwertraulich.
„Was fol" Herrichte id) ihn an.
Der Jude antwortete nicht fogleid), fondern jah fidh fpähend
im Zimmer um. Dann trat er dicht an mid) heran und begann
flüjternd: „Wenn der Herr Kommiffair aud thut ungnädig, fo
weiß er doc), daf; id) co gut meine mit dem Seren Nommiffair.
Habe ic) in leter Zeit oft denken müfjen an ihn. Gott, habe
id mir gedacht, wie thut er mir leid. Er ift ein fluger Mann,
er ijt ein ftudirter Dann, und dad jchläft er in einem harten
Bett vnd hat nur anzuziehn einen alten Nod und fehlt ihm dies
und fehlt ihm das. Schlom, habe id) mir gejagt: du mußt ihm
helfen, dem Herren Kommifjairen .. .."
Seine Augen bligten liltig, als er fid zu mir herabbeugte
und mir zuflüfterte: „UL ich einen Vorichlag maden. Will ich
nichts weiter haben als den Schlüfjel zur neuen Waldicheune, die
fteht Teer, und werde ich wieberbringen den Schlüffel nad) einigen
Tagen. Will ich nichts haben umfonjt.“ Er holte eine fettige
Vrieftafche aus dem Anmern feines Kaftans und langte einen
Schein heraus. „Biete ich hundert Rubel.” Er legte das Geld
vor mid auf den Tijch und trat einige Schritte zurüd, wobei er
mich unausgejegt beobachtete.
Id begriff zuerit nicht, dann aber ging mir ein voller
Schimmer des Verftändniffes auf.
Die Schmuggler hatten einen Hauptjtreich vor. Sie wollten
in der nädjften Nacht eine Partie Waaren über die Grenze bringen,
zögerten aber, vielleicht aus Furdt vor den grade jharfe Wacht
haltenden Grenzioldaten oder aber, weil ihnen bie Nächte noch)
nicht dunfel genug ehienen, die Ladung zu weit in’s Land hinein:
zuichaffen und waren jo um einen geeigneten Lagerplag verlegen
Die einjame, im Walde gelegene Scheune, welde die Futter:
vorräthe für die Poitpferde barg und jest fait leer fand, war
von der Grenze aus auf einfamen Schleichwegen jehr wohl zu
erreichen und pabte zu diefem Zwede gut genug. er, wenn
die Gelegenheit günftiger, fonnten ja die MWaaren unbeobachtet
abgeholt und weiter geichafft werden. Der Preis, den man mir
bot, war im Verhältniß zu der Dienjtleiftuna, die man von
130 Der alte Stard.
mir verlangte, ungemein hoc; cs mußte fid) aljo um recht viel
handeln.
IH ericrat und mein Herz begann mächtig zu Hopfen:
„I foll Euren Hehler machen und die geihmuggelten Saden
bergen,” fagte id) und fahte den Juden fcharf in’s Auge.
Schlom lieh fi) nicht aus der Faflung bringen. „Weil
ich's,“ meinte er, „habe ich nicht davon gefprodien, fondern nur
von dem Schlüfiel. Was ift's wenn einer dem anderen giebt
einen Schlüfjel? If's ein Unrecht?"
Ic mühte lügen, wenn ich erzählen wollte, daß ich das
Anerbieten mit gebührendem Grimm und mit jlammender Ver
adhtung zurücgewiefen hätte. Nein, ich gerieth in einen heftigen
inneren Kampf und taufend wirre Gedanten zogen mir burdh den
Sinn. Man mag ja jagen, daf hundert Nubel feine bedeutende
Summe üt, für mid aber galt fie damals jo viel, als anderen
das Zehnfadhe. Schlom hatte Hecht. Id war in Vedrängnif,
mein Gehalt reichte faum zum Nothwendigiten und dod) mußte
id) alte Schulden bezahlen. Nod) vor einer Woche hatte ich einen
Brief aus Dorpat empfangen, in welden ein Gläubiger mir mit
Verfonalarreit drohte, falls id) nicht einen mehrfad) prolongirten
Wechfel, der binnen Dtonatsfriit fällig war, zum Termin einlöfte.
Ging id auf das Anerbieten des Juden ein, nahm id) das Geld
vom Tifc) und gab ihm dafür den Schlüfel her, dann war id)
gerettet; anderenfalls war mir der Schuldthurm und der Verluft
meiner Stelle fiher.
Schlom errieth, was in mir vorging, und fein Auge bligte
in Siegesguverficht auf. Aber er mifiverftand mich doch.
„Sind Ihnen vielleicht hundert Rubel zu wenig?” vaunte
er nähertretend, „biete ich Ihnen fünfzig mehr.“ Umd er Iegte
ein paar Heine Scheine zu dem erjten.
Ih war aufgefprungen, mit jcheuen Biden und unfideren
Schritten durchmaß id) das Zimmer. Vor mir aber ftand mit
erwartungsvoll vorgebeugtem Körper und [auernden Augen, wie
ein zum toi; bereiter Naubvogel, wie der leibhaftige Verfucher —
der vothe Schlom.
Da zufällig fiel mein Auge in das nebenanliegende Schlaf-
immer, deifen Thür offen ftand, und auf meinen alten Yurjcen-
Der alte Star, 131
dedef, ber friedlich über dem Bette hing. Und mit einem Schlage
waren alle meine Zweifel und quälende Unruhe hin, bie wirren
Gedanken ordneten ih und ich empfand glühende Scham. War
es jo weit mit mir gefommen? Wagte man mir das zu bieten?
Die Farben jollte ich beihimpfen, zum Hundsfott werden um der
bunten Scheine willen! .... Nein, taufend Mal nein, lieber
in’s Elend, lieber in den Schuldthurm!...
„Schlom,* fagte ich ruhig und jah ihm grade in’s Geficht,
steckt Guer Gelb ein, fofort!" Er zögerte und wollte etwas
entgegnen, dod) wie er meiner drohenden Dliene begegnete, nahm
er die Scheine fopfihüttelnd an fich.
„Schlom,” jagte ich wieder und holte mein Gewehr von
der Wand herab, „paht auf, feht, wenn ich jet eins, zwei und
drei gezählt Habe und Ihr jeid noch Hier, fo Ichiehe ic) Diefe Ladung
Nehpoften Eud) in die frummen Veine.” Der Jude fperrte den
Mund auf und fpreiste die Finger feiner rothen, behaarten Hände.
Ach hob das Gewehr in Anfchlag. Eins, zählte ich, zwei...
da war der Jude mit einem Sab an der Thür, im Nu hatte ex
fie geöffnet und mit flatternden Kaftanichöhen jtob er hinaus.
Id) aber nahm meinen Dedel von der Wand, betrachtete ihn
lange und liebevoll und jtrich licbfojend über die vergilbten Farben.
Aus tiefftem Herzen danfte id Gott, da er mic) aus jo großer,
fo furdtbarer Gefahr errettet ....
Aber aud) fonjt ned) Hatte id) Grund, die Güte der Vorfehung
zu preifen. Mir fiel es auf, daß ic) fo gar nichts mehr von dem
fälligen Wechfel erfuhr, obgleich der Zahlungstermin Längft verftrihen
war. Nein Protejt, fein Advofatenbrief, Feine Mahnung, — nichts.
Erft viel päter erfuhr ih, dab der Wedel 1 bezahlt war.
Von went, darüber vermochte mir niemand Aufihluß zu geben.
Zulegt löfte fih aud) diefes Näthfel. Fernande's Bruder, den id)
je aud) in Dorpat erlebt, der jegtige Majoratsherr, hatte durd)
andere, an die id) mid) gewandt, von meiner Nothlage erfahren
und die Schuld im Stillen getilgt. Id) dankte dem gütigen Mann,
er aber wollte es nicht wahr haben... So hat mir Fernando
nod) aus dem Grabe geholfen. —
Von der Station fiedelte ich hierher über, wo mir ein Heiner
Poften angefragen worden war. Meine Schweitern waren nad)
132 Der alte Stard.
dem Tode der Mutter fortgezogen und von den alten Univerjitätse
fameraden, mit denen id) noch Fühlung hatte, wohnte hier fo gut
wie feiner mehr. In meiner Waldeinfamfeit war id) jheu und
weltfremmd geworben, hier in der Stadt und unter den Menjchen
aber Fam ich mir nod) verlajfener vor. Mein befonderer Sciic-
falsgang hatte mich denjenigen, die nad) Stand, Ciziehung und
Bildung zu mir gehörten, entfremdet und die Art meiner Bes
fhäftigung hier, welche verichiedene Formen annehmend und von
Donat zu Monat wecjielnd mid) mr hödyjt fümmerlich über
Mailer hielt, entfernte mich ned) mehr von ihrem Nreile. Sie
jahen auf mid) von der Höhe ihres Standpunfts herab als auf etwas
Niederwerthiges, Untergeordnetes, mit einem gewiffen fränfenden
Mitleid, und ftatuirten ihren Nindern an mir ein warnendes
Veifpiel, wie man es nicht treiben Toll, —- und ih, nun ja, ich
Tonnte daran nichts ändern. Aber Niemand ift jo anfprudslos
oder jo egoiftiich, da er ganz ohne Menfchen auszufonmen
vermöchte, und da mir die Gejellfhaft der uriprünglic Gleich:
ftehenden verjchloffen blieb, jtieg ich in die Tiefe hinab, zu
und ungewollt. Bei Törner, wo id feit Jahren wohnte, lernte
id) die Leute Fennen, in deren GSefellichaft Sie mic) geftern fahn, —
Heine Nauflente, Juduftrielle, Beamte, die häufig in der Conditorei
verkehren. Sie waren freundlich zu mir in ihrer Art, bewielen
mir Teilnahme und das that ivohl. Nie aber, wenn id) nüchtern
in ihrer Mitte jah, verlieh mich die Empfindung, daß id) mir
eigentlich vergab und nicht in dieje Geiellichaft gehörte. Und
dann erwachte in mir eine gewaltige Crditterung gegen das
Schiehjal und die Luft mich zu betäuben. Was fam co jept mir
drauf an, was die Welt über mich iprad? Mochte es denn feinen
Gang gehn! Auch) ich hatte einen beiheidenen Anfpruch auf die
Freuden des Lebens, ich fand ihn hier. So gab id mid, alles
Andere drüber vergefiend und die innere Stimme zum Schweigen
bringend dem Augenblide bin und fo fonnte eo fommen, dah id)
das Dia des Erlaubten in Trinken und Neden überfchritt. Und
andrerfeits: was hoffte ich noch vom Leben? Je früher es aus
war, deito beifer für mid) und die übrigen .
So dachte ich bis vor Nurzem. Doc) heute morgen kam
die Erfenntnif, wie unrichtig meine Disherigen Anfchaungen geweien.
Der alte Stark. 133
Nein, id) hatte doch nicht das Necht mic weggumerien, fo lange
mid) jemand, der an Bildung, Sitten und Anfhanung mir nahe
ftand, mit freundlichem Wohlwollen, Nücficht und Achtung entgegen
kan, wie Sie es gethan. Und ich gelobte mir, daj; Achnliches fi)
nicht wiederholen follte. Wollen Sie mir vertrauen, mein lieber
junger Freund?
Der alte Star jchrwieg und reichte mir die Hand herüber,
die id} lange und Fräftig drüdte. Wie dinfte id) da urtheilen,
verurtheifen, vichten?
€s war mittlerweile fo dimfel geworden, daß ic die Züge
des alten Mannes vor mir faum mehr untericeiden Fonnte und
Schattenhaft erichien auch feine Geftalt, wie er fi nun erhob und
mit feifem: „behüte Sie Gott!” von mir Abihhied naym. Schwei-
gend und bewegt geleitete ich meinen Saft bis zur Treppe, die
auf den Kur und die Strafe führte. Auf der eriten Stufe drehte
er fi nod einmal lebhaft um: „Und grüßen Sie Dorpat!”
VI
Die Jahre Tamen und gingen. Ich Hatte die Univerfität
verlaffen und befand mid) in feiter Stellung. Meine Eltern lebten
feit dem Winter, der meiner Vefanntfchaft mit dem alten Stard
folgte, gleichfalls nicht mehr in N. So hatte ich feine Gelegenheit,
die Stätte meiner Jugend zu befuchen und im Lärm des Tages,
unter neuen, ftets wechjelnden Eindrüden gedachte ich nur felten
ihrer und was mit ihr zujammen hing. ud) das Bild des alten
Store war in mir verblichen.
Da führte mid) eine zufällige Veranlaffung auf einige Tage
nad) N. zurüc. Ih Hatte meine Gefchäfte erledigt und benußte
den Neit der mir nad) bleibenden Zeit, alte Grinnerungen aufzu
frifchen. Es war dort Alles größer und jchöner geworden. Vieles,
was als unzerftörbar in meinen wiprünglichen Vorftellungstreis
gehörte, war verichwwunden und Neues dafür aufgeblüht. Immerhin
aber blieb genug übrig, was mich an die alte Zeit gemahnte und
in fie zueücverfeßte. Auch den alten fchattigen Stadtpart mit
feinen einfamen, verfchlungenen Gängen und uralten dichtbelaubten
Bäumen, unter denen ich als Kind geipielt, fuchte id) auf und
mic) ergriff ein freumdiges Gefühl, als id) ihn fajt unverändert
134 Der alte Stard.
wiederfand. Unvermerft führte mid) mein Meg aus dem Park
auf die Heerftrae, welde von Pappeln eingefaht, jhnurgerade
in's Land lief.
Es war don Ende Auguft. Zeile nahte der Herbit und
blieo mit zartem Sauce hie und da die Blätter rötlid) an, die
eilenden Wolfen zeigten die Farbe der Haide und über die weite
Ebene, bie fi) vor mir ausdehnte, jagten fanftbewegte, wechfelnde
fremdartige Lichter, welde das Grün ber Birken am Horizonte
bald in Helle Gtuth, bald in düftere Schatten tauchten.
Auf der Strafe rollte ein feltiames Fuhrwerk heran. Ein
mageres braunes Pferdhen zog mit Anftrengung an einem Lajt:
wagen, auf dem allerlei Möbel und Yausgeräth idhledht und jorglos
zufammengepadt lagen. Nebenher dritt ohne jonderliche Eile der
Fuhrmann, ein Meiner dürrer Bauer, und feuerte von Zeit zu
‚Zeit mit der kurzen Peitjhe fein Röplein zu größerem Eifer an.
Den Veihluh machte eine Feine, gebüchte Männergeftalt, die, eine
Flinte über der Schulter, mit kurzen ungleihmähigen Schritten
hinter dem Wagen herging.
Ich Hätte dem fonderbaren Zuge vielleicht gar feine Beahtung
gei—jenft, wenn nicht der Heine Mann, meine Aufmertiamfeit auf
fich gezogen Hätte. Wer ging dad) jo? Wie ic) ftehen blieb und
ihn mir genauer anfah, da war fein Zweifel mehr möglich, — das
war mein alter Vertrauter aus den Ferien der Studentenzeit,
ber alte Stard. ch rief ihn an. Er jtugte und jchaute verwundert
zu mir herüber. Ic) rief nochmals feinen Namen.
Und während er, noch immer zweifelhaft, an den Hand der
Strafe trat, war ich über den Graben gefprungen und auf ihn zugeeilt.
„Erkennen fie mid; nicht mehr, Herr Stard?"
Da beichattete er die Augen mit der Hand und wie fein
Zweifel fi in Gewißheit töfte, zog wieder das alte, gemüthliche
Laden über die verihrumpften Züge. Da jtand er leibhaftig vor
mir, der alte Star, aber wie hatte die Zeit ihn gewandelt! Der
Nüden ganz zufammengefunfen und gebüdt, der mächtige Kopf
von fdneeweißem Haar umrahmt, das gute alte Geficht eingefallen
und verwittert. Auch auf dem borjtigen Schnurrbart lag Schnee.
Er hielt lange und wortlos meine Hand, „Sie, Herr—t,
Sie!" Zwar jchnarrte er nod, aber es war nur ein Nadhall
Der alte Stard. 135
des früheren energiichen Tones. „Was führt Sie her in unfere
Gegend?"
Ich gab furze Auskunft.
„Und wie it eo Ihnen unterdefien ergangen?“ forichte ich
zurüc und mein Bid freifte die Gegenftände auf dem Wagen.
Das waren diefelben wurmftichigen Stühle, der wadelnde Tiidh),
das Schmale, unbequeme Bett, die ich einft oben bei Törner gejehn.
Der Alte jhlug den Vlid nieder. „Nun, wie ich's gewohnt bin,”
erwiderte er, „nicht allzugut, aber cs fönnte and, fchlechter gegangen
fein. Wohin id) mit meinem Kram da ziehe, wollen mitten?
Ia, jehn Sie, vor drei Vionaten wurde die Chauffeceinnehmerftelle
frei, dort drüben,“ er zeigte die Landjtrahe herauf, „und da es
dod) etwas Files und id) ohne Stelle war, jo griff id ji.
Schwerer Dienft, bei Tag und Nacht, feine Ruhe und bei jedem
Wetter Heraus, und dazu die infame Gicht in den Gliedern. Ic)
ah, 6 ging nicht, und nahm meine Entlafung ...“
Während der Alte erzählte, Fonnte id) mic) von der Empfindung
nicht befrein, daß mir etwas an feiner Gefammiterfheinung fehlte.
Endlic) fiel es mir ein.
„Wo ift Leda?” fragte ich in feine Erörterungen hinein.
Der Alte jenkte das Haupt. „Todt,“ jagte er Iafonijch.
„Und nun?” fragte ic) nad) längerem Schweigen und deutete
auf die Fuhre, die fid) wieder in Bewegung jebte.
„In die Stadt,“ erwiderte dumpf der Alte. „Irgend wo
wird fid) ein Plägchen finden für den alten Stard und ein Stücchen
Dad) über jeinem grauen Stopf, bis man ihm fein legtes Haus baut.”
Pir wurde es weid und fÄwer um’s Her.
„Herr Stark,“ fagte id) ein wenig zögernd, „Sie haben für
Ihre neue Einrichtung gewih; einige Mittel nöthig. Darf ih?..
Sie wilfen, es ift gut gemeint.“ Ich bot ihm an, fo viel ih
entbehren Fonnte.
Er jah mid) an aus großen, gerührten Augen. „Yon Ihnen
nehme ich's gerne,“ fagte er leife, „und, wil's Gott, fo follen
Sie 08 bald wieder haben.”
Wir reichten uns die Hände. Langfam, aber jtetig bewegte
fi drüben der Wagen in der Richtung zur Stadt fort. „Ic
mu eilen,“ fagte Stard unruhig. Cr nidte mir nochmals zu,
3
136 Der alte Stard.
ichulterte das Gewehr und eilte dem Fuhrwerfe nah. Ih ging
meine Strafe weiter, doch mod) ein Mal wandte ich mich um
und jhante gedanfenvoll zurüc. Da jchritt der Alte jeinen Leidens:
, weiter, weiter, immer Feiner und undeutlicher nurde feine
talt, bis fie in der Hereinbrechenden Dämmerung verjank . . .
* »
Nad) einem Jahr etwa lief bei mir ein Geldbrief ein. Der
alte Stard fchrieb mir und ich betrachtete mit ntereffe Diele
tleine, Fraufe, weiche Handfchrift, die feinem Welen und Charakter
io gut entiprad. Er idicte mir die Hälfte des gelichenen Geldes.
ine Zeilen aber lauteten:
Rd. 4 Jan. IST...
Schr lieber verehrter Herr!
Endlich bin ich in der Lage, mich wenigitens theilweiie ber
Ihnen gegenüber eingegangenen Verbindlichkeit zu entledigen und
wahrlich, ich Ahue es mit allerwärmften Danke. Nad) Jahresfriit
hoffe ich auch den Nejt zurückzueritatten. Der alte Gott Icbt
nod. Er hat mir auf der befchwerlihen Wanderung durd) das
Leben endlich eine Najt vergönnt, da ich ausruhn darf, bevor ich
die legte und größte Neife antrete. Neine Date, fein Palmen-
ihatten, fein filberiprudelnder Quell, aber doc) eine gute bebagliche
Stelle als Speicher: und Kellerverwalter in einem biefigen Seichäft.
Drei [berrubel feite monatliche Gage, wie viel jchweres Held!
Dafür kann ich nicht allein anftändig (eben, mir ein warmes
Zimmer und einen guten Mantel beicaffen, Tondern aud Schulden
bezahlen. Es lebte fid) jchen, wenn nur die Gicht mich nicht
plagte. Doch darf ich nicht Hagen, hätte id) dod) nie geglaubt,
dafi es einft mit mir noch fo gut werden fönnte.
Ihr treu ergebener
Karl Stard.
vun.
Wieder war eine ftattliche Anzahl von Jahren verflofien,
che ih die gute Stadt N. betrat. Wieder ging ich fchlendernd
die Strafien hinab und Fam auf meiner Wanderung an den Ort,
Der alte” Stard. 137
wo inmitten einer Klucht neuerbauter Käufer in progigem Gefchmad
fi die Törneriche Gomditorei furdtjam und verihüchtert zu ducen
ichien, nod) gänzlid) unberührt vom Hauche einer neuen Zeit. Nod)
immer wies diejelbe, mir jo wohlbefannte fhwarze Tafel mit den
goldenen, jest halb verblidenen Yuchjtaben den Weg zum Cingang
in die MWirthicaft und als id) meinen Vi in bie Höhe hob, jah
ich aud am Giebel das Fenfter wieder, das zu der chemaligen
Wohnung des alten Stard gehörte. Es war Alles wie einft, nur
der Garten, in den ic) jo gerne hinabgefhaut, war verichwunden,
die prächtigen Linden niedergelegt und an der Stelle, wo fonjt
ihre jchattigen Nronen zum Simmel ftrebten, vagte jegt ein
nüchterner Tafernenmäßiger Neubau empor. Unwilltürlich hemmte
id) den Schritt und im nächjiten Augenblid fand id) vor dem alt
befannten Buffett der Törnerfhen Mirthicaftl. Törner erfannte
mid) glei und nidte mir lähehud zw. Gr war breiter md
behäbiger geworden, aber die Nugen hatten den munteren, lebens«
freudigen Ausdrud behalten.
Ic beftellte etwas und fragte nad) dem alten Star.
„O, der üft tobt!“ meinte Törner gleihmüthig, in bem er mir
mein Glas füllte. „Ging ihm ja zuleht fo weit ganz gut, und fill
und folide Ichte er and. Seit jenem Abende — mn Sie willen
wohl — hat er fich bier fo gut wie garnicht mehr gezeigt und
der Rofenfeld, der ja aud fchon fange auf dem Kirchhof
liegt, bedauerte es jpäter immer, daß er dem Stard jo garnicht
beifommen fünnte. Aber er fränfelte, der Alte, und jo gan
langfam weggeflorben. Eine Art Teftament hat er aud hinter
fajfen. Vejap ja nichts, doch feinen alten Farbendedel follte man
ihm in dem Sarg legen und das alte Lederpolfter, das er im
Leben immer als Nijjen benugte, unter den Kopf.“
Fernando's Kiffen! dadıte ich.
„Dit aud) alles pünktlich ausgeführt worden,“ fehlen Törner
feinen Bericht.
„Wo liegt Staret begraben?” fragte ich.
„Auf dem alten Kirchhof, fo viel ich weih,” erwiderte Törner
achfelzuctend, „über das Weitere wird Ihnen der Nirhhofswächter
wohl Beicheid geben.”
gr
138 Der alte Stand.
Armer Stark! dachte ich, mie schnell bijt Tu vergefien
Nicht einmal diefer, mit dem Dich jahrelange häusliche Gemein:
fchaft verbunden, weih von deiner Nuheftätte!
Id nahm einen Wagen und fuhr über die neue Vrüde, den
Hafen entlang, der Vorftadt zu, an Heinen, beicheidenen hölgernen
Häufern vorbei, bis der Weg immer einfamer und beichwerlicher
wurde. Vor dem Haufe des Todtengräbers lieh ich halten und
fragte drinnen nad Stard's Grab.
Der jtille Mann mah mid mit einem erftnunten lid.
„Kart Star?“ fragte er nachdenklich, „aus welchen Jahr? 18782
Weit nicht, it ihon lange her, da muß id) meine Yücher nad):
ichlagen.” Er blätterte längere Zeit, dann blieb fein Finger an
einer Stelle haften. „Pier,“ fagte er, „Narl Stard, Grab auf
der Fichtenhöhe.“ Und als er meinem fragenden Ylid begegnete:
„a, das find die alten Gräber. Es iit jchwer fid) da zurecht:
jufinden. Wenn Sie wollen, begleite id Sie.”
Wir jhritten jchweigend durd) das Neid) der Todten, auf
das der October doppelte Schwermuth jtreute, vorüber an frühen
und halbverjunfenen Gräbern und Areuzen. Der Wind rajdelte
in den welfen Swänzen und leife fchwanften die Aftern, auf den
füllen Hügeln. Weit, weit hinten, wo der Friedhof fon zu Ende
zu gehn Ihien, vagte eine jteile Höhe, die dunkle Kiefern frönten.
Wir Hommen durd) den diden gelben Sand hinan und mein
Begleiter lief; prüfend den Bid über die Umgebung j—hweifen.
An einer Stelle blieb er jichn. „Sier,” fagte er latonijc), grühte
und ging von dannen.
Alfo hier hatten fie Did) gebettet, alter Stard!
Ein von Moos und Unkraut überwachiener, halbverfallener
Hügel, ein fchiefragendes, fdlichtes, dunkles Areuz aus Tannenholy
mit einfadher, hatbverblahter Inichrift, —- das war alles, mas an
ch,” las ich mühlam, „geboren 20. Juni 1806
geit. 4. Nov. IKTK...*
In der Nähe ftand eine Bank, id) fegte mich und ftarrte in
Gedanfen verjunfen auf den Hügel.
Um mic war es jo friedlich und jtill. ben in den uralten
Kiefern Hang es wie von dumfeln Liedern und gradeaus vor mir
Der alte Stard. 139
dahin id den Bid nun Hob, that fih eine überraichend ichöne
Ausiiht auf. Dort felug der weie Gifdht der Brandung wider
die Mlolen, dahinter aber dehnte fi das unermehliche Meer,
deffen grauer Spiegel heute von leichten Wellen gefräufelt war.
Eine frifche, gefunde, falzige Luft wehte in Leifer Brife zu mir herüber.
So hatte er die Natur doc) nahe, die er fo fehr liebte,
Und id) dachte, ein wie cwaches und willensunfräftigeo,
aber aud) ein wie treues umd rechtes Herz in dem Dianne geichlagen,
der da ımten ruhte. Was er aud) gefehlt, er Hatte es überreichlich
gebüft mit einem langen, langen Yeben voll Entjagung, Tereinfamung
und Zurücdiegung. Er hatte nirgends feften Fuß gefaßt, er war
ein Frembdling geblieben in diejer Welt, deren lichte Höhen er nur
von ferne geichaut. Er hatte umfont gelebt, ein verfehltes und
gefnidtes Leben, das in der Rnofpe erjtarrt war ohne Vlüthen
und Frucht zu tragen. Oder nein. Zwei prangende Blüthen hatte
es doch gezeitigt: begeifterungsfähige Freundichaft und die bis in
den Tod getreue Liebe für feine Jugend, jeine Burjchenjahre.
Ic, blicte zum Himmel auf. Dort jtand ein Stern an der
graublauen Wölbung, gerade über Stard’s Grabe.
Und wieder dachte id, wie niemand jo arm, mühjelig und
beladen ift, dah ihm nicht in der Tiefe des Herzens ein Ndeal
wohne, welcyes ihn führt und aufrichtet, ihm leuchtet und Tröftung
bringt in den Dunfelheiten dieies Lebens.
—
Aunitbriefe.
VL
Aus der Hodfluth der ITheaterjaifon diejes Winters ragt
bier und da Etwas hervor, nicht aere perennius, aber dod)
werth vom Tageschroniften fefigehaften zu werden, jei's au nur,
weil 5 von der immer no) fteigenden Fluth am Ende auch bevedt
und fortgeriffen werden fönnte . . . .
Wer fpricht Heute noch von dem großartigen Haafe-
Jubiläum, das vor Monatsfriit in aller Yente Diund war in ber
vajchlebenden llionenjtadt, in aller Leute Diund, foweit fie
Raum haben in Hirn und Herz für geiftige Interejfen?
Und es mar doch eine jo „ihöne*, jo „grohartige” Feier!
Wenigitens wurde fie damals dafür ausgegeben. Was Namen
hat in Thenter- und Schriftftellertreifen, drängte fih heran an
den Jubilar md fonnte fid) in feinem Glanz, wie cs diefen
andererfeits jelbjt vermehrte,
Der bald fiebenzigjährige Vühnenfünftler, der weit cher
einem Diplomaten oder Viinifter a. D. gleicht, als einem Ver
treter der Kulifjenwelt, ift heute fie der im Auslande befanntejte
deutfche Schaufpieler. Auch in Bezug auf feinen Lebensgang,
von dem ja jedes Nonverfationslerion genügend Ausfunft zu
geben weiß. Auch in feinem Waterlande, in dem er in den
legten 13 Jahren feinem feiten Vühnenverbande mehr angehört
bat, jondern nur als Gaftjpieler thätig war, gehört er zu den
befanntejten und beliebtejten. Als daher ein legte, allerlegtes
Kumftbriefe. 141
Gajtipiel im Löniglichen Hofihauipielgaufe angefündigt wurde, mit
dem Friedrid) Haafe jic) für immer von der Bühne verabfcjieden
follte, da erregte es allgemein aroßes Interefie und gleichzeitig,
begannen die Vorbereitungen zu einer großen Abichiedsfeier . . - »
So famen denn noch einmal die Kopebue und Haupad), die
Venedir und Scribe auf einer der erjten Bühnen Deutichlands zu
Ehren während mehrerer Wochen, bis der 15. Januar da war,
an dem die legte Haafe-Vorftellung tattfand und der Künftler
als Graf Ihorane im Gugfowfchen „Nönigs Yirutenant“ mit deijen
Schlußworten den Berlinern fein wehmüthiges „adieu, adieu
pour toujours!“ zurufen tote... Schluchzen, Tücherichwenten,
Seränge und Sträufe... Dann, eine große offizielle Verabichiedung
auf der Vühne jelbjt. Das war das Vorjpiel. Tags darauf ein
großes Feitefien im „Saiferhof.” Spenden und Ehrungen aller
Art, zahlreiche rührende und gerührte Neden und Gegenreden in
glänzender Verfammlung, die Tafel mit lauter Heinen Häschen
im Lorbeerichmud geziert. U. j. m. Und das Ende vom Liebe?
Nicht Friedrid) Haaje hat Nedht behalten, der in feiner Nede von
der Bühne des Schaufpielpaufes herab den Zufchauern zurief: „er
jei glüclich, dafı es ihm vergönnt gewejen, gerade in Berlin Ab
ichied zu nehmen, das ihm stets fo freudig entgegengefommen jeil”
Sondern Dofar Blumenthal, der im Naiferhof Inunig auf das
nächfte Gajtipiel Haafe'o — im Yeifingtheater tonjtete. Im
Keffingthenter hat es nun freilich nicht jtattgefunden, fondern in
Dlagdeburg, dem fih ein weiteres in Röln anichloj. Und jo
wird fid) der Meifter jsenifcher Nleinfunft und bejtechender Bühnen-
toufine wohl noch ein Jahr durdwerabicieden von allen Haupt
ftätten feines einftigen Wirfens. Wis dahin hätten wir aljo wohl
noch Zeit, die Summe diejes Wirfens zu ziehen. Nun foviel
icon heute: Haaje galt in den 50er und 60-er Jahren als einer
der alferbejten Vertreter deo Faches, das man damals und aud
fpäter alo das des „Charafterdaritellers“ bezeichnete, und er legte
in diejes Fac) joviel perfönlices Können der Nleinmalerei hinein,
dah; fid) mit der Zeit in der Sprade der Bühnenwelt das Wort:
„Haaje Fach” herauobildete. Heute muh jeder Schauipieler Charafer-
darjteller und jeder Wühnendichter Charakterichöpfer fein. Und
Haaje, der vielbeneidete „Nealift“ von damals, er erideint neben
142 Kunjtbriefe.
den Nealiften von heute nur nod als Routinier. Aber, wie ic)
fchon fagte, diefe Routine hat mitunter etwas Veraufhendes, das
Detail feiner Menfdenmalerei etwas Feljelndes und das immer
um fo mehr, je weniger der Dichter ihm an Material bot.
Großes feeliihes Material der Dichterfürften vermochte er nicht
zu bewältigen. Nidt fein Lear und fein Hamlet, nicht fein
Nihard III. und fein Alba haben ihm die großartige Jubelfeier
eingetragen, jondern fein Nocheperrier und Yonjaur, jein Thorane
und fein Lämmchen, fein Klingsberg und jein Crommell....
* *
*
Tout passe, tout easse. tout lasse.... Au Hanje
fonnte fid) die legten Jahre über davon überzeugen, wenn er die
Mritifen am Abend feiner Bühnenlaufbahn mit denen aus der
Zeit, wo feine Veifallstonne in Mittagshöhe ftand, verglid. Aber
er fann fid) aud) mit der Gunft der großen Mafie tröften — die
it ihm gleich treu geblieben ein halbes Jahrhundert bindurd.
Vierfwürdig, dieie große Mafle — wie fangiam fie fi fort-
entwidelt inobefondere auf dem Gebiete jeglicher Art Kunftgeihmads.
Da bleibt fie fteis hinter der Eleinen Gruppe äfthetiicher Fein-
ichmeder nnd ihrer die Fritifirende Feder fhwingenden Führer um
ein paar Jahrzehnte zurüd.
Das merft man jedes Mal auf's Neue, wenn einer der
Halbgötter der Modernen zu Worte fommt, was jett freilich
immer feltener zu geidhehen pflegt, denn jchliehlih it aud) für
den tolliten Principienreiter unter den Theaterleitern ein jchöner
Kaffenrapport über Aufführungen Haffiiher Dichtungen und
unmoderner Mittelmaare weit werthvoller und lieber, als die
begeiftertiten Spmnen jenes Häufleins Kritifer. Won allen Theater:
leitern der legten 10 Jahre it hier mır Yudwig Barnay zum
Viillionär geworden, obidon — oder weil? Stüde wie ein
Obnet’icer „Hüttenbefiger“ zum eiernen Veltande feines Spiel-
plans gehörten.
Gar bitter find dagegen die Erfahrungen, die das „Deutiche
Theater“ macht. Bejonders in diefem Winter. Die beiden Haupt-
teiimpfe, die Direktor Otto Brahm ausipielte, erwiefen fih als
viel zu Fady und wurden von Mifgunft und erftänbnihlofigfeit
überjtochen.
Kunftbriefe. 143
Selbjt die allerwärmten Anhänger des Hauptmannz
Kultus mußten zugeben, dab „Florian Geyer” ein gan
verfehftes Werk. Deswegen hätte e6 freifid bei der Gritauf
führung am +. Januar nicht zu den wunderlichen Nuftritten zu
fommen brauchen, die im fepten Afte gar zu minutenlanger Unter
bredung des Spiels und einem Höllenlärm führten. Hervorge:
rufen wurde der beifpielloje Skandal weniger durch die Dichtung,
als durd) die überlaute Gemeinde der Freunde des Dichters, die dort
einen großen Erfolg jehen und fcaffen wollten, wo das Publitum mur
Vihbehagen empfand und einen Diherfolg verzeichnete. Doc) wir
wollen von diejen Vorgängen ganz abiehen, die den Theaterfaal zum
Schauplag einer jtürmifchen Wolfoverfammfung machten. ie allein
dürfen für das Werf nicht maßgebend fein. Gleich den „Webern“
its eine Mitleidstragöbie, aber die gequälten fahlefiihen Arbeiter
mit ihrem Hunger und Elend ftehen mir immerhin näher, als die
Bundjchugleute mit ihren 12 Artifen aus dem an tragiichen
Epifoden und entjeglichen Xorfommniffen jo reihen fränfiicen
Bauernfriege des Jahres 1525. Ihr vitterlicher Führer, der
Slorian Geyer, gewiß; eine tragüiche Figur, it epiich und dramatiic)
ichon wiederholt verarbeitet worden aber Hauptmann hat nicht
mehr Glück dabei gehabt, als feine Vorgän Der Dichter
nannte fein Wert „Bühnenipiel* — charafteriftiich für die Mo
dernen ift überhaupt die gefliffentliche Umgehung der fandläufigen
dramatifchen Gattungsbegeihnungen — aber aud) das Vühnenipiel
muß uns in erter Linie eine feitgefügte Handlung, Steigerung
und Entwidlung bieten, wenn anders cs feileln foll. Hier -
nicht davon. “Eine endlofe Neihe von Bildern und Szenen, oft
vollftändig zulammenhanglos, jo dafi z.B. das Loripiel ganz aut
an Stelle des dritten Aftes, diefer anftatt des zweiten und der
zweite als eriter Aft Hätte gegeben werden fönnen — man hätte
wahrlich feinen Unterfchied gemerkt. Exit im vierten beginnt fo
was wie dramatiihe Handkung uns zu feileln, die dann im fünften
in echt Haupmannicer Weife gewaltig ergreift, chliehlid aber
durd) das Mebermah naturaliftifcher Zumuthungen verfiimmt und
Bis zur zweiten Hälfte des vierten Afts nichts als
mwüfter Cärm auf der Bühne, ein Stohen und Drängen und
Schreien von zahllofen immer wieder neuen Gejtalten, die fennen
144 Kunftbriefe.
zu fernen wir gar nicht Zeit haben, deren Summen wir mitunter
nicht einmal verjtehen fünnen. Florian Geyer jelbit aber mitten
drin feineswegs der Alles beherrichende Mittelpunkt von zwingender
Gewalt, um den fid Alles jammelt, jondern eigentlich aud,
immer nur Epifode, wie die Uebrigen Alle, Freilich war das
Werk, das zuerft für zwei Abende berechnet war, ftarf zufammen
geitrichen worden. Vielleicht dadurd) ftellte die Aufführung an
bitteriiche Spezialfenntnifie jo ftarfe Forderungen, Läht fie jo viel
der Näthjeldeutungsfunft übrig. Aber Publitum will feine Näthiet
Gen im Theater. Dazu das ewige Stimmengewir, Nüftung-
geflier, Schwertergerafiel und Nanonengeprafiel - aud) Männer
nerven hielten die Sade jcwer aus. Trog alledem gelang es
Hauptmann nicht einmal, grofiausgeführte, Hargezeichnete, farben:
präcjtige Zeitbilder zu liefern. ... Und das jollte mn einen
Goetheichen „Söp” in den Schatten jtellen! Jemand meinte recht
boshaft: diefer jei wirklid ein „eilerner“ Göß, Hauptmanns
„slorion Geyer“ aber nur — blehbeichlagen. . . Der Naum
verbietet mir leider eingehender bei der Dichtung zu verweilen.
Iedoch heiiht es die Gerechtigkeit zu betonen, da ein Hauptmann
jein dichteriiches Genie nimmer ganz verleugnen fann: auch hier
gabs Momente, Züge, Scenen von groher dichteriicher Schönheit
und Kumft, zumal im +4. und 5. Aft, theilweije auch im zweiten. Dan
bat fie fpäter herauszuretten gefucht. Zur zweiten Aufführung
war das große Vorfpiel ganz geftichen, waren die übrigen Alte
erheblid) gefürzt worden --- aber geholfen Hat das nicht und nad)
zwei Wochen jchon war das jo mühjam einjtudirte, mit joviel
often inijenirte „Vühnenjpiel“ vom Spielplan jo qut wie ganz
verjchiwunden. Wenn ich nicht inte, hat es überhaupt noch nicht
zehn Aufführungen erlebt.
Fafı ebenfo jhlimm erging es War Halbe. Nicht jo hoc
fiectt er fidh jein Ziel, wie der fruchtbarere Gefinnungegenofie und
größere. Wenn diefer fünjtterifc Zeit: und Weltfrngen zu er
fafien and dis zum Höhe dichteriicher Verallgemeinerung des
Menfchlichen überhaupt zu erheben bemüht ijt, jo begnünt fich
Halbe mit fleinen ftimmungsvollen Yebensausicnitten der einzel:
Rumjtbriefe. 145
nen DVienihen. Aber die Mittel, mit denen er arbeitet, find zu
meift die gleichen und die treibende Pebenophilojophie ift diejelbe.
Der Erfolg feiner „Tugend“ vor ein paar Jahren, die anzır
bringen ihm übrigens viel Mühe gefoitet hat, wedte das Interefie
für feine neuefte Dichtung: „Lebenswende*“ die er als
„Tragifomödie” bezeichnet. Schon dieje Bezeichnung allein cr
iheint verhängnüvoll. Was einem Shafeipeare gelingen fonnte,
das Tragiiche und Nomiihe in einem Unauflöstichen zufammen
zuverichlingen Halbe ift es mihlungen und jelbft zwei Halbe
machen, trog aller mathematiichen Grundiäge, nod fein Ganzes.
Das Tragiiche wird hier nicht fomohl vom Nomifhen, jondern
vom Grotesfen überwuchert und wo der Tichter erihütternd
wirken wollte, da verdarb er Alles durdy Banalität, die nament
lich im 5. Alte Bas griff. Cine Handlung giebts freilich diejes
Mal, aber fie fest erit im 3. Akte ein und wird jclichlich
umerhört! —- nad) dem deus-ex-machina-Negept jäh übers Anie
gebrodyen. Zwei junge Dänner, ein jwrebfamer Technifer, Weyland
und ein verbummmelter, jaft: und marklojer Student, Ebero, ewig
im Mater und verteäumt, leben in einem Chambre-garni bei
einem Fräulein Olga, dem einft der Bräutigam furz vor der
Hochzeit ftarb. Sie hat eine Nichte bei fd), Provinzialbadfiid)
Vertha, ein verlichtes und verfchlagenes Mädchen, das die Nefidenz,
fuft Tennen lernen foll und über deifen Lüfternheit und finnlider
Neugier nur die Pilift i
icheinbaren Herzensreinheit gebedt hat. Sie
Ebert, bald mit Werland, lält fi) von jenem füffen und bietet
fich diefem als Weib an. Das Yeptere thut auch Olga, in einer
der beiten Szenen, in wahrhaft dichteriich natürlicher Weiblichkeit;
fie jelbjt wird von einem aus Amerika heimgefehrten alten
Jugendfreunde geliebt und umworben, Nobert Heyne, der Weib
und stind drüben verlafien hat, wie fie ihren Bräutigam. Wen
Land beichäftigt fi mit einer großen Erfindung auf dem Gebiete
des Bronzeguifes. Aber dazu braucht er Geld. Die NMente
Tilgas reicht nicht aus. Sie will daher das Opfer bringen
natülih ohne da Wenland es weil; und Heyne heirathen,
wenn er die Summe hergiebt. Aber er ift vorfihtig: erit muß
er jehen, was «6 mit dev Erfindung auf ji) hat, am der der
146 Sunfibriefe.
Terhniter im Hinterhaufe arbeitet, wo er fid) einen Gufofen her-
gerichtet Hat, in deifen Feuerichein auch die beiden legten Ate
ipielen. Da begeht die Liebende den Unfinn, ihre Hand dem
greifen, halb blödfinnigen, aber veichen Hausbefiger zu veriprechen,
der längft um fie buhlt. Doch inzwiichen befinnt fi) Heyne und
da num andererfeits Olga auf Bertha eiferfühtig wird — fie
glaubt, das Vrädchen habe Weyland bethört — fo heirathet fie
doc) zu quterlegt den ugendfreund, der wie gejagt dem Erfinder
jest zu Helfen bereit ift. Bertha aber, die fi erit mit Ebert
verlobt Hatte, dann wieder entlobt wurde, nimmt ihn schlichlich,
da Werland von ihr abjolut nichts willen will. . .
Erquidend ijt das Alles nicht und and) nicht natürlich. Aber
diefe eigentliche Handlung it ja ganz Nebenfache: die Milten-
zeichnung, die Stimmungsmalerei, die Charafteriftit, vor Allem die
Eberts und des Provinzmäddens während Olga nur ftellens
weife gelungen it, Wepland ein langweiliger Schönredner und
Heyne fid) dnrd) nichts von einem Scablonenmenjchen unter-
Ädeidet -- Das macht den Neiz der Dichtung aus, namentlich in
den drei cerjten Aften. . . Jedoch feine Serlenmalerei und ge-
treue Alltagslebenschilderung find offenbar nicht nad) dem Ger
ichmad des großen Publifums und da die Hoterie der Mobernen
und ihre zumeift aus wenige Semejter alten Studenten beftchende
Glaque wiederum von vornherein jcharf ins Zeug ging, jo gabs
abermals Standal: ITrampeln, Züchen, Pfeifen fogar. Der Er
folg des Stüds war ein jeher umftrittener und fein Gefchie gleich
dem von „Florian Geyer”: 8 jteht chen nicht mehr auf dem
Spielplan. Xilleicht wird’s zu einer Yebenswende aud) für Halbe
jelbjt und gelangt fein jdönes Talent demnächjt auf den richtigen
Weg. Afte, wie dev erfte und zweite in „Lebenswenbe“, gehören
zu den beiten in der heutigen deutfchen Vühnenliteratur überhaupt.
Nur Tann man ihren Neiz nicht wiedergeben - man muß fie
schen.
Auch von „Yiebelei“ läht fid) das jagen, dem dritten
Schaufpiel, das das Deutjche Theater in der legten Woche auf
die Vühne gebracht hat und in diefem Falle mit mehr Glüc.
Der Dichter, ein liebenswürdiger junger Wiener Arzt, Dr. Arthur
Schnigler, eroberte fi die Veryen der Berliner im Sturm.
Kunjebriefe. 147
Da der geiftreiche Feuilletoniit und Sapneten-Dichter von Henri
Miurger und Alphonje Daudet beinflußt ericeint, da jein Dreiakter
Grinnerungen an vie de Boheme* und „Sappho“ wachruft,
bas tHut nichts, denn „Liebelei” it echtes Wiener Blut durd) und
durch. Erzählt if's bald, was das Stüc bietet: Zwei junge
Wiener Lebemänner, Theodor und Friß, lernen wir fennen und
ihre augenbliclichen Bonfjaden, die feihe, Iuftig und leichtfertig
durd)s Yeben flatternde und ihre Liebhaber wie Tänzer wechlelnde
Mobdiftin Mizi und die fchwermüthige Mufiantentochter Chrüiline,
der es Exnjt ift mit ihrer Viebe zu Arig. Und aud) diejer licht,
und liebelt nicht, zum eriten Val in jeinem eben. Doc das
Unglück fcjreitet fhnell. Cr hat aud) gleichzeitig ein Verhältnis
mit einer Tame von Welt. Der Gatte fommt dahinter
und mitten in das tolle, fuftige Treiben der vier in dem reichen
Junggefellenheim Frigens fällt jeine Forderung, die er perjönlid)
überbringt. Im zweiten Akt werden wir in das Heim des alten
vefignirten Vlufifanten, zweiten Geigers in einem Vorjtadttheater,
geführt. Cine faubere Dadywohnung voll Sonnenjhein und mitten
drin die bange Chriftine mit der Angft um ihre Liebe, obgleich fie
vom Duell nichto weiß. Aber Fri ift jo väthielhaft und zum
Hendezvous Fam er nicht und eine alte Nachbarin jtihelt und
Latjcht fo Hählid) und die Mizi lacht und f—erzt jo viel... Dod)
da kommt der Friß... Endlidh!.. Er kommt Abjhied nehmen,
ohne dah fie es merken darf... Dann geht er. Sie joll ihm
nicht wiederfehn. Er füllt in Duell. Ju 3. At erfährt fie co,
erfährt gleichzeitig, dal er ichon beerdigt ijt! Gleichgütige Verwandte,
feicht vergeifende Freunde Fonnten ihm zur Erde bejlatten, und
fie, und fie, deren Pebensfonne er war, fie durfte es nicht?...
Da rat fie zur ür hinaus und jtürzt fd aus der Dachluke in
den Hof hinab...
Das ift alles. Aber wieder, wie ijt das gemacht. Mit
wieviel Geihid und Geichmad, mit wieviel Empfindung und
Naturtreue. Wie lebensvoll find alle fieben Perfonen, aud) die
epifodijchen. Und dod — was bietet mm der Dichter? Nachdem
er mit liebenswürdiger Naivität und fozujagen einem herzigen
Gynismus zwei Akte hindurd) folhe „Verhältnifie” als veizvolles
felbftveritändlides Surrogat des Münnerlebens gezeichnet hat, läht
148 Aunftbriefe.
er im dritten doppelten Tod ans ihnen erwachlen und wir willen
nicht, it diefe Wendung nur anedotisch oder tendenziös zu nehmen.
Wogl im eriten Sinne: wiederum nur einen „Lebensabfchnitt”
wollte uns Schnigler malen und weil er ihn liebenswürdiger, ge:
ichmadvoller, minder grefl malte, als jeine norddeutichen Gefinnungs-
brüder, gefiel er aud dev Majje bejfer, als Diele...
Nur im Kluge önnen nod) einige andere intereflante Er-
icheinungen uns dem Berfiner Bühnenfeben der festen Wochen
geftreift werden, verdienten fie au mehr Worte, als ich ihnen
hiev widmen fann.
So Ernft von Wildenbrud's „König Deinrid,“
Tragödie in einem Vorjpiel md fünf Aften. Der gewaltigite
Stoff beutfcher mittelalterlicher Geichichte it's, den der reichstrene
Dramatifer und Fönigstrene Dichter Hier vorgenommen hat. Einen
Stoff, der md ohne dichterifche Bearbeitung und Ausgeitaltung
an umd für fi fchen von großer poetiiher Nunjtwirkung it:
Heineih IV,, Greger VIL, Nanojja! Ein gewaltiger Blod und
ihn Fünftlerifch auszumeiheln —- dazu gehört immerhin eine gröhere
Nraft, als die Wildendruchs. Wo fie im Augenbli zu finden
wäre ic) jehe fie nicht. Vielleicht fam es dem Verfafjer der
„Quigow“ und von „Der neue Herr“ auch nur auf den Anall:
dert am, der den Höhepmft der Dichtung bildet, die jtolzen
Worte: „Id bin der Nönig und Treue zum Nönig und önig’s
Wille ift Dentfhlands Gefeh. Ih frage nicht, ob
Jude oder Chrift — ich bin der Nönig und Treue zum König it
Deutichlande Neligion!” Sie find gewih von aktueller Be:
deutung, wenngleich fie Naijer Heinrich IV. in den Diund gelegt
werden. . .
Wie dem and) fei — wenn aud fein Meifterwert der dra
matiichen Nunft, To doc ein effeftvolles Ipenterftüc hat Herr
v. Wildenbruch aus dem großen Stoffe gemacht und die Neibe
funjtichöner und aud) empfindungsvolfer Bitder, die uns den herrlichen
Naifer von den Tagen feiner Nindheit bis zum Höhepunkt feiner
Diacht zeichnen und mit dem dichterifch autizipirten Tode Gregors
ihliehen, fie geben bei aller Theatralif doc eine beifere Schilde:
Kunftbriefe. 149
derung der Zeit, als das naturaliftiiche Gelärme des Hauptmann-
ihen „lorian Geyer“. Die Tragödie ijt das Zugitüd des
„Berliner Theaters“ geworden und dah fie cs verdient, fall
nicht beftritten werden.
Nur ein Ruriofum noch zum Schluß. Weil es der prächtige
gemithvolle Fedor v. Zobeltig ill, der Dichter von „Ohne
Geläut, dem Schaufpiel im Zudermannihen Stil, aber ohne
Sudermanniche Phrafe und Pofe, das vor zwei Jahren im „Yel-
fing-Thenter“ einen jo berechtigten Erfolg erzielte. Er hat dem
jelben Theater jest ein Luft befcheert und eo bedeutete eine
Ueberrajchung, weil eo eine Enttäufchung brachte. Da; cr Sur
üt, das wuhten wir aus jeinen Novellen und tigen. Nun
icjrieb er ein Luftipiel. Warum auch nicht. Aber „Der Thron
feiner Väter“ geht um den eigentlichen Stoff herum, der
darin lag, dah ein preußifcher Gardelieutenant plöglic auf den
„Thron“ eines drei Qundratmeilen großen Duodezjtantchens be
rufen wird. Wie das auf ihn wirft, ihm vorübergehend wandelt
fürwahr ein prädtiger echter Luftipielitoff. Aber was wir zu
fchen und zu hören befamen, das waren die allexbilligiten und
allernächitliegenden Wise über Nleinftaaterei und daneben eine
fünpfe doppelte Heirathegeichichte in der Schwanfmanier der Mofer
und Schönthan und Kadelburg. Das echte Luftipiel höheren
Stils blieb ungefchrieben. Schade!
Berlin, im Februar. 2. Norden.
Trurfchterberichtigung.
Im IV. Aumibrief Ties af Seite 36, 3. Ivo. Aultus fat
Kulman und auf 3. 110.0. Theoric fat Pochic,
Litterärishe Amjhan.
Die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts fo all-
gemein verbreitete Titte in ausführlichen Tagebüchern die täglichen
bniffe und Erfahrungen genau aufzuzeichnen, feine Fehler und
Schwächen jorgfältig angumerten und die moralifchen Fortichritte
des eigenen Jch ebenfo wie die oft genug zu beflagenden Fehltritte
peinlich abzmwägen, ift mit Necht längft aus der Diode gekommen.
Die bei einer foldhen Buchführung über die eigene Perfönlichteit
et fich einfchleichende Selbitfpiegelung, Selbittäuichung
feit wirfen auf den Charakter der Schreibenden
i Dagegen it 8 eine alte wohlberedhtigte
Neigung ernjter Geifter ihre Yebenserfahrungen und ihre Gedanfen
über die mannigfaltigen Erjejeinungen und Wedjjelfälle des Lebens
in fpäteren Jahren apheriftiic) aufzuzeichnen. In jolchen geiftreichen,
anregenden, jcharfinnigen Nefferionen haben die Jranzojen feit
Pascal Vorzüglid)es geleiitet und find darin wahre Meifter. Auch
in Deutichland herrichte am Ende des XVII. Jahrhunderts große
Vorliebe für jolhe jeharf zugeipigte, paradore Aphorismen. Novalis
Fragmente find das glänzendfte Beijpiel für diefe Art fchriftitelleriicher
Production. Den ganzen Neichtpum feiner großen Yebens- und
Welterfahrung hat dann Goethe in feinen Sprüchen, Reflerionen
und Marimen niebergelegt, deren Juhalt wahrhaft unerjchöpflich
it. Hinter diefen fait alle Gebiete des Lebens, die Neligion
allein ausgenommen, berührenden Ausiprüchen des großen Meiiters
jtehen natürlich alle fpäteren Veröffentlihungen ähnlicher Art weit
zurüc. Aber auch nachher find dach nicht wenige feine und tiefe
Litterärifche Umfcau. 151
Gebanfen aus ben eigenen Erfahrungen von lebensfundigen
Männern und Frauen aufgezeichnet worden. Und felbit in der
Gegenwart, in der das innere Yeben jo verflacht ift und das Mejen
und Treiben der Menjchen immer mehr veräußerlicht, fehlt cs
erfreulicher Weife doch nicht an Perfönlichteiten, weldhe in die Tiefe
des Lebens bliden und das, was fie erichaut, innerlich erlebt und
erfahren Haben, in mehr oder weniger zufanmmenhängender Form
ausfprehen. Dahin gehören z. B. die Aphorismen des pieudonymen
2. Nobert, der Frau Dora Dunder Gedanken und Erfahrungen
über Cwiges und Altäglices, die Schrift: Aus den Lebens-
erfahrungen eines Siebjigers u. a. Ahnen reiht fih das jüngit
erfchienene Bud von Wilhelm Münd, Anmerkungen
zum Tert des Lebens*) an. Der Tert des Lebens ift für
die meiften Menfchen derjelbe, aber viele bringen es zu feinem
teten Verftändniß darin, andere fommen nicht über das Yuchjtabiren
hinaus, viele endlich achten auf ihn gar nicht. Aber auch unter
denen, welche fih mit Ernft und Eifer in ihn vertiefen, berricht
große Mannigfaltigfeit der Auffaffung und des Verjtchens, denn
jeder fieft in diefem Terte trog allgemeiner Uebereinitimmung doch
nad) der Individualität Verfhiebenes. W. Münd ift Provinzial
Schulrath in Coblenz und der Schulmann ift an manchen Stellen
leicht zu erfennen; Gedanken, Beobachtungen und Heilerionen der
mannigfachjiten Art find es, welche er uns in jeinem Buche bietet. Cs
it ein feiner Beobachter, ein Mann von durchgebildetem Charakter
und wahrhaft humanem Sinn, der aus diejen Blättern zu uns pricht,
wir hören ihm gerne zu, auch wo wir anderer Anficht find als er.
Für die charakteriftiihen Unterfchiede der veridiedenen Nationen
hat Münd) einen iharfen und doch wohhwollenden Bid und die
dunfeln Schattenfeiten des Lebens der Gegenwart entgehen ihm
night. Aber er it nicht ein herber Kritiker und bitterer Moralüit,
fondern durchweg ein wohhwollender Warner und freundlicher Diahner,
überall aber zeigt er einen auf das Ndenle gerichteten Sinn.
Münd) Hat viel beobachtet, viel erfahren, viel gedacht und die
vorliegenden Anmerfungen find gewiß; mır ein Theil bejfen, was
er im Terte des Lebens gelefen. Daß nicht alles in dem Buch
+) Berlin, A. Onertners Berlagsbunhandlung. 3 M.
152 Litteräriiche Umfechan.
von gleichem Werth it, verjteht fi von felbft, aber das Gute
und Beherzigenswerthe überwiegt bei weitem. Auf das Einzelne
näher einzugehen ift unmöglich, Sammlungen von Gedanfen wie
diefe Anmerfungen wollen in Paufen gelefen und bedadjt werden;
mögen fie viele Zefer finden.
Die Tage der Jubelfeier des großen Arieges von 1870 und
1871 find num vorüber; eine große Anzahl von mehr ober weniger
werthvollen Feitichriften haben den ganzen Arieg md die Auf-
rihtung des deutjchen Neiches behandelt, andere die eingenen
hervorragenden Ereigniffe dargeftellt. Cine beachtenswerthe Er:
gängung zu diefer Litteratur bildet das jüngit erichienene Bud):
Das Deutide Neid) 1871-1891°). Es ift eine ganz
objective Zufammenftellung der Thatfahen, ohne Hinzugefügte Ur:
theile und Reflerionen, gewiiermahen vom Standpunkt der Negierung
aus; dah aber feine einfeitige Verherrlihung des neuen Kurfes
darin beabfihtigt ift, Ichrt die Widmung des Budjes an den
Fürften Vismard; auf's deutlichite. Worausgefchiett find dem Ganzen
die befannten, für alle Zeit denfwürdigen 191 Nriegsdepeichen.
Aus dem reichen Inhalt der lebten 25 Jahre find natürlich mur
die wichtigen umd zwar für die Folgezeit irgendiwie bedeutfamen
Greigniife hervorgehoben und berichtet. Die eriten zehn Jahre bis
1881 werden fürper, die fpäteren immer ansführlider, am ein:
gehendften die legten fünf Jahre feit dem Sturge des Fürften
Bismarck behandelt; diefer fepte Abihnitt it die erite überfichtliche
Darftellung der inneren und äuferen Politit des deutf—hen Neiches
unter Staifer Wilhelms 11. eigener Leitung. Die Darjtellung ift
auch Hier rein fachlich und fucht volle Objectivität zu bewahren,
was bei der Verighterjtattung über die vielen Verfehrtheiten des
Gaprivifhen Negiments allerdings nur mit Mühe gelingt. Das
Bud) ift durd) feine Sadhligfeit und Zuverläffigfeit zur Orientirung
fehr geeignet und ein treffliches Hilfsmittel zum Nacichlagen;
leider fehlt ein Negifter, das die Brauchbarfeit des Werkes wefentlich
erhöht und vermehrt hätte.
Höhit intereffante Einblide in das geiftige Leben und die
fitticen Anfhaunngen des deutichen Bauernftandes, vorzugsweile
*) Berlin, R. von Teders Verlag. 2 M.
Eitterärifche Umfcha. 153
in Mitteldeutichland, gewährt eine Schrift, welche unter dem
unfheinbaren Titel: Zur bäuerlichen Glaubens: und
Sittenlehre von einem thüringiiden Sande
pfarrer*), unlängit in dritter Auflage erichienen ijt und die
forgfältigite Beachtung Aller verdient, die fid) für die Erhaltung
und das Sedeihen diefer wichtigiten Vevölferungsklaffe des Staates
interefiren. Der Lerfafjer hat fih nicht aenannt, es ift aber
befannt, dafı Dr. Hermann Gebhardt, Pfarrer zu Violihleben in
üringen der Autor des Buches it; er ichöpt feine Mittgeitungen
aus einer langjährigen Erfahrung und genauer Beobachtung und
was er berichtet, Hat Nufpruch auf volle Zuverläfiigfeit. Gebhardt
meint felbft, der rihtigere Titel des Buches würde jein: Glaube
und Sitte auf dem Sande und darin hat er gewiß Necht, denn
icon rein fulturgefchichtlich betrachtet bietet das Bud) eine Fülle
von wichtigem und Iehrreihem Material. Des Verfafiers Abficht
ift freilich eine viel höhere, nämlich die Ummwandlungen, den Wedhfel
in den religiöfen und fittlichen Anfhammngen und Lebensformen
des Vauernitandes während der legten zwei Menfchenalter und
die Rücwirfung diefer Veränderungen auf das Verhalten bes
Landvolfes zur Kirche darzulegen. Er behandelt feinen Stoff vom
pofitiv Firhlicen Standpunkt aus, und von diefem allein war es
möglicd) die Dinge richtig zu würdigen, aber milde und weitherzig.
&o üft 5. 3. vortrefflich, mas er über die frühere Kirhlicjfeit in
den Gemeinden und die Urfahen des Verfchwindens derjelden in
der Gegenwart jagt; er Hebt die Vorzüge ber früheren Zuftände
auf dem Lande nachdrüdlich, oft wehmüthig hervor, verfennt aber
auch die mancherlei Fortjchritte und befferen Erfheinungen in der
Gegenwart nicht. Da die Schrift uriprünglid) zum Lortrage auf
einer Konferenz von Amtogenofien bejtimmt war, jo Hat Gebhardt
den Stoff in etwas eigenthümlich theologiicher Weile nad) den drei
Gtaubensartifeln gruppirt, wohurd dann die Hauptmaffe derfelben
unter dem dritten behandelt wird; eine andere Eintheilung nad)
rein fachlichen Gefihtspuntten wäre wohl zwedmähiger und fir
die Ueberfichtlichteit förderlicher gewefen. Doc) die Dauptjache it
und bleibt der Inhalt und man freut fich immer wieder der reicher Be-
*) Gotha, Guftav Schloehmann. 3 M. 50.
154 Litteräriche Umfchan.
Lehrung, die das Bud) bietet. Der Verfaffer hat einen jehr feinen Sinn
für das Volfsthümliche und führt den Lefer aufs febendigite in
den Gedanfentreis und die Anfhamungsweile des Voltes ein, ihm
liegt alle Schönfärberei gänzlich fern, er lächelt über die Salon-
bauern in den Dorfgeidichten, aber er hebt auch das Urmwüchjfige,
Kräftige, in bi iten Zinn Gonjervative in der Bauernnatur hervor.
Dan darf übrigens bei ber Lectüre des trefflichen Buches nicht
aufer Adıt lafien, dah «6 die Verhältniffe in einem beitimmten
Gebiete Deutichlands find, welde uns darin vorgeführt werden.
Mögen auch einige Ericheinungen, wie die Yusbreitung des Un-
glaubens von den Städten auf die Dörfer, die Auflöfung der
Familienbande, die Steigerung der Unfittlicfeit überall gleid) oder
ähnlich fein, jo find die Zuftände der Yandbevölferung in Pommern
oder Oftpreußen von denen in Thüringen unzweifelhaft jehr ver-
ichieden und ebenfo wieber die in der Nheinprovinz und Würtemberg.
Gebhardt Fommt fchliehlich zu dem betrübenden Nefultat, daf; der
Niedergang des Firchlichen Lebens auf dem Lande unverfennbar
fei. Die Vorfchläge, die ex zur Mbhülfe diefes Nothitandes macht,
find wohldurdhdacht, mahvoll und beherzigenswerth; am meilten
erwartet er von einer ernjten, allgemein durchgeführten Kirdhenzucht
und der früher oder fpäter fidjerfid) eintretenden Trennung der
Kirde vom Staat. Gebhardts Schrift ift fein Bud) für junge
Mädchen und zartfühlende Seelen, aber ernftien Männern fann es
nur aufs wärmjte empfohlen werden, möge c8 namentlich von recht
vielen unferer Paftoven gelefen werden. Zum Schluß fönnen wir
einen Wunfch nidt unterdrüden. Möchten fid) dod) erfahrene,
unbefangene und mit fcharfer Veobahtungsgabe ausgejlattete
Viänner unter unferer Geiftlicfeit finden, welde durd) längere
Amtsthätigfeit umd Secljorge mit den religiöfen und fittlichen
Anfhangen der fettiihen und eftnifchen Landbevölferung unferer
Provinzen vertraut, ih an die Aufgabe machen eine ähnliche
Bufammenftellung, wie Gebhardt e6 für Thüringen gethan, über
unfern Bauernjtand zu veranftalten und zu veröffentlichen. Solde
Schriften würden nicht nur praftifch von nicht geringer Bedeutung,
fondern aud) Fulturgeihichtlich von großem Werthe
Die Haffiihe Bildung, die Kenntniß des griehiichen und
vömijcen Altertbums wird, das Läht fich leider nicht verfennen, in
Litterärifche Umschau. 155
der Gegenwart immer mehr zurüdgedrängt und die Veldäftigung
mit den Geifteswerfen der Alten nad) der Gpmnafialzeit wird in
den reifen der Laien ftets jeltener; was vollends in der Tages-
preife für grobe Unfenntnif; in Bezug auf das Hafliche Alterthum
hervortritt, ft geradeu erftaunlic. Anfpielungen auf befannte
Verje und Sprücye der antifen Autoren, die früher jogleih verjtanden
wurden, bedürfen heute ber Erklärung und Ueberfegung und bie
Vefanntihaft aud) nur mit den Meifterwerten der griedhiihen und
römifchen Poefie ift außerhalb des engen Streifes der Fachgelehrten
böchft gering; viele zählen fih heute zu den Gebildeten, die nie
eine Tragoedie des Sophofles in der Meberfegung, geichweige denn
im Original gelefen haben. Den Urfachen des Niederganges der
flafjiichen Bildung nachzugehen, würde uns ‚hier zu weit führen.
Die ganze gegenwärtig in der Litteratur herrihende Richtung, der
rohe Naturalismus, das grobe Kopiven der gemeinen Wirklichkeit
wären garnicht möglich, wenn unter den Gebildeten eine, wenn
aud) noc) jo dunkle Erinnerung an die in der antifen Litteratur
unvergänglic) fortlebende Welt der Schönheit vorhanden wäre.
&s ift daher ein verdienftliches Unternehmen durch) eine geichichtliche
Darftellung der antifen Poefie und Litteratur überhaupt in gemein-
verftändlicher Form weiteren Nreifen wieder das Verjtändniß der
herrlichen Werte des Alterthums zu vermitteln. Den erjten Verfuc)
biefer Art Hat in neuerer Zeit Jakob Mähly, ber jelbit Whifologe
den gewaltigen Stoff mit voller Sachenntnih behandelt, gemacht.
Da er aber die gelammte Literatur der Griechen und Nömer in
zwei einen Bänden darftellt, jo fonnte er nur jelten auf die einzelnen
Werke der Schriftfteller näher eingehen und mußte fih oft mit
Andeutungen begnügen; tropdeın ift fein Yuch eine jehr empfehlens-
werthe eftüre. Gegenwärtig liegt ein neuer Verfud), mit engerer
Begrenzung des Stoffes vor: CE. Krofer, Geihidte der
griedhijden Litteratur‘) von der bis jegt ber erjte
Band erihienen it. Das Bud, von Handlichem Format, it
äuferlid) vortrefflid) ausgeftattet. Diefer erite Band reicht von
den Anfängen der griedjiichen Bocfie bis zur neuen Komödie. Das
Werk, ganz populär gehalten, ijt wohl dazu geeignet, des Griehiichen
*) Yeipgig, Fr. With. Grunom. 2 M. 80.
156 Litteräriihe Umichan.
unfundige gebildete Laien in den Tempel der helfeniihen Dichtung
einzuführen; dafı Facfenner diefes und jenes im Einzelnen auszufegen
haben und manches vermiffen werden, fommt für den Zwed des
Buches nicht viel in Betradt. Als einen wirklichen Dangel des:
jelben betrachten wir es, dal nicht einleitungsmeiie eine Charakteriftif
des helleniichen Voltscharafters und namentlich der griehiihen
Sprache gegeben worden ift; aud) eine furze Weberfiht über das
Wefen und die Veihaffenheit der griediichen Mufit vermißt man
fehr. Bei Homer ift ferner vom Epos und epiihen Gedichten
viel die Rede, ohne dab dod) eine Aare Vegriffsbeftimmung von
beiden gegeben würde; «6 hätte gerade in diefem Sapitel das
Wefen des Epos, wenn aud) nur in Kürze, entwidelt werben
follen. Bei der Befpredhung der Dramen dev drei großen Tragifer
wird oft mehr, als ung berechtigt erfcheint, vom modernen Stand-
punkt aus geurtheit. Aber mag man auch in verichiebenen
Punkten und manden Einzelheiten vom Verfafler abweichender
Anficht fein, das Vuc) verdient dod) allen Gebildeten zur Lektüre
warm empfohlen zu werden; wer es aufmerfiam und mit red)tem
Interejfe lief, den wird daraus ein Haud) hellenischen Schönheit
amvehen und berühren. Die Inhaltsüberjichten der epiihen Gebichte
und der Dramen find ja zur Bekanntmachung mit dem Gegen:
ftande ganz zwedmäßig, aber fie fünnen nur zu leicht die Vor-
ftellung erweden, daß man dadurd) Hinlänglic) mit den Dichtungen
befannt geworden fei und fie jelbjt nicht mehr zu Iefen braucht.
Das wäre aber ein großer und gefährlicher Irrtum, denn erit
durd) die dichterifche Behandlung wird der poetijche Stoff zum
Gebight. Die rechte Wirfung einer Litteraturgejcjichte foll die fein,
dafi der Lejer durch fie angeregt wird fid) mit den Dichtungen
felbjt befannt zu machen. Bei den Werten der Alten wird der
der Epradje nichtfundige Laie zu Weberfegungen greifen; leider
find nicht wenige von diefen fo ichwerfällig und hart, dahı fie
eher abidreden als anziehen. Namentlih die Nahbildung der
kunftvollen Chorlieder bereitet den Ueberfegern umüberwindliche
Schwierigkeiten, da die Wiedergabe der Versmaße im Deutihen
unmöglich ift umd nur zu unnatürlicen Wortbildungen und un:
gewöhnlichen Wortformen führt. Der Lerfuh die griehiichen
Dramen in mobernifirter Form zu übertragen, namentlich die
Sitterärifche Umschau. 157
Chorlieber in ganz jreien gereimten Strophen wiederzugeben, wie
ihn Gravenhorit, O. Marbach, L. Klug und andere gemacht haben,
bringt die Dramen dem modernen Sinn allerdings viel näher,
beeinträchtigt aber den Charakter der antifen Werte doch gar zu
fehr. Eine jochen erfchienene neue Ueberfegung der Tragödien
des Sophofles von Oskar Hubatich*) dlägt einen
Vittehweg ein. Hubatfc hat den griechiihen Trimeter mit dem
uns geläufigen fünffüßigen Jambus vertaufcht und wendet in ben
Chorgefängen außer Daftylen und Anapasjten nur Jamben und
Trocjäen jtatt der im Deutjchen faum oder garnicht wieberzugebenden
ichwierigen Versmahe an. Der fünffühige Jambus bringt den
Dialog uns allerdings näher und macht ihn weniger feierlid, als
der Trimeter cs für uns thut; aber mandmal jheint uns in der
Neberjegung dadurch doch viel von der Würde und Hoheit des
Originals verloren zu gehen, jo 3. B. in dem berühmten Monolog
des Mjar. In der Uebertragung der Chorlieder hat Hubatid)
jehr Anerfennenswerthes geleijtet; wer freilich das Original fennt,
dem wird die Neberjegung doch nicht immer ganz genügen, fo
3 3. die des wundervollen dritten Chorgefanges von den un:
geichriebenen Gejegen im König edipus. Aber wir wollen nicht
ungerecht fein; eine Weberfegung, die ebenfo treu wie gut deutich und
zugleich wahrhaft poetifch it, wird co faum jemals geben. Hubatfch
Uebertragung hat große Vorzüge vor allen bisherigen Verdeutfhungen
des Sophofles. Knappe, aber genügende Einleitungen zu jedem
Drama fowie hurze Anmerkungen erleichtern das Verftändnif,.
Wir wünfhen Hubatjch Arbeit weite Verbreitung.
Unter dem originellen Titel: Als der Großvater
die Großmutter nahm. Ein Liederbud füralt-
modiihe Leute") ift fürzlid) eine ganz eigenartige Gedicht:
fammfung in dritter vermehrter Auflage erichienen. Der Heraus:
geber ift der durch) feine Schrift: Allerlei Sprahdummpeiten in
weiten Kreifen befannt gewordene Dr. Gujlav MWuftmann, der
ftrenge Wächter deuticher Sprachrihtigfeit und Sprachreinheit.
Der Zwed des Buches ift die zur Zeit der Groväter und Väter
*) Bielefeld und Leipsig. Verlag von Telhagen u. Mafing. 4 M.
*+) Leipzig, Verlag von Zr. Wil. Grunow, geb. 6 M. 50 Pi.
158 Eitterärifche Umfchan.
ber jest lebenden Generation befannten und beliebten Fabeln,
Erzählungen, Lieder und Opernarien in einer vollftändigen Samm-
lung der Gegenwart wieder in Erinnerung zu bringen. In einem
ftattlihen Bande hat man hier nun alle jene Gedichte beifammen,
deren nicht wenige einem noch aus der eigenen Jugendzeit wohl
befannt find, da fehlt weder „Johann der muntere Seifenficder”
noch „der grüne Gfel, weder „der fleine Töffel“, nod) „bie zwei
Hunde“, weder „die Tabakspfeife” nod) „Unten und oben”. Die
alten Lieder „Komm, lieber Mai“, „Wer wollte fi, mit Grillen
plagen”, „Guter Mond, du gebt fo itille“, „Us ich mod im
Flügelfleide”, „Willtommen, o feliger Abend“ und fo viele andere
finden fi) alle hier; Dr. Cifenbart fehlt ebenfo wenig wie „Es
fann ja nicht immer jo bleiben“ oder „Wir winden div ben
Jungfernfranz”. Nicht ohne eine Gefühl der Nührung vergegen:
wärtigt man fi beim Yejen und Durchblättern des Yuches die
Freude und das VBehagen, das Großvater und Großmutter einft
an diefen einfachen Liedern und Fabeln gehabt haben; wie fern
fiegt die Stimmung, aus ber fie hervorgegangen find und in der
fie frohen und traurigen Wiederpall fanden, uns Heutigen! Wie
einfach und, von äußern Ereigniffen unberührt, wie behaglid) und
jeder Empfindung freien Spielraum gewährend war dod) das
beutjche Leben bis in den Anfang diejes Jahrhunderts hinein, wie
naiv gab man fi dem frohen Gefühle des Dajeins hin und wie
überfchwänglid) war man in der Trauer und im Schmerz! Natur,
Liebe, Freundihaft, Wein, Streben nad) allgemeiner Menfchen:
beglücdung —- das find die bewegenden Mächte, die ausihliehliden
Intereffen der Menfchen jener Zeit. Beim Yirjenfen in die
Gedichte diejer Sammlung überfommt einen mandmal die Schnjud)t
aus der Zerrifienheit, dem Warteihader, den wilden Interefjen
tämpfen, dem Vaterialismus des Lebens in der Gegenwart fi)
hinauszuflüchten in die glücklichen Tage jener Grofvaterzeit, die
uns wie das Paradies der Kindheit ericheint, md man vergiht
momentan bie dunklen Schatten, die au auf jener Zeit lafteten. Zeit
der Zeit Napoleonifhen Drudes wird der Ton ciwas anders,
Vaterland und Freiheit gewinnen aud) einen Naum im Bennußtfein
der Menichen, aber im Ganzen bleibt die alte Gemütglihkeit und
dauert in den Kreifen des Mittelftandes neben den neuen ftarfen
Litteräriihe Umjcau. 159
Strömungen bis 1840 fort. Der eigentliche Zwed ber vor-
liegenden Sammlung ijt nicht der aejthetiiche, fondern der fultur:
geidichtlihie und litterärhiftoriche, das darf man bei der Lektüre
nie aus den Augen lajfen, der Herausgeber hat die Gedichte jtets
in ihrem älteften umd zuverläßigftem Terte gegeben und An-
merfungen hinzugefügt, die fitteräriiche und biographifche Notizen
enthalten. Daß troß des Neichthums der Sammlung man dad)
diefes oder jenes Gedicht vermißt, wird feinen Sachfundigen
wundern, fo fehlt 5. ®. „Weint, ad) weint, ihr jühen Herrchen“
ebenjo wie „Schön ijt’s unter freiem Himmel“, aud) Boyens einft
viel gelungenes Lied „Des Preußen Lofung ift die Drei“ vermifien
wir ungern. Dah diefe Sammlung fon drei Auflagen erlebt hat,
fann nur mit Genugthuung erfüllen und beweift, daß in nicht
wenigen Kreifen dad) nod) etwas von dem Geijt und Sinn der
alten Zeit fortlebt. Die Ausftattung des Buches it fo vorzüglich,
wie man jie von der Verlagebuchhandlung erwartet. Möge es
zu den alten noch viele neue Lejer gewinnen, das wünichen wir
von Herzen.
Während in Stanbinavien, namentlich in Norwegen, der
moberne Naturalismus jeine üppigiten Wlüthen treibt und immer
neue Autoren und Werke hervortreten, die ih in unnatürlicher
Verzerrung der menchlien Natur, in der Schilderung des Wider-
wärtigen und Häßlichen überbieten, hält fih, Dänemark freier von
diefen Auswüchien einer verderbten und entarteten Kultur. Zwar
fehlt es aud da nicht an eifrigen Verfündigern deo modernen
Evangeliums, da das Hählihe und Unfittliche der eigentliche
Gegenjtand der Poefie jei, aber ihnen jtehen Männer gegenüber,
die in ihren. Werken das Schöne und das denle zur Darjtellung
bringen. Zu ihnen gehört ganz befonders Profejjor Henrif Scharling
in Kopenhagen, der unter dem Namen Nikolai jchreibt und deiien
Erzählungen bei feinen Landoleuten mit Recht lebhafte Anerfennung
gefunden haben. Die prächtige, an echter Nomif reiche, von liebens-
würdigem Humor erfüllte Erzählung: „Zur Neujahrszeit im Paltorat
von Nöddebo” und mod mehr das reizende Bud: „Meine Frau
und ic”, deiien einfad) naive Charaktere mit feiner Anmuth
gezeichnet find und das von einem Föftlichen Humor dindhweht i
haben, ins Deutfche überfegt, weithin Anklang und freundliche Auf:
160 gitteräriüche Amfcan.
nahme gefunden. Zu ihnen gefellt jid) mun bie deutiche Ueberfegung
eines allerdings jhon vor längerer Zeit von Henrif Scharling
verfaßten dritten Buches: Junge Helden. Uffe Hjälms
und Palle Löwes Thaten. Autorifierte freie
Ueberjegung aus dem Däniidyen von P.J. Willagen*).
Cs wird darin die Entwidelung zweier in demfelben Haufe wohnender
Jünglinge von ganz verfhiedenem Charakteren geidjildert. Der
eine, Uffe Hälm, der Sohn eines mit der Zeit, mit jeinem Volle
und allen Mienjchen zerfallenen, in feiner Familie deipotiichen
Oberjten, ift ein dumpf dahinbrütender, fcwerfälliger, nie den
Ausdrud für feine Gedanken finbender Junge, der fid) von Allen
bin und her fdhteben läht, während der andere Walle Löme, ber
Sohn eines Großhändlers, redefertig, gewandt, früh entwidelt, in
feiner Familie vergöttert, allgemein beliebt, ein eifriger Politifer
und ein begeifterter Anhänger ber Freiheit üt. Diefe beiden jo
verfchieden genrteten Naturen find von Nindpeit an gute Freunde
und Wie jteht natürlich fortwährend unter Palles Einfluß. Sehr
ibön ift die Schilderung, wie durd) die Liebe zur jcönen Inez
äuerit eine Wandlung in Uffes jchlaffem träge fi bahinfdyleppendem
Wejen eintritt, feine Neigung endet mit bitterer Enttäufchung,
das beitimmt ihn als Freiwilliger am Nampf gegen Schleswig-
Holftein theilzunehmen. Im stieg erwacht num das bis dahin
fchlummernde geiftige Leben in ihm vollftändig, er findet endlid)
fich jeloft und vollbringt heldenhafte Thaten. Dieje Charakter:
entwicklung ift ganz im Geifte des alten Nordens, ja fie it
urgermanifdh, wo die jungen Helden auch dumpf dahinleben, bis
der Kampf ihre Seele erwedt. alle geht aud) als Freiwilliger
in den Ntrieg, erweilt fi aber natürlid als jämmerlicer Poltron.
Die Darjtellung ijt etwas breit, wenn auch nidjt ermüdend, an
Humor fehlt es md) in diefem Buche nicht, doch tritt er hier mehr
zurücd. Die meiften der auftretenden PBerjonen find vortrefflich
gezeichnet, jo beionders Tante Malene, Kapitän Noslin, der
Großhändler Yöwe u. a. Trog allem Schönen, das cs enthält,
macht diefeo Bud) auf nichtdänifche Lejer doch nicht ben rein
befriedigenden Eindrud wie die früheren. Der Verfafier wendet
*) Bremen, Verlag von U. Heiufins Rachfolger. 6 M.
Litteräriiche Umichau. 161
fic) darin jehr enticieden gegen bie Nopenhagener Demofratie und
ihre fiberalen Phrafen und andrerjeits betrahtet er die Erhebung
Schleswig-Holjteins und den gegen die Herzogthümer geführten Krieg
jeljwverftändlid) ganz vom dänischen Standpunft; die Gegner fiegen
immer mır durch ihre große Mehrzahl und die Dänen find ihnen
an Tapferkeit weit überlegen. Deutihe Lejer werden das dem
Verfaffer zu gute halten, da feine Landsleute fih) damals,
1547-1850, und ebenjo 1864 wirffih tapfer geichlagen haben,
aber bejonderes Vergnügen fönnen ihnen diefe Schilderungen
natürlich nicht bereiten, ebenfo wenig wie die Karifirung der
Schleswig-Holfteiniichen Freiidhärler. In Dänemark muß, beiläufig
bemerft, das Avancement ein viel rajderes und leichteres fein als
anderswo, denn Uffe, der im Frühling 1848 alo Freiwilliger in
das Heer eintrit, fchrt 1851 als General nad) Kopenhagen zurüd.
Im Nebrigen gewährt aud diefe Erzählung Scharlings vielen
Genuß, befonders durch die piychologiihe Feinheit der Charakter:
entwidefung.
Eine eigenthümliche litteräriiche Erfcheinung ift Phalaena,
Die Leiden eines Budhes von Karl Weitbredtt).
Phalaena, d. h. Nachtfalter ift der Titel der legten Gedicht:
jammfung von Paul Widram, einem Vlanne, der alten Drud und
alle Noth des Lebens zur Genüge erfahren hat und im Alter völlig
vereinfamt ift. Ein Eremplar diejer Gedichtiammlung fommt
nun aud in den Yucladen der Stadt, wo Widram Iebt. Cs
wird an verfdiedene Kunden zur Anficht verihidt, Tehrt aber in
Folge der verfejiedenartigften ungünftigen Umftände immer wieder
zum Vuchhändler zurüd. Wie es dazu fommt, wird in einer
Neihe novellifttücher Schilderungen erzählt. Zulegt findet der alte
Dichter in der Tochter einer Jugendgelichten dod) eine verftändnih-
volle Freundin und Verehrerin feiner Mufe und zugleich einen
Trojt in jeinen alten Tagen. Mit jeinem Hinfgeiden jcließt das
Bud. Cs waltet darin ein jhalfhafter echt Ihmwäbiicher Humor,
aud) an ergöplichen Perjönlichfeiten fehlt es nicht, der ernite
Grundgedanke des Ganzen tritt dadurd mur heller ins Licht.
Man freut fic heutzutage immer, wenn man einem idealgerichteten
*) Stuttgart, Verlag von Adolf Bonz n. Ho, 2 M. DU.
162 Litteräriiche Umicau.
Shriftfteller begegnet. Das anipruchsloje Büchlein hat fih icon
mande Freunde erworben, wie Die vorliegende zweite Auflage
beweift; mögen ihr noch weitere folgen. H. D.
* *
*
Bei der Hedaftion der „Balt. Mon.” find ferner nacftehende Schriften
zur Vefprecjung eingegangen:
Steffen, Suftan% An der Fünfmilfionenftabt. Nultur:
bilder aus dem heutigen England. Aus den Schwedilcen überieht
von D. Nenher. (Leipzig, Peter Hobbing. 1895.)
Turguan, Zofeph. Die Generalin Bonaparte. Ueber:
tragen u. bearbeitet von star Marjejall v. Wieberftein. 4 Aufl.
(Leipzig, Schmidt u. Günther. 1806.)
Hellgren, Olof. Aus den Memoiren eines Yaubfrofces.
(Glarus und Yeipzig, Babelte Vogel. 1806.)
Ruland, Wilhelm. Riviera. (Ebendfelbit.)
.
Beilage
zur
Baltifchen Monatsschrift.
April 1898,
Inhalt: Dr. ©. J. 0. Shulg-Vertram. Litteräriide
biographiiche Skizze von E. v. Schulg-Adaiensty.
Kunftbriefe. VI. Von I. Norden.
gitteräriihe Umjhau. on H.D.
Heimathgruf.
Nachdrud verboten.
Dr. 6. 3. v. Shulg-Bertram.
Viographifch-litterärifche Stizze von Ella v. Schul: Adatewity.
„Der Biograph Ihres Herrn Vaters mühte ebenfo vielfeitig
fein, wie er felbjt es war; um nur eins anzuführen, er mühte
ebenjo gut ehitnifch wie deutjch verftchen, um ihn als bilingualen
Dichter beurteilen zu Fönnenz* — jo äußerte fih vor einigen
Jahren der geehrte Präfident der chjtnifhen gelehrten Gefellichaft
Profeflor Leo Wieyer, also die Frage beiproden wurde, die
fi mande Freunde Dr. Vertrams jchon geitellt, warum doch
bisher feine einzige Biographie, ja nidht einmal ein etwas aus:
führlierer Nefrolog erichienen ei. Im der That mag jener
Umjtand wohl eine der Urfadhen gewefen fein, weshalb, obgleid)
ichon zwanzig Jahre jeit feinem Tode vergangen, fein eingehenderer
Nachruf das Leben und Wirken meines Vaters näher beleuchtet,
ihn feinen Kandoleuten wieer in’s Gedäghtnif; zurüdgerufen hat.
Wohl wird jept die Frage um fo beredhtigter erjcheinen, wie
eine Aufgabe, die als befonders f_hwierig von Fompetenter Zeite
dargejtellt wurde, in Angriff genommen werden fonnte von Jemand,
der nicht allein die wenigit geeignete Kraft war, um meinem
Vater auf allen Gebieten feines Wifjens und Könnens gerecht zu
werden, fondern deren fubjektive Auffajjung aud) der unbefangenen
Beurteilung des Gegenjtandes oft hinderlich in den Weg treten mußte.
Dazu fommen nod) die materiellen Schwierigkeiten, mit denen der
Biograph meines Vaters zu fämpfen hat, da legterer, wie es oft
*
168 9.53. 0. Schulg-Bertram.
geniale Leute zu thun pflegen, Teinerlei Mahregeln getroffen, um
eine foldhe Arbeit zu erleichtern. Cr hat feine Manuffripte oft
hierhin und dorthin verfandt, ohne Abihrift zu nehmen oder die
Sendung zu nofiven. Er jagt jelbit in einem Briefe an feine
Viutter, da es ihm unmöglich fein würde, eine volljtändige Lifte
feiner Arbeiten aufzuitellen; die Abhandhungen und Auffäge, die
er in Zeitfchriften veröffentlicht, zählten nad) Taufendeu, deren
geringfter Theil von ihm notirt oder im Abzuge vorhanden wäre.
Man hat meinen Vater einen gen Verjchwender”
genannt, ein Vorwurf, der nicht ganz ohme Berechtigung war; doch
it er ihm am häufigften gerade von denjenigen gemacht worden,
die feine gefelihaftlicdhen Talente am meiften in Anfprud)
nahmen.
Im dem Vorwort zu den „Petersliedern“ geichieht der Anz
gewohnheit Peter des Großen Erwähnung, Eicheln, die er immer
vorräthig in der Tafche trug, auf feinen Spaziergängen in die
Erde zu verfenfen. Wehnlic verfuhr mein Vater mit den Ein:
gebungen feiner unerichöpflihen Rhantafie und mit den Gedanken:
förnern aus dem bei ihm aufaefpeicherten Vorrath an Kenntniffen.
Wohin er fam, veritreute er fie, mit dem Bewuftfein fih zufrieden
gebend, daf, was er jo gepilanzt, dod einmal aufgehen und
Früchte tragen würde, — „einerlei in weflen Garten.“
Wenn ich nun, troß aller Vedenfen, die in mir auffteigen
musten, der freundlichen Aufforderung des Nedafteurs der „Balt.
Monatsjchrift”, eine litteräriich-biographiiche Skizze meines Vaters
zu fchreiben, entgegenfam umd mich entichlof für die „Baltiiche
Monatsihrift”, die jo oft Beiträge meines Vaters veröffentlicht
hat, eine jolche Skizze zu ichreiben, To ift es mit dem vollfommenen
Benuftjein der Unzulänglichkeit derjelben gefdjehen. Es it eben
eine Sfigje nur, eine Andeutung des litteräriic): biographiichen
Viaterials, das fih einem würdigeren Viographen meines Vaters
darbieten fünnte und welches ich in eine einigermaßen überfichtliche,
wenn auc) lüdenhafte Ordnung zu bringen, mix angefegen jein lieh.
Möchte dieje Stiyze dazu dienen, das Bild meines Vaters,
feinen noch lebenden Zeitgeneffen wieder in’o Gedähtnif; zurüd:
zurufen, der jüngern Generation aber Kenntnif; zu geben von
einem vaterländifchen Schriftiteller, dejien Werke die Liebe zur
6.3. v. Schulg:Bertram. 169
heimathlicien Scholle wie ein rother Faden durchzieht. Namentlic)
in feinen „Baltijchen Skizzen“ führt er „Junglivland“ ein wahrheite:
getreues Bild von „Altlivland“, wie es nad) zu Anfang diefes
Jahrhunderts beftand, wie in einem Spiegel vor die Augen, mit
all jeinen prächtigen Tugenden und licbenswerthen Eigenschaften,
feinen originellen charaftervollen Gejtalten, feiner edlen Gajt:
freundichaft, feiner aufrichtigen Frömmigkeit und feiner guten, alten
Zitte, ohne jedoch zu verihweigen, was die alte Zeit auch an
objoleten Anfchauungen und eingewurzelten Mihbräucen mit fidh
führte und was, da echte Liebe nicht ohne Strenge denkbar üit,
ex feiner lieben alten Heimath geradeheraus zu jagen für eines
Sohnes Pflicht hielt, von dem heißen Wunjche bejeelt, da es ihr
zum Wohle gereichen möge.
* +
*
Mein Vater erzählt im erften Kapitel der Baltiichen Skizzen,
wie er in einer jtürmifhen Nacht, auf hoher Ser, an Bord eines
finnifchen Einmajters, zur Welt gefommen; wie eine Waicichaale,
die zu unvechter Zeit in Stüce ging, ihm um die Erbihaft einer
Tante gebradt und wie durd) fein eigenes rechtzeitiges Erideinen
auf dem Schiffe, welches dreizehn Perfonen trug, der Muth der
Vannfchaft gehoben, einer alten Dame, die man eben als Drei
zehnte über Bord werfen wollte, das Leben gerettet wurde und er
jelbit einen fürjtlichen Taufpathen erhielt.
An diejer Meberkieferung hielten wir Ninder feit, denn der
bejte Beweis, dab fie Wahrheit und nicht Dichtung, ftand vor
uns, wenn aud) nicht in Fleiich und Bein, fo dod) in Bein, d. U.
in Geftalt eines aus Horn geichnigten Spielzeugs, weldhes die
Vüllionentante meinem Vater alo Entihädigung in die Wiege
gelegt haben follte und welchem die Ehre einer genauen Perfonal-
beichreibung in demielben Kapitel zu Tyeil wird. Id) meine den
„Pugemann“, das Eleine jhwarze Ungeheuer mit blanfen Augen,
geinzendem Munde und negerartig gefräufelter Perrücde —- welches
auf einer Dlagnetipige fteehend die unheimliche Eigenichaft bejah,
fid an allen eifernen Geländern und Gegenftänden anzuflammern.
Es machte uns Sindern einen tiefen Eindrud, wenn das „Kuge:
männchen“ aus der Familientruhe herausgehoft wurde, wo es an
170 9.3. v. Schulg-Bertram.
Stelle der fehlenden Millionen mın bereits gegen hundert Jahre
als eine Art Fetiich, Palladium, Schuggeift, pietätvoll aufbewahrt wird.
Dft Hatte mein Urgroßvater, fo erzählte meine Vatersichweiter,
— da6 Spielzeug feinen Enfeln zur Veluftigung gezeigt und den
Yugemann feine Nunftjtüce ausführen laffen. Das Dichtergemüth
meines Vaters, durch dieje auferordentliche Eriheinung angeregt,
wurde durch diefelbe in fpäteren Jahren zu einem Kindermärdjen, „die
Kuabbetaiche*, begeiftert, weldhes manches Kinderherz erheitert und
mandem fleinen Patienten in der Kranfenftube die Zeit vertreiben
und bie Schmerzen vergeffen half — üt das nicht eine Million werth?
Außer diefen beiden Thatfahen aber, — dem vorhandenen
Yugemann amd der fehlenden Million, welden noch, — wie aus
dem Taufzengniß; meines Vaters zu erfehen - der fürftliche Pathe*)
beizufügen wäre, -— find die in den Baltiichen Skizzen angeführten
Vegebenheiten bei der Geburt meines Vaters Erzeugnifie jeiner
poetüfchen Phantafie.
In Wahrheit und nad) dem irchenbuc)e erblite mein Vater
das Licht der Welt am 22. Septbr. 1808 auf feitem Lande und
zwar auf dem Nevalfchen Domfeljen, in dem Paftorate der Nitter:
und Domtirche.
Sein Vater, Chriftian Timothens Schulk, der,
wie es auch jein Vater jchon geweien, Oberpaftor an der Dom-
kirche war, entjtammte einem alten Predigergeichlecht, welches feit
der im Jahre 1681 erfolgten Ginwanderung des Theologen
Georg Edulk (gebürtig aus Pardim in Medlenburg, nady
maligen Pajtors zu Nöthel und Rropft**) eine ununterbrodhene Reihe
von Predigern aufweiit, fo daß ein Iebendes Vlitglied der Familie,
>) Peter riebrih Georg von Holftein-Ofdenburg, 1808 General:
genverneur won Chftland.
>) Georg Sch aus Rardim, geb. 1633 FITI0, sind. zu Lena, Prediger
zu Nöthel, jpäter Propit. - Georg Aricdhric Sch. geb. 1089, 47 stud.
in Halle, Pr zu Pönal in Ehftland. -- Johann Friedrih St.
geb. 1727, +1708, stud. in Halle, Cberpajtor an der Domtirche zu Reval.
Ehriftian Timotheus Sch. geb. 1767, +1809, stud. in Nena, Oberpaftor
am der Nitter u. Domficche zu Neval, Afefjor des Ehftl. Provingial-Nonfiiteriuns,
Tiretor des Dom-Wailenhaufes. — Georg Aulius Sc. (Dr. Bertram),
stud. in Dorpat Mediyin. Scheftiteller, Jenior und Kaiferlicruffiider Staatsrath.
©. 3. v. Schulg-Bertram. 171
gleichfalls Prediger, mit Recht, wenn aud) nicht richtig, jagen fann:
„Wir find feit zweihundert Jahren Baftor.“
Seine Mutter, Caroline Charlotte, war die zweit
ältefte Tochter des Propftes zu TormaLohhufa, Franz Asverust),
aus Weimar gebürtig, deijen Familie nod) bis Anfang diejes
Jahrhunderts im Thüringiichen anfähig und begütert war und die
mit dem Finderlos verjtorbenen Major Asverus, einem Neffen des
Bropftes, erlojhen lt. Vorfahren diejes Gefchlechtes zeichneten fich
bei der Befreiung Wien’s von der Dat ber Türken rühmlichft
aus. — Propit Asverus war mit der Tochter des Propites zu
Iewe, Gertrude Rod, verheirathet.
Ehe id) in der eigentlichen Lebensbeichreibung meines Vaters
fortfahre, will ich, eingedent der Ermahnung meiner Groftante
„unmer vom Ei anzufangen” — furz berichten, wie mein Großvater
meine Großmutter nahm.
Ich entnehme diefen Bericht den Aufzeichnungen der Schweiter
meines Vaters. Da heißt es: Als mein Vater, der Oberpajtor
Ehriftian Timotheus, mit vier unmündigen Kindern aus erjter
Ehe, deren jüngfte id war, im Jahre 1805 als Wittwer zurüc-
geblieben war, bejuchte er feinen jüngeren Bruder, den Pajtor in
Waimara, mit dem er zufammen in Jena ftudirt hatte. Da fie
Beide Dorpat und die Univerfität noc) nicht Tannten, befchloffen fie mit
der Poft eine Neife dahin zu machen. Bei Torma vorbeifahrend
tamen fie auf ben Gedanten einen Amtsbruder fennen zu lernen
und fehrten ein. Gleich im Vorhaufe machte eine Infhrift mit
goldenen Buchjitaben über der Thür einen angenehmen Eindrud.
Sie lautete:
„Darf ic auf Nedlichkeit und Menfchenfreundicaft hoffen,
© jtehen Haus umb Herz dem fieben Frembling offen**).”
Der ehrwürdige Prediger, wie ein Patriarch ausfehend,
begrüßte fie auf's freundlichite und bald war die Unterhaltung —-
Häufig Inteinifch geführt — in vollem Gange. Beim Vittagefien
*) Franz Gotthilf Friedrid) A, geb. in Weimar 1747, stud. in Schul:
yorta, dem Öpmnaftum zu Weimar u. der Univerfität Jena. Paftor zu Torma:
Lohhufa in Yivland (1775) und Propft des Törptichen Sprengels 1803, 41818,
**) Diefe und ähnliche Infchriften waren uns vom Tichter Kotebue
gefehenkt. — Siehe Balt. Stizgen I. 9. 2. Kap.: „Ein Pajtorat vor 30 Jahren.“
172 6. 3. v. Schulg- Bertram.
war e8 meinem Vater aufgefallen, wie die fo jugendliche Tochter
alles Sorge getragen umd auf eine Frage ihres Waters eine
jo jehr verftändige Antwort gegeben hatte. As fie fid) ipäter zu
der Gejellfichaft gelegt, wo ihre Schweiter, die fchöne Doktorin
Woucha durch ihre muntere Unterhaltung Alle an fid) gezogen,
da hatte mein Water fi zu der jtilleren jüngeren Schweiter
gewandt und war erjtaunt geweien, jo viel Bildung und Intereffe
für Altes bei einem jo jungen Mädchen zu finden, — eine feltene
Ericjeinung zu damaliger Zeit,
Als die Brüder zur Weiterreife fid) verabfchiedeten, wurden
fie aufgefordert, bei der Nürkfehr wieder vorzufprehen. Das
geiha) mit Freuden und fie verweilten einen ganzen Tag im
Pajtorat. Mein Vater fam zur Weberzeugung, dab er feinen
Nindern feine beifere Stiefmutter geben fönne, als das Fräulein
Asverus. Zu Haufe angelangt, fehrieb er dem Propfte, bewarb
fih um die Hand der Tochter und erhielt die gewünfchte Zujage.“
Trog ihrer Jugend zeigte fd) die faum fedhgehnjährige
Oberpajtorin den mannigfachen Pilichten ihrer Stellung volltommen
gewachen. Anfänglich mit einigem Vorurtheil empfangen, erwarb
fie fih der zahlreihen Gemeinde allgemeine Adıtung und An
erfennung, welche fi) in einem geflügelten Worte, das damals
in Neval gäng ımd gäbe war, fund gab. Cs hieh nämlid) bald
in der Stadt: „Unfere junge Oberpajtorin fann mehr noch als
Dauen einfegen.“ „Mauen“ waren, wie cs jcheint, eine
beionders fomplizirte Art von Nermeln, die einzufegen viel Ge
ihielichfeit erforderte, und wer mehr nod) fonnte als das, muhte
ein Wunder von Verftand und Klugheit fein.
Nur vier Jahre dauerte die glückliche Che. Am 29. Juni
1809, faum zehn Donate nad) der Geburt feines jüngften Eohnes
Georg ftarb der vielverehrte Mann an einem Ädweren Nervens
fieber, erit 42 Jahre alt, „ein Vater der Wittween und
Wapjen“ wie es in einem Nachrufe heißt. Mit den feltenjten
Eigenichaften des Geijts und des Herzens ausgeitattet, bewahrte
er fih) bis an fein Ende, „Frohfinn, männliche Standhaftigfeit
und Sfeihmüthigfeit.”
Ganz bejonders wird jein zur Yarmerzigfeit und Mid
thätigfeit geneigter Zinn hervorgehoben. Leine liebite Yeic
SI v. SchulgBertram. 173
fand er in der Fürforge für das feiner Leitung anvertraute
Waifenhaus (gegründet 1 von Chr. Fr. Midwis, 1724-1748
berpajtor an der Domfirche).
„Licblich war ihm der Gedanke ein Vater der Verlafienen
zu fein... Der Segen Gottes ruhte auf diefem Werke...
Trauert, trauert arme Wapfen, ihr jeid zum zweiten Mal Wapjen
geworden. hr habt verloren euren Vater umd Freund. lo
ibon die Stranfheit ihn anf's Kranfenlager geworfen hatte, fragte
er nicht nad) den eigenen theueren Nindern, ihr wart jeine beftändige
Frage. Er liebte eud) jo*).“
Die 19-jährige Wittiwe zog mit ihren eigenen zwei
Morig und Georg und einer Stieftohter nad) Torma zu ihren
Eltern. -- Diejes Ereignifi finde ich verzeichnet in einem alten
Sparbüchlein, das die thätige Pröpftin für ihren Liebling Georg
anfegte. Da dieje Zeilen charakteriftiich find für die alte Dame,
deren febhafter Geift und originelles Wejen nicht ohne Einfluh
geblieben auf das Wefen und die Entwidelung meines Vaters md
zu den erften, fo wichtigen Eindrücen feiner Kindheit gehören, jo
fchreibe id) fie ab, mit Beibehaltung der Orthographie.
D. 6. Auguft 1809 brachte deine Mutter dich
zu uns, wo dein guter Groß Vatter did) Liebreich zu
erziehen verjprad) und dic) in feine Arme nahm. Dein
guter Vatter jtarb den Juny ungefannt von Dir,
mein lieber Golly. Deine Liebe Mutter Stillte dic)
jetbft und oft in Trähnen um den geliebten zu früh)
geitorbenen Vatter, den du im 10 Wonatl deines erjten
Jahres verlohrit. Seyn Segen leite did. Er war
ein Nechtichaffener Dann.
) (Eine Geräctnihpredige bey der Beerdigung des weyland Herrn Ober:
pajtors an der Mitter: und Tomtirche, Alejors des Enitländiichen Provincial:
Eonfüitoriums und Director des Dom-Wanfenhanfes in Neval Ehriftian Timorheus
Schulg, gehalten von Heinhold Holt, zwevten Prediger an der Nitter: und Tom
firde. Reval INIO. gedr. ben |. 9. Grefiel mit einem Vorworte des Propites
3. Wsverus.)
174 9.3. 0. SchulgBertram.
Lebe wie du, wenn du ftirbit, Wünfcen wirft gelebt zu haben.
Güter, die du hier erwirft, Würden bie dir Menfchen gaben
Nichts wird dich im Todt erfreun, Diefe Güter find nicht dein.
Weiche nicht von der Tugend, handle offen u.
auth, das wünfcht beine alte did) fiebende Großmutter
Asverus
Torma d. 20ten Februar 1811.
Darunter fteht: „Mit diefen 40 N6. fing ih 1810 im
October einen Handel auff euer Glüd an.”
Hier im Paftorat zu Torma verlebte mein Vater eine frohe
glücliche Kindheit, die ihm unvergehlid blieb und der er in den
Baltiichen Skizzen mit warmer Liebe und Dankbarkeit gedentt.
So in den Kapiteln: Ein Paftorat vor 50 Jahren, Das Pröpftliche
immer, Cine livfändiiche Vollsfammer, Gin Sonntag auf
einem landichen Paftorat. Die Geftalt des „Grohpapa’s im
Silberhaar” mit inniger Verehrung gezeichnet tritt befonbers hervor.
Dort erzählt mein Vater, wie der fremme Großvater, der nidyts
ohne Gebet unternahm, die große Standuhr alle acht Tage, mit
den Kindern zufammen unter Abfingen eine Chorals, aufzog; wie
er mit großer Geduld es zulich, daß feine Enfel fi) um jeine
Folianten viffen, — „weil deren Söpfe im wichtiger waren als
die Bücher“; — wie mein Vater an den alten Titelblättern und
Schnörkeln fid) ergößte, für die er noch in fpäteren Jahren große
Vorliebe Hegte und eine Sammlung daven anlegte; wie er als
fünfjähriger Vücerwurm in des Grofvaters Bibliothek jtöberte
und alles Ins, was ihm unter die Hand fam, und als ihm bieje
verichlofen wurde, fih auf Chriftinn Warg’s Kochbuch warf, ja
fogar ichliehlih mit dem Wäjhebuch jeiner Großmutter vorlieb
nahm, aus welchen ihm dev imponirende Poften von 400 Tijd-
jervietten noch erinnerlid) blieb.
Bei dem Großvater genofien die drei Geichwifter, welde
wegen ihrer fait gleichen Körpergröße und bes geringen Altero-
unterjchiebes, bie Drillinge genannt munden, den erften (ateinifchen
Unterricht, die Schweiter mit eingeichloifen. Mit Vorliebe iprad)
der Propit, als einjtiger Schüler Schulpforta’s mit den
Enteltindern lateinifche Broden und die Geburtstagswünihe mußten
in lateinifher Sprade abgefaht werden.
©. %. v. Eduly- Bertram. 175
Einige Züge aus feiner Kindheit, die mein Vater jelbft mit
Stilljhmweigen übergeht, dürften hier nicht unerwähnt bleiben: wie
er ein Kagenhofpital anlegte und wie es fam, dah feine alte
franfe Großmutter ihm ihre Wiedergenefung verdantte.
Das Napenhoipital befand fi) auf dem Heuboden und
beherbergte eine Anzahl augenkranfer Kägchen, welche mein Vater
in der Umgegend aufgejammelt und hier heimlich untergebracht hatte.
Er pflegte md fütterte feine Heinen Patienten und wuld) ihnen
die Augen mit warmer Mil, jo jchon damals eine Neigung für
die Augenheilfunde verrathend, die ihm den Titel eines „Silma
bottor*) eintrug, als er in viel jpäteren Jahren, eine Heine Privat-
Augenklinik für franke Bauern des Gebietes, in Friedenthal-Torma
anfegte.
Die Heilmethobe, welde mein Vater bei feiner Großmama
mit Erfolg ammwandte, war nicht gewöhnlicher Art. Hier muß ich
aber vorausfdhiden, dal; der erwähnte Heuboden aud der Lieblings-
tummelplag des Knaben war. VBelonders liebte er es waghalfige
Sprünge von den Querbalfen des Dades hinunter in das weiche
Heu zu machen, ein Vergnügen, welches die bejorgte Großmutter
ihm ftreng unterjagt hatte.
Eines Tages ließ nun die alte Franke Pröpftin ihren Lich:
fing, Golly, an ihr Bett rufen und fagte ihm, daf fie vielleicht
noch heute jterben mühe und was er dann wohl tyun würde. —
„Dann gehe ich auf ben Heuboden und mache Aufferbälle!” war
die vache Antwort. Groimama lachte und genah.
Diefe vom Vater geerbte mildthätige Liche, diefe „Dit:
feidigfeit” mit allem Verfafjenen und Leidenden, erjtredte fid) aud)
auf bie „itumme Greatur”, worunter mein Vater zerbrodene
Gläfer, Teller, Taffen 2c. verjtand, die er nicht anjehen Fonnte,
ohne fofort das Verlangen zu fühlen, fie zu „heilen“, oder richtiger
„sufammenzufleben”. „Eigentlich bin ich zum Slider geboren,”
fagte ex oft Icergweife,
Der Großmama Felder und Aeder waren immer bie beit-
beitellten der Umgegend und häufig kamen die Nachbarn fie um
Nath zu fragen. Sie hatte das „Departement des Aeußern” über:
=) Ehitnifh — Augendocter.
176 9.3. v. Schulg-Bertram.
nommen, während der Propit, geiundheitshalber darauf verzichtend,
in feiner Stwdirfnbe blieb. Auf ihren Fahrten durd) das Land
in einem jelbjtgelenften Wägelchen, mit einer frommen weihen
Stute beipannt, — (der „Lediihen“, der mein Water in den Balt.
Sfigjen aud) ein Denkmal gelegt) - nahm „Urmama” meiltens
ihren Licblingsgrobjohn mit, oder fehritt mit ihm, ihn wie einen
Stridbeutel unter den Arm nehmend, querfeldein.
Mein Vater jdildert die Großmutter als eine ungemein
tätige Frau, deren lebhafter Geift ihr nie erlaubte, länger als eine
halbe Diinute bei ein und derjelben Sache zu bleiben, und die auf
ihn den CEindrud gemacht, als befähe fie die Fähigfeit die
verjchiedenjten nge zu gleicher Zeit zu verrichten: „fie Ipann,
fie ichrieb, fie ftricte und drudte mit einer fleinen Handdruderei
ihren Namen auf die Titelblätter der Noebueihren „Neuen
Schaufpiele.“
Die Vicheitigfeit und Negfamteit des Geiftes mag wohl von
ihr auf den Enfel übergegangen fein, wie and) die Gabe bei den
Veichäftigungen und Creigniffen dee praftifden Lebens immer
aushelfen zu fünnen. ine Art Findigfeit von meinem Vater
„Napportivität” genannt, kam ihm päter als praftiidem Arzt
Häufig jehr zu Statten. Auch die Luft zu „fabuliren“ jtammte
wohl von der Grofmama, — entichieden wurde er von diejer in
feinem Hange dazu ermuthigt. -— Mehr als einmal hatte die
Großmama ihrer Meberzeugung Ausdrud gegeben: „in Golly jei
ein Schenie verborgen“ - oder fie nannte ihn ihren
„Hauspoeten‘
Leider find feine dichteriichen Verfuce aus der Nnabenzeit
meines Yaters aufjufinden. In fpäteren Jahren verging fein
Geburtstag jeiner Mutter, überhaupt fein feitlicheo Greignih in
der Familie, das nicht von ihm in Werfen gefeiert worden wäre,
teils auf bumoriftiüche, theilo auf ernjte MWeife, im Mtetrum,
Noytämus und Formen die größte Abwechjelung bietend. Er
behandelte mit Leichtigkeit die verichiedenjien poetijhen Mietven.
Das Pajtorat Torma liegt an der Poftjtrahe, die, wie cs
in „Martha Marzibill” heißt, - „vom Anfenland nad Petero:
burg“ führt. So geihah es, dah die Kinder, troß der
Ländlichen Abgeichiedenbeit, in der fie lebten, zuweilen mit den
8.3. 0. Schulg-Bertram. 177
Ereigniffen der Außenwelt in Berührung famen, die ihre Wellen
bis in die weltentlegene Propitei fchlugen.
In den Aufzeichnungen der Schwejter meines Vaters, —
feines beften Spiel: und Lernfameraden, finde ich folgende
Reminiszenz aus dem Jahre 1812, die das Bild vervolltändigen,
welches im legten Napitel der Baltiihen Stigzen aufgezeichnet ift
„1812 gab es bier auf der Heerftrahe ein lebhaftes Getreibe.
Die Menichen flüchteten alle vor Napoleon nad) Moskau. Groß:
vater ging täglid mit uns Kindern auf die große Strafie fpazieren
und unterhielt ic oft mit den Neifenden, die um allerlei Aus:
funft baten. Weine Großmutter vergrub mit dem treuen Rutjcher
Jürri alle Werthfaden im Garten. Mutter jollte mit uns
Rindern in den Avinormicen Wald zu einem Bauern geididt
werden, doc) Großvater wollte mit der Großmutter und einer
Tante bei feiner Kirche bleiben, weil er es für feine Pflicht hielt.
Da fam eines Tages eine Eftafette: „Rige’s Vorftädte brennen! -—
Napoleon hat feinen Weg nad) Moskau genommen“ und fo
blieben wir alle beifammen. Nach dem Brande von Mosfau
zogen die Flüchtlinge auf diefer Strafe wieder in's Vaterland
zurüd. Es waren Dentjche und Franzojen, abgezehrte, zerlumpte
Jammergeftalten, die viel von dem Elend des Krieges erzählten.
Vejonders hatte fd} meinem Vater, dem vierjährigen Anaben, die
Geftalt einer ruffiihen Vettlerin eingeprägt md ihre Worte
Blut in allen Gräben! Blut in allen Brunnen!’ einen unaus:
föfhlichen Eindrud auf ihn gemadt. (Balt. St. I. 3.)
Wir Kinder wurden mit tiefem Abfchen gegen den Urheber
all diefer Greuel erfüllt und nannten ihn die „auittengelbe
forfiiche Striegsgurgel” -— „den Attila des 19:ten Jahrhunderts,” -
„die Geifel Gottes“. - Aber aud) dies it uns Nindern erinnerlich
geblieben, wie der milde Großvater bei der Nachricht, die ihm die
Flüchtlinge brachten, Napoleon habe die Inquifition abgeichafit
auf der Yandjträße jtehen blieb, fein Käppchen zog und andächtig
die Hände faltend, Gott dankte, dab er ihn „Lielen Tag
erfeben lich.“
Im Jahre 1816 fahen die Ninder den König Friedrich
Wilgelm II. von Preußen auf der Station Torma und mein
Vater hatte fogar die Ehre von Sr. Vlajeftät bei Seite gejchoben
178 S. 3. v. Schulp-Bertram.
zu werden und ein fönigliches Lächeln hervorzurufen, als er, im
Eifer fi) ein Paar Handiehube anzuziehen, mit feiner Meinen Perfon
fi dem Könige in den Weg geitellt hatte. uch die reisende
Grohfürftin Diaria Pawlorona, Erbgroßherzogin von Weimar, die
mit ihrem Gemahl die Station Torma paffirte und in einer
blagblauen Seidenrobe im Garten der Station promenirte, hatte
im Gemüth der Kinder einen nachhaltigen Eindrud von Liebreiz
und Freundlidfeit hinterlafie Für den Großvater hatte die
Großherzogin die liebenswür Aufmerkjamteit ihm zu fi rufen
zu laffen, um ihm perjönlid) die Grüße feines Bruders, der
Geheimratb am Hofe zu Weimar war, auszurichten, und ihm
durch ihren Sekretär Briefe vom Bruder überreichen zu lajien.
Doch die fürjtliche Eriheinung, die alle andern überjtrahlte
an hoheitsvoller Majeftät und engelgleicher Mitde, das war der
Naifer Alerander I., von dem mein Vater (fiche „Balt. Skizzen“,
1. Bd.) fagt: „Es war nicht die ungeheure, fait grengenloje
Macht auf Erden, die ihm den Stempel eines erhabenen Wejens
gab, jondern das rein Chrütlihe in jeiner Erfheinung, die unbe>
grenze Liebe und Yumanität, mit der er alle Sorgen und Leiden
der halben Welt getragen Hat, — jeden Einzelnen behandelte, -
jeden jeiner Unterthanen und jeden feiner — Feinde.“ — Zum
legten Dial fah mein Vater alo Domfchüler den Naifer Alerander 1.
in Neval 1824.
Doch ehe ich zu diefem Lebensabichnitt meines Vaters fomme,
muß id) nod) einiges über feinen Unterricht uud feine erjten
Lehrer jagen.
Der erfte Unterricht der drei Gejcwifter wurde von der
eigenen Mutter und vom Großvater geleitet, der, wie jchon
erwähnt, mit Vorliebe fie im Lateiniihren unterwies. Im Jahre
1817 fam ein Hauslehrer in’s Haus, ein Vetter der Großmutter,
welcher aber nur ein Jahr, bis zum Tode des Großvaters 1818
im Haufe blieb.
Der Tod des alten Propftes war ein jeliger Heimgang.
Am vorhergehenden Tage hatte er einen Brief, enthaltend die
Todesnachricht feines einzigen Bruders in Weimar, erhalten. Als
er den Brief gelefen, fiel er in eine Ofnmacht. Beim Erwachen
fagte er lüchelnd: „Cs war nur die Freude des baldigen Wieder:
©. 3. v. Scjulg-Bertram. 179
fehens mit dem geliebten Bruder, welche mid übermannte.”
Dann lieh er die Großkinder zu fi rufen, jagte ihnen, da er
num bald bei jeinem Heilande fein werde, ermahnte fie und fegnete
fie. Wenige Stunden vor feinem Tode traf der Dr. Lehmann
aus Dorpat ein und brachte dem Sterbenden, der im Lehnjtuhle
faß, die Freubenbotihaft, daß die Bauernfreigeit proklamirt jei.
Der Großvater nahm fein Räppden ab und pad danfend:
„Mein Chr hat es vernommen, docd meine Augen werden cs
nicht mehr fehen.” — Er Hatte diefes in Iateinifher Spradje
gelagt. — Mit den Worten: „Herr, in beine Hände befehle ich
meinen Geift!* -- entichlief er.
Diefes jchöne Ende hatte den Gejchwiitern für immer alle
Furcht vor dem Tode genommen. ie fahen ihm nicht als ben
Fürften des Schredens, fondern als einen Engel des Friedens an
den frommen Großvater herantreten.
Die alte Großmutter z0g fih nun mit ihrer Tochter und
den Enfelfindern auf den von ihr gegründeten Wittwenfiß,
Friedenthal, ganz in der Nähe des Patorates, zurüd, und
der Nachfolger ihres Mannes, Pajtor E. Asmıth übernahm den
Unterricht ber Kinder, den zum Theil au, wie icon gefagt, die
Mutter derjelben feitete.
Bisher habe ich faft nur von den Großeltern geiprocden
amd es it Zeit der treuen, aufopfernden Liebe und Fürforge zur
gebenfen, welhe die fo früh verwittwete Mutter den vaterlofen
Waifen, jowohl den eigenen wie den Stieffindern zu Theil werden
ließ. Innige Liebe und Dankbarkeit der Kinder (ohnten ihr dafür
bis an ihr Lebensende. Ganz bejonders groß war ihr Einfluß
auf den jüngiten Großfohn Georg, meinen Vater. Das Verhältnih
zu feiner Dlutter war ein felten inniges und zeigte fi) in regem
Gedankenaustaufch zwifchen Viutter und Sohn, welcher au in
fpäteren Jahren über Raum und Zeit hinweg fortgeführt wurde,
wovon eine umfangreiche Korrefpondenz Zeugniß ablegt.
Nachdem die beiden Nnaben, Morig und Georg, nod) zwei
Jahre in Penfion beim Propft in Luggenhufen gewefen, zog die
verwittwete Oberpaftorin 1823 nad Neval, um die Anaben in
180 3.0. SchulpVBertram.
der Dom Schule unterrichten zu lafien*). Mein Water war 14 Jahre
alt, als er mit dem älteren Bruder Morig zufammen in Die
Sehunda tat, unter Leitung der Lehrer Vlaiche, Carlberg,
Aydenius und Nikfers, von denen namentlich lebterer jein Interefie
für Naturwifienihaften wedte. Näheres über diele Periode feines
Lebens hat mein Vater in den „Neuen Baltischen Skizzen**)" auf
gezeichnet. Der Wahrheit die Ehre gebend verichmweigt er aud)
nicht die Nnabenftreiche, die er in Gemeinihaft mit feinem älteren
friegerichen Bruder, zur Verzweiflung des Ralfaftors ausübte, ber
da fagte: „Winf Rubelo mechte id jeben for Armens, wenn
biefe Sfulze wefmechten aus Sjuhle.“ —- Nach vierjährigem
Studium in der Dom:Schule erhielt mein Vater das Zeugnih der
Neife und bezog die Univerfität Dorpat im Jahre 1827 Gerridh
gab vor's erite 3 rubel S. für die Matridel“, notirt Urmama
im Sparbüclein).
„Was willit du werden?“ Hatte cin Vetter den angehenden
Studenten gefragt. „Rosmopolit“ war die fchnelle Ant:
wort. Mein Later wählte die Medizin zu feinem Stubium,
„diejenige Wilfenfchaft, welche die meiften anderen Wiffenichaften
in fid) vereinigt.”
Dbgleic) fein Intereife, angeregt durd) die Vorträge der
ausgezeichneten Profeiore, wie Cihorius, Ofann, Parrot u. a.
fich verfdhiedenen Fächern zumwandte, namentlich) die Vlineralogie
und Botanif ihn durch ihre wunderbaren Formen md Farben:
pracht anzogen, jo ergriff mein Vater dad) gleich mit Vorliebe
das Studium der Anatomie unter Zeitung des Krofefiors Wachter.
In feinem eurrienlum vitae heißt co dann weiter: „Die ver:
gleichende Anatomie ftudirte id unter dem berühmten Eihbolz,
bejonders aber veranlahte das Zufammenarbeiten mit den Freunden
Pirogoff und X da ich mich ganz dem Studium der Natur:
wiffeufhaften zuwandte, denen id) mid, nad) Ablegung des pro:
pöbdeutifchen Gramens 1829 widmete, bejonders aber den der
Anatomie, welches id) gleicham vom Ci an — auf's Neue begann.
**) Wafeniusiche Buchhandlung 1
©. 3. v. Sdhulg-Bertram. 181
Eingebenf jedod, dah ich einen gelehrten Grad und Titel
erlangen mühe, wandte id) mich nun auch dem Studium der rein
fchen Fächer zu und nahm nunmehr wahr, daß bei Unter:
weifung und unter Führung folder Lehrer, wie Mloier und
Sahmen jedes Studium interefjant und feilelnd werden fönne,
felbft da, wo man demjelben weniger Neigung entgegenbringt.”
Im Jahre 1830 mußte mein Vater fein Studium wegen
Arantgeit umterbreden. Er machte eine Ichensgefährliche Unter:
feibsentzündung durch, welche wohl den Grund fegte zu feiner jo
ihmwachen Gejundheit.
Nod) hatte mein Vater das Nigorofum nicht abgelegt, als
er dur) den ihn jehr chrenden Belchluß der Wied. Fakultät, zum
Gehiffen und Projektor am Anatomitum zu Dorpat (unter Brofeifor
von Hucd) ernannt wurde (1834-36). Seine Präparate dienen
noc heute zu Lehrzweden.
Im Jahr 1833 machte mein Vater, in Gefellf—aft mehrerer
Freunde, feine erjte Neife an die baltiiche stüfte umd bejuchte
einige Injeln Finnlands, unter andern aucd Hogland, wm dieje,
die damals wenig befannt, zu erforichen. Er brachte von dort
viele Notizen, Sfiggen und Material zurüd, die er zu Hleineren
Arbeiten benugte, welche jpäter in der St. Petersburger Zeitung
eridjienen.
Am 11. Teybr. 1834 machte mein Vater einen Tpeil jeines
Doctor-Eramens, in den Fächern bei Erdmann, Nathke, Sahınen,
Hued und Köhler; bei Walter und Moier erjt im folgenden
Semejter. 1836 erfolgte auf Grund feiner Dijjertation: „Die
Ahinoplafticn“ feine feierliche DoctorPromotion am 16. März,
welde feine alte Großmutter noch die Freude hatte zu erleben.
Auf einer Neife nad) Petersburg, die mein Vater 1833
oder 1834 unternahm, unterließ er co nicht, die Nabinette der
Naiferlihen Akademie zu bejuchen, immer eingedent deffen, „daß
die praftiihen Dinge nur durch Erfahrung zu erlernen feien und
unfere von uns jelbjt erfannten Jrrthümer mehr Werth für uns
haben, als die Erfahrung Anderer, welche eben die Andern gemacht.”
Während de, Studentenzeit (1826—3+) gehörte mein Vater
der Norporation der „Ejtonia” an und befleidete in ihr eine zeit
fang den Chargirtenpoften. Als Mitglied diefer Korporation, in
2
182 G. 3. v. Schul Bertram.
welcher Boca: und Injtrumentalmnfit eifrig betrieben wurde,
hatte mein Vater Gelegenheit feinen mufifaliihen Talenten und
Liebhabereien nachzugehen. Schon als Kind trat bei ihm Neigung
und Verftändnih für Mufit deutlich) zu Tage und diefe wurden
anfänglich von einer „mufifaliichen Tante”, darauf in Luggenhufen
zwedentfprechend gefördert. Mehr nad geidiah diefes in Reval
und ganz befonders in Dorpat.
Doc) ehe ich Näheres darüber mittheile, will ich wieder zum
Domidüler zurüctkehren, da ich überzeugt bin, daf; die damals in
Neval erhaltenen Eindrüce, den Grund gelegt haben, zu der
fpäteren mufifalifchen Richtung meines Xaters. -— Cs war
namentlic) im Haufe des Kapellmeitero der Oper Goebide*), der
auch Gefangfehrer an der Dom-Schule war, wo mein Pater
Leitung und Förderung in der Mufif erhielt. Hier lernte er die
Hafjiiche Kammermufit fennen, der er jtets den Vorzug vor jeder
anderen gab. Die Tochter des Haufes war eine gute Klavier
jpieferin, aber vor allem galt jeine Begeifterung den Opern:
vorjtellungen. „Don Juan, Freifhlig wurden gut, Preziofa,
Gazza ladra und Zauberflöte fofo, lala gegeben.” -- Bald fannte
der Rnabe jede Note des Don Juan und des Freiihüg aus:
wendig. Zu Haufe mußte die Schweiter „Vieb mir die Hand,
mein Leben“ mit ihm fingen und mimen, und, um ihrer Mit:
wirkung fiher zu fein, band der Nnabe feine Zerline an den
Stuhl vor dem Klavier feit. Der Freiihüg, welcher 60 Mal
gegeben wurde — ein beifpiellofer Erfolg war und. blich
nädjft Don Juan und Zauberflöte das Tpernideal meines Vaters.
Alles jrömte in die Oper und die Strafen Neval’s Hangen wieder
von dem bei Alt umd Jung zur größten Popularität gelangten:
„Bir winden dir den Jungfernfrang 2.“ -- Glüclic), wer diefem
mufifaliichen Dochgenuh nad Serzenofuft nachfommen fonnte.
Aber Opernbillete fojten Geld und der Beutel des Domidülers
war leer. Da jchaffte wieder die findige Großmutter Abhilfe.
Der Teid) in Torma-Rajtorat lieferte viele Vlutegel, ein Artitel,
der damals viel Nachfrage hatte. Sie wurden gefangen, nad)
Neval gefandt, dort verfanft und die dadurd) erzielte Einnahme
heue Palt. Skizzen.”
6.3. 0. Schulg Bertram. 183
dem Theaterbubget der Enfel angewiefen. Namentlich gute Ab
nehmer waren Sonntags die Nirhgänger und mit Spannung
beobachtete diefe der junge Theaterfreund vom Fenfter aus: hing
es dod) von ihrem Bedürfnife nad Blutegeln ab, ob er Abends
die Donna Elvira bewundern, fi an dem vorzügliden Komiter
Wirfo ergägen oder fid) an dem Gefange der „hümmliden” Agathe
entzüden fonnte.
Mein Vater, der ichen als Schüler im Chor der Nevalicen
Domtficdhe mitgefungen, hatte, als er in die Ejtonia trat, eine
idhöne Yarpton-Stimme und fein Vortrag Schuberticher Lieder üit
noch vielen Zeitgenoffen unvergehlich. Die herrlichen Singftimmen,
über welde dieje Rorporation damals verfügte, Hatten den Eitonen
den Namen „Revalice Nachtigallen” eingetragen. Jm Jahre
1828 wurde unter Direftion meines Vaters die „Glode“ von
Nomberg, jpäter der 1. Akt des „Don Juan“ und dann nod mit
Hilfe von Rnabenjtimmen der „Samfjon“ von Händel aufgeführt.
In den 40er Jahren, als mein Vater in Petersburg viel
im Nreife von Nünftlern und mufifaliihen Dilettanten verfehrte,
gelang cs ihm dort eine Aufführung des Freiihüg zu infzeniven,
noch ehe diefe Oper öffentlich aufgeführt wurde. Endlich gab er
im Jahre 1866 bei Breitfopf und Härtel, unter Beihilfe feines
Freundes Henjelt und der Kollaboration des Euperintendenten
Richter, des Vijhofs Ullmann, des ruffiicen Dichters Maitow u. a.
das Requiem von Mozart in jieben Spraden heraus (Iateiniich,
rufe, dentich, fettifch, ejtnüüch, Finnisch und fhwediih). Zıved
diefer Herausgabe war, durch) die Uebertragung in die Yandes-
jpradjen und durd) einen Leicht ausführbaren Orgeljag diejes Wert
des jo jehr von ihm gelichten Meifters auch Heineren Landfirchen
zugänglid) zu machen und zu popularifiren.
Zu größeren eigenen Nompofitionen fehlte es meinem Pater
an gründlichen Kenntniffen in der Harmonielehre, doc trat jeine
natürliche Begabung für die Mufit bisweilen in jeinen freien
Phantafien zu Tage. Er fagte, in folchen Augenbliden fühle er
fid) jelbjt enthoben; er wühte nicht, was er fpiele. Mic er auc)
die Hände auf das SHavier fallen laffe, entftänden ganz ohne fein
Zuthun Aftorde und Harmonienverbindungen, über die er felbit
erjtaunt wäre, denn er fönne nicht jagen, wie fie hießen und was
184 ©. I. v. Schult-Vertram,
fie bedeuteten. Manche feiner Melodien find von feinem Freunde
‚Henfelt für's Nlavier gefegt worden, jo das melobienfe „Ferne
Land.” Zu feinen eigenen Gedichten fomponirte mein Vater
zuweilen felbjt die Dielodie.
Die Baltifhen Provinzen haben manche anerfennenswerthe
Dilettanten:Talente aufzwwveiien, denen zur Einfluhnahme auf die
Entwidelung der Mufit nur die nöthige Schulung fehlte und von
deren Können uns das jüngft ericienene „I-te Heft des Valtifhen
Liederalbums“ herausgegeben von Nobert von Zur-Mühlen, —
mandje Hübfche und intereffante Probe liefert.
Der Sinn für das Melodieufe, für den Wohlklang, findet
fi in allen Iprüchen Gedichten meines Vaters. Jede projobiiche
Härte war ihm peinlich und mit befonderer Vorficht feilte er Profa
und Borfic, um jebe „Aafophonie” zu vermeiben. Seine Gebichte
find fajt alle zum Somponiren geeignet und viele find in Mufik
gelegt, u. X. von dem begabten Rheinländer Narl Bollweiler*)
in Petersburg.
Au) der berühmte Meifter des Hontrapunftes, Kühnftett
in Eijenad, jeßte Lieder meines Vaters in Mufil, darunter das:
„Ic joll dich erit am Abend fehen”.
Eine befondere Gabe hatte mein Vater, feinen Heinen Kindern
das Stlavierfpielen beizubringen. Er wandte dabei zwei Methoden
an: erfiens eine dichteriiche Analyfe des Stüdes, dem er ein
ganzes poctifches Programm zu Grunde legte und mit caraf-
teriftiichen Namen die einzelnen Paffagen bezeichnete, welche das Aind
nad) dem Gehör nacjipielen mußte. In Weber's „Aufforderung
zum Tanz", 3. B.: die große Schlange -—- die Trommel — die
Wiege 20... Sodann, indem er das fon bei den Grieden
übliche Spftem der Dinemotechnit empiriich anwandte, auf die
Gruppirung der Tajten die Yufmerfjamteit des Kindes lenkte und
deshalb mit joldhen Stüden anfing, die viele Nreuze und Veen
hatten, weil die fhmarzen Tajten leichter zu behalten waren.
Autor fhöner Aammermufil und einer herrlichen vierhändigen Navier«
fonate. Seine Werte, darunter auch, mehrere Hefte Yieder, auf Terte meines
Waters, find auf Leranlaffung der Oro
find in Rennerkreifen gelhäbt, Haben aber beim gröferen Publitum nicht fo viel
Verbreitung gefunden, wie Diefe Perlen edler Mufit cs verdienten.
. Sie
®. 3. v. Schulg-Bertram. 185
Wie anregend und Lefrreich wirkten feine Kommentare zu den
Opern von Mozart — zu den Quartetten Beethovens; die frap-
pivenden Benennungen und Taufnamen, die aud) der fangweiligiten
Etude einen poetiichen Zauber verlich; jeine, auf liebevolljtes
Studium der Vachichen Meifterwerfe bafirte Kenntni der Mufik
umd fein Intereffe und feine Freude an jeder nenen, edlen Er:
fcheinung auf diefem Gebiet. Und wie vielen jungen Talenten
wurden durch die Bemühungen meines Vaters die Wege geöffnet
amd geebnet, wie viele Entmuthigte danften ihm nene Schaffens:
freubigfeit, neue Hoffnung.
Land und Leute zu jtudiven, Volfsfitten und Gebräuche zu
beobadhten, waren von größtem Jntereffe für meinen Vater. Sein
Zeichentalent Fam hier feiner VBeobachtungsgabe zu Hülfe. Nicht
nur die (andichaftlichen und die Volfstypen, mic die Wohnftätten,
Koftüme, Hausgeräthe, bis in’s fleinjte Detail, finden fi) in
feinen Notigbüchern darakteri wiedergegeben teils in Farben-,
theils in Bleiftiftifiggen. So übte mein Vater jhon damals auf
prattifche Weite, die jegt fo fehr in Auffchwung getommene Wiffen-
haft des „Folflore*, - des Studiums des Volfsgeijtes in
allen feinen verfchiedentlichen Aeuferungen, wie: Sprade, Sitten,
Gebräuche, Liedern, Sagen ıc.
Von jeinen Arbeiten in diefer Richtung finden fi in der
„Transaction of the Jnternational Folk-Lore-Congress 1891,
London“ —- eine ganze Neihe angegeben, unter denen ich folgende
bervorhebe: 1)Wagien, Dorpat 1868; 2) Der Geijt Fin
lands, oder Jenfeits der Scheeren, Leipig 1
3) Sagen vom Yadogafee, Hell
parneh oder die Sonnen
5) JImatar. Komediadivina turaniea (ehitniid-
deutih). 1. Womba Wida. 1. Manala. IM. Tuuletar.
Dorpat:Niga. 6) I. Nalewipoeg, ehitnifche Legende, überjegt
in’s Deutiche von E. Neinthal und Dr. Bertram, Dorpat 1857- 61.
N. Der Streitüberdie Ehtheit der Nalewiden
Tage, Inland 1885 und mehrere andere Aufläge in bdemjelben
Blatt. MM. Die Ehfteniage vom Nalewipoeg in ihrer
neuen Geftalt, Inland 18: IV. Die Ehitnijde
Sage vom Kalewipoeg, Montagsblatt, St. bg. 1861,
186 6.3. v. Schulg-Bertram.
Nr. 6. Inland 1861 Nr.6. 7) Ein paar Ehjtenmärden,
PBief Dans und der Teufel, Inland 1852; 8) Der
Thurm des Olaus, ein ehftnifher Runenfreis,
Inland 1853; 9) Ueber das finnifhe National:
ep068 in feiner neuen Gejtalt. St. Pbg. Ztg. 1849
(anonym); 10) La po&sie et mythologie des
Finnois. Traite en a l’institut historique & Pa 1842.
Hier fei aud) des thätigen Antheils gedacht, den mein Water an
dem Zuftandefommen der Veröffentlichung des Nationalepos der
Ehjten, des „Nalemwipoeg“ genommen. Im Jahre 1838, in
einer denfwürdigen Sigung der gefeheten Ehfinifchen Gefellichaft
in Dorpat, machte mein Vater auf die Nothwendigfeit aufmerffam
bie im Volfsmumde noch lebenden PBruchitüde diefes Epos ohne
Auffhub zu fammeln, che die Ueberfieferung gänzlich erloichen.
Auf feine Aufforderung hin wirde diefe Aufgabe dem Dr. Kreuz:
wald, einem feiner Studiengenofjen übertragen. Wie biejer es in
feinem Vorwort zum Salewipoeg fagt: „Fam diefes National:
Unternehmen hauptjächlich dank der warmen Fürfprade und der
sündenden Rede des Dr. ©. Sculg (Dr. Bertram) zu Stande,
durch) die er feine Vegeifterung auf die Zuhörer übertrug.”
In der Folge üjt mein Vater für die trenge Mitif, die er
an dem Werfe reuzwald’s, feines Freundes und Studiengenoiien
ausgeübt, ehr Icharf angegriffen worden. Cs ift hier nicht der
Ort die Frage zu erörtern, ob meinem Vater, als einjtigem Urheber
des Unternehmens, eine foldje Aritif nicht mehr zuftand, als einem
Andern; ob in dem gegebenen Falle das fünftleriche Gewilfen den
Vorrang haben mühe vor der Freunbichaft und in wie weit hier
das Urtheil meines Vaters begründet war oder nicht — jedenfalls
darf eine unparteiiiche Nritit es nicht aus den Augen lafjen, dak
Dr. Bertram (Dr. G. Schulz) der geiftige Urheber diejes Wertes
gewejen und dah eine foyale Ausiprache zwiichen ben beiden um
die MWichtigfeit des Gegenjtandes gleid) ernjt bejorgten Männern —
ftattgefunden und ihre Freundichaft ungetrübt fortdauerte bis an
ihr Lebensende. Hierüber dürfte die voluminöfe Korreipondenz
mit Dr. Kreuzwald, welche einem legten Wunfdhe meines Vater’s
zufolge im der Gelehrten Ehjtnifchen Gefellihaft deponirt wurde,
9. I. v. Schulg-Bdrtram. 187
um erft nad) 50 Jahren veröffentlichit zu werden —- vollftändiges
Licht verbreiten.
Nach Veendigung feiner Studien ging mein Later in’s
Innere Nuflands und verblieb dort von 1836-39 als Hausarzt
des Generalen Umwaroff, auf deifen pradhtvollem Gute Holm
im Smolenstifchen Gouvernement.
Es war das erfte Hinaustreten in's Leben, die erfte längere
Trennung von der Mutter, mit der er bisher fait ununterbrochen
in innigem und aufrichtigem Verfehr geftanden. Seine Univerfitäts:
ferien hatte er bisher mit wenigen Ausnahmen bei ihr in Frieden-
thal im Tormajchen zugebradht und es wäre hier wohl angebradht
biefer bedeutenden und originellen Perfönlichfeit etwas näher
zu treten.
Die verwittwete Oberpaftorin hatte als Kind beim Propit
Evers in Koddafer Lejen, Schreiben, die vier jies und ein
wenig franzöfüidh gelernt —- mehr wurde damals für ein Mädchen
nicht für nöthig eradtet. Sie hatte fih aber jeldft ipäter durd)
viele und gute Lektüre, einen großen Schap an Kenntniffen erworben
und ihren Geift durch den Umgang mit hervorragenden Männern
gebildet. Ic) will hier zwei erwähnen: ben nachherigen Bifdof
Walter und den Brofeifor Erdmann in Dorpat, deren
Velanntichaft meine Großmutter gemacht, als fie fi) zu wieder-
holten Malen längere Zeit bei ihrem Neffen in Dudershof bei
Wolmar aufgehalten, der in zweiter Che ihre Tochter Jenny zur
Frau hatte. Ferdinand Walter war damals Pajtor, Narl Erdmann
Doktor in Wolmar und Hausarzt in Dudershof. Zu diefen beiden
hervorragenden Männern jtand meine Großmutter in einem
Freundfchaftsverhäftniß bis zu deren Tode. Diefe Veiden und vor
allem ihr Sohn Georg verforgten fie in ihrer ländlichen Einfamteit
mit dem Bejten, was auf dem Gebiet des Miffens uud ber
Literatur erfchien und fie hatte für alles, bis in ihr Tpätetens
Alter, das lebhafteite Intereiie.
Als fie in ihrem 83jten Lebensjahre nad) Dorpat kommen
mußte, um fid) einer Operation am Auge zu unterziehen, erregte
fie dur) den Muth und die Standhaftigkeit, mit der fie die
Schmerzen ertrug, die Yewunderung der fie operirenden Aerzte.
Während der Refonvalescenz wurde fie von jo mandem bedeutenden
188 9. I. v. Ecdhulg-Bertram.
Wanne, ber fie in früherer Zeit fennen gelernt, wieder aufgefucht
und er fand Vergnügen und Genuß im VBerfehr mit ihr. Auch
meine Großmutter fühlte fi) ichr angeregt und erfreut, aber mit
der ihr eignen Energie, brad) fie, ungeachtet der Witten ihrer
Umgebung, den Aufentgalt in Dorpat ab, weil — „fie am Ende
ein zu großes MWohlgefallen an diefem geiftigen erfehr fände
und fie fi fpäter zu einfam auf dem Lande fühlen würde.“
Selbjtüberwindung bejah fie in hohem Viahe, verlangte diefe aber
aud) von Andern, daher wohl der Eindrud der Strenge, den fie
auf Jeden machte.
Dod), jtets anf das Wohl Anderer bedacht, verjtand meine
Großmutter immer fi die Liebe und Verehrung, das Zutrauen
ihrer Umgebung zu gewinnen. Sie nahm fid) der Waijen im
Gebiete an, erzog fie zu tüchtigen Dienftboten, wofür fie fid den
Dank jo mancher Hausfrau erwarb. Meine Großmutter hielt es
aber nicht für nöthig ihren „Mufzöglingen” aufer Lejen und ein
wenig Necdnen auch das Schreiben zu lehren: „To wie fie zu
ichreiben veriteen, fehreiben fie dody mur Yiebesbriefe” —— meinte
fie. e lieh auf eigene Koften eine Frau aus der Gemeinde in
der Frauenflinif zu Dorpat als Hebamme ausbilden und half
dadurch einem großem Webeljtande unter ber bäuerlichen Yevölferung
ab. Diefe fohnte ihr dafür mit der größten Dankbarkeit und
Verehrung und „Wanna praua“ (die alte Frau) war ihr Math
und ihre in allen Angelegenheiten des Leibes und ber Seele.
Grofmama's Kenntniffe in der Medizin erfreuten fid) eines
großen Mufes. Von Nah und Fern fauten die Hilfefuchenden
Bauern zu ihr. Namentlich Sonntags war ihr Häuschen umlagert
von Zolchen, die mit dem Gange zur Kirche, aud) den Gang zur
„Wanna praua“ werbanden, um für fihh jelbjt ober für die
franfen Angehörigen zu Yaufe die heilende Arjenei zu erbitten,
und gar wunderbar find die Nuren, welhe der Großmama zuge:
fchrieben werden. -- „IH Furire die Leute mit Senfteig und
hinefischemm Thee und, Gott fei Dank, es Hilft jtets" — jagte fie.
Was aber den Ceuten and) nod) Half, waren die Trojtes- oder
Scheltworte, die fie ihnen, je nad) Bedürfnif, mit auf den Weg
gab. Wie mandyes widerfpenjtige Weib hat fie zum Gehoriam
gegen ihren Dann zurücgeführt, wie manden ungerathenen
8. 3. v. Ecdulg-Bertram. 189
Kindern in’s Gewilen gerebet, ihre alten Eltern in Liebe zu ver-
pflegen. Wunderbar verjtand fie cs mit Jedem, weh Alters,
Standes, Nationalität er auch war, zu verfehren. Adel, Bauer,
Geijtlichfeit, alle waren willfommen und Jeder wurde mit der
ihm zufommenden Gtiquette behandelt — Menfchenfurcht fannte
die alte Frau nicht.
Viele harakteriftiihe Einzelheiten könnte id) noch erzählen,
dod) das würde mich zu weit führen. Nur Eines jei noch erwähnt:
Eint fam ein armer Tifehler zu ihr, der auch die Giloden in der
Kirche zu Läuten hatte, weshalb er fid) „Lautenfchläger” nannte, -—
flagte ihr feine Armut und bat um Arbeit. „Lieber B...,”
fagte meine Großmutter, „Möbel habe ich genug für die Furze
Zeit, die ich noch zu leben habe, aber ein Möbel werde id)
doc) mod branden und das ijt mein Nehmt mir das
Viaaß und macht ihn mir, dann haben auch die Vieinigen nicht
dafür zu forgen, wenn ich iterbe. Ih gebe euch 3 NbL., ihr
fönnt davon mande Woche feben und ic) befomme meinen Sarg.”
So geihah es aud. Fünfundzwanzig Jahre fand der Sarg, mit
einem Tuche bebedt, in der Aleete, und alle diefe Jahre wurde
die Rleete nicht erbrodhen, weil die Diebe fih) vor dem Earge
fürchteten.
Eine zärtliche, liebevolle Viutter ihren beiden Söhnen, war
ihr Verhältni zu ihnen doc) ein verichiedenes. Zum älteren
ohne jah fie auf, fie jtellte ihm über fih, während der jüngere
ihr immer der Sohn blieb, an dem noch zu erziehen war und
wenn fie and) jtol; war auf feine Nenntniffe, Gaben, feine jchrift:
itelferifche Thätigfeit, jo wollte fie es ihn doc) nicht merken laffen.
Ein fleines Beifpiel hiervon. Bei einem feiner Bejucdhe bei der
Viutter wollte mein Vater ihr fein neuejtes Wert vorlefen. Er
hatte dazu die Stunde nach Tifh gewählt, weil, wie er jagt:
„eine Hausfrau vor dem Mittag, wie ein General vor der Schlacht
fei, man darf ihr dann nicht in den Meg kommen.“
Mo mn diefer wichtige Aft des Tages abgemadht, das
Tifchtuch fortgeräumt und die nöthige Ruhe eingetreten war,
lehnte meine Großmutter fi in ihren Lehnjtuhl zurüd, dedte,
wie fie zu thun pflegte, ihr Tajchentuch über ihr Gefihht und
190 9. 3. v. Schulg-Bertram.
fagte: „Zo, jegt lies, lieber Sohn, vielleicht ichlafe ih ein.” —
Wenn mein Vater diefes erzähfte, jo lachte er oft bis zu Thränen.
Die Erinnerung an meine Großmutter hat mid von dem
Lebensgang meines Vaters abgeleitet und ich fehre wieder zu der
Zeit zurüd, wo er Hausarzt beim General Umaroff in Holm war.
In Holm hatte mein Vater eine ausgedehnte Praris, nicht
allein unter der ländlichen Bevölferung, fondern aud) auf den
benachbarten Gütern der Sogradsky, Zingjoft, Nadimoft, Schere
metieff, Yesles und Panin. Insbejondere hatte der alte Graf
‘PBanin auf Dougino eine herzliche Neigung und Zutrauen zu
meinem Vater gefait. Al er jhwer erkrankte und den Tod
herannahen fühlte, lie} er meinen Vater nicht von feiner
und diefer war eö, der dem werthen Manne die Augen zudrüdte.
Die Gelegenheit Land und Leute zu jtudiren lich mein
Vater hier aud) nicht unbenügt vorübergehen. Davon zeugen
zahfreiche Briefe an jeine Putter, die häufig von feinen Feder
zeichnungen begleitet waren, um das Gejehene und Erlebte
anfdaulider zu machen. Hier fand er aud) das Material zu den
„Mediziniihen Dorfgeichichten“, zu den „Epijoden aus dem Leben
Trifhta’s des Nasboinits“, in denen er feine eigenen Erlebnifle
auf den jungen Arzt Eduard überträgt. Diele Erzählungen
aus dem Innern Nuhlands, in denen er das „Wiflenichaftliche
mit dem Spannenden” vereinigte (wie eine Nejenfion cs jagt),
erichienen zwerit im Anlande und dann als Sonderabdrud in
Dorpat 1 Aus jener Zeit frammen aud) die Berichte an die
Aademie „über Folfile im Smolenstiihen Gouvernement.”
Während feines Aufenthaltes in Holm fiel mein Vater in
eine jehr jchwere Mranfheit (1839), die ihm an den Mand des
Srabes brachte. Als er fi) jo weit erholt, mußte ev Holm ver-
laffen und zur Stärtung eine Exholungsreife in’s Ausland machen
im Jahre 1840. Mein Vater reifte in Begleitung feines älteren
Bruders Morig, der im Naufafus jhwer verwundet worden war,
hinaus. Jun Berlin wurde ein längerer Aufenthalt gemadıt.
Mein Later lernte den berühmten Nugenoperateur Dieffendad)
fennen und wurde von ihm zu vielen Operationen herangezogen.
„3m „Strabismus” oder „Geidichten im Eilwagen“, die fpäter
9.3. v. SchulgBertram. 191
eridienen*), hat er an feine Erinnerungen aus biejer Zeit
angefnüpft.
Profeilor Dieffenbad) wollte meinen Vater bei fid) behalten,
doch diefer zog es vor, feinen Bruder nad) Paris, London und
Hamburg zu begleiten. Dann ging er allein über Leipzig, Jena,
nad) Weimar, wo er die Verwandten großväterlicherjeits aufiuchte,
bei Hof vorgeftellt wurde und eine Einladung zum Diner erhielt.
Bei einem längern Aufenthalte in Wien befuchte er die Vorträge
mehrerer berühmter Profeffore und arbeitete in feiner Wilfenichaft.
Nebenbei fhrieb er für verihiedene Zeitihriften und dichtete zur
Feier des Einzuges des Erzherzogs Friedrid) eine Kantate, die der
befannte Gejanglehrer und Komponift Profi in Mufit jebte.
Von Wien aus jollte mein Vater die Seimreije antreten, ohne
feine geheime Schnfucht, Italien zu jehen, befriedigen zu können.
Da wurde ihm ganz unerwartet von Seiten eines begüterten
Dlannes, eines früheren Kommilitonen, der VBorichlag gemacht, ihn
nad) Stalien zu begleiten. Mein Vater nahm das Amerbieten
an, wenn aud dadurd) jein beabfichtigter Eintritt in den Staats
dienjt verzögert wurde.
Die Eindrüde der italienischen Reife hat mein Vater theils
in Briefen in die Heimat), theils in Gedichten wiedergegeben.
Legtere erjchienen zuerft 1842 unter dem Piendonym Levin in
Hamburg und wurden jpäter, 1869 unter dem Titel: „Bilder aus
dem Süden” in die „Sefammelten Werke” aufgenommen. (Dorpat,
Gläfer’s Verlag, 1. Band). Unter diefen Gedichten befindet fich
ein längeres philojophiiches, betitelt „Nömifche Oftern“, in
weldem mein Vater die ihn damals bewegenden Gedanken über
Religion und Kultur ausipricht. In den Iyrifchen Gedic)ten wird
Halten wie eine Braut gefeiert und angefungen.
Man reifte damals im Wagen, in ungezwungener Weife
fich Ruhepaufen gönnend; Trieft, Venedig, Genua, Nom, Neapel
wurden befucht. Dann ging es über Miarfeille, Pau und die Pyrenäen
nad) Paris, wo mein Yater mit verihiedenen Xertretern der
Miffenichaft in Verbindung trat und zum Mitglied des „Institut
Historique“ ernannt wurde, dem er feine Schrift „Ueber finnische
> Zu der „Et. Bıbg. Acad. Big.“
192 6. 3. v. Schulg-Bertram.
Vipthologie und Pocfie“, betitelt: „Im poesie des Finnois“
eingefandt hatte. In demielben Jahre (1842) reichte mein Vater
der „Soeiete Anatomique“ feine Abhandlung über Racen-
verjhiedenheit ein: „Recherches sur des differences anato-
miques chez plusieurs peuples.-
In einem Brief an jeine Mutter berichtet mein Qater von
dem großen Eifenbahnunglüd bei Dieudon auf der Linie Paris:
vend feines Aufenthaltes in Paris jtattfand
und dem er durch eine eigene Fügung entging. Cr war nad)
Verjaille gefahren und wollte mit dem Abendzuge nad) Paris
zurüd. Auf dem Wege zu Station begegnete ihm ein altes
Weib — eine Zigemmerin. Mein Vater fonnte der Verjuhung
nicht widerjtehen, fie nad) den Gebräucen, dem Aberglauben, den
Zauberformeln ihres Volkes auszuforihen und lieh fid in ein
Gejpräd) mit ihr ein. Die Abfahrt des verhängnifvollen Zuges
wurde verfäumt und mein Vater mußte die Linie auf dev andern
Seite der Seine zur Nücfahrt benupen.
Ueber Nouen, die Nordiee, Skagen, Kopenhagen, Vornholm,
Dagö wird die Nücreife in’s Vaterland endlich gemadt und zu
Ende des Jahres 1842 tritt er in den GStaatsdienft unter Vaer
und Pirogoff.
Von 1842-1848 Konfervator bei der Kaijerlichen Afademie
der Wiffenfchaften in St. Petersburg; von 1845 Profeftor
des Anatomifchen Injtituts bei der neubegründeten Staiferlich-Mebico:
Shirugiichen Afadentie; 1854 gleichzeitig zum Oxdinater am 2:ten
Land-Militair-Holpital ernannt und nebenbei jeit 1843 alo Arzt
bei der Viineralwafferanftalt in Petersburg, im Sommer beichäftigt,
fand mein Vater dennod) Zeit zu fchriftftellerifcher IThätigfeit. Yon
den, in diefem Zeitraum veröffentlichten Werfen, nenne id) folgende:
Mejlungen an zwanzig verfhiedenen Nacen.
(dm Bulletin der Akademie.) Weber den Bau der nor=
malen Menihenichäderl nebiteiner Nadjlefe unbejchriebener
Punkte des Schädelreliefs — (mit 10 auf Stein gravirten Tafeln).
St. Petbrg.-Leipzig Brofpaus. 1 64€. Gratulations-
jebrift zur 50-jährigen Jubelfeier der Univerfität Dorpat. Pyxo-
voxerno u» Ipenaposaniw. (Nufl. Handbud) für anatomifches
Präpariren.) Anweifungzum furgemäßen Gebraud
6.3. v. Schulg-Bertram. 193
der Mineralmwaifer, nebft mehreren auf die Minerals
wajferanftalt in St. Petbrg. bezüglichen Anzeigen und Abhandlungen.
St. Petersburg. 1 este im Nuffifchen: Hacranenie 171
iorpe@senim step Valneologiide
Sfizzen am Ditjeeitrande 1848. Die Natur:
toriherverfammlung in Thüringen. (Inland 1853.)
Neber<hmwediihe B Pebg. (Akad.
Ztichrft.) Auf fitteräriichem Gebiete war bereits die Auf
mertjamfeit anf die dichteriiche Begabung meines Vaters gelenkt
worden durd) eine Neihe von Eleineren Grzählungen — darunter
der bereits erwähnte Strabismus, die Novelette der
Wolfsritter (Akad. Ztg. 1850) und namentlich durch feine
„Elsleriana“ betitelten Briefe (1848-50) die in der Ct.
Petbrg. tg. erichienen und fehr anfpraden.
Im Jahre 1819 erichten die erite Reihe dev Baltiiden
Sfizzen, denen bald eine zweite Neihe folgte, unter dem
Schriftitellernamen: Dr. Bertram, den mein Later in der
Folge beibehielt. Diein Vater hatte fih lange nicht entichliehen
tönnen, diefe Sfizjen zu veröffentlichen; er that es auf dringendes
Zureden eines Freundes und ber Erfolg übertraf feine Erwartungen.
Sie wurden im verschiedenen Ausgaben im In und Nuslande
veröffentlicht und erlebten mehrere Auflagen*).
In der Vorrede zu einer der fpätern Ausgaben der alt.
Sfiggen, fagt mein Vater „Unbefannte hätten ihm öfters die Ver:
fierung gegeben, daf fie in den Balt. tigen genau wieder:
gefunden, was fie jelbft erlebt oder felbit beobachtet.” — Dieies
erfreute ihm jehr als ein Beweis, dai feine Schilderungen Iebeno-
wahr und allgemeine Siltigfeit hätten. — In der That ift in den
Valt. Sfizen das Leben in Livland „vor 50 Jahren“ in einer
Neihe von Bildern nad) der Natur feitgehalten und alle vor:
*) Dr. Windelmann in der BibL. Yivonia Hiftorica führt
nde Ausgaben an: Waltiice Stiszen. Schul 6. 2. > pfeud. Bertram,
Petbrg. 51; 2) Ermann Archiv XI. Heft 3. Berlin IN52;
3) Juland 1852 (vollitändig); 4 I. Wändchen: 50 Jahre zurüd. Torpat 1.
. Pebrg. 1853,.8% Zweite Heihe 1) Jnland 18: Dorpat u.
Petbg. 1835, Yaltifche Stisgen. Berlin 1 hen N,
Erftes Yändchen, Dorpat 1873. 9%,
19 ©. 3. v. Schulg- Bertram.
fommenden Typen nad) dem Leben gezeichnet, — in einigen
Figuren, wie derjenigen des Studenten Blau, mehrere Perz
fönlichfeiten in eine verihmofzen.
In den näcjitfolgenden Jahren erichienen die an anderer
bereits angeführten größeren und fleineren Aufläge über
he und finniiche Wolfopoefie, Sagen und Märden, aus
welchen die erjte größere bilinguale (deutiche-ehitniidhe) Dichtung,
die Epos: Jdylle Womba Wido*), jowie die Sammlung finnifher
Xolfsmärhen md Sprichwörter, betitelt „Ienfeits der
Scheeren“ hevorzuheben wäre.
Die schwierige Aufgabe, Gribojädoff's Meifterwert, die
unfterbliche dramatische ‚Vope orn yaax*") in's Deutihe
metrifch zu übertragen, beichäftigte meinen Vater mehrere Jahre
hindurch. Auch machte er felbjt einige dramatiche Verfuche (u. a.
die drei Halsbänder. Yeipzig 1853).
Ging Eleine Novelle: „Die Nire von Bargula”
ein Traum — und — Sommermärden, eridien 1845 in ber
St. Petbrg. Ztg. und zeigte eine phantajtiich melandoliiche Pociie.
€ erichienen ferner die Elegie auf den Tod des Katfer’s Nicolaus 1.
und die Schlaht von Sinope (a. d. Nufliihen 1855). In diefer
Zeit entftanden aud mehrere Kinderichriften: die „Martba
Marzibill“, das „Zaubertäftden", „Manfekap”,
bie er in Friedenthal für jeine eigenen Kinder geichricben.
Bereits im Jahre 1845 hatte fich mein Vater verheirathet
mit Fräulein Theodora von Unger. Nirgends fühlte er fich
wohler, als im eigenen Haufe, an der Seite jeiner mit hohen
Geiftes: und Herzensgaben ausgeitatteten jungen und fcönen
Frau, einer der beiten Schülerinnen Henjelts, inmitten feiner fünf
Ninder, deren Aufblühen amd Entwidelung zu beobachten ihm,
dem Ninderfreunde, die größte Freude bereitete. In feinem Haufe
verfehrten auch gern Nüntler und Gelehrte. Yor Allen war cs
der geniale Pianiit und Komponift Adolf Henfelt, der als lang:
*) Zuerit ericienen in der „Balt. Monatsichrift”
Seh. Schriften. Dorpat, Gläfers Verlag.
“) Verftand fhafft x
Werfen nach dem Huffifcien des Gribojüt
Yaipyig 185
fihe ud Jlmatar.
I“ hauipiel in 4 Aften und im
netrijch übertragen von Dr. Yertram.
6.2. v. Schulg-VBertram. 195
jähriger Freund des Haufes, diefem die mufifaliiche Weihe gab
Reiner verjtand cs beiler als mein Vater mit dem veisbaren
Sünftler umzugehen und diefer verihmähte es nicht, dem Nathe
meines Vaters and in mufifaliihen Dingen Gehör zu icenfen,
ihm feine Werke vor dem Erjcheinen mitzutheilen. Gerne erholte
er fi) abends bei einer MWhiftpartdie und der Zigarre, an den
launigen Einfällen meines Vaters von dem Aerger, den ihm
tagsüber feine unzähligen Schüler bereitet, wogegen er wieder
meinen Vater durch jein Töftliches Rlavierfpiel erquicte und zu
neuen dichteriüchen Thaten begeijterte.
Von einigen gemeinfamen Erlebniffen auf einer Ronzertreiie
Henfelt's in den baltischen Provinzen, habe ich bei Gelegenheit
des 50. Jahrestages des fetten Konzertes Henfelt'’s in Dorpat
an diefer Stelle berichtet *).
Neben Henjelt jei no des jchon erwähnten talentvollen
Karl Vollweiler gedacht, der von den Iyrifcen Gedichten
meines Vaters gegen dreiiig in Mufit gefegt hat, namentlic)
Lieder aus der Bräutigamszeit und aus der Zeit der jungen Ehe;
jo auch ein veisendes Miegenlied „Komme Sandmann leife“, dem
eriten Ninde gewidmet. „Wenn ein Gedicht mufifaliidh gut it,
fo muß gleih beim erjten Yejen die darin enthaltene Dielodie
dem Wufifer vor der Seele jtehen,“ lautete ein Ausjpruc)
diejes Künjtlers.
Auch die in Petersburg Fonzertivenden Künftler aus dem
Auslande waren gern gefehene Gäjte des Daufes, jo der Sänger
Vario, Nara Schumann mit ihrem Gatten u. A. -- In ipäteren
Jahren der Wiener Pianift Jofef Derffel, Komponijt der melo:
difchen Steirifchen Yändler und „Valses brillantes“; NAlerander
Dreyichod, der brillante Virtuos und Meifter des Oftavenipielo,
einer der füchtigjien Profefioren am Petersburger Nonjervatorium;
Anton Nubinftein, der titanifde Mlavierheros und veridhiedene
andere Künjtler und Nünftlerinnen.
Die bildenden Nünfte waren u. A. durd) den genialen, leider
fo jung verftorbenen ruifiicen Maler N. Ulianoff vertreten, dem
> Baltiiche Monatsfcrift 1891. Eine Komerttouenie in den bahifchen
Provinzen v. Veriramin.
196 6.3. v. Schulg-Bertram.
die „Martha Marzibill* ihre veizenden Ylhrjtrationen verdanft.
Au) lieferte er eine Reihe von Jluftrationen zu der geplanten
Pradtausgabe der „Peterslieder” (Manufftipt) meines Yaters
und mufterhafte Feberzeichnungen zum „Womba Wido”, die leider
verloren gegangen find. ch nenne noch den holländijchen Maler
Remy van Haancn, deifen Caurfortes jo gerühmt werden und
den originellen Ardjiteften A. Pe Bold, Profeor der Akademie,
der mit feinen Verfuchen den national-ruffiich-byzantiichen Yauftyl
wieder aufleben zu lajien, feiner Zeit vorausgeeilt war und ebenjo
brusque wie genial feiner Begeifterung und Ueberzeugung für
diefe Nenaiffance Ausdrud gab.
Aus der (elehrtemwelt wären zu nennen: Pirogoff, die
Leibärzte Sr. Diajejtät des Kaifers Dr. v. Karel, Dr. Chermüller,
Dr. v. Hirich, der Akademiker Wiedemann, die Bijhöfe Ullmann,
5. Walter, der Generalfuperintendent Richter und einer jpäteren
Periode vorgreifend, die rujliihen Schriftjteller und Poeten:
Tutiheif, Apollon Maikfow Polonsky, Fürit
Wiafemstyufm.
Ih schliehe hier die Lifte, da bei den mannichfachen Be-
siehungen meines Vaters zu den verichiedeniten Areifen, eine Auf:
zählung aller Perfonen von Bebentung, mit denen er in mehr
oder weniger nähere Berührung fam, den Nahmen einer Skige
überfghreiten würde.
Nach den Worten eines ehr guten Yausfreundes, beitand
der Zauber im Umgange mit meinem Pater, in dem Interefie,
mweld)es er an Andern und an den Veichäftigungen Anderer nahm.
Er Hatte die Eigenichaft eines guten Gaujeurs, —- diejenigen, die
mit ihm Iprachen, ihr „Weiteo“ reden zu machen und Jeder meinte
dann von fi: „wie unterhaltend bin ic) geweien“.
Daher erklärt fi auc die Anziehungskraft, die mein Yater
bejonders auf junge Leute ausübte. Wie viele junge Talente
wurden von ihm entdedt, auf die richtige Lebenobahn gewieien
und erhielten din) feine Vemühungen die nöthigen Mittel fh
für diefelbe vorzubereiten. (Schluß folgt.)
0
Aunibrieie
VI.
Der Naturalismus in der Kunjt, in der Dichtkunft To gut
wie in der plajtiihen, wird bald jhon ganz abgewirthihaftet
haben. Zeit etwa einem halben Jahrzehnt tritt das auf jeder
grohen Ausftellung immer mehr und mehr zu Tage. Aber wenn
ich fage „abgewirthfchaftet”, jo foll in diefem Worte nicht das
Mifachtende zum Ausdrud fommen, das meitens jeinen Neben
finn bildet. Ich meine nur, daf er zurüczutreten beginnt, nachdem
er eine große Miffton erfüllt hat. Die Miffion nämlid), dem
Auge die Welt des Natürlichen zuüczuerobern, das Neid der
Kumft von der Kuliffe, der Phrafe, der Pole, der ganzen geipreizten,
durd) und durd) unwahren Theatralif zu jäubern. Er hat das
gründficd) beforgt, fo gründlich, dah er auch gleid die blühende
Phantafie und innige Empfindung verjagte und an ihre Stelle das
protofollarifche Dokument jete. Das Alltagsleben nad feiner
ausfchliehlid materiellen Seite Hin wurde zum herrihenden Motiv;
das Alltagsleben und die Alltagsmenfchen zunächit aus den Nreifen
der armen Leute, der „Erniedrigten und Vedrüdten“, jpäter aber
in allen Scjihten der modernen Menfchen überhaupt.
Doc) dann ward man allmählich der trorfenen Materie, des
nüchternen Protokolls überbrüffig, md nicht bloß in Bezug auf
198 Runjtbriefe.
Armeleutmalerei und Hinterhauspoefie. Man jehnte fi heraus
aus dem Bannfreife des rein Stofflichen, des Vanalen, des All-
täglichen, man wollte ein Gegengewicht haben gegen Materialismus
und jchroffe Tendenz und man wandte fi, dabei aber der neu
erworbenen Ausdrudsmittel nicht vergejiend, Dingen und Jdeen
zu, die zu Beginn unfereo Jahrhunderts und während feiner eriten
fte als „romantisch“ bezeichnet wınden, die man heute jymbo:
rich, moftiich, neuidealiftiich u. j. mw. nennt. Denn im Grunde
genommen it's beide Dial daijelbe der gleiche Nultus des
Gefühls, der Empfindung, der Phantajie.
Es würde mid) Heute zu weit führen, bei dieler neueften
Nchtung in der Kunft unferer Tage, die aber Übrigens auch jdon
bald ihren Höhepunkt hinter fid) haben dürfte, eingehender zu ver:
weilen. Dah fie eine berechtigte aus dem Zeitgeift und den Zeit:
verhältnifien herausgeborene Neaktion bedeutet, das nachzumeiien
hatte ich Gelegenheit im vorigen Herbit, wo id) die Fürchliche
und refigiöfe Minferei auf der fepten großen Verfiner Ausjtellung
von internationalem Charakter beiprad).
Hier nur jo viel, daß die Eriheinung nicht bloi; berechtigt,
fondern auch erfreulich ft, dah fie aber gleichzeitig verhängnißvolle
Auswüchie und verderblihe Wucherungen zeigt, die gegenüber dem
Viaterialionus rrengiter Obfervanz ein anderes Ertrem darftellen
das einer ganz umd gar unfünjtteriichen Jdeen- und Gedanfen-
malerei oder jormlojen Stimmungsmalerei. Zumal, wenn es fidh
um Dialerei im engeren Sinne des Worts handelt, denn dah in
der Nadirung, in der Lithographie, in der Kartonzeihmung tief
finniger Jdeenausdrud mehr am Mage ift, das beweilt u. A. der
Nudm eines Dar Klinger md in jüngfter Zeit das große Auf
jehen der Zeichnungen Salcha Schneiders. Das Gefünjtelte und
Sefuchte, das Gejpreizte und Gozierte, ein Nofettiren mit angeb
licyemm Tieffinn nnd geheuchelter Geniafität begannen um fü
greifen als ein willfommener Dechmantel für die Fünftle
Impotenz und techniiche Unvollfommenheit... Publifum jteht
davor und weil; nicht, as es dazu jagen foll. Dit 0 unbefangen
genug, To wendet cs fih wohl adhielzudend oder gar lachend ab;
ichwört es aber auf gen , dinft eo fi
geicbeuter, als die Maffe, dann verftummt es in jcheinbar ehrfurdits
Kunjtbriefe. 199
vollem Staunen oder aber ruft laut fein „Dofiannah!” gerade,
weil eo nichte verjtanden hat von all’ dem „Tieflinn“ und all
der „Genialität“. Webrigens it diefer zweite Fall noch immer
weitaus der jeltenere. N das Nivea des allgemeinen Nunjt-
verjtändniifeo leider ziemlich niedrig —- im Ganzen fühlt die
Maife doc) bald heraus, wo etwas nicht richtig Üt...-
* *
Nicht meine id) hier Nunftleiftungen, wie die eines Yudwig
v. Hofmann, des Tichtermalers, und Walter Leiitifow'o*),
des Träumers in Farben, zweier der Hauptführer des Berliner
Scceffioniften-Vereins der „NI.*, zu dem auc) Alinger, Liebermann,
Starbina gehören; und aud) folde nicht, wie die der meilten 9
glieder der Eleinen internationalen „Yereinigung freie Nunft”, zu
der aber freilih au der ertravagante Holländer M. Melchers
aehört, der das Stedenpferd naivften Primitivismus reitet —
denn das find immerhin dad Nunftleiftungen, wenngleich
Mandjen befremdliche. Aber 65 giebt unter den Jüngiten heute
einige gar fonderbare Näuze, die jene Betrachtungen dirchane
nahe legen.
Das find die Leute, die in ihrer techniichen Unfertigfeit auf
den befannten Parifer Symboliften Fer, den Sar Peladan, den
famojen „Sroßmeifter der Nofenkreuzer” jchwören md auf fein
hilfobereites Ariom: „Nichts üt die Technik; Alles it der Gehalt,
der Gedanke, der Stil.”
Unter jolchen Umftänden fommt Einem leicht das Srufeln
an, hört man von einem neuen „deen-” oder „Stimmungs
maler.” Jung ift er natürlich fait immer, biutjung, und im
Vebrigen der mephiftoliiche Ausipruc
„Denn eben wo Begriffe fehlen,
Ta ftellt ein Wort zur vechten Zeit Fich ein.
Dit Worten Läht fich treflich ftreiten,
Dit Worten ein Spitem bereiten“
“Richt „Lentitau“, wie der Name im Januar-Vricf verftünmelt wurde
von Trudfchlertenfel, der auch auch ans den befannten Pariter Impreifioniften
Besnard einen Bernard machte,
Di
200 Runfibriefe.
mit einer (eichten Veränderung Lüht er ih ja ud, duraus
auf die Malerei anwenden, wie aud) die anderen Lerje:
PR „ein Kerl, der ipefulirt,
it wie ein Thier auf dürrer Haide,
Yon einem böjen Geift im Kreis herumgeführt,
Und rings umber fiegt fhöne grüne Weide.”
Aber freilich man muß jie malen Fönnen, „Die Icöne
grüne Weide“, fann man das nicht, dann begnügt man fi mit
dem Spefuliren auf dürrer Paide md glaubt gar no Wunder
was geleiftet zu haben. Doch nicht Alle teilen diefen Glauben
und mancher geht ernftlic) böfe von dannen: er nimmt an, der
Nünftler habe ihn regelrecht dupiren wollen. Melchers mit
jeinen primitiven Vildern von der Injel Walchefen im Stile und
der Manier eines Tertianers, der unbeholfene Zeichnungen in
finder Manier kolorirt, hat 5. 3. diefe Erfahrung gemadt,
obgleich Maeterlinf, der beigiihe Inmboliftische Dichter, ihn mit
einem poetifchen Vorwort bei ums einführte und obgleid) unter
feinen 25 Bildern einige fih befanden, die jener Tertianer nicht
hätte malen können. Eben dadurd machte das Lcbrige den Ein-
drud ganz bewuhter Rofetterie ....
Iedod) Melhers — co läht Fich über ihn immerhin nod)
eine Diofuifion aufnehmen.
* *
Dagegen giebt’s auf dem Berliner Runjimarkt auf diefem
Gebiete and Anderes zu jehen, als diefe Melchers’ichen Bilder,
die, wie geiagt, einen Theil der Austellung der „Wereinigung
freie Nunft” ausmachten und jomit wenigtens nicht prätentiös
auftraten.
Jingit ging zünftigen Kritifern und unzünftigen Kunftfreunden
die Einladung zu einer Sonderausftellung im eriten Stod eines
Haufes unter den Linden zu. Worforglicherweie war der Karte
ein Natalog mitgegeben worden. Cr war jehr intereijant, vielleicht
das Interefianteite an der ganzen Ausjtellung. Faft jedes in ihm
aufgeführte Bild war mit einem erläuternden Tert verfchen; es
ab Gedichte in ihm, die den Maler zu feiner Arbeit begeiftert
hatten u. fm. Das war Alles jehr bezeichnend. Alfo glaubte
Kunftbriefe. 201
er von vornherein, dab man ihn nicht verjtehen würde, aljo meinte
er den Eindrud eines fhanderhaften Bildes abjhwäcen zu können,
wenn er Elangvolfe Verje eines Iymboliftiihen Dichters daneben
fegte. Aber das Alles war ihm nicht genug. Er zog gar mit
unter die Dekoration des Ausftellungsraumes in den „Kommentar“
hinein. Da üt 5. B. ein bejonderes Kabinet, deijen Thür heraus:
gehoben it. Ein roter Stoffitreifen mit allerlei fabbaliftiichen
Schriftzeichen umgiebt den Thürrahmen, darüber prangt ein riefen
großes Auge „als Spiegel der menfhlihen Seele.” Im Nabinet
it der Thür gegenüber eine „Verfuhung“ aufgeftelft, ein roth-
haariges Aft:Modell in Lebensgröße, das der Nahmen unterhalb
Hüften abfehneibet, naturafijtiich behandelt und mit einem
Apfel in der Hand, fo wenig verführerifc, daß man nicht begreift,
worum die Thür durd) eine bunte Schnur abgefperrt ift. Daneben
ein anderes Bild: „Femina.“ Cine unendliche, blaufchillernde
Schlange windet fi unter blutrothem Himmel über einen gras:
grünen Plan; im weit aufgeriifenen Maul des Ungeheuers, das
zwei gewaltige Frauenbrüfte hat, zappelt ein nadtes Dännlein.
Und diefe Symbolik ift num aud auf die Dekoration des Zimmers
ausgedehnt worden: Vor dem Bilde „Femina“ ijt nämlich, eine
Gouchette aufgeftellt, auf der ein Paar weile Handichuhe, ein
zerfnüllter Napphut und eine Laute liegen! Vermuthlid eine
Andeutung, daß der einjt glülihe Veliger diefer Dinge aud) von
ber unheimlichen Schlange aufgefreifen worden. Das „ewig
Weibliche” ipielt auf diefer Ausftellung überhaupt eine große
Rolle, in Bildern und Entwürfen, in Stizjen und Studien; das
Weib mit feiner verhängnifvollen Dadht, das Weib mit feinem
tragischen Geidhid; bald als Verführerin, bald als Verführte.
Das Allermeijte unfertig, roh, abjtohend häßlih in Farbe und
Zeichnung. Auch religiöfe Motive find vielfad) vorhanden. Grofie,
gewaltige Probleme behandeln fie mitunter. So 5. Bd. „Finis
mundi“, wo in wilder alpiner Landichaft, zwiiden fi öffnenden
Gräbern und Schaaren von Auferitandenen, Vertreter aller
Glaubensehren, geführt von fingenden Engeln in langem Zuge
auf uns zu pilgern. Sie meinen — die Jdee jei gar nicht übel?
Gewih nit, nur die Malerei it's leider auch in diefem Fall.
Oder eine Leinwand ift vom erjten Plan bis tief in den Hinter:
202 KRunftbriefe.
grund von einem dichtgebrängten vielhundertföpfigen Nnaul ichlecht
gezeichneter nackter Menfchen, im Vordergrund bier und da in
Yeter- oder Verzücungsftellung, gefüllt. Ueber diefem Yeibermeer
taucht eine riefengrofe blutrothe Sonne auf. Bezeichnung: „Ein
Gebet”; Kommentarbemerfung: „Die erjte veligiöje Empfindung.“
Haben ie jest verftanden?.... Wollen Sie nod ein Bild? Es
it eine Elle hod. Quer laufen Streifen der Negenbogenfarben,
nad unten zu breiter werdend, am breiteften das Tunfelblan und
Violett. Auf diefem tiefdunflen Vordergrund, der die Hälfte des
Vildes einnimmt, erhebt fih ein Icmwarzgrauces Poftament und
auf diefem fteht, dem VBeichaner den Rüden zufehrend, ein itilifirter
tief dumfefrott; gekleideter Engel, deiien braunichvarze Flügel weit
bineinragen in die lichten gelben und lila Streifen... Bes
zeichnung: „Siehe eo will Abend werden!” Nommentarbemerkung:
„Eine mufifaliihe Enpfindung . . .*
Dod) genug. Sie find natürlich neugierig, wer der Maler
it? Richtig -— auf der erten Seite des Katalogs befindet id,
ein Porträt. Ein junger brünetter Mann im rad, mit modijc
kurzem Haar und Spigbart. Erwas MWeltmüdes liegt in den
Zügen des jchmalen GHefidts und etwas nad Innengefchrtes in
den dunklen Yugen, die aljo des Pincenez's, das die Nafe trägt,
eigentlich gar nicht bedürfen. Darunter fteht zu leien: „Adolf
ommerfeld, geboren am 17. Juli ISTO zu Schroda,
befuchte von feinem 17. bis 19. Jahre die Nımjtafademie zit
Berlin. Cine zweijährige Studienreiie nach Italien war für feine
malerifche Ausbildung, beionders für feinen inneren Beruf als
Stimmungsmaler, von Wictigfeit. Nach feiner Nückler etliche
Zeit Atelierihiler, begann er im Ofober 1893 feine felbftändige
Toätigfeit.”
Leider! Schule hätte dem übrigens unlengbaren Talent,
das Herr Sommerfeld befibt, ficher noch genügt. Daher im
Zuge war, was zu lernen, beweilen einige Aftzeichnungen aus
der afademijchen Zeit, einige landicaftliche Studien aus Jtalien.
Auch ein paar ganz gute Porträts find auf der über Hundert
Nummern bietenden Ausftellung zu fehen. Dann aber erfannte
er „feinen inneren Beruf als Stimmungsmaler“ und beichloh
offenbar, mit Edvard Mund und Heinrid Puder zuiammen cin
Ktunftbriefe. 203
Necblatt unverjtandener und unverjtändlicher iymboliftiichmpitiicher
Sudelmalerei zu bilden. Hoffentlich) nicht auf zu lange Zeit
damit man ihm diefe prätentiöfe Eonderausjtellung nod) vergeben
fann und er nicht fang und Flanglos verf—iwindet, wie jene Beiden.
Da man Symboliit jein fann und dabei dad) immerhin
Annehmbares fcaffen darf, das beweilt der junge Berliner
Martin Brandenburg. Wenn ber ji verlieren jollte,
io thäte es Einem herzlid) leid. Cs jtedt ein wahrer Künjtler
in ihm. Nur muß er, der jeiner Anlage nad) durdaus Lyriter
öft, nicht allzujcehr dem Gedanken Raum geben, denn der würde
feine Kunft tödten. Technic fertig ift auch er nicht, aber das
wäre das Geringite. Vebentlicher hen ijt feine oft unichöne
Farbengebung.
Er jtellte mit einigen anderen der Jüngften, wie Edmund
Edel und Hans Balnfdet im Februar bei Gurlitt eine Meihe
großer Paftellgemälde aus, die viel von fid) reden machten, mehr
wohl, als dem jungen Künftler gut fein mag. Was für Stoffe
er wählt? Cie find ganz und gar romantijh im alten Sinn,
nur mitunter noc) viel phantaftiicher. Aber die Ausdrudsmittel,
die find neu, find modern und Fennen feine Tradition. „Der
Frühling und der Neif”: vedhts unter Earblauem Himmel, auf
blumiger Aue, von Amoretten umgaufelt, ein blondes Mädchen,
jo ein rechtes Märchenfind, mit Blumen jpielend; und Links: eine
rothhaarige alte Here, aus Waldesdunfel hervortretend, Herbit
blätter von den Bäumen jcüttend und die Blumen hohnladend
zertretend. „Der Nitter mit den Nojen“:; in den Dünen am
braufenden dunklen Meer, deifen Brandung had oben das Bild
abjchlieit, ein junger fterbender Nitter in grüngofdener Niftung,
fteif dahingejtredt im Grafe umd zu ihm fich niederbeugend,
ängjtlich wichernd fein Ihwarzer Gaul, und Roh umd Neiter
Beide von roten Rofen umrankt.... Brandenburg’s Phantajtif
verlockt ihn jogar dazu, die Mufif maleriid zu behandeln. Das
heifjt natürlich nicht im ornamentalen und allegorifirenden Stil,
fondern die Mlänge wandeln fich ihm zu Farben. Neu it's ja in
der Theorie nicht. Warum follten wir uns jenes Lied und diefen
Walzer nicht farbig vorstellen fönnen auf dem Wege der Stimmungs-
aifozintion? Aber Brandenburg überiegt das ins Kraftiiche. Cr
2
204 KRumftbriefe.
malt uns 5. B. eine Sonate: unten am ande des Bildes drei
Herren, die im modiihen Anzuge ein Trio fpielen und über ihnen
ein geifterhaft Verworrenes von Farben und Formen, Landfhaft
halb und halb Phantafiegebilde, die einzelnen Farbenklänge oder
Rlangfarben bald fi) weit ausbreitend, bald im Knäul zufammen-
gedrängt, dann wieder Ichlangengleich fich Hinrollend oder jäh auf:
ichiehend wie ein Waiferitrapl. U. |. w. Davon lieft fi fo
ichwarz auf weil recht gut und cs nimmt fich vielleicht fehr inter-
effant aus. Aber jteht man vor dem Bilde, jo fieht’s fich anders
an. Das ijt bei jo vielen Symboliften der Fall, aud) bei joldhen,
die. befier zeichnen, die mehr Perfpeftive fennen, richtiger modelliren
und feinfühliger die Farbentöne wählen und abjtimmen, als 3. B.
Martin Brandenburg.
Das iit das Sefährliche bei diefer gedanten- und empfindungs-
vollen, Gebanfen und Empfindungen anregenden Walerei, die für
fi dabei das Prädikat der „Stimmungsmalerei” in Anfprud)
nimmt, als ob es außerhalb ihrer feine folde gäbe...
Berlin, im März 1896.
3 Norden.
_.
Kitteräriihe Umjhan.
Setbfibiographien haben den großen Vorzug, da fie den
Lebensgang ihrer Lerfaifer, wenn fie mit Aufrichtigfeit und
Wahrheitsliche geichrieben find, lebendiger und anfchaulicher vor
Yugen jtellen, als jeder Bericht eines Andern es vermag. Die
‚jäden der Entwidelung, der innere Zufammenhang zwifchen den
verichiedenen Kebensftufen, die fördernden und hemmenden Momente
des Dafeins find jedem Menden, der mit Bewuftjein durd)
die Welt gegangen ijt und mit ernftem Nachdenken auf fein
Leben zurüdblidt, naturgemäß jelbjt am beiten befannt und er
vermag am leichtejten jelbit Aufklärung zu geben über das
und Warum feines Werdens. Andererjeits hafteı
Selbjtbiographie Mängel an, die aud) dem zuverl
wahrjten Dtenfchen zu vermeiden fait unmöglid) Wer am
Ende feines Lebens oder in vorgerüdtem Alter auf jeine ver:
gangenen Jahre zurückblidt, dem wird nicht num aud) beim treuejten
Gedäcdhtnih fi im Einzelnen vieles verfchieben, fondern, was mehr
bedeutet, die Auffajjung und Beleuchtung früherer Lebensabjchnitte
wird ummillfürlich eine ganz andere werden, als fie einjt war, da
man die Dinge erlebte; YLeidenfchaften und Empfindungen erideinen
in der jpätern Betrachtung gedämpfter und abgeblahter, man fieht
vieles in einem Zufammenhange, der in Wirklichfeit gar nicht
wriftiet hat. Velonders die Sugendzeit gewinnt in der fpätern
Beleuchtung fait immer eine von der Mirflichfeit abweichende
Geftalt. Nie fie glüdlich gewejen, jo erideint fie dem durch
206 Yitteräriiche Umfchan.
ichmerzliche Lebenserfahrung gereiften Sinne wie ein verlorenes
Paradies von goldenem Glanz umflolen; it fie aber jhwer md
dunfel geweien, dann trägt der ältere Mann die Neflerion feiner
fnäteren Jahre in die Seele des Nnaben und Jünglings hinein
und cs ericheint ihm alles noc) viel trüber umd idhwerer als es
in Wirflihfeit gewefen. Nur felten und ausnahmsweile gelingt
5 einem Darjteller der eigenen Jugend die wirklichen Züge des
Erfebten in voller Wahrheit feitzuhalten. Das it, wie es uns
icheinen will, bei den in deuticher Ueberfegung von N. Türjtig
uns vorliegenden Jugenderinnerungen des Rrofellors
Alerander Jmanowitich Nikitenko*) der Jall. Nititento,
ein Mleinruffe, war 1802 in einem Dorfe des Gouvernements
Woroncih geboren und jtarb 1877 als Profeifor in Petersburg.
Er jchildert im diefem Buche feine Kindheit und jeine Jünglings-
jahre bis zum Oftober 1842, d. h. bis zu feiner lajinng aus
der Leibeigenichaft. Nititento'o Jugenderinnerungen find ein höchft
beachtenswerther Veitrag zur Nenntnif; der innern Verhältnijie
Auhlande unter Alerander 1. und fulturgefchichtlih von dem
ten Interejie. Der Gegenjas zwiihen Kleinruffen und Grob:
tuflen, das Yeben der Fleinrufiihen Banern, der Drud der Yeib
eigenichaft und der durd) fie verurfachten Zuftände, das Leben der
Hutsbefiger in der Provinz, die Mebermacht des VBeamtenthums,
die Schniucht nad) Freigeit und das Streben nad) Bildung bei
manden Yeibeigenen -- alles dies tritt uns im größter Ans
ichaulichfeit aus Nifitenfo's Darftellung entgegen. Und wie
anziehend it die Schilderung der Familie des Exzählers, die
ungebildete, aber fromme, geduldige, ftets arbeitiame liebevolle
Winter, der Fuge, ungewöhnlich gebildete freiheitliebende Later,
der überall nur die Geredtigfeit zur Geltung bringen will und
dadurcd) immerfort in Not) und Vedrängni geräth, dabei Telbit
von heftiger Leidenichaft fortgeriiien wird, endlid) der Erzähler
jelbjt, dejien Seele von Nindheit an von dem TDrange nad
Vildung erfüllt Üft, wie natwwahr, wie febendig find biefe
Gharaktere geichildert! Dies Bud) giebt einen Einblid in das
) Vibtiorgel Muffiicer Tenfwürdigleiten. Derausgegeben von Tixader
hiemann. VII. Band. Stuttgart, Verlag der \. ©, Cottaihen Buchhandlung.
Litterärndhe Umjchau. 207
Leben des Volkes im erjten Viertel diefes Jahrhunderts wie es
wenige Schriften thun. Der große Krieg von 1812 berührt nur
mit ganz leilen Schwingungen dieje entfernten Gegenden. Dejto
größer it die Einwirkung, welde die aus den Freiheitofrieg
zurüc£ehrenden Offiziere mit ihren in Deutjchland und Frankreich
gewonnenen wefteuropäiihen Anfichten felbft auf die Bewohner des
abgelegenen Otrogofht ausübten. Höchit anziehend find die Mit-
i Yifitenfo’8 über die regelmäßigen Zufammenfünfte
iere, ihre politiihen und litteräriichen Vejtrebungen, au
denen au) er, obgleih nur ein armer Gfementarlehrer, Theil
nehmen durfte: das gemeinfame Streben nad) Bildung lief jeden
gefellichaftlihen Unteridhied zurücktreten. Wichrere diefer auf:
ftrebenden Offiziere haben fpäter, in die Verfchwörung der Defabriften
verwidelt, ein trauriges Ende genommen, fo namentlich Nilejew,
den Nifitenfo gut gefannt hat. Mit Mitgefühl und Bewunderung
begleitet man den Verfafer auf feinem dornenvolle Wege zur
Freiheit. Unabläifig arbeitet er an feiner Ausbildung, nod) ein
Nnabe wird er jchon Lehrer und [ehrt und lernt zugleid, unver
drofjen, um jogleid nadı dem frühen Tode des Vaters die Mutter
und die Gejchwilter zu erhalten. Er hat dabei mit Schwierigfeiten
genug zu fämpfen, aber es gelingt ihm fie alle zu überwinden.
Durd) fein tebhates Intereffe für die damals in’s Leben gerufene
ruifiiche Vibelgefellijaft Ienfte er die Aufmerfiamfeit des Haupt:
förderers derjelben, des Fürjten N. A. Goligin, auf fih. Er
eilt auf deifen Auf nad) Petersburg, mm durd) ihn das Ziel feiner
Münfche und feines Etrebens zu erlangen: die Freiheit von der
Xeibeigenfchaft und darauf den Zutritt zum Gymnafinm, das den
Leibeigenen verichloffen war. Höchit anziehend ijt die Erzählung,
welche Schwierigfeiten und welche Yinderniffe trog der Fürjprade
der vornehmjten Perjonen fid Nifitenko’s Freilaifung entgenftellten,
bis endlicd) halb gezwungen fein Herr, der Graf Scheremetjew, ie
ihm ertheilte. Mande Schilderungen aus Nititenko's Kinderjahren
find in ihrer ichlichten Ginfachheit von einem Hauce wahrer
Roefie durchwet, fie erinnern bisweilen an die fötliche Erzählung
Ulrich) Vräters, des armen Mannes im Todenburg, von feinem
Fugendleben, wie verfdieden im Uebrigen die Menjcen, Zeiten
und Gegenden aud) find. Nifitento’s Mufzeihnungen gehören zu
208 Litterärifhe Unfchau.
dem Bejten, was die Bibliothek rufiiher Dentwürdigfeiten bisher
aebradht hat. Wir winnicen lebhaft, da auch von den Tage:
büchern Nifitenfo's über jein Ipäteres Leben, die ebenfalls in der
„Nufsfoja Starina“ veröffentlicht worden find, eine vollitändige
oder wenigitens eine alles Wejentliche wiedergebende Weberjegung
in einem der nächiten Wände der Vibliotdet ericheinen möge. Die
eberfegung ft gut, nur an wenigen Stellen jiöht man auf
Rufiismen.
In eine völlig andere Welt verjept uns die Schilderung der
Fugendzeit eines Vannes, deiien Name noch vor 30 Jahren jehr
befannt und viel genannt war, wir meinen das Buch: Philipp
Nathuiius Jugendjahre Nah Briefen und
Tagebüdern unter Mitwirfung von D. Martin
von Nathufius von Eleonore Fürfin Neuß’).
Das von Pı. Nathufius herausgegebene Volfsblatt für Stadt und
Yand war einft in Fonfervativen und drütlichen Streifen ein viel
gelefenes und verbreitetes Mlatt. Des Herausgebers ftreng firhliche,
mitunter fatholifierende Anfehanumgen, feine originelle Schreibweife,
jein überall hervortretender Hals gegen Nationalismus und Libern-
tismus, fein feiner Sinn für alles Poetiiche jo wie feine Neiaung
zum Volfstpümlicen, die namentlic in jeinen gern gelejenen litte
rürifchen Beiprechungen zum NAusdrud famen, verihafften dem
Hatte eine angefehene Stellung. Im Volksblatt erichienen zuerjt
die prächtigen Heinen Erzählungen von Marie Nathufius, der
Gattin Philipps, und eifrig wurden von Freund und Feind die
hichtlichen Monutsberichte gelefen, die der geniale Hiftorifer
einvich Yeo 10 Jahre lang, bis 1860, für das Blatt chrieb.
Es war ein echt voltsthümliches und zugleich alle wahrhaft Ge
bitdeten befriedigendes Organ, von deifen Bedeutung ebenio die
Anhänglichfeit und Verehrung der Freunde wie der Hafı und der
Widerwille der Feinde Zeugnif; gaben. An feine Stelle ift jpüter
die fonfervative Monatsichrift getreten, ohne doch je die Ver
breitung und die Wirkung des Lolfsblattes zu erreichen; es fehlt
ihr schon der einheitliche Charakter, den das Xolfsblatt unter
Nathufius Yeitung bejah. AS Ph. Nathufins 1872 ftarb, war
=) Berlin. Verlag von Wilhelm Her (Vejferihe Buchhandlung). 4 W.
Litterärifche Umidzau. 209
die Glanzzeit des Volfoblattes jhon vorüber. So raich verdrängt
in der Gegenwart eine Jichtung die andere, lölen jid) die geiftigen
Strömungen ab, dah nad einem Menfchenalter einjt vielgenannte
Namen verflungen und vergejjen find; jo ijt es aud) Ph. Nathufius
ergangen, beijen in dem großen Sammelverke der allgemeinen
deutichen Biographie nur beiläufig in dem feiner Gattin gewidmeten
Artifel Erwähnung geihieht, ohne daf; feiner bedeutenden jour:
naliftiichen Wirffamfeit auch nur gedacht wird. Und dad) hat es
ber vieljeitige, ven echter Vaterlandsliebe erfüllte, poetiid begabte
und von tiefer Schnjucht nach der Einheit der chriftlichen Kirche
erfüllte Mann verdient, dah feiner auch von der Nachwelt nicht
vergefien werde. Da it es denn jehr erfreulich, da in dem
vorher erwähnten Buche die erfien 25 Iahre von Ph. Natyufius
Leben eingehend geichildert werden, denen hoffentlich bald eine
Daritellung jeines ipätern Lebens folgen wird. Das Bud) beruht
weientlich auf Tagebuchaufzeihnungen und Briefen und hat
dadurch den Charakter völliger Zuverläjigfeit. Co ift ein höchit
anziehendes und Iehrreicheo Bild deuticher Geiftes: und Lebens:
entwidelung aus den 20er und 30er Jahren unjeres Jahr
hunderts, weiches uns hier geboten wird. Ju dem Haufe des
Vaters Gottlob Nathufius, eines reihen Jabritanten und Guto-
befigers in der Nähe von Magdeburg, berichte der nüchternjte
und Fühffte Nationalismus, alles ipesifiich Epriftliche, alles Poetiüche,
ja überhaupt alles, was an Phantafie erinnert, war daraus ver:
bannt. In diefer Amojphäre erwächlt der junge Philipp mit
einem inne, der von früh an auf alles Dichteriiche, Wınderbare,
Bhantaftiiche gerichtet if. Seir leicht empfängliches, jedem Ein:
drud offenftehendes Gemüth ergiebt fi bis zur völligen Zelbjt:
täufhung großen Dichtern und pocetiihen Nichtungen, jo nad)
einander Schiller, Homer, Goethe, den Nomantifern, der Volks:
poefie, ja fogar Vorne; er jchreibt und denft immer ganz
im Heft und Stil jeiner Vorbilder. Er jucht ftets nach dem
Ipealen und das Aeithetiiche icheint ihm weit über dem Moraliichen
zu ftehen; der Geift jener ganz in fitterärifchen und fünftleriichen
Intereffen aufgehenden Zeit fpiegelt fi auf's anichaulichite in des
Zünglings Tagebücern wieder. Dem Chriftenthum fteht er nad)
ganz fern, wenn er auch veligiöfe Stimmungen und Empfindungen
210 Eitterärifche Umfchau.
hat. So in den mannigfachiten geifligen Intereffen fd) bewegend,
von innerem Drange zu Dichteriichen Produktionen getrieben,
überallhin nad) ibenler Befriedigung des innern Sehnens tajtend,
von praftijher THätigfeit in Anfpruch genommen und bazwilden
teiumend und lebend liejt cv Goethes Briefwechiel mit einem
Rinde und wird von ber wunderbaren Welt, die fih ihm in
diefem Buche erichlieft, ganz hingeriffen und begeiftert. Er ichrieh
in feinem Entzüden an Bettina, co begann ein lebhafter Brief
wechjel und cs lieh ihm feine Nube, bis er die Herausgeberin und
Verfafferin des Buches in Berlin perjönlich fennen gelernt. Da
der Vater um diefe Zeit ftarb, begab fich Nathufins zu furzem
Studium nad Berlin, vor allem aber um dort fo oft als möglich)
mit Bettina zu verfehren. Die Mitteilungen über feinen Berliner
Aufenthalt find jehr intereifant, ebenfo die pwiichen ipm und Bettina
gewehielten Briefe. Diefe Hat ihre Norreipondenz mit Ph. Nathufins
fpäter, alo beide fid) längjt entfremdet hatten, unter dem Titel:
Nius Pamphilius und die Ambrofia heransgegeben. Man ver:
mifit (eider in dem vorliegenden Buche eine Erklärung darüber,
ob diefer Briefwechiel ganz authentiich ift oder ob Vettina in ihrer
Weije denfelben verändert und umgemodelt hat. Nathufius unter:
m dann eine große Neife nad) Jtalien, welche ihn bis nad
Zizilien und dann aud) noch weiter nad) Griehenland führte.
Gereift und innerlic beveichert Fehrte er zurüd, in vefigiöfer Ber
jiehung war er aber nod) immer jchwanfend und unficher, wenn
er fich auch allmählich immer mehr dem Evangelium zinvandte.
Da lernte er Marie Scheele aus Vlagdeburg fennen, damit trat
eine entjcheidende Wendung in feinem Leben ein. Beider Herzen
begegneten ih bald und trog vieler fd entgegenjtellender
Hemmnife und Schwierigfeiten fam es 1840 zur Verlobung.
Die Liebesgedichte und die dann zwijchen den Verlobten gemedhfelten
Briefe nehmen den zweiten gröfern Theil des VYuces ein. Die
Lerfajferin Hat ganz Net, wenn fie bemerkt, in diefen Briefen
trete dem Leler das Bild einer reinen wahrhaft idealen Liebe
entgegen, wie die gegenwärtige Zeit fie garnicht mehr fenne, und
darum wird man fie gewiß; gern lejen. Diefe Briefe bilden eine
Ergänzung zu dem von Philipp fpäter veröffentlichten Lebensbilde
von Marie Natyufins. Wir meinen übrigens doch, «s Hätten
Litterärifche Umichau. 211
ohne den Eindrud abzuichwächen mande Briefe fortgelafien und
andere gefürzt werden Fönnen; es it bei der Veröffentlihhnng
des Guten etwas zu viel gethan. Störend ift bei den Briefen wie
auch fonft bisweilen der Mangel an genauen Zeitangaben. Taran
erfennt man, daß eine Frau die Verfailerin diefes Yebensbildes
if. Nathufius Verlobung führte zum Bruche mit Yettina; die
darüber gewechielten Briefe find für die (eptere jehr darakterific).
Mit der Hochzeit von Philipp und Marie am 4. März 1811
fchließt das ehr leienswürdige, wohlgeichriebene Bud, Mir
jehen der Fortiegung des Yebensbildes, bei der hoffentlich der
Sohn des Verewigten oder jonjt eine jahfundige Berjönlichteit der
Vefajferin nicht nur vathend, jondern aud mitarbeitend zur Seite
ftehen wird, mit Verlangen entgegen; möge fie nicht allzulange
auf fi warten lajien.
6 ift für den Hitorifer wie für den Nenner menfchlicher
Dinge jehr lehrreid und anzichend zu beobachten, welchem Mechiel
ja oft völligen Umichwunge, die Wertbiägung und der Einfluh
berühmter Schriftiteller im Yaufe der Zeit unterliegt. Tages-
ftrönmngen und Tagesmeinungen, vorübergehende politische Ver:
hältniffe, eine im Augenblict herrichende geiftige Nichtung ver:
icjaffen oft einem Autor glänzenden Huhm bei den Zeitgenoifen,
während die Folgezeit denielben immer mehr erblaiien (äht, ja
nicht jelten mit Wergeffenheit bededt. Andere Geifter haben das
entgegengeiegte Schietial. Während ihres Lebens dringen fie nur
mühjam duch und werden faum oder nicht reht gewürdigt, erit
die Nadnvelt erfennt ihre ganze Bedeutung und zoflt ihnen die
verdiente volle Anerkennung. Diefe ipätere Ausgleihung it ein
Troft für alle von ihrer Zeit verfannten Geifter, fie betätigt
immer von Neuem die Wahrheit von Goethes Wort: „Das Echte
bleibt der Nachwelt unverloren.“ In gewifien Sinne, wenn aud)
nicht vollfommen, läht fid das Gelagte auf die beiden hervor:
tagendften Gejcichtsichreiber und Politifer Englands in unferem
Japrhundert anwenden, auf Macauılay und Gartyle. Vor 40 Jahren
war Macaulay's Gejchichte von England eines der gelefenften und
bewundertiten Bücher und auch feine Hleinern Eiiays und Aufläte
fanden den größten Beifall. Macaulay'o Geidichte war das
politiiche Evangelium der Liberalen, bejonders in Deutichland, die
212 Eitteräriiche Umschau.
von ihm aus der Gefchichte gezogenen Lehren follten buchjtäblich
verwirklicht werden, dev Parlamentarismus die idenle Negierungs:
form fein, aus Macanlan's Munde jhien die Geichichte felbit zu
ipreden und den Sieg des Liberalismus zu verfündigen. Nicht
wenig trug zu diefem auferordentlichen Erfolge, zu diejer allgemeinen
Venmmbderung der Zauber von Macaılay's Sprache, eine glänzende,
bewunderungswürbige Daritellnngsgabe bei, der aud) jept noch
fein Yejer fid entziehen Fann. Hente ift das Urtheil über Macaulan
als Hiftorifer und Politiker ein wejentlid anderes geworden. Man
hat erkannt, dai; feine Geichichte von jehr einfeitig wbigiftiichen
Ztandpunfte aus geichvieben üt, man vermißt an ihm Weite und
Tiefe der Auffaffung und beflagt feinen völligen Mangel ar
Veritändnih für alleo Nichtenglifce; feine Yeurtheilung der Dinge
vomreinen Nüglicteitsitandpunft, jeine freihändlerischen Anfchaunngen
feine politifch beichränften Parteiuriheile finden aud) in Engla;.o
jegt nur geteilten Beifall. Garkyle dagegen, der lange mır als
ein Zonderling verfpottet oder unbeachtet
zu immer größerer Anerfennung und der Einfluß jeiner Schriften
und Lehren wächlt fortwährend. Niemand zweifelt mehr daran,
weder in feinem Vaterlande nod) im Auslande, da er ein weit
größerer und tieferer Geift it als Macaulay. In Deutichland
hat Carkyle immer viel Anerfennung gefunden, wenn and) lange
nur in einem befchänften Kreife. ine fleineren Schriften erfchtenen
in 6 YBänden, ins Deutiche übericht, Idon vor 40 Jahren, jein
herrliches Bud) über Helden und Heldenverchrung hat in Deutich:
land viele Verbreitung gefunden und die Geidjichte Friedrido des
Großen, höchit originell in Darftellung und Auffaffung. Hat jeinen
Namen in Deutihland populär gemacht; weniger befannt geworden
ift feine Gefchichte der franzöfiichen Revolution. Carlyles Schriften
find Feine leichte Leltüre, fie verlangen ernjie Sammlung und
aufmerffames Nachdenken. Auf die Form der Darftellung Cartyles
hat ganz bejonders Jean Paul eingewirkt, derjenige deutiche Schrift-
fteller, welder fonjt allen Fremden der unverftändfichite üit; es it
das ein rechter Beweis dafür, wie tief Garlyle in das eigenjie
Wejen deutfchen Geifteo eingedrungen if. Der Sumor des
Dritten fühlte fi von der felbit vielen Deutjchen unverftändlichen
Eigenart des großen deutihen Humorijten jympathiich berührt.
Litterariiche Umichau. 213
Garlyles Stit ift höchjit originell, oft barod und manierirt, aber
phrafenhaft wird er nie, er ill ganz der Ausdrud jeines außer:
ordentlichen Geiftes. Schon in feinem Jugendwerfe, einem der
nad) Form und Inhalt feltiamjten YWücher, die je geichrieben
worben find, dem Sartor resartus zeigt fil) uns der ganze
Carlyle. Die darin gegebene Lebensgeichichte des Ddeutichen
Profeffors Diogenes Teufelsdroedh in Weißnichtwo, jowie die
barin entwidelte ARleiderphilojophie blieben beim Erfdeinen des
Buches fait allen Lejern und Aritifern völlig unverftänblid)
und erregten nur Nopfidütteln und Unwillen. Grit allmählid)
Hat man diefe merkwürdige Schrift veritehen gelernt und
wer Garlyle vedt fennen will, muß fi mit dem Sartor
resartus vertraut machen. Am we ten befannt waren bisher
in Denticland die jozialpolitiichen Schriften Garlyles, da fie
ich zunächit auf engliide Verhältnifie bezichen und bisher ins
Deutide nicht übertragen worden waren. Und bo find fie
gegenwärtig, wo die joziale Frage in Dentichland die Geiter jo
allgemein und fo lebhaft beicjäftigt, in hohem Maahe der Beachtung
werth, da fie GCarlyles Gedanken über die fozialen Reformen,
über die Neorganifation der Gejellihaft enthalten. Die vor hurzem
erichienene Ueberjegung dieler Schriften des großen Engländer
Hat folgenden Titel: „Socialpolitiifhe Schriften
von Thomas Garlyle Aus dem Englifden
überfegt von E. Pfannluhe Mit einer Ein
leitung und Anmerfungen herausgegeben von
Dr. 2. Henjel"*. 2. Henfel’s umfangreiche Einleitung,
die Carlyleo Weltanidauung darlegt, üt ehr
lejenswerth. Es wird darin nadıgewiefen, da; nicht mır Goethe,
wie gewöhnlid) angenommen wird, beftimmenden Einfluß auf
Garlyles geiftige Entwidelung gehabt, jondern cbenfo und nod)
mehr die praftiiche Phitofophie Nant’s und vor allem Fichte.
Die Verwandtigaft und das Gemeinfame zwiiden den An-
ichamungen Ficytes und Garlyles vielfad) bis ins Einzelne, wird
i—harffinnig und anziehend nachgewiejen. Ob der Verfafler in ber
Ableitung der Garlyfejchen Gedanken aus Fichte nicht dod) mand)-
=) Göttingen, Bandenhoed und Aupredt. 2 Bde. MM.
214 Eitterärifche Umfchau.
mal zu weit geht, ob zwei jo originelle Denfer nicht bisweilen
auch unabhängig von einander zu denfelben Nefultaten gefommen
find, das zu erörtern ift hier nicht der Ort. Die Ueberfegung it
gut und die Anmerkungen enthalten alles für das Verjtändnik
einzelner Stellen und Anipielungen Nothiwendige. Wenn wir
etwas vermiffen, fo ift es eine zufammenfajjende Weberficht der
fogialpofitifcen Gedanfen und Forderungen Garlyles im Ginzelnen;
die allgemeinen GSefichtspunffte find allerdings in der Einleitung
entwiefelt. Die Sammlung enthält außer der Schrift über den
Shartismus, der Abhandlung über die Negerfrage und die
Charakteriftit unferer Zeit, die berühmten ihrer Zeit jo viel Auf-
jehen erregenben Flugichriften: „Ans elfter Stunde” und die
leßte jehr bedeutende Wleinungsäußerung Garlyles über die foziale
Frage: „Den Niagara hinunter — und dann?” Mit Bedauern
vermiffen wir in der Sammlung die berühmte Schrift: „Der:
gangenheit und Gegenwart”, in der er fo naddrüdlich den Vorzug
der Lage ber Unfreien im Mittelalter vor den traurigen Zuftänden
des freien Arbeitero in der Gegenwart jdjildert; doc) vielleicht it
die Sammlung noch nicht abgeidhloffen und cs folgt nody ein
dritter Yand. Vieles von Garlyles Ausführungen bezieht fi auf
fpeziell englische Verhältnijie, andere feiner Reformgedanfen find
in Deutfchland yon verwirklicht, wie die Altersverjorgung und
die Unfallverficherung, aber nicht Weniges in diefen Schriften, vor
allem die Grundgedanten, follten von allen, die fid für eine
Löjung der fozialen Frage, jo weit eine folde überhaupt möglid)
it, interefjiren, beherzigt und durchdacht werden. Garfyle hat das
große Verdienft zuerft die auf den Egoismus gegründeten Lehren
der englifchen Nationalökonomie nadjdrüdlic befämpft, die Fatich:
heit des laissez faire gezeigt und für das Verhältniß von Fabrik:
bern und Arbeitern wieder eine humane, fittlide . Grundlage
gefordert zu haben. Er war in vielen politiichen Dingen feiner
und auch unferer Zeit weit voraus. Er verabidhente die Demo
fratie umd die Demofratifirung der Staaten, er verwarf das
allgemeine Stinmredt, denn ex hatte erfannt, dal; aller wirkliche
Fortfhritt nur von einer Heinen Minorität, ja, von Einzelnen
ausgegangen äft, er war ein Feind des Parlamentarismus und
des immer Höher jteigenden Cinfluffes der Preiie, er fah im der
Litteräriiche Umichau. 215
Aomifirung der Gefellihaft das größte Verberben. Gariyle jah
die eigentliche Aufgabe bes MVenjhen in dev Pilihterfüllung und
wurde nicht mübe zum Handeln, zum Thun auffordern. Er ver:
langt eine neue Organijation der Arbeiter und, indem er die
Forderung fozialer Gleichheit als Unfinn verwirft, fordert er joziale
Gerechtigkeit.
Als ein echter Prophet jah er trog jeiner Warnungen und
Mahnungen die Dinge dem Verhängnif} weiter zutreiben und fein
Trojt für die Zufunft war eine ihrer Pilichten bewuhte Ariitofratie
und ein ftarfes Nönigthum. In veligiöfer Beziehung zeigt Garlyle
deutlich die Nachwirkung der Eindrüce feines jtreng puritaniichen
Elternhaufes. Er hatte ein Gefühl unbedingter Abhängigkeit von
Gott und verlangte ein joldes von jedem Menden; er fteht
gewiffermahen auf alttejtamentlicem Yoben, er ift nicht eigentlich,
Eprift, aber er ijt ein Wegweijer zu Chriftus. Garlyle, der allezeit
in den Helden die bewegenden Kräfte in der Gefchichte erblidt,
Hat in feinem Alter nod) einen neuen gewaltigen Helden auf der
Weltbühne ericheinen jehen und ihn mit Vegeifternng begrüht;
er hat für Bismard das Wort: „Der eiferne Kanzler”, geprägt.
Mögen feine fozialpofitiicen Schriften aud in Deutichland nicht
ohne Wirkung bleiben und viele veranlaffen fid in die Sedanfen-
welt diejes tiefen und mächtigen Geiftes zu verjenfen.
Einer der eifrigiten und hervorragendften Mitarbeiter der
„Övenzboten“ war jeit den erften Ser Jahren der alo füchtiger
Jurift befannte Neichsgerichtsrat) Dtto Bachr aus Kajjel. Er
Hat vor jeinem Tode noc) felbit eine Sammlung feiner Aufläge
und Abhandlungen vorbereitet, welche jegt in zwei Bänden, unter
dem Titel: „Sejammelte Aufiäße von Dr. ©. Baehr*)
eridhienen ift. Der erjte Band, welder die juriftiichen Abhandlungen
enthält, gehört nicht in deu Nahmen der fitteräriichen Umfchan,
wohl aber der zweite, welcher die Aufjäge politischen, foziafen und
wirthichaftlichen Inhalts umfaht. ©. Yacht gehörte der national:
liberalen Partei an und hat als Mitglied des norddeutichen und
dann des deutichen Neichstages an dem Ausban und der Befeitigung
des deutichen Neidhes eifrig mitgenrbeitet. ls Mann von
=) Yeipzig, Zr, Wild. Grumon,
216 Litteräriiche Umjchau.
jelbjtändigem Charakter, ijt er aber nicht immer mit dem Ver
halten feiner Partei einverjtanden geweien und hat alle Zeit
das Vaterland über die Partei geftellt. VBachr war ein echter
Hefle, daher jtedte in ihm ein gutes Stüd fonjervativer Ge:
finmung, die mit den Jahren immer mehr Gervortrat; nur in
veligiös-firchlicher Yeziehung jtand er ganz auf dem Yoden des
Liberalismus. In ihm verband fich mit der trenejten Anhänglichfeit
an feine engere Heimat) warme Yiebe für das große Vaterland;
er fann in diefer Beziehung als ein redhtes Viufter und Vorbild
für die Vereinigung des berechligten febensträftigen Partilularismus
mit entichiedenem, bewuhtem Nationalgefühl betrachtet werden.
Ein entjehiedener Vertreter md Anhänger der Vormachiitellung
Preußens war er dom feinesmegs ein Freund der preußiichen
Yureaukratie und ihrer Nivellirungsfucht und beklagte bitter die
Erjegung viele trefiliher Einrichtungen in feinem Heimathlande
dich) weniger gute preufiice. In der vorliegenden Sammlung
jeiner Heinen Aufjäge findet fi neben Yejenswürdigem umd
Veachtenswertgem auch mandes Unbedeutende, vorübergehenden
Tageointerefien Entiprungene. Aus dem mannigfaltigen Inhalte
des Yandes jeien zunächit die Charafteriftiten Lasfers und Windt
borits hervorgehoben. Die erite, die Verdienfte und die Schatten
jeiten der parlamentarifchen IThätigfeit Laoters ale Führer der
Nationalliberalen unparteiiih abwägend, ijt vorzüglich, vielleicht
nn einige Nünncen zu günftig gehalten. Das Gegentheil gilt von
der Charakteriftit Windhorits, fie ift um einige Aarbentöne zu
dunfel ausgefallen; MWindtYorit it für Vachr der Mann des Un
heils, in dem fid) der böfe Genino Deutjchlands verkörpert hat.
Wenn dies Urtheil wohl etwas zu hart üt, To it eo doch jeden-
falls zutreffender als die Landläufige Art der Preite ftete halb
iherzpaft von der „einen Ercellenz“ zu ipreden. Windthorjts
Thätigfeit und Aufireten fonnte man jtets nicht ernjt genug,
nehmen. Beherzigenswerth it ferner der Auflap: „liberal und
tonfervativ“, aud) der über „uniere Partei“ verdient geleien zu
werden. In der fogialen Frage nimmt Bachr einen im MWejent
lichen ablehnenden Standpunkt ein, ev findet viele Klagen und
Befchwerden der Arbeiter unbegründet. Schr lefenswürdig it der
in ganz fonfervativen Geifte gehaltene Auflag „zur Judenfrage*
Yitten
w
3
he Umichmn.
in dem Vachr ich enticieden gegen die Uebermadht bes Juben-
thums und gegen die Bekleidung von Nichterjtellen durd; Juden
ausipricht. Weiter anf einzelne Auffäpe einzugehen, verbietet uns
der beichränfte Raum; die Sammlung wird fiherlich dazu beitragen,
das Andenfen eineo verdienten, füchtigen patriotiichen NWlannes
zu erhalten.
Jeder Yejer der „Örenzboten” erinnert fi mit Vergnügen
der Ffötlihen Schildernngen „aus däniider Zeit“ von Charlotte
Niefe. Diefe Erinnerungen aus vergangenen Ninbdheitstagen, als
Schleswig no unter jcher Herichaft jtand, verjegen in ein
wahres Jöyll voll ungeftörten Friedens, über der ichlichten Er-
zäblung findlicher Leiden und Freuden liegt ein Haudı edjter
uriprünglicher Poeie. Später zu einem Buche vereinigt, haben
die Schilderungen einen weiten Lejerfreis gefunden und viele
Dienjchen erfreut und erquidt; diefe unbeftreitbare Thatfahe bemeijt
in erfreuliher Weile, daß auch in der Zeit des gegenwärtig
herrihenden Naturalismus das deutiche Gemüth nod) fortlebt.
Ein neues Bud von Charlotte Nieje „Xidt und
Schatten“ Eine Hamburger Sejhidhte* mufte
tebhafte Erwartungen erregen. Nachdem wir es geleien, fönnen
wir jagen, dal; fie nicht getäufcht worden find, wenn aud) „Licht
und Schatten“ den Stfizgen aus dänifher Zeit an Werth und
poetiichem Gehalt nicht gleich Fommt. Die Erzählung ipielt in
der für Hamburg jo furdtbaren Cholerazeit von 1892 und
behandelt die Greigniffe in einem angefehenen reihen Patrizier-
haufe. Der Gang ber Erzählung ift ziemlid) einfad und grofie
Erfindungsgabe zeigt die Verfafferin nicht, die von ihr verwendeten
Motive find großen Theils ichon wohlbefannt. Der Schwerpunft
des Yuches liegt in der Charafterichilderung, wie das aud in
den Skizzen der Fall ijt. Nolfert Dierk, Tine Heuberg, die
Doctorin Bardenjleth find mit einer Anfchaulichfeit, Lebendigkeit
und jo fräftig individuell gezeichnet, daß man fie vor fid zu
jehen meint; da offenbart ich wirkliche Geftaltungstraft. Auch
Frau Valesfa Yardenfleth, die oberflächliche, leicht bejtimmbare
Weltdame ift nicht übel darafterifirt und ebenfo ift der alte reiche
=) Yeipsig, Wild. Grunow. 5 N.
218 Litteräriiche Umjchau.
Meier eine nelunge Geitalt. Die übrigen Perfonen find dagegen
mehr verblait und jchattenhaft, wenngleih einzelne Züge an-
iprechen. Wenn wir aljo aud das vorliegende Bud mit Ver-
gnügen gelefen Haben und allen Freunden Charlotte Niefes
empfehlen fönnen, jo mödjten wir ihr fünftig doch am. liebiten
wieder in ihrem [ehlesiwigichen Heimathwinfel begegnen.
Theodor Fontane, der die Mark Brandenburg nad) allen
Nichtungen durdnwandert und jo anmuthig geihildert hat, it auch
der einzige, welcher ald ein würbiger Nachfolger von Willibald
Aleris in der dichterifchen Vergegenwärtigung ihrer Vergangeneit
bezeichnet werden fann. Sein Roman: „Vor dem Sturm.
Ans dem Winter von 1812 auf 13” jclieht fi
unmittelbar an Aleris’ Legrimm an. Wenn aud) Fontane dem
brandenburgiihen Walter Scott an Tiefe der Auffaffung und an
Kraft in der Charafterzeichnung nicht gleichfommt, jo fann er fi
ihm in der Durchführung der Yofalfärbung, in der Mannigfaltigkeit
der Begebenheit, in der funjtvollen Entwidelung der Handlung,
an die Seite jtellen und übertrifft ihn an Gewandtheit der Dar-
ftellung. Der genannte hitoriihe Noman verdient c6 daher weit
mehr gefannt und gelefen zu werden, alo cs bisher geichehen ilt.
Daher ift es mit Dank zu begrüßen dab die Verlagsbuchhandlung
jüngit eine billige Lolfsausgabe*) der Didytung veranitaltet hat;
es läßt fih erwarten, daß das Buch nun aud in weitere Areie
dringen wird. Schade, da Fontane in newerer Zeit jein jdönes
Totent in den Dienft des Naturalismus gejtellt hat; was er in
diefer Periode feiner dichteriichen Thätigfeit hevorgebradt, wird
gewiß nicht auf die Nachwelt fommen. H. D.
*
* *
Bei der Nedafrion der „Balt. Mon.“ find ferner naditehende Schriften
zur Veipredjung eingegangen
Fentich, €, Grundbegriffe und Grundfäne der Bolfswirtichaft
(Leipzig, Ar. W. Orunow).
Saar, Ferd. u, Schidjale. Trei Novellen. (Heidelberg,
6. Weib Verlag).
Novellen aus Dejterreich. 2. Aufl. (Ebende.)
=) Berlin, Wilgehm Herb. 4 D.
Litteräriiche Umjchan. 219
Saar, Ferd. u, Biener Elegien. 3. Aufl. (Ebenda).
— Die beiden de Wit. Trauerfpiel in 5 Alten, 2. Aufl. (Ebenda).
- Gedichte. 2. Aufl. (Ebenda).
Hansiakob, D. Ausgemählte Schriften. I. Band: Aus
meiner Jugenpgeit. Erinnerungen. 3. Aufl. (Ebenda.)
Seifteshelden, brag. v. A. Vettelbeim, 20. Bb.:
Sorel, X, Montesquien. Deutid von N. Arehner. (Berlin, E.
Hofmann u. Co.).
Meyer, Dr. R, Hundert Jahre fonfervativer Politif uud
Literatur. 1. Band: Litteratur, (Wien, Verlag „Nuftria”
F Doll.
Weihrenfels, R., Goethe im Sturm und Drang. I. Band.
(Halle, DM. Niemeyer).
Blätter, Biograpbifge, Zeirfcrift lebens:
aelchiehrliche Kunit und Torkhung hrsg. von A. Vettelheim. I. Yand.
1. 9. (Berlin, €, Hofmann u. Co.).
Naumann, Piarrer Fr, Gotteshilfe. efammelte An:
dachten aus den Jahre 1895. (Göttingen, Landenhocd u. Hupredt).
Hebn, Victor, Xtafien. Anfichten und Streiflicter. 5. Aufl.
Dit vebensnachricten über den Verfaffer. (Berlin, Gebr. Vornträger).
—
Heimathgrufl.
65 rollt die Aa die blauen Wogen
Durd) duntte Tannemwälder hin,
Id} fomım’ daher des Alegs gejogen,
Wir wird jo wunderjam zu Sinn.
Mein Herz fchlägt Hoc zu dieler Stunde,
Mein Ange bfigt in heifem Strahl,
Ein Gruß entringt fich meinem Munde:
„Dich grüh’ ich, Kivland, taufendmal.“
Ich hemm’ den Scritt in fel'gem Lauicen,
Durch alle ‚weige fhmeichelnd yieht
Ein märdenhaft melodiich Kaufen,
Ein halboerklung'nes Jugendlicd.
Wie mahnet mid) des Waldes Weife
An altes Glüd, an alte Cual,
Und meine Lippen flüftern feife:
„Dich geüh' ich, Lioland, taufendmal.”
Ich fehrte heim aus fernen Süden,
Mein theurer Heimathgau u dir,
Sieb meinen Herzen Glück und Arieden,
Und jchenfe neue Yieder mir,
Die Heil aus meiner Seele dringen
Und fhweben über Verg und Thal...
Mein erites Lied oll alio klingen
„Did gräh' ic, Yivland, taufendmal.“
Hedda v. Hielemann.
Beilage
zur
Baltifchen Monatsfchrift.
Mai 1896,
Inhalt: Dr. ©. 3. v. Shulg-Bertram. Kitterärifch:
diographiiche Skizze. (Schluf.) Bon €. v. Schul:
Adaiematy.
Runftbriefe. VII. Von 3. Norden.
Litterärifde Streiflidter. Won H. D.
Rahdrud verboten.
Digiizedby Google
Dr. 6. 3. v. Sdulß-Pertram.
Viographifcrlitterätiiche. Stizze von Ella». Shulu-Aparemiln.
Shui.
51 mufte mein Vater wegen eines Tuelles
zwichen Baron Nojen und dem Grafen Hendrifoff, bei welchem
er als Arzt fungirte, vierzehn Tage auf der Dauptwache zubringen.
Die Erinnerung an dieje Epoche gehört jedoch zu den angenehmen.
Er verlebte auf der Dauptwache eine jehr heitere Zeit im Verfehr
mit feinen Freunden und Befannten, die ihn dort aufjuchten. An
einem einzigen Tage zählte er nicht weniger als dreifiig Beluche.
Die vielfahen Berufogeihäfte nahmen die Zeit meines
Vaters wohl mehr in Anjpruc, ale es dem Echriftiteller recht
fein mochte und mancher Zeufjer galt der beeinträchtigten Freiheit.
Die präparivende und zergliedernde Anatomie, jo interefant fie
an fi ift, jtellt an die Nerven und beionders an den Geruchsfinn
oft allzugrofe Anforderungen. YAuc) griff die ärztliche Prario das
weiche imprefjionable Gemüth meines Vaters jehr an.
Eine gefährliche Rrankheit warf ihn in diejer Zeit angeftrengter
Tätigkeit darnieder. Yon Pirogoff und Zdefauer behandelt, hörte
er, wie die beiden Aerzte im Nebenzimmer fi über die Natur
der Nrankheit written und der Eine zum Andern jagte: „Nun,
morgen bei der Obduktion werden wir co ja jehen.”“ Zeine
jtische Natur half ihm die Mranfpeit überwinden, aber jchwerer
überwand er den Schmerz, den der Tod feines fiebenjährigen gelisbten
I
Im Jahre 1
224 8. I. v. Schulg- Bertram.
Töchterhens Manja ihm bereitet:
e (1855. Cs war der Anfang
einer Neihe von fchweren Prüfungen durd Familienverhältnifie
hervorgerufen.
Zu wiienihaftlichen Zweden in’s Ansland beurlaubt, hatte
mein Vater 1853 NAugoburg, München, Nivnberg, Leipzig, Magde-
burg, Altona, Lübeek befuht und zujländigen Ortes über dieje
Neije einen Vericht eingefandt. „Cine herrlide Neite” Heiht
e5 in einem der Briefe aus damaliger Zeit an die Mutter.
Einen zweiten Urlaub zu gleichem Zwede erhielt er im Jahre 1856.
Diefem folgte ein Aufenthalt am Oftfeeitrande, wo er mit feiner
Ramilie zufammentraf und den Entichluh fahte die Seinen dauernd
in Deutichland zu etabliren und felbit aus dem Staatodienft zu
treten, um fich von den Anftrengungen, die ihm feine vielen
Verpflichtungen auferlegt hatten, zu erholen, feine Gefundheit
wieder zu fräftigen und der fehriftftellerifchen Thätigfeit fid ganz zu
widmen. So legte ex denn, inzwifchen zum Stanterath; befördert
und zu vericiedenen Malen mit Orden und Belohnungen aus
geseihmet —— alle feine Neinter nieder, um erit zehn Jahre fpäter
wieder in den Staatedienit zu treten.
Zuerit führten in Verlin die mit Merander Dunder ange
fnüpften Beziehungen zu der Herausgabe der gefanmnten Yaltiichen
Sfipgen (3 Bände), der Martha Marzibill mdder Betero-
lieder, einer Charakteriftit Peters des Großen Mande
diefer Erzählungen, welche in poetifhen Gewande einige ber
bervorragenditen Züge und bedeutenditen Auoiprüche dieies Helden
wiedergeben, eignen fh) durd) ihre fnappe fahliche Form für
Vorträge in Schulen und id) vermuthe, da; dieles Ziel -— der
Jugend das Bild des univerjell beanlagten, genialen Nailers
pren -— meinem Later beim Lerfafien der Peterslicher
vorgeichwebt haben mag.
Dao Leben und die Neifen Peter's deo Großen waren
damalo der Gegenjtand feiner Studien; viele Qorarbeiten,
geographiiche Narten über die Neifen diejes und anderer Monarchen
in Kufland das vorläufige Ergebnif derjelben.
Ein glänzendes Anerbieten, als ärztlicher Begleiter und Vlentor
eines jungen ruffiichen Fürften D..... durfte nicht ausgefchlagen
werden und jo murden die Jahre 1858 - 60 wieder auf Neijen
9. 3. v. Schulg-Bertram. 225
zugebraht. Der Weg ging über Paris nach Schottland, das
Yand welches nächit Italien den tiefiten CEindrud auf meinen
Voter madte. „Die gelehrten Anjtalten in Paris” (Inland 58)
und „Reifebriefe aus Schottland“ (Wlontagsblatt, Betrshg) erzählen
von diefer Neije.
Nach Petersburg zurücgefehrt, 1860, übernahm mein Vater
die Gründung und Nedaftion eines literäriichen Wocenblattes
mit politiicher Beilage, in St. Petersburg, das eben genannte
Diontagsblatt. Diejes hatte fih u. A. zur Aufgabe gejtellt, die
jungen baftiihen Poeten und Schriftjteller befannt zu machen und
veröffentlichte neben einigen größeren Nomanen ausländiicher
Autoren eine nicht geringe Anzahl bemerfenswerther inländiicher
Heifteserzeugnifie. Aus der Zahl eigener Gedichte und Ai
welche in dem Wlontagsblatt veröffentlicht wurden, nenne id)
folgende: An Dr. Kreuzmwald, den Neftaurator des Liedes
vom Kalewipoeg (Zonett), Die ejtnifde Sage vom
Nalemipoeg 1860, — Nordifde Sfisgen adt Er-
zählungen, darunter: Am Saima-Sce; die Waldihenfe von Murom;
Köftripappa; das Feitlager; Goethe's Fauft u. o. 1861. ©t.
Petersburger Sagen, 61. Der NXeiter von Paris,
61. — Torowa ober die Heine ruffihe Schweiz, außerdem
viele vermifchte Aufläge: Ueber die Betteliudt, Salon
berichte; Briefe an cine junge Tänzerin über die
KRunft, (Neithetifche Briefe über die höhere Tanztunft); Briefe
über Ardhitectur, (Rritif der vornehmlichiten Bebände in
Paris und St. Petersburg); Ode an Alerander den
Befreier, 1862. ı.
Auch während diefer jo fchr im Anjpruch genommenen
Zeit, Hatte mein Vater es doch möglid) gemacht feine alte Mutter
in Friedenthal ab und zu zu befuchen. Bei diefen Gelegenheiten
hatten die unter den Ehjten herrfhenden Augenfranfheiten jeine
Aufmerffamfeit auf fi gezogen und in ihm den MWunjch mad)
gerufen hier Abhilfe zu idarfen. Schon während feiner vorüber
gehenden Bejuche bei der Mutter famen viele Kranke zu ihm
und fo mande Angenoperation wurde ausgeführt. Unter freund-
licher Beihilje einiger Gutsnadbarn gelang c8 meinem Vater auf
eionem Grund und Boden durd Ausbau eines Nebengebäudes
226 9. 3. v. Sdulg-Vertram.
fich eine Meine, jehr beicheidene Ainik einzurichten, in der immer
einige Nrante zugleich umentgeldfich Aufnahme fanden, nur mußten
die Angehörigen für Veföftigung Sorge tragen. Ein hinterlafjenes
Namenregifter* weilt gegen taufend größere und fleinere Augen:
operationen nad).
Mit biefer Aufgabe die Franken Augen der Ehjten zu
behandeln, — lich fi die andere Yieblingsbeichäftigung meines
Vaters auf's Bote vereinigen, nämlich den Volfstraditionen
nachzugehen ımd jo feine begonnenen Forihumgen auf ethnologüichem
Gebiete weiter fortzujegen. ev auf dem Yande wucjen aud
feine phyliichen Sträfte und ungejtraft fonnte er fih vedht große
förperliche Anftvengungen auferlegen. Wie jein erhabenes Vorbild
Peter der Große, war er überall jelbjt tätig und legte immer
jelber Hand an: bejierte die Schäden des alten Haujes, damit es
die Mutter warn halten follte; grub mit den Arbeitern um die
Wette Gräben und Brunnen; pilanzte Yäune, Hobelte und zimmerte,
wo 05 noth that, ftach dazwiichen einem alten Weibe den Ztaar,
jchnitt und nähte einer andern die Augenfider zurecht, damit die
jo Läftig nad innen wachfenben Wimpern das Auge unbejchädigt
lichen, Halj die n Feldjteine bei Zeite heben, kurz
arbeitete mit den Bauern in Feld, Wiefe und Wald und jchrieb
dabei ihre poetichen Traditionen auf, id immer mehr in die Seele
diejes Voltes hineinvertiefend, mit feiner Sprache immer engere
Freundichaft ichliehend.
So murde das Material gefammelt, weldes denjenigen
Werfen meines XYnters zu Ormde fliegt, denen er jelbjt den
weiten Werth beilegte und als feine Sauptwerfe neben den
Valtiiihen Stiggen bezeichnete, wenn aud) dieje ihm mehr Popu
lavität eingetragen. Ic meine das zweiipradige (ehjtnifch-deutich)
Epos Almatar, Wagien und Warawatja, eine
ebienifche Jauftiane. Inmitten diefer jegensreichen, fehr
beicheidenen, aber ihn anjprebenden und in dichteriicher Beziehung
aud) eripiehlihen IThätigfeit, erging an meinen Xater von
Petersburg aus die Anfrage, ob er nicht wieder in den Staats
Ein Nahr bei Ehiten. Tphralmologide Beobachtungen ger
macht wärend DS Jahres 1864464 in Yioland.
3 0. Schulg Bertram.
dienft treten wolle. Da er die Kamikie aus dem Auslande zurüd
erwartete, begab fi mein Vater wieder nad Petersburg und
übernahm proviforiich den Poften eines Sefretairs im Minifterium
des Ntaiferlichen Hofes, Bis der ihm zugedachte Roften eines Jenjors
vafant md jomit fein Wunjch erfüllt wurde in die Hauptpr:
verwaltung und in das Minifterium des mern unter P.
Walrjeif einzutreten.
Im Verkehr und im Gedanfenaustaufd mit Männern wie
Wakujeif, Tuticef,, A. Vaitow, Poloniky, Fürft Winfenity und
andern Dichterfollegen, — inmitten einer jteto wechleinden Menge
von Zeitichriften und Wücern aus aller Herren Länder, die ihm,
dem Spracjfundigen, zur Zen eingefandt wurden, fand mein
Vater endlich, Leider erjt zum Schlujle feines Yebens, diejenige
Thätigfeit, die feiner Natur, feinem Temperamente und jeinem
Geifte am meilten entiprad. Won feiner Studierfiube aus, die er
zu feiner Melt gemacht, fonnte er, ohne direfte Berührung mit
tegterer und doc im vegem Nontalt mit der Menichheit im
höheren Sinn, - mit den bewegenden und erichütternden
Fragen bleiben, dieje vor feinem geiftigen Auge Neue paifiven
taffen, fie theilnepmenden Herzens erwägen, um dann perjönlich
mit der Feder, diefem geiftigen Schwerte des Schriftitellers und
Dichters, muthig für alles einzutreten, was ihm Ueberzeugung war
und zum Wohle der Menichheit übergaupt, wie auch zu demjenigen
feines weitern und engeren Waterlandes dienen fonnte.
Der Wunfh ih von des „Lebens verworrenen Nreilen“,
wie die Vieblingsredeweile feiner alten Mutter lautete, fern
zu haften und fi unbeiert von der „Parteien Sunft und Hafı“
die freie Anfdamıng zu wahren, joweit jolhe Unparteilichteit
dem Menfcen überhanpt möglich it, fefielte meinen Later an feine
jtille Slauie; nicht weltflüchtige Stimmung oder verbitterter
Pelfimismus; daher and während diefer Zeit Niemand, der Nath
und Hilfe juchte, vergebens an jeine Thür Mopfte und ihn nicht
jelten veranlafte aus feiner geliebten Studirftube, die feine Wett
war, hinauszutreten. A, d. w. v. („ud diefes wird vor
übergehen“) -- bieje magiihen Yuchiaben waren über feinem
Schreibtiche angebraht. An jener Zeit, in welcher ihm Sorgen
und Kränfungen aller Art nicht eripart waren, entjtanden mert-
228 9... v. Schul Bertram.
würdigerweife die von heiteritem Kumor iprudelnden, drolligen
Tigytungen im fivländiicen halbdeuticen Dialeft von F.
Neuter’o „Länichen und Himelo” angeregt”). Die immer wieder
nenen Auflagen diejes Werfciens zeigen, dab die dee eine glüc-
ide zu nennen war md namentlich in Studentenfreifen, neben
den „Baltischen Stizzen“ fich einen quten lag erobert. Nationalitäten:
Hader und Junferthum, diefe Answüchje des wahren Patriotiomus
md des echten Adels befämpfte er mit überrafchender Heftigfeit
und juchte jtets ihre verhängnifvollen Folgen Har darzulegen, auf
welcher Seite diefe Krantheitsericheinungen aud zu Tage treten
mochten. „Nidt was die Lölfer, was die Mlajlen trennt, jondern
was fie vereinigt, foll man hervorheben,“ -—- diefer Mahliprud)
des Grafen P. Wahrjeff, entiprad) auch feiner eigenen inneriten
Auffaffung der Dinge. Dieje Sfizje ift nicht der Ort, näher auf
diefes Thema einzugehen, weldhes anzudenten ic) aber nicht umbin
fonnte. Jedoch ift mein Water in diefer feiner guten Abficht,
Frieden zu ftiften, arg verfannt und auf das Närteite ange:
griffen worden.
Nicht eine geringe Genugtuung und Freude war es meinem
Xater, von feiner jegigen Stellung aus, auch zum Wohle feines
engeren Yaterlandes beitragen zu fünnen, indem er auf die
Proßverhältniife in demelben in günftiger Weile wirten fonnte.
Wenn die Büceridau, die im Interefle des martenden
Publikums rajc zu bewältigen meines Vaters ftete Sorge war,
Augen und Geift übermüder hatten, dann wurde wieder der gelichte
finnische Vieerbufen aufgelucht und in der Berührung mit dem
Meer neue Belebung gefucht ud gefunden. Noch eine andere
Anziehungskraft bot fich jet, „jenfeits der Scheren“ --- das neu-
gegründete Hein einer feiner Töchter. Niere rwarteten ihn auch bald
alle Freuden, die ein zärtlicher Grohpapa an feinen muntern Enteln
erleben kann und er verlebte an der Zeite der licbenden Tochter
und des vortrefffichen Schwiegerfohnes glüdliche Tage und Wochen.
Im den Nenen Baltifchen Stiggen heiht 6: „Nerrliche
Ditfee! Ih babe alle Meere Europas bejucht, aber ich gebe der
jee entichieden den Preis. Nicht etwa weil fie das Affompagnement
>) Huflerlei unrrige Sichten und foterfleiden. Ad. Aufl. IN
SI. v. Schul Bertram.
zu meinen Miegenfiedern fomponirte, fondern weil fie etwas
Nobeles, etwas Durhläuchtiges hat und feinerlei gefährliche Un:
geheuer in ihrem Schoohe birgt. Es ijt eine jungfräulide See!”
„Im Geifte jehe ih Deinen Vater,” jo fchreibt feine liebe-
volle Schweiter Jenny an ihre in Smeaborg lebende Nichte, „auf
Enng-Gora figend, feine Pfeife raudhend und das Meer vor jid,
mit jo glüclichem Geficht anichauend, als hätte er es jelbit ge
ichaffen.“ Hier in Sweaborg und auf Enng -Gora (eine Heine
in's Meer hineinreichende Yandzunge, von meinen Pater fo benannt)
entitanden die originellen „Enng’s Wintermärchen im Pelz“ mit
dem Ausiprud Piragofis als Motto: „Den Frühlig befingt man
am beiten im Winter, die Freiheit im Nerfer.“ Viele
angenehme und anregende Veziehungen wurden von hier aus
angefnüpft, jo zu dem greifen finniichen Nationaldichter Elias
Yönnroth.
Im Wafenius’schen Verlage zu Helfingfors erichienen im
Jahre 1872 folgende Werke meines Laters: Die Neuen
Baltifhen Skizzen, Erinnerungen an die DTomjcule ent-
haltend; die Sagen vom Ladoga See, oder Erzählungen
meiner Sijudamoifta, (Tellerwälcherin, Anfwärterin);
Reivaich Parneh oder die Sonneniöhne, ein epidhes
Gedicht nad) Bruchftüden einer Volksiage aus Lappland. —
Auf einer feiner Fahrten nad) Finnland wurde mein Vater
auf wunderbare MWeife, vor einem ernjten Unfall auf der Eifenbahn
bewahrt. Dur) einen Fehltritt fiel er von der Plattform zwiihen
die Schienen und blieb dort liegen. Vierzehn Waggons rollten
über ihn hinweg ohme ihn zu beihädigen! Als er fid) wieder
erhoben hatte, war feine erfte Sorge fi nad) feiner Brille
umzujcauen, die jid aud) umverjehrt wieder fand.
Die Lebensfonne meines Vaters neigte ih dem Untergange
zu md die alte Viutter jollte noch den großen Schmerz erleben,
ihren geliebten Sohn vor fid) hinicheiden zu jehen.
Durd) die vielen heftigen Mranfpeiten erichüttert, durd,
ichmerzliche Erfahrungen und Familienjorgen hart geprüft, durd)
fortwährende geiftige Anftrengungen in Aniprud genommen, war
feine Yebensfraft vor der Zeit erihöpft und obgleich erit ein
Sedhiaer, machte er doch den Eindrud eines viel ältern Mannes.
5.3. 0. Schul Bertram.
sm Jahre 1875 entichloß fich mein Vater zu einer Neife
nad W Er wollte dort die Zeinigen befuhen und damit
eine Nun in der Anftalt des Dr. Hebra verbinden; auf ber Nüd:
reife über Yeinzig gehen umd dort mit einem Verleger perjönlich
Nüciprace nehmen über die Herausgabe feines legten Wertes,
der ehimiihen Kauftiage, des Sanges von Waramatja.
Er nahm einen Urlaub von drei Monaten ımd irat anfangs
Januar in Begleitung feiner jüngiten Tochter die Neije an, mit
ihwerem Herzen, als ob er ahnte, dafi er feine Heimat) nie
wiederjehen würde.
Tod bald wid die bevrüdte Stimmung vor einer durch
die neuen, wechfelnden Gindrüce angeregten froheren Neifehuit.
In Verfen md animirten Bejchreibungen der Neifeabentener
eines groh den zwang nad) Nrafau
hen Schneejturmes, der die Mi
abzubiegen und dort zu übernachten - mit Fleinen sederzeichnungen
ibufteiet, gingen die brieflichen Verichte an die alte bejorate
Mutter ab, um fie zu erheitern und zu beruhigen.
Auch für fein lesteo Wert, das chitniich deutjche Epos
arawatja*, sollte dieje Neite verhängnißvoll werden. Mein
Vater übergab das Manuflript leider einem ihm nur
oberjlächlicd bekannten Herrn, der > in Yeipzyig einem Verleger
überbringen jollte. jer Derr ftarb plöglih und alle Nady
forichungen nad) dem Manuitipt blieben erfolglos. Cs fei mir
von diefer Stelle aus geitattet, die Bitte an alle Diejenigen zu
richten, welche in der Yage dazu wären, auf die Spur diejer ver
muthlich in Yeipzia irgendwo deponirten Dandidrift von Dr. Bertram
zu verbe
„Sb erlebe einen neuen Seiftesfrühling“, heift «5 in einen
jeiner legten Yriefe am die Mutter, Wichrere Stunden werden
am Zchreibtüihe verbradt. In den Wiener Tageblättern erichienen
einige Heine Cijans und tigen, Heimathserinnerungen and Lieb
fingsideen. Zo der Aufjag über „Eleftromagnetiiche und etbiihe
Altotoide”; „Der fliegende Holländer”, eine nordiiche Ztixge;
„Merhvirdige Sefchichten aus der Ninderfiube“ (eine Ninder
verwechielung, die in Yivland jtattgefimden haben fol). Den
Ibonen Aiemerinnen wird als poetiiche Suldigung ein lanniges
Sedicht gewidmet und Unterricht im Ungariichen genommen, eine
6. 3. v. Schulg Bertram. 231
Spracde, die er für die fchwierigite von allen erflärte. Mufita-
Lücher Umgang md Bejud chöner Sirchenfonzerte, Towie des
berühmten Nonzertes, welhes A. Wagner jelber dirigirte, wirkten
anregend und befebend.
Ganz bejondere Freude bereitete ihm die Velanntichaft mit
Sunfalog, die er jeinem Buche Wagien verdanfte. Der
berühmte Gelehrte bejah dies Werk in feiner Handbibfiotgef und
hatte e8 --- jo verfiderte er meinem Vater öfters fonfultivt.
Auf feine Empfehlung war es in der f. Ungariichen Bibliothef
zu Pejt aufgenommen worden. Selten habe ic) meinen ater
geiftig friiher und animirter gejehen, als in diejer zweiltündigen
Nonferenz; mit dem berühmten Erforicer des turaniihen Spradı-
gebictes.
Die dreimonatliche Urlaubszeit ging zu Ende. Alle Bor:
bereitungen zur Heimfehr waren getroffen, als mein Vater heftig
erfranfte. Zu einem afuten Magenfatarrh trat zum Unglüd eine
Art Donaufieber, welches er fih durd) eine Erfältung auf einer
Donaufahrt zugezogen. Die Nunft der Wiener Aerzte, 1. A. der
Profejjoren Bamberger, Duchel, Dumreuter, die zur tonfultation
gerufen wurden und die jorgfältige Pilege der Seinigen halfen
ihm nad einmal die Rrankeit überwinden und es trat eine
entichiebene Veiferung ein. Aus diefer Zeit der Nonvalejcenz
dativen mehrere Briefe an die Mutter. Hier einige Auszüge:
Wien, 5. April... .. . Num danfe id Dir noch arme, alte
Vama, da Du Dir die Mühe gegeben, zu fdreiben. Wozu?
dietive doch! Mit der wärmern Witterung wirft Du Dein Rheuma
108 werden. uuuen Sei do nicht jo ängjtlich. Was mn
Deine beftändige Vorbereitung zum Sterben anbetrifft —- To fann
davon noch nicht6 pailiren. Wenn Du nur energih wiltit,
jo fannjt Du Did) zujammennehmen md Did raccoljiren.
Id habe Dir allerlei nügliche Dinge gekauft und die mußt Du
noch anfeben.
Vedenke, da; Deine Söhne nun Sorgen haben und es um
jo wichtiger üt, daß Tu am Yeben bleibjt, da diefes für uns der
größte Trojt Am bedenfe, dah Tu Tir gar feine Bewegung
madzen fannfl, aljo mußt Du das erjegen dur KNeibungen und
Waihungen. Das ijt was man pafiive Gpmnaftif nennt
6.5. v. Schulg-Bertram.
und wodurd; alte Leute ihr Leben verlängern. Lah Branntwein,
Eifig und Waffer zu gleichen Theilen miichen und etwas erwärmen,
dann einen Schwamm eingetaucht, ausgebrüct und num gewaichen,
zwei bis dreimal tüchtig, dann mit gewärmtem Handtuch abgerieben
und warm zugedeckt,
Natürlich it jedem Menfchen der Tod fiher, aber ungewih.
Wir fönnen nod) Alle vor Dir fterben. Und was it denn
Sterben? Dein Gott, man madt viel zu viel Wejens davon.
Es ift nur eine andere Art zu iren und vielleicht eine
angenehmere, als die in unjerm elenden Störper. Id) denke, id)
fann weder lebendig nod) todt aus Gottes Hand herausfallen,
allo ift es ganz einerlei ob Hier, od da, ob jo oder jo! Lab
Tu Dir den Tod aljo nicht jhwarz malen, Du haft wahrhaftig
Dein Lebenlang Deine Pilichten gethan und Taufenden Gutes
erwiefen. Nie vergefle id, wie ein alter Vauer einft fagte:
„Kubo meie lähme ab6i otfima, fui mitte wanna prauale? Dlge
laps aege, cht Iujus, che muid murel*) Giebt Dir das nicht
eine freudige Stimmung?“
.. Nein, Mama, Dir hajt wirflid nicht Unfadye betrübt
zu fein: Tu äÄngjtigit Did wirklich unnüg Du bift ja doc
nicht ein Charakter, der fi) für ganz ohme Fehler hält. Nun,
jobald man jeine Promofs einficht und fich eingeiteht, jo folgt
doch dann unfehlbar die Verföhnung mit dem alten Gott......
Ic) habe ein Nranfheitszeugnif eingeichiet und um adhtundzwanzig
Tage weitern Urlaub gebeten. Dr. W..... meint, in vierzehn
Tagen Fönne id) abreifen. Ih rathe Dir, fomm nad Wien, um
zu fehen wie man Nranfe pflegt. Nein Nönig Tann es beiier
DSH Sci ganz ruhig! Die Menjchheit verbeifert fih in
Allem Man mu nur vergleiden, fo ficht man
wie fie bis jeht immer gefitteter und gejunder wird. Ich habe
geiehen, dab die Welt in den fechzehn Jahren, daf ich nicht im
Auslande geweien, enorm vorwärts geidritten it.
So werden die engen Straßen allmählid, niedergerifien und große
Iuftige Häufer gebaut. Früher war das Trinfwailer fchledht, jept
» Wo follen wir Dilfe finden, wenm wicht bei der „alten Frant“
das Kind frant, oder ein anderrs Thier, oder mas «6 aud) jei.
G.%. v. Schulg:dertram. 233
fommt cs vom Gebirge. Ta nun die Vevölferung Luft, Licht
und Wafier hat, jo ficht man gar feire jo abideuliche jerophur
Löfe Fragen wie vor fünfunddreihig Jahren. Alle jehen jo gelund
und fidel aus. Die frühern Zeiten wuhten ja nidhts von der
Wichligeit von Luft, Licht md Waffer. Ic fage Dir
aljo, gräme Did) nicht, dah die Welt zum Henker geht. Gott
führt fie nnd co ijt jehr umdankbar, wenn wir an ber
Weisheit feiner Führung zweifeln. Grüße Alle, die fih
meiner in Licbe erinnern .....
Id) möchte mir amd allen meinen Lieben gern einen rofige
helfen freundlichen Lebensabend veridaffen. Darüber fann nur
Jeder mit fi jelbjt zu Nathe gehen. Mein Gewiflen fagt mir
alles Haarklein, aber das Herz ift trogig und verjagt und man
möchte fich jo gern vor fid) jelbjt entichulbigen. Sage mur, mo
habe ich die Sucht zu fritifiren her? Etwas geerbt habe id) vom
feligen Papa, der j. B. nie jdweigen fonnte, wenn bei Tiich
etwas Vermuffeltes aufgetragen wurde. Etwas davon habe ich
von Dir, denn wie oft mihfiel Div etwas — blos weil «6 neu
war. Nachher warft Du immer ganz zuftieen damit. Co ift
das wol ein allgemeines Erbtheil der Menfchen, rajch zu urtheilen,
Ächnell zu tadem und darüber wollen wir Geduld üben. Am
Ende ift die Tadelfucht nur der Wunid, daß es andern gut gehen
möchte. Wir zweifeln an fremden Jdeen und beurtheilen fie
zu ra...
Vergleicht man mun Torma mit der Alpengegend
et mit Städten, fruchtbar, reid), jo eviceint Torma
bier, bei
jtiefmüttertich bedacht, aber unjerer Herzen Fafern wurzeln immer
dort! Es zieht ja den Grönländer in die Veimath.
x 5
r
Der erite Gang meines Vaters, als er, mit fauım wieder:
gewonnenen Rräften das Bett verlajfen Fonnte, war zum — Piano
Die Cismollfuge von Bad) und die Ciomoll-Etude von Chopin,
in denen er die Offenbarung jah einer Schnfucht, die nicht von
diefer Welt, die nad einer andern Verlangen trug, erflangen
unter feinen ihwaden Fingern. Das war die legte Diufit, die
er bier auf Erden vernahm.
234 ®. 3. v. Schulg Bertram.
An 4.16. Mai, um 10 Uhr morgens, alo die Gloden das
Piingitfeit einläuteten, entichlief mein Vater janft. Seine legten
Worte waren: „Ih Hatte noh jo Vieles zu jagen...”
Eine feiner legten Anordnungen betraf, wie jchon früher
erwähnt, die Uebergabe der Briefe Dr. Nrenzwalds an die
Ehftnische Gelehrte Gejellicaft, zum Zwed einer jpäteren Vers
öffentlichung (50 Jahre nah feinem Tode).
Der größte Nummer meines Vatero war, nädjt der Zorge
um die Seinen, die er gern glüdlih und wohl zurüdgelaiien
hätte, daß es ihm nicht vergönnt mehr war, auf heimathlicher
Erde zu jterben und feine alte Mutter wiederzufchen; feine leßte
Bitte, daf menigitens fein Herz im Familienbegräbnifi auf dem
Friedhof zu Torma ruhen möchte.
Die VBeifegung in Wien erfolgte in der Evang.-lutheriichen
Dorotheentirche Augsb. Ronfeifion durch den Pfarrer Mip-Stöber
im Beifein der anwejenden Mitglieder der Samilie, einiger greunde
und Bekannten.
Gin einfacher weijer Stein auf dem Friedhofe zu Mapleins-
dorf bei Wien bezeichnet den Ort, wo einer der treueiten Zöhne
der battiichen Lande zur legten Nuhe gebracht wurde, fern von
der
math, die er fo innig fiebte.
ui
Korrigende.
5 u Zeile 4 von oben fies YoHbufu ftut Lohhula;
3 10, unten ilma dohter ftalt Sitma vottor;
a 122 00000 Di Rhbinoplastiea fat Die Nhino-
piajtica;
13.06 Pivko jtatt Pirlo;
m Rühmitert ftatt Rühnitett;
ER unten, Unger ftatt Unger.
Annibrieje
VL
Wir find ja vom Sommer noch ziemlich weit entfernt. Wir
Hatten jogar nad) einem jcönen Vorfrühling plöslich einen böfen
Nachwinter, aber in der Teateratmoinhäre, da it fon lange
Sommer, denn die Gintagsfliegen treiben dort auf der Bühne
und auf den Zetteln ihr Furzathimiges Weien in großer Fülle.
Die Theater rüften fi) zu der großen Ausjtellungszeit.
Fajt feines macht Ferien und alle juchen fie nad) Treffern, die
ihnen über den langen Sommer hinüberhelfen jollen. Manche
verfallen dabei auf das befichte , ihre Tenppen anf Sat:
fpiefrolten zu ichiden — in X andere borgen jich von
einem folleginlen Theater immer derjelben Neichahauptitadt cin
Der alte römijhe Sag: duo cum junt idem, non
est idem fteht bei derartigen Abmadungen Sevatter. große
Mebrzahl aber jucht md fucht und endet dabei eben die vielen
Eintagsfliegen.
Da war z.B. der Jaffe-Wolifiche Schwanf
brüde” im f. Schaufpielhauie, eine dramatiiirte feichte er
wechslungshumoresfe, deren Hauptreis die fdönen Tchweizeriichen
Verglandichafts:-Deforationen und Schughütten Ausftattung bildeten;
Da jtellte Hugo Yubliner, der eint jo glüdliche Verfafier
der „rau ohne Geift“, im Deutfchen Theater feine „Lunge Kran
Arne“ vor, mit der dauernd zu verkehren das Berliner Kublikum
feine Lujt verfpüte, obgleich Agnes Sorma ihr ganzes liebene
würdiges Talent aufbot, dieje junge an der Seite eines alternden
ie Höllen
236 Aumftbriefe.
Lebemannes fi) langweilende Arau für das zu geben, als mas
Lubliner fie aufgefaht wifien wollte ale eine intereflante Be
tanntichaft; da jchweihte Benno Jakobjon, der franzöfirende
Plauderer und Theaterfeuiffetoniit des „Verliner Tageblatt” aus
feiner beifällig aufgenommenen Künftler:Novelle „Das Modell“,
unter deutlichen Erinnerungen an Dumas’ „Fall Clömenccau“
und Zudermann’s „Sobom’s Ende” einen Fünfatter „Fräulein
Tizian“ zufammen, der im Lejling-Theater gründlich abgelehnt
wurde; da erlebte im jelben Theater Wildenbrucd's fruct-
bare patriotiihe Bühnendichterei einen jtarfen Witherfolg mit
„Nungfer Immergrün“, einem hundert Jahre zu fpät gefommenen
land Stüd umd einer um 50 Jahre veripäteten vaterländiichen
Bofe, die fih wie die Dramatifirung einer Erzählung von Guftav
Nierig auonahm: „Der Junge von Hennersdorf”, uriprünglid für
das fommerlidhe Ausjtellungstheater „Alt:Berlin” beitimmt, für
das aber die Sache zu lang wurde. Das Preitige Friedrich des
Sroßen, der den deus ex machina in beiden Dichtungen machte
und deiien Verherrlihung Diele gelten, vermochte nichto zu
Velten... Eintagsfliegen, Eintagsfliegen aud) in dieiem Fall.
Da — ob, ich fönnte die Lifte mod) lange fortiepen, begnüge
mich aber nur noch mit einem legten Veiipiel — da alio ve
ichwand im Deutiden Theater Morig Heimann'o Yuit
ipiel „Weiberfchred“ gar gleich nad der erften Aufführung. Nicht
bloi die Weiber, fonderu auch die Männer, die zünftigen ımd Pie
freiwilligen Theaterbefucher, befamen diefem faden Zeug gegenüber
einen heillofen Schred und damit natürlich auch gleich die Theater:
leitung. Nidst viel befier erging eo Georg Biridfeld am
felben Abend. Das heißt, was die Nritit betrifft, denn im
Theater, wo fein Stük „gu Haufe” dem Heimannichen vorauo-
ging, war feine Gemeinde ber Gläubigen im Namen der „Dodernen”
ftarf gemug vertreten, um ihm einen äußeren Erfolg zu bereiten,
der ad) nach einige Tage andielt.
„gu Haufe” it äfter als „Die Mütter“, it aber ipäter
zur Aufführung gelangt, jüngit in Münden, in einem Privat
freife jener Gemeinde. Warum die Sache der Autor bezeichnet
fie alo „Ein At“ -— durchaus in Berlin öffentlich auf die Bühne
gebracht werden mußte, ift nicht recht einzufehen, denn das Talent
Runjtbriefe. 237
Hirfchfeld’s war durd) „Die Mütter“ glam erwiejen. Talent
und weiter nichto, zeigt auch „un *, ein Talent auf Ab-
wegen. Yan erichridt förmlich, wenn man hört, dal; der Verfailer
diefen „A“ fchon als Neunzehnjähriger geihrieben Hat. Ein
grauenvolles Wild wird vor uns entrollt, jozujagen eine Norrups
tionsjtudie „nad dev Natur“, jo dah alte die Bezeichnung „AL“
doppelfinnig wird. Mit ichärfiter Beobachtungsgabe wird ein
ichenfliches Familienmilien gefdildert, ganz im Stile Strindbergs.
Ein abgeraderter Vater; eine Mutter, die fh einen gemeinen
Liebhaber häl ein junger Sohn, Bummler und VBörfenfpieler,
der, gleich dem Vater, um diefes Verhältnii weil und cnifd,
dazu lat; eine junge gelähmte Tochter. In diefe nette Familie
Fehrt der ältere Sohn zwüc, als friichgebadener Dotter, voll
Lebensidealen und guten Srundfägen; und der Schmuß und die
Verfommenheit im Elternhanfe efeln ihn jo an, daher, da er
nicht. mitmachen will und nichts reiten fann, ihm den Nüchen
fehrt.
en
Ih branche wohl mm die Zache weiter Fein Wort zu ver
fern .caa. Das ift mehr Schmeißiliege als Eintagsfliege.
* «
Ziemlich voribergehend auch mr war der Erfolg von
Paul Lindan’s nenejtem Schawpiel im Yeifing Theater.
„Die Erjte“ zeigt den Verfaifer von derielben Seite, wie ein
frühereo Scjaufpiel: „Der Andere.” Nnifilige jwridiiche Kragen
und Probleme für die Bühne zu bearbeiten in amerifanifch
franzöfiicer ‚wicmanier bat er drüben, jenfeite des grofen
Wajjers, gelernt md der gute Senfationserfolg des „Anderen“
ermuthigte ibn zu einem zweiten Veriuh. Die „Erjte“ it die
erjte Fran des Nepierungsrathes Maine, die in Wahnfinm ver-
fällt und geidieden wird. Er beivathet dann ihre Zchweiter.
ad einer Neihe von Jahren fehrt die „Exfte” - geheilt zurüc.
Ein furchtbarer Nonilift aljo. Aber Yindan hat nicht recht den
Muth achabt, die Nonjeque zu ziehen, wie das wohl ein
Goethe in dem ähnlichen Vorwurf feiner „Ztella” gethan bat.
Ja, Yindan hat 05 jogar vermieden, die „seene A fnirer zu
icpreiben, wie Sarcey jagen wide. Yiegt fie denm nicht in der
1
238 Kunjtbriefe.
Luft — die dramatiich gewaltig bewegende und erihütternde
Begegnung zwücen den beiden Schweitern? Der Verfajfer läht
aber die „yweite” mach Franzensbad wverreiit Tein, als bie
„Erite” yurüdtehrt und diefe geht mit der freu zu ihr Haltenden
Tochter und deren Bräutigam nad Umerika Tai das
Drama technisch vortrefilich gemacht it, daf; eo viele finnige Züge
und padende Zjenen aufweilt, verjteht Ti bei Lindau von
jelbft. Tropdem erwies fid die Novität ad nicht dauernd
zugfräftig.
Wirte, ftarte Zugfraft haben bisher überhaupt nur die
dii minorum gentium bethätigen Fönnen die Herren Poljen-
und Jur-Fabrilanten, denen die Schneider, die die Männer vecht
närrijd) leiden, die Damen vecht pifant entkleiden, die Deforations:
maler und Miajhinenmeifter mit ihren Truco zu Hilfe kommen.
Des Pariier Varney „Kleine Yämmer“, der Berliner
Keller und Hermann „Sungerleider“ und ihrer Mitbürger
Mannjtedt md Jafobjohn'o „Tolle Naht" —- ja,
die bringen co im Laufe einer in auf hundert, zweihundert
und mehr Vorjtellungen und illuftriren damit ein weitereo Mal,
dab die Höhe der Tantiemen fein Sradmeijer für die dichterüche
Höhe ihrer Empfänger Üt.....
Dianches Theater, vor Allen gmund Yantenburg's
fofetteo „Neues Theater” am hiffbauerdamım, verfuchts nicht
ohne Glück mit GSajtipielen ausländischer Berühmtheiten. Zo
feierte ja die Judie bei Yautenburg Triumphe, fo ipielte dort Di me
Zegond- Weber. Nachdem der Wiener Bernhard Yaumei
dann als Hans Yange, alo Nichter von Zalamca, als Erbföriter
(von Yudwig), alo Werner in „Minna von Barnhelm” feine
zahfreichen Berliner Freunde aufo Neue erfrent hatte, haben wir
jegt dort jeinen berühmten Yandsmann Adolf Sonnenthal
vom Hojburgtheater wieder einmal alo Year, Nathan den Meilen,
Wallenftein, ja jogar als Philippe Derblay in - horribile dietu
Ihnet’o „Hüttenbefiger“ bewundern fönnen; jelbjt diejeo fürdhter:
liche Bourgeoisjtüct vermochte die grofie und edle Nunjt Sonnenthals,
der in einziger Arı no) immer das Kadı des Licbhabers mit
dem des Charakteripielers zu verbinden weiß, mundgerecht zu
machen. Und num eben follte im „Neuen Theater“ das Gajtipiel
Runitbriefe. 239
Guitavo Salvini’s beginnen, des hen berühmten
Sohnes des ewig berühmt bleibenden Tommajo Safvini. Aber
in der legten Stunde zerichlug fi) die ade...
*
* *
Zwiichen den einzelnen Gajtipielen bietet dann das „Neue
Theater” auch im Spielplan der eigenen Truppe ein recht bunt-
ihediges Bild. Wander Zug in biefem Bilde bedeutet aber
0 wars aud mit Mar Dreyer’s Schau:
pie „Winteridlaf.“
Der liebenswürdige Verfafler, eine der inmpathiidejien Er:
iheinungen in der Verliner Schriftfteller: und Journalijtenwelt,
geht ruhig jeine Wege. Unbeirrt und abhold jeder Nellame,
jeder Whraje und Pofe. Seit einer Heihe von Jahren Feuilleton:
redaftenr der „Täglichen Nundichau“, deren Unterhaltungsbeilage
fid) befanntlich eines weitverbreiteten bejten Nufs erfreut, findet
er doch Zeit, ichöpferiihem Drange nachzugeben. Ein Band
Novellen, dann vor einem Jahr das Schaujpiel „Drei“, das dem
wigelnden Berliner für eine Woche das Wort in den Mund legte:
„der dreiunddreifiigährige Dreyer hat einen Dreiafter „Drei“
geichrieben“ —- machten feinen Namen bald in weiten Mreifen
befannt. Und zwar auf vortheilhafte Weile, jo dah man feinem
jüngiten Schaufpiel mit einiger Spannung entgegenfah.
Dreyer ift au einer von den Modernen, aber er jtcht bei
ihnen auf dem redhten Flügel, jo dah er mit dem anderen Yager
Fühlung Hat. Dah er als Dramatiker jtandinaviiden Spuren
folgt, wird Kiemand leugnen, aber ex zeigt dabei doch felbftändigeo
Gepräge, Er hält fi) von aller Symbolifterei meiitens frei, wie er
andererjeits —- anders alo die Halbe und Hirschfeld ——- bemüht
ift, eine abgeichloffene Handlung zu bieten, feinen blohen Lebens:
ausfchnitt; auch begnügt er fi nicht, nüchterne, plumpe
Wirklichfeitsbilder zu malen, jondern hat fie immer zu einem gemüth:
vollen Stimmungsbilde von dichteriichem Gehalte vertieft. Fertig
it er freilich noch nicht und mitunter hat man die Empfindung,
als ob die Nonjtruftion an die Stelle echt dichterifcher Nonzeption
getreten jei. Aber man gewinnt doc) immer die Ucberzengung,
da Dregers’s großes Talent erfreulich ih weiter ausreift, da
1°
240 Kunftbriefe.
er nody fange nicht fein letes Wort geiagt hat und dah dieles
einmal ein ehr gewichtiges fein wird.
Das bewies auch der durdichlagende Erfolg von „Winter
ichlaf.* Eine fehr tragische Geichichte, die der reizenden Förfters
tochter Trude, die im tiefen Walde, im verichneiten Korjthaufe ein
Yeben führt, das nur von der Welt draußen, von fruchtreichem
Thun im Dienfte der Menfchheit träumt, und das, freudlos,
unfenchtbar und umveritanden, gleichförmig fich abhaspelt von Tag
zu Tag ywiicen einem braven, aber beihränften Vater, einer
nichtswürdigen dummen und boohaften Tante und einem rohen,
finnlichen, ungeliebten Bräutigam, der als Koritgehilfe im $
lebt. Da retten die Männer eines Abends einen im Si
im Walde halb erfrorenen jungen Wann ins Förjterheim
und mit ihm zieht etwas, wie Krühlingsfonnenjchein in Trude's
Yeben ein. Er zeigt ihr, wie jhön und aroß und weit die Welt
drangen, in der er jelbjt als Schriftiteller im Dienfte des Volfs
tätig it, ein Dienjt der ihm gar eine längere Gefängnifhaft
eingetragen hat. Auch will mın Trude fort, nad) Verlin; aud)
fie will ihr Yeben nüsen. Widerftrebend giebt der Vater feine
Einwilligung; vajend eiferfüchtig aber wird der Bräutigam, der in
feiner niedrigen Gefinmung and hinter des Mädcheno Entichluß
nur Häßliches und Schmusiges vermutbet. Und da begeht er,
um fich Trudes zu vergewiflern, von der Tante anfgereizt und
angeftachelt, felbit etwas jo Sühliches und muBßiges, dal
um, im nächtlichen tiefen Schlaf entebrt ev feine Braut! Zie
aber, am Morgen, als der Jrennd den Wanderjtab weiter fort
gelebt bat und das Gefühl der furctbaren Schmad), die ihr
widerfahren, und das Elend des Alleinjeins fie ganz und gar
zufammenbrechen Iaiien, fe wirft das zertrümmerte Yeben fort
und erhängt fh... Was ich da To Zurz und fnapp erzählt
habe, inmt fich natürlich noch weit brutaler aus, als in der
Tichtung, wo die Charaktere und die Stimmungen fo etwas wie
eine Art Votivirung für die Unthat des Zoritgehilfen zujammen
weben. Aber jehr haltbar erweilt ji das Gewebe and dort
nicht und co faflen fi mit dem Dichter hierüber gewiß jchr
polemifche Crörterungen anftellen..... Dazu fehlt es bier an
Ram. Nur vor einem Vorwurf möchte id) den jungen Dichter
Nunjtbriefe. 24
bewahrt willen, vor dem, als fei jeine Handlung auf dem Boden
frivoler Senfationshaicherei entftanden, etwa wie in Sudermann's
„Zobom’s Ende” die Brutalität des Willy Janifow. Nein
Dreyer meint es bitter ernjt mit dem Verlauf von Trude's Ge
ichid und er ijt von feiner inneren Begründung feit überzeugt ....
Ih nannte eben Sudermann und Sie baben auf
diefen Namen wohl fdon längft gewartet. Wedeutet dor) eine
Premiere feiner Stücke immer eine Senfation im Berliner Ge-
jellihafts- und Aunjtleben. Diejes Dial wohl weniger, als jonit,
wo eine jolche Komödie and) wirklich die erjte Erftaufführung war.
„Das Glüd im Winkel” aber erlebte fie befanntlich in
Wien md feitdem hat der Dreiafter die Runde über viele große,
eine und ganz Heine Bühnen aud Teutichlands gemacht und
Neklamepofaume md Lobherolde haben ihres Amts jchon jeit
Vionaten gewaltet. Sudermann grollt Berlin, das ihn exit
unmotivirter Weife zu einem gewaltigen (Genie beförderte und
ihn dann fpäter ebenfo unmotivirter Weile unter die Dugendichreiber
und Hungen Ztveber verjegte. Wan neidete ihm den großen Erfolg
den man doc) jelbjt mit übertrieben hat und cben darum fonnte
man fh nachher nicht Genüge thin, das Gögenbild wieder in
den Staub zu ziehen, md, wie man Zudermann jo ganz ohne
Grund anfänglich als eine großartige Offenbarung der „Diodernen”
bejubelte, ihn num ebenjo grumdlos zu den Marlitt und Werner
und jonftigen „Öeliebtejten“ Gryäglerinnen der „Sartenlaube” zu
werfen. Ein intereffantes Kapitel aus der Pinhologie der Ge-
jellichaft, aber heute nicht weiter zu verfolgen. Kurz und gut
Sudermann wollte die Berliner jtrafen. Cie jollten zulegt dran
tommen. Wielleiht dachte er dabei aud etwas ans Geidhäft,
das ihm Berliner Mißgunft und Unverfiand, wie er meint, vor
Jahr und Tag in Bezug auf die „Schmetterlingsichlacht” jtarf vers
dorben hatten... Und jo war denn die Premiere am Ofter
fonnabend im Yeifing-Theater eigentlich eine „Terniöre.” Die
Berliner hatten aber inzwiichen die Ungnade Tudermanns jo
vubig ertragen, dahı fie fich am betreffenden Tage einfanden, als
wäre nichts geidehen. Vielleicht war man aud) etwas neugierig,
füch felbjt davon zu überzeugen, ob denn das neue Echaufpiel
wirklich jo außerordentlich gut, oder jo entjeplid ihleht, wie cs
242 Rumftbriefe.
in den hundertundein Berichten aus den anderen Städten, je
nachdem, zu fein geitanden hatte. Und damı — nod vet
immerhin der Name Eudermanns in Berlin trogalledem ..
So hatte jih denn ein Theil von „Tout Berlin“ gnfammen-
gefunden: SHoffreife umd die hohe Finanz, Litteratur und Runjt
waren zahlreid vertreten... Wie die Vorftellung verlief
en Sie ja. Mit Sudermannjchen Premieren pflegt fih ja
ftets aud der Telegraph zu beicäftigen. Aud) das Schaufpiel
jelbjt ift Ihnen wohl idon befannt. Zum mindejten aus Zeitungs
berichten, möglicherweije gar jchon von ber Bühne her. Wir hier
in Verlin hinfen eben diejes Mal nad).
Tann werden Cie auch jelbjt icon fi davon überzeugt
haben, daß gegenüber den leßten Nomanen, Novellen und den
legten Drama „Tas G im Winfel“ ein Fortichritt ift, weil
® ein Rüdicritt it. Denn es ift das neue Schaufpiel der
„Heimath“ und wohl aud) „Frau Sorge” ebenbürtig. Cie werden
aud) bemerft haben, dal die Nolle des Nöcnig, des Nraftmenichen,
dem Alles glüct, zumal auf der Weiberjagd, ohne die er nicht
leben zu fönnen erflärt, fo dankbar ift, dah Sudermann wahrlid
nicht Direktor Blumenthal zu verpflichten brauchte, ertra Friedrid
Mitterwurzer aus Wien zu engagiren, um dieje Rolle and)
bier zu „freiren® und während eines Monats zu fpielen. Der
Dichter Hatte von diefer feiner Ueberflugheit nur das, dab von
gewiffer und jehr zahlreicher Seite aus der unleugbare Erfolg des
Schaufpiels, namentlich des jtarfen zweiten Afts einfach dem
Wiener Gajt gut geihrieben wurde.
Jin Uebrigen liche fih aber über „Das Süd im Mintel“
und insbejondere über den in ihm mehr als fonft irgendwo in
Sudermannjchen Werfen zu Tage tretenden Jbjenismus — richtiger
Iofenfopie — fo viel jagen, dah ic) für diefes Mal darauf ver-
sichten muß.
Berlin, im April,
3. Norden.
ale
Kitterärishe Streitichter.
Die Entwicelung der politischen Ideen in der nenern Zeit
it eines der intereflanteften, aber auch jchwierigftien Probleme,
mit dem fi Phitofophen, Hiftorifer und Stantsrechtslchrer
wetteifernd beihäftigt haben. Die Aufeinanderfolge und das
Vergältnif; der verichiedenen Stantsformen zu einander, die Cin-
wirkung, welche hervorragende politiiche Schriftfteller auf die
Gejtaltung des Stantslebens ausgeübt und umgefehrt der Einflufi,
den die Verfafung beitimmter Staaten auf das politiiche Uxtheil
und die politiichen Theorien der einzelnen Schriftjteller gehabt, die
Nadjwirkungen einzelner Yehren und Anfhamngen aud auf eine
ipätere Zeit - das find ragen, mit denen fd) viele hervor
vagende Denker und Forjcer im neuerer Zeit beich
Aber aud) nad) allen den ausgezeichneten Arbeiten, die wir auf
diefem Gebiete befigen, bleibt mod) viel zu thun übrig, find nicht
wenige duntle Punkte nod) aufzuhellen. Heutzutage fragt man
nicht mehr wie zur Zeit der Herrichaft des vulgären Yiberaliomus,
welches der beite Staat, die beite Werfaflung jei, jondern man
unterfucht hiftorifch, welches die jedem einzelnen otfe nad) jeiner
geidichtlichen Entwidlung am meijten entipredende Staatojorm
it; an die einfache Webertragung der geicichtlich gewordenen
Verfajjung eines Staates auf ein anderes Wolf denfen heute zur
unreife Köpfe und vericrobene Doctrinäre. Cine Unteruhung
24 Yitteräriiche Streiflichter.
der Urfachen des Ucberganges des Abfolutismus zu der Demofratie,
wie fie in der franzöfiicen Nevolntion zur Herrichaft gelangte,
und dann der weiteren Entwiclung der Fonjtitutionellen Staats
form in Europa ijt eine ebenfo fchwierige als danfenowerthe
Aufgabe. Es mul daher Gottfried Nodo Bud: Beiträge
sur Bejhichte der politiihen Sdeen und der
Negierungspraris”), das ihre Yölung unternimmt, jehr
willfonmen geheihen werden. Der Verfaifer hat ji das Ziel
gejebt, den engen Zulammendang, in dem die Anfidhten der
politiichen Schriftfteller mit den Zuftänden ihrer Yänder jtehen,
darzulegen und zu zeigen, dafi jene meift nm beitinmter realer
Intereffen willen ihre Schriften veröffentlicht haben. |n der
forgfältigen Nacweilung diefer Wechiehvirkung liegt das eigentliche
Verdienft des Buches. Der erite Theil behandelt Abjolutismus
und Parfamentarisus in Frankreich) und England von 1661 bis
1718. Noch führt uns fogleih in medias res, indem er die
Theorie des Abjolntismus unter Ludwig NIV, entwicelt und die
Art jeiner Nenierung Äcildert ; er verfährt dabei aufs gründlichite
und giebt eine bi ins Einzelne gehende, höchit (ehrreiche Meberficht
über die Negierung und Verwaltung Frankreichs unter Andiwig NIV.
Wir vermiffen aber doc) eine Einleitung über die Vorbereitung
des Abfolutismus und die Gegenitrömungen in Franfreid) vor
Yudwig XIV. Die Lehren Jean Bodins und anderer franzöfiicher
Schriftiteller fowie andererfeits die jo tief eingreifende Verwaltung
Nichelieus und die legte Erhebung des frangöfiidhen Adels in der
Fronde Hätten in einem einfeitenden Kapitel überfichtlicd und in
der gründlichen Art des Xerfalers zufammengefaßt dem Lefer
eine fehr erwünfchte Orientirung geboten. Zept tritt uns jogleich
der vollendete Ablolutismus Ludwigs XIV. in feiner ganzen
Ungehenerlichfeit entgegen. Kod) behandelt dann weiter den Sturz
Jacobs II und die Begründung des Parlamentarismus in England
und die damit im engen Zufammenhang ftehende litterärifche Hecht-
fertigung der „glorreichen Nevolution”. Wie vieles eriheint hier
in ganz anderem Licht als in Piacaulays Darfiellung! Zum
Theil beeinflußt durd) die englühen Verhältnifie und Autoren
= Bırlin. N. Gärtners Verlagsbudbandlung Bd. I und II, 10 M. 0.
ihter. 245
erhebt ih eine litterärifche Oppofition gegen den Abjolutismus
in ranfreic, der dann mter ber Negenticaft die der Parlamente
folgt. Am bedeutendften zeigt fi die tiefe Einwirkung der
englüichen Verhältniiie bei Montesquien, dem großen politifchen
Nlaffiker, der die erftie Periode der Oppofition gegen den Abjohutismus
gewifiermahen abichlieht. Noch weit Iharfiinnig die Einwirfung
des Jlalieners Gravina und des Engländers Algernen
auf Montesquiens Anfihten und Lehren nad) und urtheilt
haupt weniger günjtig über den berühmten Autor. In dem zweiten
Bande, der den Titel: Demokratie und Nonftitution (1750— 1791)
führt, zeigt Noch auf Grumd eingehender und jorgfältigiter Studien,
wie wenig das engliihe Parlament noc unter Georg 11. eine
wirkliche Vertretung des Volkes war und wie vückfichtslos die
Wigharifiofratie ihre parlamentariiche Herrichaft zu felbitfüchtigen
Zwecken, zu ihrer eigenen Bereicherung mißbrauchte und weiche
Gewaltthaten je fi erlaubten. Schr amziehend it ferner der
Nadweis, wie Montesquiens bewundernde Anerkennung der
englfchen Verfaifung auf die Engländer zurüdwirkte und allmählich
zu einer förmlichen Manonifirung derfelben führt. Mit Inte
folgt man Node Tarlegung, wie Nouflenns berühmtem contra
social die Verfaffung der Stadt Genf zu Grunde liegt und an
eine Demokratie im modernen Sinne von Noufjenu garnicht
gedacht wird. Die Verwaltung der engliichen Kolonien in Amerika,
ihr Abfall und dann die Verfaifung der Vereinigten Staaten
werden vom Xerfajier in lichtvoller, jehr belehrender Weije dar-
geftellt. Den Schluß des Bandes bilden die Neformverjude und
Neformideen unter Ludwig NV]. vor dem Ausbrud) ber franzöftichen
Revolution, endlid) eine genaue Analyfe der Verfailung von 1791,
bie trog ihres furzen Weitehens das Mufter für viele fpätere
Gonftitutionen geweien it. Dem Verfaffer ift, wie er jelbft im
Vorwort zum zweiten Bande befennt, jein Buch unter den Händen
zu einer Gejdidte des Konjtitutionalismus geworden; man fann
mit diefer Erweiterung und theilweiien Aenderung des urfprünglichen
Manes nur zufrieden jein. Mit bewundernswürdigem Fleiß hat
Rod das weitihichtige für feine Arbeit in VBetradt fommende
fitterärifche Material durdigearbeitet, man wird felten einer jo
umfafjenden Kenntniß der politiicen Xitteratur Frankreichs und
246 Litteräriiche Streiflichter.
Englands begegnen, wie fie hier fat auf jeder Seite fich zeigt.
65 ift eine Arbeit von echt deuticher Gründlichfeit, die Noch ae
liefert hat und bei der er es am forgfältiger Aritit nicht hat
fehlen laflen; man hat bei der Yeftüre jtets das angenehme Gefühl
fich auf ganz ficherem Boden zu bewegen. Wenn wir etwas ver
mijjen, jo ijt es dies, dah der Verfajer mit feinem Urtheit und
feinen Anfichten gar zu jehr zurüdhält; nur bisweilen erfährt mar
durch eine furge Bemerkung Kod)s Anficht. Wer aber jo gründlid)
wie er den Stoff beherricht, der hat das volle Necht zu bejtimmter
Veinungsäuferung. Nod)s Bud) ift feine leichte Leftüre, es will
ftubirt jein; aber Niemand, der fid) für Politit und Gefchichte
ernftlich intereffirt, wird es ofne reiche Belchrung aus der Dand
fegen. Es follen noch ein dritter und vierter Theil folgen, die
bis zur Gegenwart reichen werden; mögen fie nicht allzu fange
auf fid) warten laifen.
Eine Ergänzung zu dem Werte Node bildet das joeben
in beuticher Ueberfegung von Adolf Nrefiner erfdienene Buch
von Alfred Sorel über Montesguien). A. Corel
ift einer der hervorragenditen franzöfiichen Hiltorifer der Gegen
wart, er it auch mit der deutichen Yitteratur vertraut. In
dem vorliegenden fleinen Buche hat er eine vortrefi
tif Wiontesquieus, feiner Perfönlichteit wie feiner fch
Thätigfeit geliefert; nur das an befondern Ereigniffen allerdings
arme Leben Montesquieus wünschte man etwas eingehender dar-
geftellt zu fehen. Echt franzöfiicher Eoprit erfüllt Eorels Bud),
geiftreiche Wilder und Wendungen drängen fid), jcharf zugeipigte
Antithejen feffeln die Aufmerkjamfeit des Lefers, die Darjtellung
ift glängend, furz es it ein ausgejeichneter Schriftiteller, der zu
uns fpridt; bei manchen feinen Wendungen hat man unwilltürtich
das Gefühl, dah fie im Franzöfiihen fi doc) noch viel beijer
ausnehmen miüifen als im Deutjcen. Zugleich aber haben wir
bei der Lektüre jtets den Cindrud, dah das geiftwolle Buch auf
umfajjender Sadhfenntniß und vollfommener Vertrautheit mit dem
Gegenjtande beruht. orel analpfirt Wtontesguieus Charakter
und Werfe ganz in ber je jeines Wieifters Taine; cs hat
*) Berlin, Ernit Hofmann. 2 M. 40 Mi.
18
=
Litteräriiche Streüllichter.
troß der geiftreichen Behandlung etwas Grfältendes, eine Perfön
tichfeit jo gleichlam vor feinen Augen jeziven, die geheimjten
Falten ihrer Seele enthüllen zu jehen. Die vorzüglichften Partien
des Buches find die Charafterentwicelung WVlontesquieus, die
Analyje des Esprit des lois und die Darlegung der Nahwirfungen
von Montesquieus großem Merfe bis in die neuere Zeit. Was
Zorel über die Lettres Persanes ausführt, it geiitreid, aber
hat uns von unferm Miderwillen gegen dieje frivole Satire nicht
abgebracht und aud) den andern Jugendichriiten Vontesquieus
wird heute jchwerlic Jemand Geihmad abgewinnen. Erjt in den
Considerations sur les eauses de la grandeur et de la
deeadenee des Romains erjcheint Montesquieu als der Mann,
der Anipruch darauf maden fann, daß fein Name auf die Nad-
welt fomınt. Zein gröjtes Hauptwert l’Esprit des lois wird von
Sorel nad allen Seiten hin beleuchtet und fritiich gewürdigt.
Der großen Anerkennung, welche er diejem berühmten Buche zollt,
wird man im Ganzen beipflichten, bod) find Node fritiidhe Be-
merfungen nicht zu überjehen und intereffant ift cs aud) mit
Sorels Ausführungen die icharfe Kritit zu vergleichen, welche
Theodor v. VBernhardi in feinen Aufzeichnungen an Montesquieus
Wert geübt hat. Schr anziehend find Sorelo Ausführungen
über Vlontesqniens Cinwirlung anf die franzöfiihe Nevohution
und jehr fein der Nachweis, dal; ebenfo Guigot wie Aleris von
Tocqueville in ihren Grundanfhauungen von Montesquien beein:
fußt find. Sorels Bud) wird gewih; aud) in Deutihland viele
Lejer finden. Die Ueberjegung ift gut.
Die „diographiihen Blätter“ *) jchreiten rüftig fort. Das
erite Heft des zweiten Wandes hat wieder einen mannigfad)
interejanten Inhalt, aus dem hier das Wejentliche hervorgehoben
fei: Theobald Ziegler hat einen anziehenden Auffag über Peitalozji
geliefert, an dem uns nur der heftige Eifer gegen Die fonfeffionelle
Schule, die. antiogial und antinational wirken joll, unangenehm
aufgefallen ift, vom Standpunkt des Deismus ift die fonfeflionsloje
Schule eine ganz verjtändliche Forderung, aber für den pofitiven
Shriften it es völlig unmöglich fie zu accepiven. Weiter behandelt
*) Berlin, Ernit Hofmann.
248 Litteräriiche Streiflichter.
A. Schönbady den Minnefänger Ulrich von YLiedhtenftein und CO.
von Völderndorif bietet eine anziehende lauderei über Fü
Chlodwig zu Dohenlohe, das bedeutendte im Heft find aber die
von unjerm Landsmann Otto Harnad aus dem Nachlai Wilhelm
von Humboldts mitgetheilten Yriefe, unter denen fich hödjt inter-
effante vom Freiheren von Stein, von Altenftein, Karoline Wolzogen,
Franz Vopp und %. ©. Wetter finden. Möge es au weiter
der Zeitichrift nicht an anziehendem Stoffe und tüchtigen Wit:
arbeitern fehlen!
Die Soethelitteratur fteht gegenwärtig in üppiger Blütbe ;
eine Anzahl umfarfender Werke über Goethes Leben und Dichtungen
find fajt aleichjeitig oder bald nad) einander erichienen und über
einzelne Werioden feines Yebens und feiner dichteriichen Thätigleit
find ebenfalls mehrere Schriften von größerem oder geringerem
Umfang in fester Zeit veröffentlicht worden, Jndem wir uns
vorbehalten jene größeren Arbeiten fünftig einmal im Zulammen
bange zu bejprechen, wollen wir für jegt uns mit ein paar Schriften
beichäftigen, die weniger allgemein befannte Dichtungen Gocthes
behandeln. Die erjte von Hermann Baumgart, Goethes
„Sebeimmifie” und feine „indijdhen Kenenden“)
unternimmt es den Anhalt und die Bedeutung diefer wunderfamen
Dichtung, die leider Fragment geblieben ift, darzulegen und fie im
Einzelnen zu deuten. Die „Öeheimnilfe” 1785, alio in ber
Periode von Goethes friichefter Dichterfraft entjtanden, gehören in
der Form zu dem vollendetiten, was der Dichter geihaffen; die
herrliche „Zueignung“, die jedes für Pocfie empfänglide Gemüth,
beim Lejen immer von Neuem ergreift, war ihnen urfprünglich
als Einleitung vorangeftellt. Wäre die Dichtung, von der nur ein
Meiner Theil ausgeführt vorliegt, in bderjelben Weile zu Ende
geführt worden, jo mürbe fie eines der größten dichterifchen Merfe
Goethes fein und über feine refigiöfen Jdeen und Anihauungen
die tiefiten Wufichlüffe gewähren. Collte dodh darin -die Einheit
alfer Religionen trog aller Verjdhiedenheit ihrer äußern Gejtaltung
und Glaubensformen in bichterifch - inmbolifcher Form verfündet
und in einer Neihe geheimnißvolfer Bilder dargefiellt werden.
uttgatt, Verlag der X ©. Cotta’ichen Puchhandlung. Nachfolger. 2 R.
Litteräriihe Streiflichter. 249
Es iit begreiflich, daf jebjt Goethes TDichtergeiit bei der Aus:
führung diejes Manes, der ebenjo große Anipannung der poetifchen
Nrafl wie des philofophiichen Denfens erforderte, erlahmt iit- Das
Fragment, wie es vorliegt, ift bei wundervolfer Narheit der
dem Inhalte nad) dunkel und rätbielhaft. Yaungarts Veriud)
einer Erklärung desfelben und einer Begründung jeined inneren
Zufammenhanges fowie der von ihm gegebene Nadmeis, dal;
darin Goethes damalige religiöie Anichauungen ihren vollen Auo«
drud finden, ift daher danfenowerth. Ueberhaupt ift die Schrift
aedanfenvoll und anregend, nun bisweilen etwas ihwerfällig und
dunfel im Ausdrud. Die tage nad) Goethes Stellung zur
Neligion, insbejondere zum Chriftentium wird von Banıngart ein-
gehend und jorgfältig erörtert. Er zeigt, dab nach Gocthes An
faiiung alle pojitiven Neligionen nur verichiedene Spınbole der
einen religiöfen Dee find, dal fie vergeben und wechieln und
die ee allein bao Wahre und Enige ü enthum üit
für Goethe die bio jegt volltommenite und hödjite Korn der
Religion, aber das Kofitive desjelben ift doch aud) nur vergängliches
Symbol, wie es denn überhaupt der Ergänzung din andere
Keligionsformen bedarf. Cs iit danad) Elar, dal Gacthe feiner
religiöfen Grundanihanng nad Chrift im Zinne des Evangeliums
nicht war; im Einzelnen hat er oft eine alücliche Anfonfenuenz
bewiejen. Wenn Baumgart meint, Goetpehabe den weientlichen Anhalt
des Chriftenthums in feiner Auffallung der modernen Menschheit
erhalten, jo jtellt er jih ganz auf Goethes religiöfen Standpunt.
Air müffen dagegen bemerfen, dal; das MWeientliche des Chriften
thums eben das “Politive im ihm it md dal es nicht eine oder
die höchfte Korn der Neligion, jondern die Netigion jchlechthin üt.
Wenn Bamgart meint, Goethes Stellung zum Chriitenthum fei
jeit jeiner Erklärung gegen Yavater bio zu feinem Tode ftets die
gleiche geweien, jo Fönnen wir dem nicht zuftimmen; jwifchen dem
deeidieten Yichtehriften, alo welchen er fi 1782 erklärt, und jeinem
wahrhaft „ulianiichen Hal gegen das Chriitenthum, wie er Teit
1788 zur Eriheinung fommt, endlich jeiner gemähigten Stimmung
und Haltung, wie fie feit 1812 uns entgegentritt, ift dad) ein
großer Unterihied. Yon den indiichen Legenden zeigt Yaumgart,
da fie denfelden religionsphilojophtichen Anfchamungen entiprungen
250 Litteräriiche Streiflichter.
find, in welchen aud) die Geheimnifje wurzeln. Man icheidet von
Yaumgarts Schrift mit dem Gefühl lebhafter Anregung, wenn
man ihm auch durchaus nicht immer zuftimmen Fann.
Mit einem ganz anderen Eyflus von Gedichten beichäftigt
ih Auno Fiidher in feiner Schrift: Goethes Sonetten
kranz*). Go it die viel erörterte Frage, auf wen die 17 Sonette
des Dichters fi beziehen, die darin behandelt und zu endgültiger
Enticheidung zu bringen unternommen wird, Kuno Ficher fommt
zu dem Nejultate, da fie fänmtlid; Minna Herzlieb gelten und
giebt dabei eine Schilderung der fpätern traurigen Yebenoicjidiate
diefes jchönen Mädchens, zu dem Goethe eine Zeit lang cine
teidenichaftliche Zuneigung empfand; fie ift das Urbild der Ottilie
in den Wahlverwandticaften. Bemerkt jei beiläufig, dab fie eine
tiefe Neigung für einen Herrn von Manteuffel Bi Livland, der
in Iena ftudirte, längere Zeit gehegt hat. Bettinas Anfprüche
auf die Sonette werden entichieden zurücgewieien und nebenbei
ihre Goethe:Religion treffend charakterifirt. Fücher jucht dann in
geiftreicher Weile jämmtliche Sonette als in innerem Zufammen-
ange jtehend zu erflären und dao Ganze als einen jhönen Dlinna
Herzlich gewidimeten Nranz zu erweilen. Xieles in Fiüchers Aus:
führungen erideint durdaus einleuchtend, Vtandhes dagegen
zweifelhaft und bedenklich, wie er denn and jelbt jolhe Gin:
wendungen vorausgejcehen und bereits zu entfräften gejucht hat.
Hedenfallo ift die Schrift ein beachtenswerther Beitrag zum er:
ftändni der Sonette und zur Nenntniß von Mina SHerzlicbs
Leben und Charakter; dah fie mit Geilt und Gefchmad geichrieben
üt, verfteht fid bei Nuno Fiicher von felbit.
Wir iehliehen hier eine Heine Schrift an, die jidh mit einem
der jchwierigiten Probleme der Mejthetit beihäftigt: Iofef
Müller, dao Weien des Dumors**). Der Verfailer,
ein Nenner und Verehrer Jean Paulo, über den er aud) ein ums
fangreidies Wert veröffentlicht hat, it durd) die cindringende
Veihäftigung mit diefem großen humoriftiichen Dichter zu feiner
Schrift veranlaßt worden. Sie zerfällt in zwei Theile, einen
>) Heidelberg, Carl Winters Lerlagsbuchhandlung.
+) München, Verlag von Dr. 9. Yüncburg. 1 M.
Litterariiche Streiflichter. 251
Rritüchen und einen thetiichen oder pofitiven ; in bem erjten werden
alle bisherigen Erklärungsverfuche des Humors aufgeführt und
fritifirt, in dem zweitnn legt Müller feine eigenen Anfichten über
Wefen und Charafter desjelben dar. Wie das zu geichehen pilegt,
find die Schwächen der bioherigen Definitionen mit mehr Glüd
nadhgewiejen als die neue eigene Erklärung begründet ift. Merk:
würdig üt, dal; der Verfajfer Jean Pauls Darjtellung des Humors
fo jehr befümpft; man follte meinen, diefer Dichter wäre doc) vor
Anderen dazu berufen geweien den Charakter der Dichtungsart,
in ber er jo Servorragendes geihaffen, zu erfaifen umd zu ent-
wideln. Dijchers Definition des Humors und des Kummorijten
icheint uno Müller nicht vecht zu würdigen, fie ift unferer Meinung
mad) noch immer das Treffendjte, was darüber gelagt worden ilt.
Die eigenen Anfihten des Berfafiers jdeinen uns troß vieles
Wahren und Richtigen, das fie enthalten, doc) nicht iharf und
formulivt zu fein, Manches, was er als Kennzeichen
chen Dichtung anführt, gilt von der Poefie überhaupt.
Seinem Sape: Optimiomus ift der hervorftedendite Charakter des
Humoriften, fönnen wir durchaus nicht beipflichten. Für Jean
Paul hat er allerdings Geltung, aber im Ganzen j—hen nicht für
Didiens, vollends nicht für Swift oder gar für Nabelais, auch für
Gervantes im Grunde nicht. Wir möchten mngefehrt behaupten,
da ein gemifier Pefimisimms zum Welen des Humoro gehört
und fait allen großen Sumoriften eigen it. Weitere Ginwendungen
gegen Cinzelmes zu erheben, würde bier zu weit führen. Wir
haben trog unjereo Widerfpruchs die Schrift mit Vergnügen gelefen
amd jtnmen im Cinzelnen dem Verfaler vielfadh zu. Ueberhaupt
üt eo in der Gegenwart f—on an und für fd) erfreulid) einem
ideal gefiunten Schriftiteller zu begegnen und die verftändnihvolle
Anertennung, welche Müller Claudius, Hamann und Bippel zollt,
hat uns mit wahrer Befriedigung erfüllt; wir würden cs mit
Genugthuung begrüßen, wenn er fid) einmal eingehend mit Hippel
beichäftigen und ımo die Nefultate jeines Foriheno und Nad):
denfens über diejen großen Humoriften mittheilen wollte.
Eine neue Eriheinung auf dem Gebiete der erzählenden
Dichtung, it ©. Verbed, von dem eine Sammlung von drei
Erzählungen uno vorliegt: der erite Veite, die Nenenhofer
352 Sitterärüiche Streiflichtet:
Nude, Maria Neander”). ie jind fämmtlich zuerit in
ben „Grengboten“ veröffentlicht worden, die legte eridheint bier
im einen zweiten Theil vermehrt: Es ib eigentlich mur zwei
wirkliche Erzählungen, die nz geboten werden, dritt be Nenen-
bofer Rinde it mr cine Sfige, die in ihrem Zulammenhange
wenig molivirt und am Schluß; mehr abgebroden als wirklich zu
Ende geführt erichelnt. uch dev Zweck und der Grundgedante
di „serienerinnerung” jmd its bitifel id unklar geblichen,
Zoll jie einen neuen Beleg zu dem alten Worte: Undauk bit der
Welt Lohn liefern? TDeifen bebürfte es doch ichwerlid und was
hier uns erzählt wird, it auch nicht originell genug. Oder joll
fie mo fchren, dafı bei den Ninbern eineo Tagelöhnerdorfes die
Undantbarfeit ganz beionders heimijd) Mf das wäre doch gewil;
ungereht. Man Fann jchr peflimiitiich von den Venfchen denfen
und cs doch unnatürfich finden, da fein einziges der Ninder,
welchen die Nlude jo viel remmdlichfeit und foviet Wohltaten
erzeigt hat, ihr and mur die geringite Spur von Dankbarkeit
bewahrt Haben joll. Auch der Charakter der Nude ift durchaus
nicht Far und einfeuchtend entwickelt. Yan deu beiden gr
Erzählungen it Maria Neander am meijten ausgeführt und zu
bejriedigendem Abichluife gebracht. Die Perfönligfeit und der
Charakter der Heldin ift Scharf und anihaulich gezeichnet mud ihr
Banden wohl motiwirt; dah fie uns inmpathiich it, fönnen wir
freitich nicht jageı Viefes weibliche Welen, das in der Sejell
ichaft eines leichtjinnigen Waters aufwächit ud in jugendlicher
Unerfahrenheit das Opfer eines gewifienloien Lerführeo wird, den
batd darauf ein plöglicher Tod creilt, das nun ihr Mind halt
und von fi entfernt, weil es fie an ihren Verderber erinnert,
das dann einen pilidhttrenen wadern Wann liebt und von ihm
wiedergeliebt wird, ganz nahe dem höchjten Glücte aber durd) das
Seftändniß, wie fie gegen ihr eigenes Mind gehandelt, den Ge:
liebten verliert, da er fie danadı nicht zur Mutter feiner Ninder
machen zu fönnen erflärt ein folhes Weien hat etwas Ab
Ntohendes. Die Diutterliebe ift bei einer ran etwas fo Nriprüngliches
und Naturgemäßes, fei cs auc gegen ein Mind der Schuld, da;
>» Yeipsig. Fr. With, Grumow. 6 M.
Kitteräriiche Streiflichter. 253
ihr Fehlen oder ihre Verlengnung und mit Abneigung und Wider:
willen erfüllt. Und wenn Varia Neander darauf ihr Kind, das
fie verftoßen, mit vieler Mühe auffucht und zu fid) nimmt, jo
bewegt fie dazu nicht das erwachte Mutterherz, fondern die unaus
töfhlihe Liebe zu dem Panne, der fid) von ihr gewandt; erit
ganz zufegt fommt das Vuttergefühl zu vollem Ausbrud). Auch
der feichtfinnige egoiftiiche Vater Profeffor ift Feine fehr ipmpathiiche
Eridjeinung, aber jein Charakter ift wirklich vortrefflic, gezeichnet.
Wir fehen den eitfen, frivolen, feine "Bequemlichkeit über Alles
ftellenden, nad Genuß tradhtenden Lebemann, der über den Ernjt
des Lebens mit einigen leichten Wigworten hinwegzufommen jucht
und den Nummer ber Tochter mit ein paar mehr oder weniger
geiftreihen Bonmots zu beihwichtigen bejtrebt ift, in voller Xeben
digkeit vor uns. Diefe Charatterfigur it eine meifterhafte Leiftung
und der Verfailer hat in ihr gezeigt, welche Feinheit piychologiicher
DVeobahtung md Darjtellung, welche Kraft der Veranicaulicung
ihm zu Gebote jtehen. Ganz vortreiflid) ijt weiter bie Entwicelung,
wie in dem Herzen des Profeijors durd das ihm anfangs jo
widerwärtige Kind allmählich wirkliche Liebe, die feinen tiefge
wurzelten Egoismus überwindet, erwedt wird. Nod) mehr Ber
friebigung als Maria Neander hat uns die Erzählung : der erite
Beite gewährt, wenn fie aud (ange nicht jo durchgearbeitet und
gleihmäßig ausgeführt it wie jene. Die groß angelegte Erzählung
ift überhaupt nicht zu befriedigendem Abfchlu gebracht, fie hätte
zu einem Nomane ausgejtaltet werden jollen, dann würde fie den
Erwartungen entiprodyen haben, weld)e die breit angelegte Erpofition
erwect. Das Thema der Gejcichte ift ein altes, wohlbefanntes:
ein junges Mädchen in ihrer eriten tiefen Herzensneigung, beren
Gegenitand hier ein bewunderter Dichter it, ber ihr aber verhehlt,
daß er icon verheirathet, getäujcht, reicht in dem fie ganz be
herrichenden Gefühle bitterer ränfung ohne jede Liebe einem
Manne die Hand, der ihr die märnıfte Zuneigung entgegenbringt.
Diejer Frig Hellborn ift eine prächtige Geftalt, uriprünglid, früch,
warmherzig, einfah, in hohem Grade jelbitlos, dabei aber ein
Vlann von Kraft und Energie. Wie er mm die Sleichgiltigfeit,
ja die Abneigung feiner Jrau durch die zartefte, rüdjichtsvollite
Liebe und imendlihe Geduld überwindet und ihre Zuneigung
254 Litteräriiche Streiflichter.
gewinnt, ift der Gegenitand ber Erzählung. Auch unter den
Nebenperfonen find einige vortrefflich gezeichnet wie Mamfelling,
auch der Bruder Hans. Der eigentliche Umfchwung foll durch
das Aufammentreffen Vlargarethes mit dem Dichter und feiner
Frau bei einem Nachbarn herbeigeführt werden, man fann aber
nicht Tagen, dah die Entwidelung der num folgenden Scenen ge;
lungen it; Frig pielt dem wortgewandten, boshaften Dichter
gegenüber eine wenig befriedigende Nolle. Der glückliche Abichluß
wird dann vecht überftürzt herbeigeführt. Wie viel befriedigender
wäre eine langjamer fortichreitende Darftellung geweien bei der
dann auch die jest ziemlich zwedlos auftretenden Nebenfiguren
Hans und der Pajtor hätten eingreifen fünnen. Ungeachtet dieier
Mängel steht die Erzählung dur ihren warmen Ton, die An
ichautichfeit der Schilderungen und die trefflihe Charatterzeihnung
fehr an. Es ift ohne Frage ein wirkliches Talent, das uns in
diefen Erzähmgen entgegentritt, cs bedarf aber noch der Turd)
Bildung, der Reife und der Selbftfritif, um Beibendes zu ihaffen.
Das Studium großer Vieifter der Erzählungskunit alter und neuer
Zeit würde dem Verfafjer fchr nüglic) fein, viel mehr als das Nadı-
ftreben auf den Wegen A. Wilbrandts, dem das Buch gewidmet
it. Noch eins ift uns in dem Bude aufgefallen: der Heift, der
in dem Buche weht, ift ganz terreitriidh, nirgends Ipürt man den
Hand) eines höheren Lebens; un einmal ift jpöttiüch von „paftoraler
Gottietigfeit“ die Nede. Nun find wir zwar durdaus feine
Freunde der ungehörigen Ginmifcjung frommer Nedenendungen
und jalbungsvoller Phrajen in Erzählungen und Romanen, aber
eine, wenn and) mod) fo leife Andeutung des tiefen Grundes, auf
dem alles Mienjchendafein ruht, euwarten wir dod) von dem, der
uns die Jrrgänge des Lebens und die Wedrelfälle der menichlichen
Scietjole in einer nicht num die Oberfläche berührenden poctiichen
Darftellung vorzuführen unternimmt. Wir möchten wohl auch
fragen, ob eine bloß vom Geifte des Jrdiüchen beherrichte Natur
fo zu Handeln im Stande wäre, mie Fri Hellborn es thut?
Wir hoffen O. Werbed im nicht allzu ferner Zeit wieder zu be
geguen, wünfchen aber vor allem, dah er jein Talent reifen lafle
und nicht durd) rajche Produftion |hädigen möge. H. D.
Beilage
zur
Baltifchen Monatsschrift.
Juni 1896,
Inhalt: Um ein Stüdhen Sammt. Littauihe Cr-
sählung von Herbert Nivulet (Baronin Gabriele von
Schlippenbadh)).
Nunjtbriefe. IN. Von 3. Norden.
Citteräriihe Streiflidter. Xon H. D.
Die Vier-tleurvon Transvaal. National
bymne der Buren. Ueberfegt von Guido Edardt.
Nachdrnd verboten.
ek
„Im ein Stühen Sammt“.
Yiauiche Erzählung
Herbert Hionlet. «Baronin Gabriele von Schlippenbad.)
Nachdem ich mein legles, jurütiicheo Eramen als Nandivat
nemacht, führte mich mein Schitjal weit fort von der freundlichen
Ztadt am Embach, ich wurde als Angejtellter beim riedensrichter
nach dem littanjchen Städtchen N. verichlagen, welches unweit
Nowno's an der Eifenbahnitation gleichen Nameno liegt.
Ih fam früh morgens an md fragte, ob eo ein einiger
maben brauchbares Fuhrwert gäbe, das mich weiter befürdern
fönnte, denn der Ort meiner Beftimmung lag nicht nahe von der
Station, vielmehr zwei Werft davon entfernt. Ein littaufches
Vanernwägelchen mit einem wohlgenährten Braunen fand fi) als
bald ein und nachdem mein Mianteljad zu dem Nuticher auf den
Vorderfib gehoben umd ich felbjt auf dem Zad hinter ihm Pat
genommen, ging co in jchlanfem Trabe dem Städtchen zu.
Mir, der in Livland groß geworden, fiel die hählide Tracht
meines Kofelenfero auf. Er trug großfarirte, bunte Beintleider
aus grobem Stoff, einen hellen Nod aus grauem Wand, der an
der Taille anschloi, und eine blaue, abgetragene Tuchmüge, um
den Halo einen gelb und vothen, langen Shawl. Das Gejidht
des Viannes war ebenfo unjchön, wie jeine Nleidung, Ichlichtes,
blondes Haar hing ihm bio auf den ragen hinunter, die hellblauen
Augen und Fnochigen Züge verriethen auf den erjten Blic feine
Herfunft. Nur vor N. drehte er fi um md fragte mich in
l
„Um ein ZStüdtchen Sammt.”
einer breiten, unmelodiihen Sprade etwas, wobei er mit dem
Stiel jeiner Peitiche auf das Städtchen deutete.
Id) verftand feine Silbe nnd fhüttelte den Nopf, erfundigte
mich darauf in rufiicher Sprache, was er jagen wollte. Er begriff
5 und wiederholte num in entjeglichem Nuffücdy noch ein Dial die
vorhin geitellte Frage, aus der hervorging, dah er willen wollte,
mo ich abzuiteigen gebenfe.
„Biebt es ein Gajthans in N.“, lautete meine Erfundigung,
„dann bringe mich dorthin“.
Er nichte umd rief ftolg: „Na, Pan, Hotel de (GEurope*.
Tas Wort war jo entftellt, da ich einige Mühe Hatte co zu
erfennen. Bei der zweiten Wiedergabe deofelben begriff ich eo erit.
‚Nun gut, jo bringe mic dorthin“, befahl ich und mit
Dalsbrechender Eile raifelte mein Fuhrwerf über das holperine
Stvahenpflafter, dich die noch stille Stadt. Sie bejtand ans
Holzbänfern md ziemlich ärmlichen Hütten. Ich habe im Kauf
der Zeit viele Orte und Streden Yittauens fennengelernt, fie
gleichen fich alle in ihr ichfeit, Unfauberfeit und Einfachheit.
Weitgedehnt liegen fie da, von Gärten md Nartoffelädern umgeben,
viele Strahen find ungepilajtert, im Sommer herricht ein wider:
icher Staub, im Herbft und Frühling fuhhoher Schmug auf
ihnen. Schweine, Federvich, Hunde, Naten md jerlumpte Ninder
treiben fich auf ihnen wnher und ftieben auseinander, wenn man
naht. N. zählt indei; noch zu den beiferen Städtchen deo Landes
und hat jet ungefähr 10,000 Einwohner, die meijt aus Juden
bejteben.
Im 17. Jahrhundert gehörten Schloß und leden den
Krften Nadziwill; ein herrlicher, alter Part umgiebt das Schlo,
das in den DVelit des befannten Grafen N. übergegangen it,
deifen Wittwe co in den Sommermonaten bewohnt. „SNotel de
V’Enrope”, la id) vor dem Haufe, an dem mein eleganteo Nuhr
wert nach etwa halbftündiger Fahrt hielt. v hodhtrabende
Name pahte wenig zu dem Gebäude ımd der jüdiiche Wirth, der
mir mit friehender Höflichfeit entgegenkam, fah nicht eben cin
ladend aus.
err Baraın“, redete er mid) mit tiefen Büclingen an,
„Zie finden bei mir ein feines Yogis, die Her Offiziern von
„Um ein Stücken Sammt." 257
ber reitenden Artillerie und die Herrin vom Gericht fpeilen oft
bier. Sind lanter nobele Vtenichen, die etwas davon veritehen,
Herr Baraun“. (Herr Baron). Er warf fich jtolz in die Bruit.
Nad) einigem Hin» und Herreden wies man mir ein Zimmer an,
in dem ich die erjte Nacht in erbittertenm Nampf mit allem mögliden
Ungeziefer verbradhte; ich 509 co vor das „Hotel de ('Curope*
in Zukunft zu vermeiden und mir eine Privatwohnung zu miethen.
Id) gehe über die erfte Zeit meines Aufenthaltes in R.
hinweg, nur jo viel will ich bemerfen, dah id) mic) eifrig mit
dem Erlernen der littaufhen Sprache beichäftigte, die mir von
Augen fein muhte. —— In meinen Vuheftunden jtreifte ih durd)
das Städtchen umd jeine Umgebung, es Hat mic, immer angezogen,
Land und Leute Fennen zu lernen, den alten Sagen und
Traditionen nachzuforichen, deren volkothümliche Yocjie einen
eigenen Zauber für mich, hat.
Der Teiche Park ftand eben im bunten Herbjtichmud, ich
fand ihn überraichend j—hön und gepilegt.
Gteih in den eriten Tagen fiel mir eine Nirche in R. auf,
die geichloffen Htand. Bei näherer Erfundigung erfuhr ich, co
jei eine veformirte Kirche, die Fürtt Nadziwill erbaut, als er mit
feiner Familie vom Katholizismus zu diefer Neligion übergetreten
war. Er jelbjt liege mit den Gliedern jeines Haufes einbalfamirt
im Gewölbe und da die Särge nicht geichlofien fein, fönne man
die Dedkel leicht abheben und die Todten jehen.
Eine rajtloje Neugier trieb mid) dorthin und eines Tages
richtete ich wieder meine Schritte zu dem einfamen Gotteshaufe,
über dem ein geheimnifjvolles Dumfel für mich zu berricen idhien.
Die Kirche jteht innerhalb deo Städtdhens, vielleicht
taufend Schritt vom Ufer des Flußeo Newjajcha entfernt; der Stil
it Halb gothiih, halb Nenaitiance, fie Hat feinen Glodenthurm;
derjelbe jteht getvennt nebenbei. Die Kanzel, überhaupt alles
Holz, ift von Ejden, mit eingelaifenem Golde verziert, die Wände
find fchlicht weil getündht. Am Ende der Mirche befinden fd)
große Stühle mit dem Wappen der Fürjten Nadziwill, und
an der einen Wand Hängt eine Tafel aus Stein, auf der in
fateinicher Spradie die Einführung der Neformation und die
Erbauung der Kirche verzeichnet find. Man erzählte mir päter,
1
„Um ein Stücdchen Sammt.”
dah nur noch wenige Neformirte in N. leben und nur einige
Mat im Jahr ein Prediger hier Gottesdienft abhält.
Ein alter Plann, der in der Nähe wohnte, folgte mir und
meinem Führer, er Humpelte an einem tod hinter uns her und
vedete mid an.
„Na, Sie bejehen dem Nadziwill feine Kirche, it ein Schönes
Ting, jhade, daf; hier feine Meffe gelejen wird“.
„Wann lebte Fürft Nadziwill?” fragte ic.
„LO, das it lange her, jeher lange“, ermiderte mein Be-
gleiter, „er wurde am Anfang des fiebjehnten Nahrhunderts er
ichlagen, jo um das Jahr 1615 herum“,
2 “ fragte ich „wer hat das gethan ?*
in Diener, der Anton, der hat cs ihm heimgezahlt, dal;
ev den Neperglauben annahın“.
„Es geichah ihm Net“, murmelte der alte Fittauer, „er
war doch als guter, Eatholifcher Chrift geboren und getauft“.
Der Alte befreuzigte fh und fuhr ichwashaft fort: „Es
heißt, feine Verwandten hätten den Anton bejtochen, er war ein
ftrenger Herr und bei den Feten verhaft, da hat er co abbefommmen“.
„Sie können den Nadziwill jehen, Herr“, warf nein Kührer
ein, „er liegt drunten im Gewölbe, die Wunde ift deutlic) zu jehen,
die ihm tödtete. Allerdings fieht ev etwas braun und verichrumpft
aus nach mehr als 200 Jahren, ift aber jonit wohlerhalten“.
um regte fid) meine Neugier erft vecht und id) beichlof, mich
durch den Augenfchein zu überzeugen, deshalb bat ich den Mann
mir das Grabgemölbe zu erichliehen.
Ein tiefer Schauer durdrieielte mich, als ich mit meinen
beiden Vegleitern die Steinftufen Hinabftieg. Cine dumpfe Luft
Ihlug uns entgegen, duch ein Fleineo Fenfter fiel dao Tageslicht
Ühräge hinein. Co genügte Fam, um mid) die Gegenjtände
erfennen zu laffen.
In der Mitte ftand deo Fürjten Sarg, mehrere Heine und
aroße befanden fid) in den Nifchen und Mänden.
„Das it dem Nadzüpill fein fettes Dans“, fagte mein
Führer, „wollen Sie ihn jehen
3 ich dejahte, hob er mit dem alten Yittaner den Dertel
ab, dann entzimdete er cin Lichtitümpfchen und befejtigte co im
„Am ein Stücchen Sammt.“ 259
dem Leuchter, der zu Hänpten des Todten jtand. Mit leicht
begreiflihem Grauen ruhten meine Vice auf der Geitalt, die
lang gejtredt balag.
Aljo das war der Fürt Nadziwill geweien, diefer To
friedlich Schlummernde, mit den noch wohlerhattenen Zügen !
Die mächtige Hafennafe trat jharf aus dem verwitterten Geficht
hervor; über die Fahle Stirn lief ein Haffender Spalt, der von
dem Todesjtreich des eigenen Dieners herrührte, der zum Mord
gedungen ward. Diefer beimtüdiiche Streich hatte den ftolzen
Mann darniedergeftredt, wie der Bis die königliche, jtarke Eiche. —
Die Leiche war mit jchwarziammtenen Nniehofen und jeidenen
ümpfen befleidet, ein Rod mit reicher Stiderei war von demjelben
Stoff und derjelben Farbe wie die Beinkleider. Die wachsbleiden
de (agen auf der Bruft gefaltet. Ein herrlicher tief violetter
Sammtmantel umbüllte den Todten. Ic) jtand lange in Betrachtung
der fürftlichen Leiche, die merkwürdig friih und gut erhalten war.
Das jeltiame Gebahren des alten Littaners weckte mich aus
meinem Zinnen. Er fauerte auf den Flieien des Gewölbes und
betrahtete aufmerfiam den Mantel des Fürften, dann hob er ihm
am Fußende auf und zog etwas heraus.
„Ss ült alles in Ordnung“, jlüfterte er mir zu.
„de, Alter, thut Eure Häude weg!“ vief mein Führer rau,
„laht den Nadziwill in Nuhe*.
„Zehen Sie, Ban“, juhr der Geicoltene geheimnihvoll fort,
„bier fehlt ein Stüd Sammt, und hier das zweite”.
Er bob die Dede ımd zeigte fie mir. In der That, zwei
Stüde waren aus ihr geicnitten, fie mochten etwa eine halbe
Elle fang und etwas breiter jein.
„Wer hat das getan?” fragte ich geinannt.
„Der Tifip Stanfeitis weil; es, der © Ztanfeitis weil
5“, ficperte der Yittauer, „ihm hat es die Großmutter erzählt, eo
it eine alte, alte Gefcichte und alles um ein Stücchen Sammt,
lieber Pan”, 4
„Er ift nicht vecht bei Sinnen“, vamte mir mein anderer
Vegleiter zu. „Na, Alter, was Tut Jbr denn da wieder an?“
„Zeht her, das ijt das Demblein, das die fromme Yarbara
dem Nadziwill heimlich geitit bat,” jagte der Yauer.
200 „Am ein Stücchen Sommt.“
Er hielt ein grob geftridtes Gewebe in der Hand.
Der ergürnte Führer nahm es ihm heftig fort und legte cs
in den Sarg hinein.
„Schweigt, Dummtopf“, herrichte er ihn an, „helft mir lieber
den Dedet schliehen. Eo, num fann der Kürjt wieder
ungejtört ichlafen”.
Id) trat in die ftille Kirche zurüc. Das Abendroth fiel durch
die buntgemalten Fenfter, 6 lieh no ein Mat die fchlichte Aus:
ftattung des reformirten Gotteshaufes vor meinen Augen auflenchten.
Eine tiefe Schwermuth lag auf der Kanzel, auf dem Altar und
den Stühlen der fürjtlihen Familie, deren Oberhaupt erichlagen
drunten ruhte.
Draußen dumfelte es icon, als id durch das hohe Portal
ichritt, ih jog gierig die feiiche Herbitluft ein. Mir war jeltiam
erregt zu Muth, die Majefiät des Todes hatte mich tief erichüttert,
mir das Wichtige umieres Erdendafeins vor Augen aeführt.
Meber den Glodenthum zog eine Schaar Nrähen, weich und leife
fanf die milde, dunfele Nacht, die Erde wie in einen Sammt-
mantel einhülfend.
Wie ein Sammtmantel! — — Mir fiel plöglic dev Vorgang
in der Nirdhe cin, die beiden fehlenden Stüce in dem Leihenichmu
des Nadziwill, das jeltjame, wollene Hemdlein zu feinen Führen
und de5 alten Yittauers geheimnihvoll gemurmelte Worte, „um
ein Stücdchen Samnt“. Was mochten fie wohl bedeuten?
Wer hatte den Naub begangen, wer das grobe Hemplein
gearbeitet ?
Die beiden Andern hatten gleichfalls die Nirdhe verlaften, ich
drückte dem Führer ein Trinfgeld in die Hand und entlich ihn.
Tann folgte ich dem alten Banern in feine niedere Hütte, in der
Abficht von ihm die Gejchichte zu hören, die meine Neugier errent
hatte. Alle meine Pitten vermodhten ihn nicht, den Schleier zu
heben, er lachte höhniich und fagte nur: „Veritehe nichts“.
Dabei blieb er verjtorft. In der That war meine Kenntniß
der littanichen Sprade damals ned) jo mangelhaft, da; id) eine
längere Unterhaltung cher beherrfchen Tonnte. ch nahın mir
daher vor, mei udien weiter fortzujegen und die Freundicaft
des Ciiip Stanfeitis gu aewinnen.
„Um ein Stüdchen Zammt.” 261
Die num folgenden Wochen benugte ic dazu, die Sprade
des Volkes mir anzueignen und da id) ichnelle Fortichritte machte,
veritand ich bald alles, wenn mir jelbjt auch noch oft Worte fehlten,
um die eigenen Gedanken auszudrüden. Co zog mich häufig zu
der ftillen Kirche hin, deren verichlofiene Thür jest fetten geöffnet
wurde, wenn der reformirte Prediger die Heine Gemeinde um
fich. verfammelte,
Einjt hatten die Flügel ihres Portales weit offen geftanden,
die buntgemalten Scheiben hatten ihr Licht auf die allionntäglic,
ericjeinenden Glieder der fürftlichen Familie geworfen, von dem
Slodenthurm rief die helle Stimme der Glode weit über Land,
damals als der Nadziwill noch Vefiger N.’ geweien md den
Negerglauben angenommen mit feiner Familie. Und mn lag
er in dem Gewölbe und das Gotteshaus war neichlofen, eine
düjtere Poelie breitete fih darüber, die Jahre zogen dahin, ihre
Spur auf den verwitterten Mauern zurüdfaffend!
Durd) kleine Geld: und Tabadjpenden machte ic den alten
Yittauer zutraulih; nad und nad erzählte er mir, was id zu
erfahren tradptete. Ic will hier furz zufammenfafien, was er mir
mit vielen Abjchweifungen mittheilte und ergänze die Yücten, die
in deo Halbfindiichen Erzählung fih einfanden. Da die Haupt
thattahen ihm friich im Gedächtniß erhalten geblieben, werde ich
woHL den richtigen Jujanmenhang zwildren den einzelnen Begeben-
heiten ziemlich genau erraten haben. Ich will die einfache Do
aeihichte, die halb Sage, halb Wirklichfeit jein mag, hier nieder:
schreiben und um ein Stüdchen Sammt“ benennen.
„Das Städtchen K. warzun Zeit meiner Großmutter nod) ein
elendes Ding“, fing Stanfeitis an, „eigentlich nur ein großes Dorf,
das fern von dem Verfehr der arofien Städte lag und fchwer zu er
veichen war. Weine Ahne, die Groimutter der meinigen, lebte
zu der Zeit des Nadziwill um 1620 in N. weldes damals ein
Fürftenthum war, nebjt Yobti und Datnoff, zwei Beligungen, die
25 Werft entfernt liegen. Wenn der Nadziwill zu den Jagden
jeine vornehmen Gäfte empfing, dann herrihte buntes Leben im
Sleden, die reichen Navaliere zogen mit Nojlen und Gefolge auf's
Schloß, fchöne Damen begleiteten fie und das Hifthorn tönte in
den Wäldern, dev Schwarm der jürtlihen freunde und Jagd:
262 „Um ein Stüdcden Zammt.”
genoffen vitt durch die Strafen, von den Nauen bewundert
und begafit.
Meine Ayne lebte mit ihrer alten Wiutter etwas außerhalb
N.’5, in einem armjeligen Kehmbüttcien. Die beiden Frauen ernährten
fich fünmerlich aber vehtichaften, und während die ältere Frau
ipann und webte, jtreifte ihre Tochter durch Wald umd Feld,
janmelte Beeren und Kräuter, Pilze md gefallenes Holz. Aus
den Kräutern kochte die Martha Jurkichuh heilträftige Arzneien
und Zalben, welche die Bauern ihr abfanften. Die Beeren und
File brachte Yarbara, jo hieh meine Ahne, in den leden zu
den reihen Yohgerbern, von denen um bieje Zeit gegen dreihundert
in dem Xlecfen lebten. Das Yeder wurde jpäter nach Deutjchland
aebradht und dort für fchweres Geld eingetanfcht.
Zie joll jepe Hübih geweien fein, die Barbara, und fromm
und arbeitfam war jie aud. Neben dem Häuschen der beiden
armen Frauen ag die Wiefe des wohlhabenden Wirthes Peter
Aufchkinis. Zein Sohn war der Spielgefährte der Heinen Yittanerin,
damals, als fie noch die Sänje des Nachbarn hütete. Oft ichlich
der quitberzige zwölfjährige Junge zu dem acbtjährigen Mädchen
hinaus, das hungrig und frierend ihren Dienjt verrichtete, er jtedte
ihr zuweilen einen Apfel oder ein Stück Brod in die Hand oder
jagte fh mit ihr umher. Cr qnälte fie aber aud), rih fie an
den blonden Zöpjen oder jhlug fie, wenn fie ihm nicht folgte und
die ihr anvertrauten Gänfe nicht im Stid) lich, um mit ihm zu
ipiefen. Tropdem waren fie die beiten Freunde.
Als Barbara dreizehn Jahre zählte, jtarb ihre Diutter. Die
Waile zog fort, weit nad dem Wilnajchen Gouvernement und
lange hörte man nichts von ihr im heimathlichen Dorf. — Der
Nadziwill erbaute ingwüichen die Kirche und trat mit großem Komp
zur reformirten Neligton über, Sein Diener, der Anton erichlug
ihn umd er wurde in dem Gewölbe beigeieht, nachdem er funjt-
voll einbaliamirt war. N. war wenig verändert, alo meine Ahne
nad fieben Jahren den Ort wieder jah. Sie fniete am Grabe
ihrer Eltern und betete andähtig ihren Noienkranz, dann ging
fie ihr Häuschen aujjuden. Zie fand co nicht mehr, der Nachbar,
Peter Aujchfinis, Hatte eo niedergeriiien, als er das Heine Grund:
jtüd faujte.
„Um ein Stücchen Sammt.“ 3
Der Littauer Hegt eine zähe Anhänglichfeit für die Scholle,
die ihm geboren umd groß gezogen hat, und fo wünichte Yarbara
jehnlichit in N. einen Dienft zu finden. Sie verdingte fih bei
einem Wirth in der nädjjten Nähe des Xledens, dejien todtfranfes
Weib der Pilege bedurfte. Die drei Fleinen Kinder des Ehepaares
bingen bald mit Liebe an der nenen Diagd, die fie freundlich
wartete und den Hausitand trefflich beforgte.
Oft hörte fie von ihrem früheren Kindheitsgeipielen, dent
“Beter Aujchfinis, iprechen. Er war jeit dem Tode feines Vaters
Herr in dem Gefinde, das er won dem Füriten AMadiflaw
adziwill in Erbpacht hatte. Der Sohn deo erichlagenen Nadgiwill
war ein gütiger Herr, der feine Yeibeigenen liebte und Gutes
that. Er lebte fait immer in Warihau md fan jelten nad N.;
fürzlih Hatte er fi) mit Anın von Treiden verlobt, einer Yiv
länderin von altem Adel.
Barbara erfuhr, da Peter auf Freierofühen jtand; es bie,
daher zwiichen zwei jungen Wrädcen ihwanfte, der Tochter des
reichen Lohgerbers Michael Viedigfi, der Vierenza, und der Hübichen
Jofefa, deren Vater ein freier Mann war und das Amt eines
Neltejten in X. vertrat. Veide. jowohl Vierenza, wie and) Jofefa
wollten dem jiattlichen Yurjcen wohl und wetteiferten darin, wer
von ihnen fich am fchönften jhmücten werde, um jeine Aufmertjamfeit
anf fi zu ziehen, Peter war jehr wetterwendiich in feiner Gunft,
bald zeichnete er Jolefn beim Tanz im Nruge aus, bald reichte
Vierenza das Meihmaffer beim Ausgang aus der Nirdhe und
geleitete fie nad) Hauie. Die Nebenbuhlerinnen Halten fich ehrlich
und feine lieh der Andern ein gutes Haar.
Bisher hatte Yarbara Peter Aujhfinis nur von Meitem
aeleben; fie war jo vielbefchäftigt, dad fie nicht Zeit hatte, ih an
den Zuiammenfünften der Jugend md an ihren Vergnügungen
zu beteiligen.
„ten Abend, Barbara“, jagte eine männliche Stimme, als
fie mit den drei fleinen Mindern des Yauern auf der MWieje
hinter dem Daufe war md eben im Begriff fand die Kühe
zu melfen.
Zie blifte auf und trat an den Zaun aus Straucgejlecht,
der das Anweien ihres Brodherrn von dem des Nachbarn trennte.
264 „Um ein Stücchen Samımt.”
Peter jtand dort und jah zu ihr hinüber, die furze Pfeife im
Munde, die Hände in den Nodtajchen.
„Büt alio wieder nach N. zurücgefommen“, fagte er, „wo
warjt du denn fo lange?”
Sie deutete mit der Hand nad) rechts.
rüben im Wilnajchen“, gab fie zur Antwort.
Die Unterhaltung ftodte, der Burice tauchte gemächlic, und
fie Hob das jüngjte Nindehen auf den Arm, das zu ihr hinanjtrebte,
einen fläglich bittenden Laut ausftofiend.
„Daft du 86 gut bei dem Meichninfus?" fragte er in
jeiner furzen Art.
Barbara nidte.
„Die Bänerin {ft Franf“, erwiederte fie, „mic dauern die
drei feinen Rinder“.
„Er fann did) heivathen, wenn fie tobt ift“, verjebte
Reter troden.
"Tas fönnte ichon jein“, aab fie ebenjo zurüd.
? der Kopf des jungen Yittauers fuhr heftig auf.
„Bit wohl deshalb bei ihm?” Höhnte er, „na, ich hab’
nichts dagegen“.
Er wandte fi ab und Barbara ging wieder an ihre Arbeit.
Zie jang dabei leife ein altes, littaujches Volfolied :
„Sing auf der Wieje, Blumen zu pflüden,
„Nam da mein Liebfter und kannte mich nicht.
„Wollte den Etrauf; wilder Blüthen ihm reichen,
„Er aber blidte mir fremd in’s Geficht
„Sing am den Fluh, m Wafler zu i
„Rufet der boshafte Nir mir dort zu:
„Yiebe und Treue find eitele Worte,
„Nom zu mir nieder, hier findet Tu Ruh!“
E ”
Am näcjten Sonntag ging Barbara zur Meile und fniete
wieder in der fehlichten Kirche, wo fie jo oft als Kind neben ihrer
Mutter gebetet hatte.
Sie blieb nicht mit den Lebrigen nad Schluß des Gottes
dienftes vor der Nirche jtehen, um ji die Tiihe zu betradıten,
„Um ein Ztüdchen Sammt.”
auf denen Nofenkränze, Heiligenbilder, Kruzifire und Weihmahler-
feilelhen feilgeboten wurden. Der Bauer trieb zur Eile, jeine
Frau war fränfer geworden in ben leßten Tagen und Barbara
jeden Augenblick nöthig.
„Die werden gewiß ein Paar, wenn die Meichninkus erit
eftorben ift”, bie es überall; „Hübid) ift die Dirne und fleihig
ud geichickt“,
„Aber biutarın“, warf Jofefa ipig darein, „fie kann froh
jein, wenn fie fid) in jold” warmes Neit jeßt”.
„50, fie verjteht mehr als du“, höhnte Vierenza giftig, „du
vugeft dich nur; alle Sonntage ein neues, feidenes Kopftud).
Aber ich fage dir, ich werde dich doch noch übertreffen, zum
Frohnfeihnamgfeit, da it die große Proeifion um die Kirche,
na, ich will nichts weiter jagen“.
„Ton nur nicht jo vornehm!* vief Iofefa, „man weih, dai
«5 deinem Vater jeit einiger Zeit nicht befonders gut gebt; id)
möchte willen, wo du immer die jhönen Sachen herbefommit?“
Beide Mädchen jahen fich gereizt an.
Peter jtand dabei und jdhmunzelte. Umvillfürlich dadyte er
an ein anderes Geficht, das janft und freundlich zu dm aufgeichaut.
Dort drüben auf der Miefe des Meichninfus hatte fie geftanden,
ein fleines Mind in den Armen. „Wie die Madonna am
Hochaltar“, meinte er. Heute begleitete er feine feiner beiden
Verehrerinnen, er nicte ihnen frz zu und trat an einen Tiid.
Dort wählte er lange unter den umberliegenden Gegenjtänden,
kaufte etwas und barg es in der weiten Taiche feines Rodeo.
Am Nachmittag tand er wieder am Zaum und wartete auf
Barbara, aber fie fam nicht nnd enttäuicht ging er in den Krug,
trank mehr, als gut war und iprad) febhaft mit Jofefa, Vierenza
garnicht beachtend, welche fidh vergeblid) mühte jeine Aufmerkjamkeit
zu feileln,
Auch an den folgenden Tagen fehlte Yarbara beim Melten der
Mühe. Die Fran des Meihnintus lag im Sterben, am Donnerfiag
fündete die grelle Stimme des Todtenglöcleins ihr Ableben.
Bei der Beerdigung fah Peter die Seimlichgeliebte wieder.
ie bediente die Gäfte, die nadı der Zitte des Yandeo veiclic)
bewirthet wurden.
266 „Am ein Stücdchen Sammt.”
„Sie Aut Äcon, als jei fie hier die Hausfrau“, Haticten
die alten Meiber, „und dad (egt die Martha Veihnintus mod
in ihrem Sarge drüben in der Kammer“.
Peter hörte cs und ergrimmte innerlich. Warum? — Er
fragte eo fh. Was ging ihn die arme Yarbara an. Sie jhien
ihm gar nicht zu beachten und ein Wal, als cr fic anredete, that
fie, als 0b fie eo nicht hörte. Am andern Morgen iprad)- Peter
fie aber doc).
Diefes Mal trafen fie ih am Fluß, wo die Yittauerin
Wälhe ipülte. Er zog mit feinem Piluge bedächtig die Furche
im Ader zu Ende, dam trat er auf fie ju.
„Da“, jagte er, „das hab’ ich dir gefauft, Barbara”.
Er hielt ihr einen Heinen Gegenjtand hin. Cs war eins
jener bunten Bildchen, wie die Bauern fie gern haben und jtellte
die Heilige Yarbara vor.
„Far mich!“ rief fie erfreut, „o, Peter wie gut du bifl”.
Sie wilhte ihre nafe Hand ab und reichte fie ihm.
„Ich danfe dir, mir hat nod) nie Jemand etwas geichenft”.
„Ich möchte bald eine Frau nehmen“, jagte Peter bepächtig,
welche meinft du joll id) wählen, die Jofefa oder die Lierenza?“
Die Finger des Mäddens löften fid) aus denen des Burchen.
„Die, welde du fiebjt“, erwiderte fie cinfad).
Er tadte, „das ijt Nebenfadhe, die welche am veicjiten üt,
ich“.
Sie jdüttelte den Nopf.
„Du dent nicht jo? um, wirft Du den Mejchninfus aud)
micht wählen, wenn du ihn nicht mai?” fragte er lauernd.
„ein“, Fam 06 über ihre Lippen, dann jagte fie haftig :
„Dh mu in's Haus, die Ninder rufen gewil; idon nad)
ihrer Morgenfuppe*.
Eitig verfhwand fie hinter dem Weidengebüfc), Peter fand und
jah ihr nad. Der Wind trug das alte Volfslied zu ihm hinüber:
„Bing auf der Wicje, Blumen zu pflüden“ ...
Er faufchte dem immer weiter verhallenden Gefang. Bei
der Stvophe: „Liebe md Treue find eitele Worte”, jchlug er
bejtig mit der Zauft af einen umgejtürzten Yaum und vief:
„Und ich werde did) dod) nod) heirather, Barbara Jurtihuj!” —
meine
„Am ein Stüdchen Sammt.“
Der junge Fürjt Radzivill war nad N. gefommen mit
feiner jhönen Braut. Die veformirte Kirche wurde gereinigt und
geihmüdt, denn jeine Hochzeit jollte bald gefeiert werden.
Eines Abends ging Barbara an der Nirche vorbei. Die Heine
Thür, die zu der Sakriftei führte, fand geöfinet und fie jchlüpfte
hinein. Sie wollte das Gewölbe fehen, in dem der erichlagene
Nadziwill lag. Der Aberglaube des Volkes behauptete, er gehe
als Seift um, wenn eo wieder Vollmond fei und der Tag feines
Todes fid) nahe. Es war jet September, und Ende des Monates
war es gewefen, als fein Diener ihn mordete. Unbenerft gelangte die
Littauerin hinein. Xaft ichrie fie laut auf, denn der Sarg jtand
offen da. Kürft Aladislam wünjchte, dal; co To jei, bio er ver
mählt worden. Als fromme Natholifin verabicheute fie den Neker,
als gute Chriftin aber Iniete fie nieder und betete ein Paternofter
v den Todten. - - Umd nocd) etwas Anderes, Pi liches bewegte
ihre Pippen: das heihe Flehen, die inbrünfiige Bitte, fie mit Peter
Anfchkinis zu nigen, denn die Liebe zu dem Gefpielen ihrer
Jugend war mächtig in ihrem Herzen erwacht. Möblid) fuhr fie
heftig auf, - Schritte mäherten fi dem Grabgewölbe. — --
Sie ducte fd) Ängitlih hinter den Sarg der verftorbenen Tochter
deo Fürften, der im SHintergrunde ftand. Die nur leicht angelehnte
Thür öffnete fih, ein Mädchen trat hinei es war Jofefa.
Schen blidte fie fih um, dann büctte fie fich über des Nadziwill
Leiche -— und, - Barbara hätte fajt aufgeichrieen, als fie
fah, was die Yittauerin that.
Sir Hatte elwas Vlanfes in der Hand und fhnitt ein Stüct
Zammt aus dem Mantel deo Ericlagenen.
Schnell entfernte fie ih alodann mit ihrem Naube,
Barbara war wie gefähmt, fie Fonnte Fein einziges Glied bewegen
und zitterte am ganzen Nörper; jtill fauerte jie am Voden und
wagte nicht aufzuitehen. Wie lange mochte diefer Zuftand gedauert
haben? Waren es Dinuten, waren es Stunden?
Zulegt ermannte fie fid) und wollte fort, — fort von dem
Ort, wo fie jo Schredliches hatte jchauen mühlen. Tod da,
abermals fhlich es behutjam herbei, wieder ging die Thür: eine
zweite weibliche Geftalt zeigte fid).
268 „Um ein Stücchen Sammt.”
War co die Diebin Jolefa, die wiederfehrte, von Gewillens:
n gepeinigt? Brachte fie ihren Naub zurüd, das entwendete
Stüihen Sammt? s
Nein, fie war € nicht, diefeo Dal war co Vierena. — —
Yarbara glaubte zu träumen, als fi genau derjelbe Torgang
wiederholte und ein zweites Süd Sammt herausgeihnitten
minde, — — —
As jie wieder allein war, erhob fie fih. Sie büdte fid) und
jah, da zwei ziemlich gleihe Stellen in dem Mantel des Habzimill
fehlten. Sorglich ordnete jie die ichweren Falten, jo da man
den Frevel nicht fab.
„Neemer Fürft“, dachte das fromme Mädchen, „man hat
dich betohlen, ich will dir als Cühne ein wolleneo Hemdlein
Äriden und es Dir in deinen Sarg legen, aber feiner lebenden
Seele will ich eo erzählen, eo it zu entieglid I"
befrenjigte ih und eilte hinaus, von abergläubiicher
Furcht geichüttelt, denn eo war ihr, alo verfolge fie der Todte,
defen Cigenthum geichändet worden war.
Der Diebftahl wurde nicht bemerkt, danf der Kürforge
Yarbara's. Die Hochzeit des jungen Kadziwill wırde glänzend
gefeiert und als dao Paar fpäter am Zarge des Vaters fnicte,
ahnte cs nicht, was hier vor einigen Tagen gefchehen war.
Yarbara war dagegen Tag und Nacht mit dieem Gedanfen
beichäftigt. Sie fand feine Auhe, bis fie das dem Todten ver
iprodpene Hemblein beendet, und da fie wenig freie Zeit Hatte, jai;
fie des Nachts in ihrer Nammer und arbeitete vajtloo, mit fliegenden
Händen und Elopfenden Yulien. Der volle Viond dien heil zu
ihr hinein und fie blicte dazwiidhen furchtiam hinaus. Nam der
Radziwill nicht dahergeichritten, Hopfte er nicht an ihr Kenjter,
forderte er fie nicht auf, alo Anklägerin aufzutreten, ihm Hecht
zu Ihaften, die Schuldigen anzugeben?
„Dir fichlt Frank ano, Varbara”, jagte der Miltwer,
„aubeiteit Du nicht zu viel?“
Und als fie verneinte, fuhr er fort: „Um Michaelis
ein halbes Jahr, daf die Yänerin todt it, mas meinft du, willt
dur mich dann nehmen? die Ninder brauchen eine Mutter und
das Haus eine Frau“.
„Um ein Stüdchen Sammt.“ 269
Nicht jet, 6 it noch zu feih“, ftotterte fie’ verlegen,
dann eilte fie davon.
Sie jtand wieder auf der Wieje und begoh das Yinnen, das
zur Vleiche gelegt war. - dr Nopf i—hmerzte, die Glieder waren
ihr fchwer wie Blei, und das Herz erjt vet, das lag ihr wie
ein Stein in der Bruft, denn es hieß, dah Peter Aufchfinis fc
mm bald mit einer jeiner Verehrerinnen verloben werde. Yarbara
wollte dann fort, N. verlajfen, einen Siem weit von dem geliebten
Geburtsort juden, -- denn nz
ol ich dir Waifer ans dem zu holen ?" unterbrad)
mme ihre traurigen Gebanfen.
e wurde glühend rot und jagte Murz: „Nann’s ja aud)
jelber beforgen, Bauer“.
„2a, fiehit nicht zum Bejten aus“, brummte ev, „gieb nur her!“
Er rih ihre fait den Cimer ans der Dand, füllte ihn am
nahen Xluf und ftellte ihn neben fie, dann fah er zu, wie fie das
derbe Gewebe begof.
„Warum Lommt du nie zum Nruge wie die anderen Mädchen,
bift wohl zu fein dazu, he?“
„Was joll ic) dort?” gab fie zurüc, „willft du mit mir tanzen?”
„a. - - Sonntag wird's had) hergeben, alle die Radıbarn
fommen zum Frohnleihnamefeite nach N."
„Much die Jofefa und die Vierenza werden wohl bei der
Prozeifion zugegen fein? Die böfen Dirnen, die*
„Bift wohl eiferfüchtig?” Lachte er.
Barbara erbleichte, fait wäre ihr das fireng gehütete Ge:
eine
„Zind ein Paar Mädchen alle beide” verfepte
Peter, „welche meinft du q bejier?" - „Die Jojefa wahr:
icheinlic, die Hat es allen Burfchen in N. angethan“.
ein, die nicht“.
„Zo üft eo Vierenja“, fam cs fait unhörbar über Yarbaras
Lippen.
„Nein, and) die meine ich nicht. Weift du es denn nicht?“
Er fanerte neben ihr und wollte den Arm um fie legen,
da jtürmten die beiden Buben des Mefchninfus über die Wiele,
nad) ihrer Pilegerin rufend.
270 „Um ein Ztüddien Zammt."
Sie taujchten nur einen flüchtigen Häntetind, che die
Knaben fie erreichten.
„io Sonntag“, jagte Peter beveutungsvolt und die junge
Yittanerin nidte,
„Wie lege ich dem Nadziwill das Hemdlein in feinen Sarg?“
dachte fie und arbeitete eifrig Nacıt für Nacht an dem frommen
Yiebeswert, obgleich; fie fh ichr Trank fühlte.
Die Frohnleihnameprogeiiien fand itatt, Yarbara folgte
ihr andächtig. Sie ihaute vergeblid) nad) den beiden Kivalinnen
um Peters Gunjt aus, erblidte fie aber nicht in der Menfchenmenge.
An Nachmittage zog ie ihren Sonntagsitaat an, den groß
farivten, faltigen Mod der Weiber ihres Stammes, die derben
Lederichuhe und die heilgraue Jade aus felbitgewebten Wand.
Zie betrachtete Fopfichüttelnd die Einfaiung derfelben aus ver
Ächoffenem Sammt, aud) das Nopftuch beitand nur aus einem
einfachen, wollenen, grohgeblumten Stoff.
„Wird Peter mit mir tanzen, wird er jid meiner nicht
ichämen“, dachte fie, „ich bin To äumtich gekleidet”.
Sie fühlte fich eigentlich vecht unwohl, hatte fie doch die ganze
Nacht an dem Hemde gearbeitet; mun war co fertig und lag in
dem roll und blau bemalten KHolzfaften, in dem fie ihre geringe
Habe barg. Sie preßte die Hand an die hämmernde Schläfe,
der Nopf brannte, ein Schwindel padte fie, fait bemuhtlos Ichnte
fie einen Augenblid gegen den Pfoiten ihres Vetteo.
- Xm Nruge auiefte bereits die Fiedel des lahmen Stat
und der Va, den der Schmied No. jpielte, brummte darein, ala
Yarbara in den Nrug trat. Duo erjte, große Zummer war mit
Bauern gefüllt, die vaudend und trinfend anf den langen Bänfen
an den Wänden jahen. Ein dider Tabadoqualın jhlug der Ein
fretenden entgegen und raubte ihr den Ahem.
„Ob Peter schon da ift?“ dachte fie und jepte fd beicheiden
in eine Ede, „und ob Noiefa und Vierenza fommen werden?“
Zie hob die Augen und fah wie beide Drädchen ans dem Neben
zimmer famen, fie waren in heftigitem Wortweciel.
„Beide waren jehr gepugt und obgleich fie die Landeoübliche
Aleidung trugen, war diejelbe aus feineren Stoffen. Ein großes,
„Um ein Stüdhen Sammt.” 271
buntieidenes Tuch lag um ihre Schultern und die Jade, — die
Iade "
Yarbara jlarrte mit weit aufgeriffenen Nugen hin. Das
alio war der Zweck des Naubes an dem Nadziwill. Mit einem
Streifen des föftlichen, violetten Sammt waren fowohl Xofefa's
wie auch Vierenza’s Sonntagsjadte bejegt.
„Du bildeft Dir wohl ein, dah du heute alle Möpfe ver-
drehen wirft“, Rreiichte Jofefa, auf ihre Feindin eindringenb,
„barum hajt du dich jo aufgedonnert“.
„Mein Vater fann 6“, gab Vierenza giftig zurüc, „während
man bei dir jtaunt, wo dei at herfommt
Peter jtand dabei und hörte phlegmatiich zu. Seine Augen
ierten juchend umher, endlich fand er YBarbara und jehritt auf
die dumfele Ede zu, in der fie fai.
Die Streitenden jahen ihm verblüfft nach, folgten aber doc)
der Aufrorderung zweier jungen Vurjhen, die mit ihnen tanzen
wollten.
Als fie bei Barbara vorbeifamen, ertönte ein jhriller Schrei:
„ber Radziwill, der Nadziwill! Sie haben den Sammt von feinem
Viantel geftohlen, ich fah es. Jept tanzt ex hinter ihnen her und
will fie erdrofieln, da —— er tredt den Arm nad) ihnen aus,
er padt fie am Salie, — o weht o weh!“ —
Alle bitten voll Entiegen zu der Kufenden hinüber, die
bemufitlos zufammenbrad. Die Mufit verftummte, die Menichen
drängten ih herzu, Peter Hob Barbara auf die Arme und trug
fie in fein Haus, das ganz nahe lag; die beiden Schuldigen aber
ftanden bleid) und zitternd da und jahen wie das böfe Gewillen
jelbjt aus.
Und jest fiel es den Bauern auf, wie föltlih die Borte an
den Jaden der Mädchen war. Zolden Sammt gab 5 weit und
breit nicht, das war ächter Fürftenjammt, wie ihn der Nadzünill
alo Leicenihmud trug. -- Schnell liefen einige neugierig jur
Nirhe und unterjuchten den Mantel des Todten, es fehlten
richtig zwei Stüde darane. Da wurden die beiden Diebinnen
eingefperrt und der junge Fürft A adiolam von dem jeltfamen
Vorfall unterrichtet. Barbaras Fieberreden jdilderten den Dergang
genau, fie bat immer wieder, das von ihr geitichte Hemdlein dem
u
272 „Um ein Stüdchen Samt.“
Nadziwill in den Sarg zu legen, alo Erjas für den Naub, der
an ihm begangen war.
Dan fand Jofefa in ihrem Nerfer erhängt, ba jagten bie
aberglänbiichen Yittaner: „das hat der Geift des Erichlagenen
gethan, er hat fi gerädht.”
Noch ichlimmer erging «6 Xierenza. Die Angit vor der
harten Strafe zerrüttete ihren Geift, fie war wahnfinnig geworden.
Das Hemdlein der frommen Yarbara hat der junge Fürjt
eigenhändig in des Laters Sarg gelegt, dort Fönnt Ahr eo nod
heutigen Tages jeben, Ichloß der Yittauer, co liegt zu feinen
hühen. - Der Peter Auichlinio heirathete Yarbara Surtihuh,
die reichlich von der Nadzuwillichen Familie ausgejteuert wurde
und das Gefinde geichenft erhielt. So lautet die wunderbare Ge-
ihichte, fieber Pan“.
Ih dankte ihm umd Habe mich jnäter überzeugt, daß der
frommen Barbara Yiebeswert in dem Zarge liegt. Ich betrachtete
co voller Intereie, deogleichen die beiden fehlenden Yüden in dem
viofetten Mantel. „Um ein Ztüdden Zammt“, hatten Die beiden
Mädchen jich vergangen, war Yarbara reich und angeiehen qe
worden. Was Wahrheit, ao Dichtung fein mag, wer Tann es
fagen?
Die alte, tille Wire fteht da im Wechjel der Jahre. Es
beißt, daß fie dem orthodoren Nultus geöfinet werden joll. Der
Aodziwill vuht in feinen Gewölbe von feinem bewegten Yeben
aus. nd die Wolfen eilen über das Dach des von ihm erbauten
Hotteshaufes, die Zonne spiegelt fih in den bunten enitern,
Mond und chen darüber hin, wenn die Nacht friedlich
über die jehlunmmernde Erde niederfinft.
Annibriefe.
IX.
Nicht blof die jebigen „ältejten Leute“, jondern aud die
demnächit darauf Anjprud) erhebenden Yewohner der dentichen
Heihohauptitadt erinnern fid) oder werden jid) erinnern Fönnen, je
eine derartige erite Maihälfte ertebt zu haben. Jene nicht, weil
hier zur Abwechjelung einmal dieje erften Viaiwochen einem nordijchen
Oktober glihen; dieje nicht — num diefe deswegen nicht, weil jic,
wofern Stand und Veruf dazu Anlap gab, faum jemalo jonjt
joviel Fejt: und Zwedeifen mitgemacht, joviel jtolze jelbjtbewunte
Neden und begeifterte Trinfiprüce gehört, gelejen, vielleicht and)
jelbjt gehalten Haben.
Ein eifenfeiter Magen, ein nervenftarfer Nopf, eine geihmeidige
Kehle gehörten dazu, um das auszuhalten, für alle diejenigen, die
Alles mitmachen muhten.
Am 1. Mai fing eo an mit der Gröffnung der unfertigen
Gewerbe: Ausjtellung, am 2. Mai erfolgte die Fortjegung mit der
200jährigen Jubelfeier der Akademie der Nünfte und am 3. Mai
war es mit der Eröffnung der großen Internationalen Ausftellung
noch nicht zu Ende. Vei Leibe nicht. Denn jedes einzelne diejer
Daten war mir der Ansgangspunft einer ganzen Neihe von
Selten in den betreffenden „Interefjenten-streifen“, wie der herrliche
Berliner Ausdrud hierfür lautet.
I
a7 Runftbriefe.
Dei allen drei Gelegenheiten war auch Haifer Wilhelm IT.
dabei. Pit ganzem Herzen vielleicht nur am 2. Mai. MWenigfiens
ergrüif er felbjt das Wort mur an diefem Tage. Man fonnte fo
drei Tage nad) der Neihe einen guten Theil der Hofgelellihaft
und der Höchiten Negierungsbeamten bejternt amd goldgeitict bei
einander jehen: unter ber riefigen, ungemein jtilvoll ausgeitatteten
Niejenkuppel des Haupt-Induftriegebäudes im Treptower Aus
jtellungopark; im herrlich geichmüchten Nundjaal des Alten Mu
feums; im prunfvollen Ehrenjaal des Nuntpalajteo beim Lehrter
Bahnbof
Natürlich fällt es mir nicht ein, Jhnen alle dieie Feitlichfeiten
zu Ächildern. Ich Fann wohl jagen — Gott jei Dank it das
nicht meine Aufgabe. Wahriceinlich haben Zie aud icon bis
zum Ueberdruß davon geleien . \
* *
*
er bei der Feier, oder beim Gegenjtand der Feier vom
2. Mai, dem Jubiläum derKönigliden Alademie
der Künste md der bei ihr beftehenden Hocicdhule für bildende
Künite ein Jubiläum, das genau eine Woche hindurd gefeiert
wurde muß ih fopufagen ex officio verweilen. Gern gäbe
ic) Ihnen einen furzen biftoricen Ueberblid über die Entwicelung
diejer Afademie, von den Tagen des pradtlicbenden Königs
Friedrich I. an, der, dem Vorbilde des Noi Soleil in Verjailles
folgend, für jeine Hnuptitadt eine Nunjtafademie für nothwendig
eradjtete, bis in umfere Tage hinein, wo Kaifer Wilhelm II.
foeben in feiner Keitanfprache auf ihre Funjterzieheriiche Bedeutung
binwies und mit großem Nachdruc gegen die modernen Richtungen
Stellung nahm. Yedoch das würde mid) heute viel zu
ühren.
Kar joviel: glüclihe Tage hat die zwei Iabrhunderte alte
Afademie im Ganzen nme herzlich wenige geichen: im vorigen
Jahrhundert eigentlich nur unter ihrem Stifter und allenfalls
wieder erit in dem festen Nahrzehnt; in diefem vorübergehend
unter Kriedricd) Wilyeln IM. und dann feit 20 Jahren, wo fie
im %. 1875 einer gründlichen Neorganifation unterworfen wurde
und an die Zpige der Dochichule als Tireftor Anton v. Werner
Kunji
trat. Und doch erhielt fie fi und doch jtanden mitunter Männer
an ihrer Spipe, wie Johann Gottfried Schadom md Daniel
Chodowiedi .... Eine wirklich führende und leitende Nolle hat
fie allerdings nur fehe felten geipielt. Darin ging es ihr nicht
anders, als den meiften Afademieen. Die Nunjt will Freiheit zur
vollen Entwicelung und aucd das liberaljte afademiihe Statut
fann fie nur behindern. Much heute noch vollzieht fich in Preußen,
vollzieht Fih im ganzen dentichen Reich das mafigebendjte fünit-
lerifche eben außerhalb der Afademieen und ihrer reife, wenngleich
erite Kräfte für das MWirfen an ihmen fat überall gewonnen
werben fonnten.
Faljch wäre es jedoch, wollte man deswegen die Bedeutung
der Berliner Afademie herabjegen, ihre Yeiltungen unteridägen.
Nicht die vielen Anipraden und Neden, die wir während der
Feittage vernommen, wären dafür maßgebend, jondern das find
Ausjtellungen, die aus diefem Anlaß veranftaltet werden.
* N *
Nicht nur Feite zu feiern galt co für die ehrmürdige Nubi
larin, deren Gebnrtstag nad) hinter dem des Nönigreids Prenfen
zurüdliegt und deren Gedenffeier jegt in datielbe Nahr fiel, wo
das meugeeinte Deutiche Neih das Vierteljahrhundert jeines
Bejtehens feftlih begehen Fonnte. Sie wollte eben gleichzeitig
aud zeigen, was fie im diefem langen Zeitraum geleijtet und
wirkt hat. And wenn wir in diefen Tagen viel von ihrer
äußeren GSejchichte gehört und geleien haben -— den Alluftrationen
zu ihrer inneren Geicichte begennen wir auf zwei Ausftellungen:
auf der von Werfen früherer und jegiger Yehrer und Schüler der
Atademijchen Hocichule in dem Gebäude der K. Akademie U. d.
Kinden und in der Siftoriiden Abtbeilung der
Internationalen Kunjtansitellung am Xehrter
Yahnbof. Zwei ftattliche Ausjtellungen: 14 Säle nimmt jene ein,
dieje und — ungerechnet die zahlreichen Klaifen-Atelierarbeiten —
begegnen wir auf der einen über 600, über 400 Natalognummern
auf der anderen.
Dah jolche Ausjtellungen jehr danfenswerth, weil umgemein
fehrreidh find, braucht wohl nicht erit nadjgewiejen zu werden.
276 Numitbriefe.
Zu bedauern ift blof, dal fie nicht beide zu einer einzigen großen
zufammengegogen wurden. Die Theilung ift überhaupt nicht ganz
veritändlich. Hüben wie drüben giebts Arbeiten aus drei Jahr
hunderten, finden wir diefelben Namen, fünnen wir den gleichen
Entwidelungsgang verfolgen. Nur daß im Numjıpalajt am Lehrter
Bahnhof der Sejammteindrud mehr ein jolcher der Neprült
it, in dem alten Afademiebau dagegen einen Charakter des Antimen
trägt, daf man bier mitunter einen Bid hinter die Nulifien thun
fann. gu bedauern ijt ferner, daii wenn man jdon einen hito-
rüchen Neberbfid bieten wollte, nicht jyiiematiicher in der Ans
orduumg vorging, die Anordnung der ausgeitellten Kunftwerfe und
der Kataloge nicht der Entwidelungoperiode entipredend- ausführte.
hne Mühe Hätte das geichehen Fönnen, jelbit bei der rämnlichen
Zweitheilung; dem Munfthiftorifer und dem funjtfreudigen Yaien
hätte man in gleicher Weije dann zu Danf gehandelt; jenem die
Sache erleichtert, in Bezug auf diejen aber den Zwei überhaupt
erit erreicht. Beonders draußen im Munftpalaft hängt Alles
funterbunt durcheinander, Modernes und Altes, Unmejentlicdes
und Bedeutende... .
*
Nicht blok intimer it die Ausftellung der Akademie, jondern
ihre Grenzen find aud enger gezogen. Denn auf jener anderen,
da begegnen wir auch den Werten joldher Nünjtler, die mit der
Verliner Afodemie nichts weiter verbindet, als ein chrendes
Mitgliedodiplom. Zo erklärt eo füh, dafı mir dort, in der „Site
riichen Abtheilung“ der internationalen \umjtansjtellung, auf
Namen jtohen, wie Pradilla und De Vriendt, Viuntaczy und
Alma ITadema, Angeli md Naulbad, Gallait und Antatolsti,
Tefrenger und Gebhard, v. Ude und Bödlin, u. j. m. Viele
von dieien Chrengäften finden wir im Saal 9, dem gröften der
ganzen Auojtellung. Rrächtige Pilanyenarrangemente beleben ihn
mit freundlichem Grim md Vlumenzier, und inmitten dieies
Gartens erhebt fih eine Naiferbüfte. Das Ganze beherricht aber
das im Größenverhältniß von 1:25 trefflich ausgeführte blüthen
weiße Modell des Werliner Dome, au dem fie jo rüftig arbeiten
und den wir i. X. 1900 in jeiner nansen itolen Pradıt vollendet
Nunjtbriefe. 277
dafichen jehen jellen, Un der großen Sinterwand
befannter Entwurf zum Fries der Ziegeofäule, jenes Fünftl
jo jchön, patriotücd jo warın empfundene Werk, dao jeinen
Schöpfer jo viel Ehre eintung. Und wo wir jonjt hinichen
überall Altbefanntes: Menzel’ „Krönung Wilhelm 1“, v, Werners
Nongreßbild“ und „Eröffnung des Neichstages durch Naifer
Wilhelm 11.”, Angeli’s VBildnifie Kaifer Friedrich IN. und jeiner
Gemahlin, Defregger’s „Veimfehrender Tiroler Yandjturm“,
Scholg's „sreiwillige von 1513%, Miarr’s „Deutjchland 1509”,
Schaper's Ehriftus für die Gedädhtnißfirche, Antafoloti's „Diepbijlo“,
6. Richter‘ {bjtporträt mit dem Bildnife feines Kindes u. j. w.
Au in den nebenanliegenden Zälen ftohen wir auf viele Ve
fannte, auf zu viele, als dah man an ein Anfzählen denfen
fönnte. IL will daher lieber garnicht anfangen. Die National
gollerie, das Natbhaus, die Schlöfien, die Privatgallerieen Berliner
und auswärtiger Runjtiammter, die Winfeen funjtjinniger Städte
des Dentjchen Neiches md jogar des Auslandes wie denn
3 B. Hugo Vogel's fchöneo Gemälde „die Nefugics vor dem
Großen Kurfürjien“ aus ‘Prag bergeichaiit wurde die
Zormmfungen verjdiedener Vereine alle lieben die fojt
baren Werte her, um ein möglichit volltändiges Bild zufammen
zjuftellen von dem Nunjtichaffen, das die Berliner Afademie jelbjt
übte und das fie fürderte und pilegte Ten Spuren des Noccoco
und des Zopfes, des Mlaffizismus in Nompofition und Ausführung,
zu Beginn unjeres Jahrhunderts, dem Ansdrud der jentimentalen
over theatraliihen Nomantit, dem afademiichen, obichon mit großem
Apparat arbeitenden Gejcichtsbilde, der Wahrheit anjtrebenden
naturaliftiiben Studie, der Allegorie und der Anetdote, höfiicher
bmeichelei und troßigen Wolfogeijte dem ganzen bunt
ibedigen Inhalt des fünjtleriichen Entwicelungsganges der legten
zwei Jahrhunderte begegnen wir an den Winden biejer Eäle....
E .
Quantitativ nod mehr bietet die Austellung indem
Afademiegebäude jelbil. Sie nimmt 14 Säle in Aniprud,
von denen die Hälfte mit Alajien: md lelierarbeiten angefüllt
it — Alteihnungen und = Wialereien, deforativer Architektur und
278 Runitbriefe.
Trnamentit, Sandiehaftsitubien, Kompofitionnufgaben, Entwürfen
u. f. ., aus der Gegenwart und ans den ehemaligen afademiichen
Heichenklaffen. Wie fehr die Berliner „Schule“, zum mindeiten
in unierem Jahrhundert, auf forrefte Zeichnung und möglichjt
naturwahre einfadhe Farbengebung ohne alles Experimentiren ben
Hauptnadjdrud gelegt hat -— davon überzeugt ein Numdgang
durch die Säle und Kabinete 8-14 den, der früher nicht darauf
geachtet. Anziehender für dns Publikum aber gewil der
übrige Theil der Ausftellung, der zudem einigermaßen foftematijch
geordnet und niit dem Katalog in Uebereinftimmung gebracht it,
der gleichzeitig furze Angaben über Geburts:, veip. Todesjahr
des Nünftlers und die Dauer feines Studiums an der Afademie
bietet.
Viel Vefannten, aus Salerieen, Minfeen, Privatfanmlungen
und von früheren Ausjtellungen her Befannten begegnen wir
natürlich bier, wie and im Nimftpalaft. Schr verlodend wäre
8, näher auf beide Ausitellungen einzugehen. Denn trog mancher
Lücen md Unvollfommenheiten, bieten fie des Anregenden jo viel,
da man immer wicber fi verucht fühlt, bei den einzelnen der
dur fie gefennzeichneten Perioden finnend und prüfend, ber-
gleihhend und analyfirend längere Zeit zu verweilen.
In dem engen Rahmen diefes Vriefes muß ich mir aber
das verjagen. Ah fann nur diejenigen meiner Xejer, die dem
nächit etwa auf ihrer Sommerreiie Berlin berühren, auf diefe
beiden Ausftellungen ansbrüdlid aufmerfam machen.
Und and über die internationale Ausjtellung
heute nur ein paar Worte. ‘m Serbit wird fich Gelegenheit
bieten ihr eingehendere Anfmerfiamfeit an biefer Stelle zu widmen.
Es ift die dritte internationale Runftausitellung, die Berlin
veranftaltet. Die erite fand gerade vor 10 Jahren jtatt, anlählich
der Süfnlarjeier der eriten afabemiiden Jahresausitellung, die
damals der Winifter von Heinig ins Leben rief; die zweite 1891
zur Feier des 50jähr. Vejtehens des Berliner Künftlerdereins.
Diefe dritte ift dem 200jähr. Jubiläum der K. Afademie gewidmet.
Numeriich md in Bezug auf die Ausitattung ift mod feine
fo alänzeud ausgefallen. In den zu dielem ‚Jwedt theilweiie ganz
bedeutend umgebauten ca. 70 Zälen md Kabineten find — die
Runftbriefe.
Abteilung natürlich nicht mitgerehnet -- genen
3400 Gemälde, Stiche, Nadirungen, Zeichnungen, Vildwerfe und
architeftonifche Entwürfe zulammengetragen worden. Sie ver,
treten jo ziemlich alle Kunjtitätten der heutigen Rulturwelt. Nur
Japan fehlt und dann —- das ift geradezu unerhört — die
MVündener Seceifion! ie, die unjtreitig an der Spibe deo
deutichen Kunjtlebens unferer Zeit jteht, fie, die allzeit im Stande,
den Wettbewerb mit den beiten Leiftungen des Anslandes aufzu-
nehmen — fie hat fih an diefer Jubel: und Feftausftellung nicht
betheiligt. Frappanter läßt fh die Stellung wahrhaft freier
Kunjt gegenüber geichloffenen Stotericen und afademiihen Zentren
faum fennzeichnen. Nicht als ob fie fi von vornherein von der
Sache ausgefchloffen Hätte. Neineswegs. Aber das Nomitö ver:
fagte der Seceffion die Verüctfihtigung ihrer folgen, aber ficer
berechtigten Aniprüce auf bevorzugte Näume. Und jo zogen fd)
Diejenigen insgefammt zurüd, die ja heute von allen Einfidhts-
vollen als die berufenjten und ehrenreihten Vertreter deuticher
Kunft anerfannt werden...
Ein häflicher Mifton in dem fonft fo farbenleuchtenden und
gabenreichen Nunftfrübling, den diefes Jahr die beutiche Neichs:
bhauptitadt gebracht hat.
Berlin, im Diai.
I Norden.
.
Kitteräriihe Streiflihter.
Wie wir fchon früher einmal bemerft haben, macht fich
menerdings in Frankreich eine günjtigere Auffaffung und Be
urtheilung Napoleon 1. bemerkbar, alo deren Sauptvertreter
Fr. Maifon betradhtet werden fann. Natürlich fehlt es aud nicht
an Gegenjtimmen, die in mannigfacher Weile die früheren An
flagen gegen den corfiichen Jımperator wiederholen oder neue
formulien. Yon Anhängern und Gegnern Napoleon 1. werden
dann aud in mehr oder weniger eingehenden Schilderungen die
einzelnen Angehörigen des zahlreihen Bonapartiichen Zamilien
freifes behandelt und in ihren Beziehungen zu dem alle über
vagenden großen FJamilienhaupte dargejtellt. Mit der erjten
Gemahlin Napoleon I beichäftigt ih das Bud von Jofjeph
Turguan: Tie WSeneralin Bonaparte, übertragen
und bearbeitet von Tofar Diarjchall von VBiberftein.”) Turguan
ift von einer für Joephine - Jehr ungünjtigen Gefinnung erfüllt,
während er in der Beurtheilung. Bonapartes große Mähigung
und Unparteilichleit zeigt. Er ertlärt, er wolle die volle Wahr:
heit über Jojephine, rüdhaltlos alles jagen und nad) diefem Grund
laß verjährt er denn and in jeinem Buche; mit rüdjichtoloier
Sfienbeit fchildert er Jofephinens moratiche Jehltritte und Schwächen,
ihre Liebjchaften, ihren Yeichtfinn, ihre Gitelfeit, ihre Tberjlächlich:
feit und ihre Unbitdung und bricht erbarmungslos über jie den
=) Yeipyig. Verlag vom Schmidt n. Günther. IM. 60 Pi.
Yitteräriiche eiflichter. 281
Stab. Dazwiichen fann der Autor aber dod) nicht umbin, manche
auten Seiten an der Angeklagten hervorzuheben, jo ihre Nlugbeit,
ihre Yicbenswürdigfeit, ihr wohlwollendes Herz. Ein Mangel
des Buches it jedenfalls, da darin nicht, wenigitens einleitunge:
weile, die Jugendgeidichte Dofephinens, ihre Heirath mit dem
General Beanharnais und ihre Scjiiale nad) deiien Dinrichtung
dargejtellt werben, denn zu einer gerechten Veurtheilung ihres
Eharafters und ihres Verhaltens als Gemahlin Bonapartes it
die Nenntnih ihres früheren Lebens durchaus unentbehrlich. Au)
in Torguans Buche tritt dem Yejer die leidenschaftliche Liebe
apoleons zu Juephine febendig entgegen; man jollte es Fam
für möglid) halten, daj; es eine Zeit gegeben, in der das Ipäter
in hartem Egoismus erjtarrte Herz des Gorjen jo heißer Zunei-
neigung fähig geweien er hat ofephinen viel vergeben und
nachgejeben, mehr als irgend einem andern Menden. Neue, bis-
her unbefannte Quellen hat Turguan für feine Darjtellung nicht
benugt und eine fritiiche Prüfung der von ihm verwendeten
Diemoiren und Berichte hat er nicht vorgenommen; es liehen fc
gegen mandjes von ihm Erzählte begründete Einwendungen er:
heben. Aber wenn auch alles Mitgetheilte vollfommen richtig
und jiher beglaubigt wäre, fein Urtheil über Jofephine würde
doc) hart und ungerecht jein. Wlan darf niemals vergeileu, dal
fie eine Greofin war, mit allen Eigenfchaften und Fehlern diefer
Wiiichrace, dah fie ohne jede moraliiche Erziehung aufwuchs, dah
fie daher ohne jeden innern und äußern fttlichen Halt war und
daß fie, To geavtet, mitten in die, durch die Nevolution in fitt-
licher Vezichung völlig anfgelöfte franzöfiiche Sejellihaft hineintrat,
eine Geiellichaft, welche von der Heiligkeit der Ehe garnichts mehr
wußte und die chranfenlofe Freiheit des Jndividunns als oberiten
Grumdjas proflamirte. Wie hätte fie bei ihrem Naturell fi da
von den fittlichen Verirrungen der Zeit freizubalten vermocht ?
6s ift nicht gerecht, den ichwachen Einzelnen da nad) der Strenge
des Zittengefees zu beurtheilen, wo vielmehr eine ganze Zeit
und Gefellichaft zu verurtheilen ift, und hijtoriid) ift es auch nicht.
Auch hat es etwas Graufames un Unritterliches, die Fehltrittte
einer Frau, die niemals auf die Verhältniffe des Stantes einen
Einfluß ausgeübt, rüdjichtslos ans Licht zu zieben und ihr Privat:
282 Litteräriiche Streiflichter.
{eben zum Zwede der Anklage zu durdhforichen ; bei einer mächtigen
Herricherin ließe fi das allenfallo rechtfertigen. Im Uebrigen
enthält Turquans Buch viel interejiantes Material zur Kenntniß
der Familienverhältnifje Napoleons und feiner Geidwilter. Ein
zweiter Theil jol Jofephinens Leben als Naiferin behandeln.
Ein Gegenftüc zu den unlängit von uns beiprodenen Jugend:
erinnerungen des Profefiors Nifitenfo ijt das foeben in einer
Volfsausgabe erihienene Buch von Heinrid Dansjafob:
Aus meiner Jugendzeit. Erinnerungen‘) Der
Verfajfer, tathofiicher Seiflicher in Freiburg im Breisgau, chi
dert in diefem Wuche feine Kinder- und Nünglingsjahre bis zum
Abgange auf die Univerjität. Angeregt it er zur Aufzeichnung
feiner Erinnerungen durd) Frib Neuters Schilderung : meine Vater‘
ftadt Stavenhagen und durd Yogumil Golg’ ud) der Kindheit,
aber was er bietet, it ganz originell und jelbjtändig. Dansjatobs
Schilderungen find friich, febendig und anichaulid, er hat die
Natur des Nindesalters fo tief erfaßt und zur Darftellung gebradıt
wie faım ein anderer jeit 3. Golg. Auf deiien herrliches, ebenio
tieffinniges wie poefievolles Bud, das heute leider jo gut wie
vergeffen ift, jei bei diefer Gelegenheit mit allem Nacdrud hin
gewiejen ; jeder, der noch irgend ein Gefühl aus der Paradiejes
zeit des Lebens fich bewahrt hat, wird es mit Freude und Be:
wegung lefen.
Hansjafob hat die Erinnerimgen an das Paradies der Rind
heit als fojtbaren Schab in feinem Innern bewahrt md mit
warmer und fchmerzliher Sehnfucht denkt er an die verihwundene
Kindheit und Jugend zurüc. Er ift ein Mann von lebendiger
Phantafie, jonjt hätte er alle die fleinen Erlebnifle jeiner Kindheit
nicht jo treu im Gedäcdtnif behalten und fo lebenswahr zu Idil-
dern vermocht, er befist dabei cine große Friiche der Anffaflung.
€s find durdans feine auergewöhnlichen Begebenheiten, eo find
vielmehr ganz alltägliche und gewöhnliche Verhältnifie uud Jugend:
erlebniife, welche er erzählt, und doch hört man ihm mit wahren
Vergnügen zu und gedenft dabei wehmüthig der eigenen Jugend
zeit. Aus dem Buche jpricht ein warmes Gemüth und ein föft:
=) Heidelberg. Georg Weih' Berlag. 1 M. 80 Bi.
Eitterärifche Streiffichter. 283
licher Humor, man jpürt es überall, da der Verfaller eine
uriprüngliche Natur ft. And wie der Inhalt ift and die Form
funjtlos, einfach, volfoihümlich und aniprudolos. SHansjafobs
Schilderung jeiner Vateritadt Haslac ii Föitlich, die verichiebenen
Bewohner derfelben treten uns (eibhaftig vor Augen; die Dar-
ftellung des revolutionären QTaumels, der 1849 au die Hasladher
ergeifi, ift ein Meifterftüc echten Yumors. Sich jelbft jchildert
ber Autor durdaus nicht in idenfem Lichte, er berichtet getreulich
von feinen Unarten und dummen Streichen, wie er denn über
Haupt fich von jeder Sentimentalität und Ueberihwänglichfeit völlig
fernhält. Ein Yud) wie das vorliegende it eine wahre Erquidung,
bejonders in einer Zeit, wo in der Literatur das Unnatürliche,
Geipreizte, Verichrobene und Unwahre vorherricht. Nur in ein paar
unnügen Ausfällen auf die Frauen macht fih der fatholiihe
Priejter geltend, im Uebrigen tritt weder Stand nod) Confeifion
des Verfahlers irgendwie auffallend oder gar jt
jtörend hervor. So
fei denn das prächtige Ych allen, die der eigenen Jugendjeit mit
Liebe gedenfen, aufs wärnite empfohlen.
Einer der eifrigiten Deitarbeiter der „Grenzboten” ijt ber
frühere altfatholiichhe Pfarrer ob er es noch il, willen wir
nicht -- Garl Jentich in N Die meiften jeiner in der Yeip:
iger Zeitichrift veröffentlichten Aufläe find dann jpäter gelammelt
und vermehrt in Yuchform erfchienen, jo feine gei@ichtsphilofophiichen
Gedanten, fein nationalötonomiiches Werk: Weder Communiomus
no Gapitaliomus und einige Hleinere Arbeiten. Jebt num il
Carl Jentich mit einer populären Bolkswirthieaftstchre :
Grundbegriffe und Grundgeiebe der Wolke:
wirthiaft*) hervorgetreten. Gr beitimmt feine Arbeit zu-
nächjit für Voltsjcpulfehrer, für höhere Schulen, aud) für Studirende,
überhaupt und ‚Jedermann aus dem Wolke. Für eine willen
Ähaftlidie Mritit des Buches it hier nicht der Ort, aud) iit das
nicht unieres Berufes; hier foll nur der Eindrud wiedergegeben
werden, den es auf ben willenichaftlid; gebildeten Yaien macht.
Ientich zeigt eine bemwunderswerthe Nenntniß der cinichlägigen
Fachliteratur und veriteht co ausgezeichnet, die jchmierigften Pro;
*) Keipig. ör. Wil. Ormom. 2 3. 50 Pi.
264 Litterärüüiche Streiflichter.
bleme der Nationalöfonomie Kar nnd fahlich darzuitellen. Er hält
niemals mit jeiner Anficht zurüd und fritifirt ohne Nüdlicht auf
Parteien und Antoritäten. Co it der Standpunft des gefunden
Denichenverftandeo, den der Xerfaffer durchweg vertritt, eine
gerwife Nüchternheit der Auffaifung tritt uns überall entgegen;
von Noichers Tiefe findet fid bier nichts. Aber feine Aufgabe,
eine populäre Wolfowirthichaftelehre zu liefern, Löft Dentich in jehr
befriebigender Weite, ex giebt dem Yaien eine wirflid vertändliche
Yelchrung über alle wichtigen Fragen der Nationalöfonomie. Cine
ganz andere Frage it 9, ob alle feine Anfihten und Urtheile
richtig und wohlbegründet find, ob fie nicht vielfad) berechtigten
Wideripruc) hewworrufen mühjen. Bei den politiihen Parteien,
namentlich denen der Kedhten, wird Jentih wohl wenig Zujtum-
mung finden. Er it ein entichiedener Gegner der Agrarier und
der nationalen Wirthichaftspolitit, er ift and) Gegner der Schub:
zollpolitit des Kürten Viomard und jteht im Wejentlichen auf frei
bändleriichem Standpunkt, er ift ein Anhänger der Goldwährung
und entichiedener Widerjacher des Bimetalliomus, auch der Staats
jocialismus hat an ihm feinen Anhänger; den jest gewöhnlichen
heftigen Angriffen auf die Börie jtimmt er feineswego zu, it
t5 auch Fein unbedingter Vertheidiger des Gapita-
liomus A la Stumm. Man wird in allen diefen ragen viel-
fach) ganz anderer Anficht fein alo „Jentich und fann doc geru
feine Maren Auseinanderjepungen zu erneuter Prüfung anhören.
Eines jcheint uno jedenfallo fiher: den begründeten Forderungen
md Sagen der Yandıvirthe wird er nicht gerecht. Ob bei der
jegigen Parteizerrifiengeit und Parteiherrihaft in Deutichland ein
jo leibenidjaftslojes und einen ganz beflimmten individuellen Ztand-
purft vertretendes Bud) wie dao vorliegende auf weitere Nreif
Einfluß ausüben wird, das miüllen wir dahingejtellt jein lafen.
Getejen zu werden verdient eo von Allen, die, ohne fahmännifc
gebildet zu fein, fich über die wichtigiten Wunfte der National-
öfonömie zu unterrichten wünichen, aber co muß mit jelbjtändigem
Urtyeit umd eigenem ernten Nachdenken geichehen.
Einen Beitrag zur politifchen Yitteratur liefert Nudolpb
Meyer in feinem Wuche: Dundert Jahre conjers
vativer Politik und Yitteratur, von dem zunäct
Litteräriiche Streiflichter. 285
der erite Band: Literatur vorliegt.‘) N. Meyer war ein in
der erjten Hälfte der jiebziger Jahre jehr befannter agrar-pofitiiher
Schriftfteller, er nahm unter den gegen die liberale Wirtbichnfts
und Kirchenpolitif des Fürften Viomard frondirenden Coniervativen
eine hervorragende Stellung ein; namentlich jein Werk: der
Smanzipationsfampf des vierten Standes madjte vieles Aufichen,
wurde viel gelefen und viel befämpft. Us ex wegen Beleidigung
des Fürften Biomard zu einer Gefängnihitcafe verurteilt wurde,
floh er nach Tefterreich und wurde hier dur) feine Beziehungen
zu dem Grafen E, Veleredi und andern Fendal-Arijtofraten dev
geiitige Bater der öterreihiichen Agrarconfervativen. Später ging
N. Meyer nach Amı
wieder nad Tejterreich zu
valivem Standpunkt im Geifte der Nreuzzeitung zur Zeit D. Wagners,
hat aber im Einzelnen viele eigenthümliche und abjonderliche Ans
ichauungen. Einen Wann folder Art über das vergangene Jahr:
hundert conjervativer Politif fi äußern zu hören it immerhin
von Jnterefie. Der vorliegende erfte Band enttäujcht aber einiger-
mahen die Erwartungen, wenn man ihn in die Hand nimmt.
Dan jollte nad) dem Titel vorausjegen, daß darin eine zufammen-
fajiende Ueberficht über die conjervative Yitteratur geboten werden
oder eine Fritiiche Würdigung der bedentendjten conjervativen
Schriftjteller und ihren Theorien gegeben werden würde. Allein
das it nicht der Fall, der Verfafjer jtellt vielmehr eine bedeutende
Anzahl von Yejefrüghten aus früheren confervativen Schriftitellern
zum Beweife di zujanımen, da er in jeinen politüchen Ans
fühten und Schriften garnicıts Neues gelehrt und vertreten, jon-
dern ganz auf dem Standpunft der alten Gonjervativen jtehe.
Unter den von Vieyer gegebenen Auszügen aus älteren Autoren
findet ji ja mandyes Interefiante, leider aber find fie nicht in
chronologüicher Neihenfolge zulommengeftellt, darauf aber wäre cs
vor Allem doc angefommen. Das Interefjantejte an dem Buche
find die anhangoweiie beigefügten politichen Briefe und Aufläpe
von 9. Wagner. Sie lajen es wieder einmal erfennen, was für
ein fluger und hervorragend begabter Politifer Wagner war,
ifa, fehrte von da nad) einigen Jahren aber
id. Er jteht noch heute auf altconier-
9) Wien und Yeipzig, Verlag ia“ Franz Toll in Wien. 5. 30 $.
286 Litteräriiche Streiflichter.
beweilen aber zugleich auch, weld ein feiter und ehrenwerther
Eharakter diefer Mann geweien it, den einit Laster im Partei-
intereffe jo fe möde und ungerecht angegriffen und moralifch zu
vernichten geucht hat. Der zweite Band von N. Meyers Werk,
der die Politit behandeln foll, wird uns wohl mit den Anfchanungen
amd den Nefultaten der Inngjährigen politiühen Erfahrung des
Verfaffers eingehender befannt machen.
&s it uns eine Freude daranf Dinweilen zu Fönnen, bak
foeben von Victor Hehns Italien eine neue, die fünfte
Auflage erichienen it, die an der Spihe des Buches: Kebensnach-
richten über den Verfafler aus der geder Profeilor ©. Dehios
bringt.*) Die neue Yuflage beweiit, dah das vortreffliche Buch
auch nad dem Tode jeineo Verfaers der Werthichägung der
wahrhaft Gebilbeten fi zu erfrenen fortfährt. Unter den drei
hervorragenden Werfen Hehns hat „Ntalien“ ohne Frage bie weitefte
Verbreitung gefunden und feines Verfaifers Namen am meiften
befannt gemacht. In dieiem Yuche vereinigen fi Seit, Nennt-
ni, feine Veobahtung, ftarfe Subjectivität mit einer fo voll-
endeten Form, dab das Ganze ein wirkliches Numfhwert ift oder,
wie ©. Hirzel es treffend bejeichnet, das Werf eines Nlaiiifers.
66 wäre eine höchit anziehende und beiehrende Aufgabe die
25 Jahre früher geichriebenen, jeht veröffentlichten „Neifebilder
aus alien“ nad Muffaitung und Darjtellung mit dem Werfe
aus Hehns reifem Alter zu vergleichen, co würden fi, dabei die
interefjantejten Veobachtungen madjen und tiefe Ginblide in die
geiftige Entwidelung Sehne hun Laien. Sehr richtig bemerft
Dehio, daß and) die Jugendaufeichnungen eine bewundernewürdige
Formvollendung zeigen. Im den Lebensnadjrichten giebt Dehio
eine bei aller Nürze und Gehrängtheit vorzügliche biographiiche
Stizje und Charakteritit von B. Hehn; fie it and) in der Korm
des Meilters würdig, deifen Bud) fie einleitet. Wie fonnte dem
Verfaifer aber die häfliche Wortform „Schriftftellerwert” S
aus der Feder fliehen? Die wefentlichen Züge von Hehns Charatter
hat Dehio vollfommen richtig erfaht und formulirt, richtiger in
mancher Beiehung als cs in der ausführlichen Biographie Hehna
*) Verlin, Gebrüder Yornträger.
Yitteräriiche Ztreiflicter. 287
aeiheben üt. In einem umfaifenden Charatterbilde 9%. Helms
würde natinlih Manches zu ergänzen, Anderes eingehender zit
begründen fein. Wenn Dehio Sehn als echten Aritotraten charat
terifiet, fo it das gewih zutreffend, aber 09 wird damit dor nicht
ade alle me
etwas ihm Ipesifiich Cigeneo ausgeingt, da im
bitveten Balten ar ch denten und fühlen; daf die Ginen
thünichteit bei Sehn in dem demofratiichen Berlin bejondero her
vortrat, it begreiflich. Nicht nenug betont wird in allen bis
berigen Darstellungen, dab 2. Hehn im tiefften Grunde Nosno
polit war und im Weientlichen bis an jein Ende aeblicben it.
eine internationale Stellung hat ihre Wınzeln in feiner
thetiichen Weltanffallung, mit der er aany auf dem Boden der
Nlaffiter jtand; er empfand umd dachte deunich, fühlte fich fetbit
aber als Weltbirger und daneben alo Yiplinder. Tao bier Se
fante gilt dunhans für die zeit bio zu feiner Meberfiedlung nad)
Berlin, ob auch für die ipätere, vorman ich wicht zu enticheiden,
alanbe aber, da Hehm feinen Standpunft im Weientlichen nicht
verändert Hat. Den beiten md umviderlenlichlten Yeweis dafür,
dab Hehn feine entichieden nationale Stellung eimmahm, bietet
alfein fon das Napitel: pro populo italico in dem Wuch über
Italien; fein teltener, fein Avanzole oder Engländer hätte in
der Art fein eigenes Volf zur Verherrlichung eines fremden herab
aefegt, wie Hehn es bier thut. Kr. Nüicher bat it feiner
Zeit. Feineswens unbegründete Vorwürfe darüber gemacht und was
er gegen Hchns nationale Stellung bemerkt, it aröhtentbeils jehr
treffend. Ferner mühte entichiedener als bisher betont werden,
dal; Hehn eine überwiegend pafive Natur war, er fieh die Dinge
an fic heranfommen und hatte wenig Neigung fie nach feinem Willen
zu zwingen. Endlich ift nach nicht fharf nemug ein Zua an ihm
hervorgehoben worden, der dab zu den charafterifiicitien Ligen
thümlihteiten feines Meieno gehört: die Neigung zur ronie und
zum Sarkasmus, die fich mit den Jahren Tteinerte und ibn,
namentlh in Briefen, auch über gute Aremmde und Belannte
manche Aenferung tun fie, die im Grunde nicht To fchlimm
gemeint, nur darans Fich erflären fafie, daß er dieler Neinung
die Zügel Äciehen lieh. Ned mande andere bisher wicht nenit
gend hervorgchobene Charaklerzüge zu Lerwolltändigun, des
Ir
u Vitteröriiche Ztveiflichter.
Bildes von V. Debns geiftiger Perfönlichteit müflen wir an
diefer Stelle leiver übergeben. Eos wird immer zu beflagen ein,
dal Helm jeine arafe Snethebiographie, inobeiondere feine umz
faifenne Darfteltung der Sootheihen Poclie, nicht zu Ausführung
gebracht hat. Tie Sedanten über Goethe find dafür dad fein
vollgiltiger Eriag,, fie zeigen vielfad Spuren des Alters und
entbehren zum Theil der Feiiche, weldhe eine Ausführung des
früheren anes gezeigt hätte; auch find fie ja leider unvollendet
gehlieben. Was er neleiftet hätte, davon giebt der ausaezeich-
nete Nommentar zu Hermann und Dorothea, der aus dem Nach
lab veröffentlicht worden it, eine deutliche Vorftellung. Nehns
machgelaftene Arbeiten auf dem Gebiete der Yitteratur verdienten
6 durchaus, mag auch Cinzelnes darin veraltet, Anderes nur
fücenhaft erhalten fein, veröffentlicht zu werden. Dagegen jünnen
wir Dehio ganz bei, dah eine andere Veröffentlichung aus Hehns
Naclah beiier unterblieben wäre; er jelbjt wäre mit der Deraus-
gabe jeiner Kolleftancen, zumal wenn jie ohne alle Sichtung geichieht,
fichertich übel zufrieden geweien. Veiläufig jei ein Heiner Jrrthum
in Bezug auf die ans der Petersburger Zeit jtammenden in dem
Nachlafe erhaitenen Worträne über verfciedene willenichaftlice
Segentände berichtigt. Ad Tebio jagt, fie jeien in der Afa
denie der MWienichaften gehalten worden. Tas it ımrichtig.
Hehn war garnicht Mitalied der Akademie, wie hätte er alle in
ihr Vorträge halten fünnen, and wäre die Atadenrie gewih nicht
der Trt für den Vortrag populär wilfenjcaftlicher Abhandlungen
geweien. Diefe Vorträge find vielmehr in einem privaten Ntreile
von elehrten, zu denen allerdings auch mehrere hervorragende
Aodemifer achörten, in dem and) 6. Werthalz Wehreres vor:
getragen hat, gehalten worden. Bertholz' geichieht and) bei Dehio
anerfennende Erwähnung, aber doc nicht To, daß aus dem über
ihn Giefagten die ganze Bedeutung des jeltenen Mannes den
Fernerjichenden erfichtlih wäre. Ju allen bisherigen Charatteri-
ftiten md Biographien %. Debns ericeint ©. Bertholz als
als eine, wenn auch bemerfenswertbe, Nebenfigur, er dient ge
wifjermaßen zur Kolie für die glänzende jchriftitelleriiche ‘Perjön:
licyfeit des renndes. Dahei kommt er aber gar nicht zu jeinen
vollen Nedte; er war ein Gejtien mit eigener Bahn, nicht bloß,
Citteräriiche Stveiflichter. 29
wie e> icheinen fonnte, der Trabant eines anderen Simmelstörpers.
An Geil und genialer Begabung wie an gelebrten Nenntni
Hand Berthotz Hehn gleich, in manchen anderen Eigenihaften
überragte er ihm, wenn ev dem Areunde auch in jchriftitelleriichem
Talente nachjtand. Wenn Tebio unter den „baar ausgemünzten
Leitungen” gelehrte Werke, in Büchern niedergelegte Aoricumgen
verfteht, To trifft das von ihm auogeiprochene Urtbeil im Wejent-
lichen zu. Aber bei uno Valten giebt es noch eine Art werth
voller Yeiftungen und tief eingreifender Wirkungen : der bedei-
tende geiftige Einfluß, der hervorragende Perjönlichteiten auf die
Stadt in der fie leben, auf dies baktiiche Yand überhaupt ausüben.
Cine jolhe erfolgreiche Wirfiamteit hat Berkholz fait 25 ahre
hindurch im Niga und weit darüber hinans ansneübt und es it
die rage, ob eine foldhe Yebensverwendung nicht doch höher zu
veranfchlagen it, zumal unter unferen Verhältniifen, als ein noch
fo gelehrtes Werk mit neuen Korichungoreinliaten. Dah ein Dann
wie (5. Berkbotz in Niga nicht mehr vorhanden it, Das macht
fh direct und indireet iumer wieder fühlbar. Doc wir brecen
ab, da wir mo schon allzuweit von dem (Segenftande 1mnierer
Veipredung entfernt haben. (ewundert hat es uns, dal Tehio
den Yejer nicht, wenn and mr in einer Anmerlung, zu weiterer
Belehrung auf die Schriften von Schrader ımd Zchiemann ver
welt. Möge dem B. Hehns Hlaifiicheo Buch weiter binansnchen
in die Nreife aller Gebildeten, möge ever, der co noch nicht
fennt, fich zu herrlichem Genuß; darin vertiefen, möge «9 enplicd
in einer Zeit mangelnden Zpracgefühls und jprachlicher Yerwil-
derung der jebigen eneration zum Bewußtfein bringen, ans
Reinheit und Schönheit der Zprace if.
Bon nennen beilewriftüichen Ericheimimgen heben wir zunächit
STolvdenurz Ktalieniiche Erzählungen") berver.
Tie Verfaiferin, eine Tochter des weiflichen, noch immer nicht
wübijchen Tichtero mm Erzühlers
Dichten,
nad Gebühr gewürdinten fd
Hermann Nurz, bat fich fehon durch eine Zummlung von ©
durch Märchen und Novellen belannt gemacht. Die vorliegenden
Erzüblungen fin Novellen im alten, uriprüngfichen Zinne, d.h.
wort. 05. 3. Göhhen’che Nerkagsbuahhanahung. + M.
ur
I Litteräriiche Streiflichter.
fie deganveln meit mmaewöhntihe, Teltlame Begebenheiten. Aus
dem Bar wit ums ein bedentendes Talent entgegen, das mit
fait männlicher Meajt die Gharaftere zeichnet, Mir ftohen anf
nichts Schwantendes oder Phrafenbaftes, die Zchilverungen find
Hay, jeit und aufchanlih. Dazu font eine ungewöhnliche Be
hevriebung der Korn, man bemerkt, dab die Berfaferin mit Erfolg
Yaul Hape und andere Meilter der Erzübkungsfunit fudirt hut.
Nurz zeigt ein fie einoringendes Verfiändnih Deo italienischen
Aranenchavaflers, namentlich in Teinen Schwächen, das erfennt
man beionders in der Erzählung „die Glücsmmmmer.“ Neben
diefen Vorzigen machen ih auch einzelne Mängel bemerkbar:
die Perfalorin hat eine Neigung für das Orelle amd Geipenftiihe,
kberhanpt für das Phantajtiiche, Nie führt die Erzählungen mehr
fucb nicht zu einem harnoniichen Abfchtuf, jondern endigt mit einer
giellen Diiionam. Das gilt bejowders von den Erzählungen
„Mittagszanber“ und „ein Mäthiel.“ Das bejte Stüd der ganzen
Zammlmg it „Penia“, die Geichichte eines armen unmillenden
Yandmidchens, das unerwidert einen jungen Arzt liebt und, um
ieine Zuneigung zu gewinnen, Die größten Thorheiten, ja zulebt
Tiebitaht begeht; hier it der tragiiche Nrsgang wohl motivirt.
tn wenigiten befriediat die erfte Erzählung „Zchuiter und Schneider“,
der darin auftretende Baron zeigt directen Einfluß Paul Senfes,
ja fäht fh noch weiter auf Yudwig Tier zurücjühren. Dieje
dentiche Yodia, die in Kolye des Vertuites eines feit Jahren
gemeinfam zufannmengeiparten Napitalo amd aus Kurt vor
tünfiger materieller Roth Dem geliebten Yräntigam entjagt und
einen anderen zu beirathen beiihlicht, ijt eine Fehr unfpmpathiiche
Wiejial ad steht die arme Benja über ihr! Wenn . Nur
das Srelle md Abfonderlihe mehr meidel, wenn fie in ihren
1 nach voller und reiner Harmonie firebt und fc vor
einem allzu herben Nealisins der Darfteltung bütet, dann wird
Nie eine der erflen Ziellen unter den deutichen Grzählern Der
Gegenwart einnehmen; Ihr bedeutendes Talent äht bei firenger
Zelöittritit Dervorragendes von ihr erwarten.
San anderer Art it das Buch von Johannes Nena
tus: Nudolf von Varpnla, der @henfgu Zaa
Litteräriihe Streiflichter. 291
Led. Ein thüringer Yebensbild aus dem dreizehnten Jahrhundert.*)
Wie jchon der Titel tert, ijt co ein hiltorifcher Noman, der uns
darin geboten wird; an die Kerion Nudotf von Yargulas wird
eine Neihe von Fulturgeichichtlichen Bildern gefnüpft, in denen die
glänzende Zeit Thüringens in der eriten Hälfte des dreisehnten
Jahrhunderts dem Leier vorgeführt wird. Yandgraf Hermann und
der ihm umgebende Kreis von Zängern auf der Wartburg wird
geichildert, namentlich die inmpathiiche Gejtalt MWalthers von der
Vogelweide und jeine unglüclihe Yiebe, die heilige Clifabeth, ihr
Veichtvater, der furchtbare Fanatifer, Nonrad von Marburg, ber
Gegenfönig Heinrich Naspe und viele andere Nitter und Geiftliche
ziehen an uns vorüber. Visweilen wird uns mehr gefchichtliche
Erzählung als Noman geboten und in dem Streben vet viel
biitoriiche Momente zu verwerthen, ijt es dem Berfafler nicht immer
gelungen, fie dichteriich zu geitalten. Das Quellenverzeihnih; in
der Worrede, das doc nur vedht uneigentlich jo genannt werben
kann, hätte ruhig fortbleiben Fönnen, ein bifterifcher Noman- it
doch feine Gefchichte. Tas Unternehmen des Verfajlers foweit
abliegende Zeiten und Menfhen der Gegenwart in dichteriicher
Leranichanlichung und Verförperung vorzuführen, verdient gewih;
alle Anerkennung; manches it nur ftart modernifirt und die Dar:
ftellung etwas zu weich, für die Schilderung fo Fraftvoller Perfön-
lichleiten und wild bewegter Zeiten. Immerhin it das Bud) zu
empfehlen, insbejondere Frauen und der Jugend wird es eine
anfpredende und beichrende Yeltüre gewähren. H. D.
+
Bei Der Nodahiton der „Balt. Mon.“ find ferner naditehende Schriften
zur Beprebung eingegangen :
Turgnan, Kofeph, Die Mailerin Lofephine. Mcbere
ragen umd bearbeitet von slar Marfchall von Bieberitein. Leipsin,
Schmidt und Günther.
Wilbramdt, Wd., Bater amd
ichten. igart, ©. Cotta’fche Aınchh.
Filer, Kuno, sritiihe Seräfüge gegen die Mnfeiif.
(Nleine Schriften 4. Bo. Heidelberg, C. Winter.
andere Ger
A. Deihert'iae Berlagsbnchhandlung Rachi. (Georg Vöhme)
4
Litteräriiche Streiflichter.
Dalton, B. Der allyemeine enang-iic-protejtantiiche I
fions:erein. Ein Wort der Ahrvehr. Gütersioh, C. Vertelamann.
Gernet, X. ©. Aorkhungen zur Geihichte des baltiichen
Woels. Yweites Si ie Anfänge der linlänpüihen Nitterichaften.
Aeval, Fr. Auge.
Gallwit, 9, Eine heilige allgemeine drftliche Sirche,
Göttingen, Tandenhaed und Nupeedht.
Aleiihmann. ©, Wie fommt der Kleinbauernjtand zu
wirthihafelich tüchtigen Hansfenuen ? Göttingen, Bandenbod und
Rupreit.
Carey. PR, Merles Arenzug oder genen den Strom.
Autorificte Weberfetung. Gotha, ©. Schlochmann.
Yonge, M, jede sffen. Ans dem Englifhen v.
Eleonore Aürjtin Neu. Gotta, 6. Schlochmann.
Lamprecht, N, Alle und neue Nhtungen in der Geichichtes
wifenfchaft. Berlin, N. Garrtner's Verlag.
Münd, Dr. RW, Vermichte Aufläse
und Unterrichtsfunit in höberen Schulen. Berlin, N. Gneriner's
MonatsihriitfürGortespienitund firdlihe
uni. I Aaheg. Re 2. Deian, Hch, Nable's Berl
Höhne, Heinrich, Warum gute Goncerie in Mina jo
Fehwach befucht werden ı. Ein Wahmmort. Niga, Yädr.
Die Vier-Klenr von Transvaal.
Nationalhymne der Burn.
Aus dm Burendialeft übertragen von Guido Edardt.
Hod wallt nun wieder über'm Sand
Das Banner viergeitreit,
Und weh” der gomvergeiinen and,
Die fich an ihm vergreiit!
Wir trafen fie mit figrem Schlag,
Der Feinde mächtige Zahl —
Rum biaut der Areiheit ichter Tag
Uns rider von Transvaal!
Mandy böfer Sturm hat Did) zerzauft
Du chrenfeit Panier!
Doc) wie die Weiter and) gebrauft,
Wir hielten treu zu Tir.
Wie Tehpten fie nad) unfrem Blut
Und fanmen jeig auf Naub
Der Britten, Yöwen, Hafen Brut —
Ku Kegen fie im Staub!
Wir traten vor den Dritten bin
Friedlichend Jahr um Jahr:
Ricdhts Vöfes Haben wir im Sinn,
Yalt uns, was unjer war.‘
Tod) geois und gröfer wuds die Schuld,
ie jchmägten Hecht und Ehr',
Worüber war's mit der Geduld,
Wir griffen zum Gewehr.
294
Die Hilfe Gottes brad) das Joch,
Und England Ing befiegt --
Seht wie die Alagge jtol; umd box
Zip mm in Yühlen wiegt!
Manch braver Held ward hingerafft
Euch traf 8 doppelt bei —
Der Herr verlieh uns jolde Kraft,
Ihm fein Dant und Preis!
Hoch wolle wieder über'm Yand
Du Banner viergeitreit
Und weh" der gottvergefinen Hand,
Die fin an Dir vergreift!
Wir trafen fie mit fih'rem Schlag.
Der Feinde mächt'ge Jah
Kum bfaut der Freiheit ichter Tag
Uns Brübern von Transaal!
Ans 8. v. Pitmar’s Reijebriejen an jeine Gltern,
(1815—1818)
von
8 0. Schroeder.
Unter den hinterlajienen Papieren Woldemar von Ditmar’s
nehmen jeine Briefe an die Eltern aus den Jahren 1815—1818
eine wichtige Stelle ein. Einem Tagebuch ähnlich führt uns die
wohlerhaltene Neihe diefer Briefe (im Ganzen 27 an der Zahl)
die Erfebniffe des jungen Yivländers während feines Aufenthaltes
in Deutichland vor. Wir jehen den lebhaft empfindenden, für
alles Große, Gute und Schöne begeifterten jungen Dann mit
einer nicht unbedeutenden Anzahl mehr oder minder befannter und
hervorragender Perfönlichfeiten in Beziehungen treten, die fi) bald
zu herzlich:freundichaftlichen geitalten. In der eriten, der Berliner
Zeit, tritt dabei die berühmte Nurländerin Elifa von der Nede,
jpäter Jean Paul hervor. Daneben wird der Verkehr mit den
zahlreichen jungen Yandsleuten, die Ditmar in Berlin, Jena,
Würzburg und Heidelberg antrifft, gepflegt. Wie gro;
Ditmar’s Velanntenkreis war, wie lebhaft jein Verfehr mit
denjelben, das jicht man nod) deutlicher, alo aus den Briefen, aus
den Einzeichnungen in jeinen Nafender, wo er täglich alle die
Perfonen aufführt, die ihn befucht haben und bei denen er Befuche
gemacht hat, reip. denen er Briefe geichrieben und von denen er
welche erhalten -- meijt eine ganz jtattliche Heihe von Namen.
1
Aus MW. v. Ditmar's Neifebriefen.
Wie man fih denken Tann, füllt in den Briefen manches
Schlaglicht in das elterliche Sans zu Fennern, wo die beiden
guten, von dem Sohne innigjt verehrten Eltern, umgeben von
einer zahlreichen Minderichaar, im ichönfen, echt-alttivländiichen
tilleden haufen. Cs it ein harmaniich - glückliches Familien
verhältniß, in weldes wir da hineinbliden. Der um den Eohn
in der Fremde zärtlich beforgte Vater Ditmar’s it, wie fo viele
damalige Gutobefiper der Citfeeprovinzen, früher im Militairdienit
gewejen und als Wajor verabidiedet; die Mutter eine lebhafte,
Fuge, herzensgute Frau, die ein munteres, anregendeo Gefprä
liebt, wo Jeder feine Anficht tapfer vertheidigt; fie pflegte, wie
mir der Enkel erzähft, zu jagen:
Vei immer Ja und immer Nein
Schläft man vor langer Weile ein.
Die jüngeren Ninder find der Obhut eines Hauslehrers, des
mit Woldemar innig befreundeten trefflien Schwark, nachmals
langjährigen Paitors in Kölwe, anvertraut. Er vertobte fich in
der Rolge mit der älteften Tochter des Haufe, Annette von
Ditwar, und heirathete fie
Woldemar it der ältı Sohn des Daufes, der, ins „ferne
Anstand” ausgeflogen, mm feine Berichte über alles Erlebte
freilich den geliebten Eltern zuiendet, die voll Stolz und Freude
auf den Sohn bliden, dem co in furzer Zeit gelingt, fich To viel
Liebe und Anerfenmung zu erwerben, zum Theil bei Perfonen,
deren Namen zu den beiten jener Zeit gehörten. Yeider jollten
die trefilichen Eltern den Schmerz erleben, daß; dieier Sohn, auf
den fie fo viel Hoffnungen fegten und fegen durften, als etwa
Dreifigjähriger vor ihnen dahinichied.
Aus den Briefen Woldemar von Ditmar's an feine Eltern
lege ich hier dem baltischen Publitum wmfängliche Auszüge vor.
Vieles von dem vein Perfönlichen mußte aus nabeliegenden
Srimden weggelaffen werden, desgleihen manches Andre, was
von geringerem Intereffe |hien. Wlan halte fich beim Lefen diejer
Briefe immer vor Aigen, dal der Verfafler ein junger Mann
von 21 Jahren it, der zum eriten Wal aus dem liwvländiichen
Ztilleben in die große Welt hinausfommt. in bisweilen etwas
überichwwänglider Entbufinsmus findet in feiner Jugendlichteit
Aus W. v. Ditmar's Reifebriefen. 297
ebenso wie in der Richtung der damaligen Zeit genügende Erflärung
und, wenn es nöthig wäre, Entichuldigung. Diefer Enthufiasmus
trägt aber fo durdhweg den Stempel der Neinheit und Wahrheit,
it in feinem innerjten Nerne jo durdaus gelund und gut, daf; er
auch dort, wo er für uns ehvas zu weit geht, doch nicht unfpm-
vathüüc, berühren fann. Im Uebrigen will ic den Briefen feine
fange Erläuterungen vorausichieen, fondern lieber den Nerfaifer
felbit reden laifen.
Nitau, den 6. September 1815.
Geliebte Eltern !
Am 1. September Nachmittags um 2 Uhr fam ich hier in
Miten an. Auf meiner Fahrt hierher begegnete ich meinem Reife
gefährten Napp, der nad) ige fuhr, um nad) einiges für fid) zu
beiorgen, umd mac) denfelben Abend wieder zurüd fam. — Die
Stadt gefällt mir wicht, denn fie ift Hein und jchledht gebaut;
dejto beifer gefallen mir aber die Bewohner berfelben. Wahrlich,
ich Habe noch nie Wienichen von fo zuvorfommender Gefälligfeit
und *iberalität gefunden, alo in Mitan. od) habe id) feinen
Tag zu Haufe geipeift, denn bald bin ich bei den Nauffeuten Rapp,
die recht gut leben, bald‘ bei der Vidder oder Körber. Uebernll
wird man mit Herzlichfeit aufgenommen und fühlt fich in jeder
Familie nach einigen Mugenblicten jo gemüthlich, als wäre man
zu Haufe. — Von hiefigen Gelehrten Habe ich zwei fenmen gelernt,
nämlich) Rede und den Profeiior Lieban. Exfterer ift noch sehr
betrübt durch den Tod feiner einzigen Tochter, und daher ungenich-
barer als er eo jonit jenn mag; legterer hingegen iit ein
Dann von einer folden Liebenswürdigfeit, wie ih) nod) feinen
gefunden habe. — Durch Rede erfuhr er eo, daf ich hier ange:
fommen und ein Freund von Straudling fen — für ben braven
Dann Grumd genug mic zu fid) zu bitten. Ih ging bin und
werde mich immer darüber herzlich freuen, mit jo herrlichen
Menfcjen, alo er und jeine Frau ift, befannt geworden zu fenn.
Dr
298 Aus M. v. Titmar’s Reifebriefen.
Im feinen Porfefungen muß; id) hospitiren, Mittags bei ihm fpeiien,
Abends bei ihm The trinken, — furz ich muß täglich mehrere
Dial bei ihm jegn. Plan Fann zu ihm ebenjo leicht Vertrauen
faften, als zu unjerm alten wadern Berg’). Ale Mertwürdig:
feiten Viitans fehe id durch ihm und Nede. An einer halben
Stunde gehe ih wieder zu Liebau, bleibe zu Vittag bei ihm und
bejehe nach dem Cifen die Bibliothek deo Gpmnafiums. — — —
Und nun gute Eltern, Geichtwifter und Freund Schwars, Iebt wohl.
Ewig Ener Euch aufrihtig lebender
Woldemar.
Memel, den 10/22. September 1815.
Ich benuge die Gelegenheit, die fihh mir burd) den zurüd-
gehenden Mitaner Fuhrmann darbietet, um an Eud) zu ichreiben.
- Mitau verliehen wir den 7. September und Famen hier, nad)
einer glüclic zurücgelegten Fahrt, am 10. September an. —
Die Gegenden, burd) die wir auf unjerer Neife paflirten, erfrenten
uns eben nicht durch ihre Schönheit, ausgenommen die von Amboten
in Surland. Unfer Weg führte uns hier durch maleriich-ihöne
Baumgruppen, in denen häufig ehrwürdige Eichen ihr ftolzes Haupt
erbliden ließen. — Hohe Verge und tiefe Thäler, dur) die meijten-
teils ein Fluß bahinitrömt, verichönern Diele Gegend noch um
febr vieles. —— Der ganze übrige Theil des Weges war flach,
fandig und waldig. — — — Was mir das für ein Gefühl war,
als ich über die Nufiiche Grenze fuhr, fann id Euch nicht
beichreiben. Nur fo viel jage id) Guch, da id mich in der
Vritjehfa aufrichtete und noch jo lange in Ruhland Hineinjah, als
«8 mir mur möglid) war; dod) als aud) die fhmale Gränze meinem
fehnenden Blide entichwand, nepte mandje Thräne meine Wangen. —
Waprlich, 6 ift ein ganz eigenen Wand, weldes uns an unier
Vaterland fejlelt!
Werdet ihr mein Bild wohl erkennen, wenn ih Euch das
Signalement von mir, das mir die biefige Polizei auf meinen
*) &s it Probit Yerg in Yallit gemeint,
Aus MW. v. Diimar’s Neifebriefen. 299
Pa geichrieben Hat, herfehe? Hier ift cs wörtlich: „Ein und
zwanzig Jahr alt; fünf Fuß acht Zoll groß; blondes Haar; bebeiite
Stien; blonde Augenbraum; blane Augen; dide Rafe; gewöhnlicher
und; wenig blonder Bart; rundes Kinn; ovales Geficht; gejunde
Gefichtsfarbe; mittler Statur.“
Meinen Brief aus Vitau vom 6. September habt Ihr dad
ichon erhalten? Jh) habe mic) in diefer Stadt fehr gut amüfirt.
— Die Nörbern tranf, als ich den Mittag bei ihr fpeifte, auf Euer
aller Wohlieyn. Sie ift eine harmante Frau. —
Allen Lieben herzliche Grühe; den alten Onfel Brömfen
und die Seinigen, jo wie auch die gute Tante Dettingen nicht
zu vergeffen. Theilt ihmen meine Briefe mit. — Id habe lange
mit feinem Menichen fo gut harmonirt und ihn in furzer Zeit fo
lieb gewonnen als Rapp. —
Königsberg, den 14/20. September 1815.
Ich jege jegt gleich unfere Neifebeichreibung von Memel
dis Königsberg fort. — Am vorigen Eonnabend fdifften wir uns
ein, um über das Saft zu jegeln. Ter Wind war conträr und
wir mußten daher unfer Schafener Schiff ungefähr eine halbe
Dieile ziehen lajfen. Trauf nahmen wir eine andre Richtung und
fuhren mit halbem Winde weiter. Wir mochten ungefähr eine
Meile abgefahren haben, als wir bas häfliche Schiejal Hatten, auf
den Strand zu laufen und zwar mit einer folden Gewalt, da
wir das Schiff nicht wieder herabbringen fonnten, jondern die
Anfer auswerfer und bis zum andern Morgen auf einem Fleck
fiegen bleiben mußten. Was wir in diefer Nacht alles ertragen
muhten, mag ic Euch garnicht erzählen ; Ihr werdet es Eud) aber
felbjt jehr leicht denfen können, wenn id) Eudy je da wir nichts
weniger als intereiiante Denfchen zu unfern Neifegefährten hatten
und da jelbjt biefe meiftens feefranf wurden. Auch Napp befiel
fran und num war ich, der ich auf der ganzen Reife gefund blieb,
in einer peinigenden Lage. Ich verjuchte es, zu ichlafen, dod)
«8 war mir nicht möglich; drauf ging ich aus der Ntajüte auf
300 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
das Verde, aber and hier fonnte ich nicht lange bleiben, denn
die Nacht war jehr falt; bald unterhielt ich mich dann aber audı
wieder mit einem Bekannten aus Dorpat, dem Studiojus Adolphi,
den wir ganz unvermuthet am Bord des Schijfes fanden, und auf
diefe Art fuchte ich mir die Zeit bio zum nädhiten Morgen um
5 Uhr zu vertreiben, um welche Zeit wir unfere Neife weiter
fortjegten. Die Fahrt über das Hafi madjten wir in 11 Stunden
vedht glüdlich, mußten aber, da es jchon ziemlich ipät war, in
dem Dorje Schafen übernachten. Kaum waren wir aus bein
Schiffe geitiegen, jo fing es an zu finfen und wäre fait gang ver:
funfen, wenn nicht 10 - 12 Mienfchen bemüht gewejen wären, es
zu retten. Cs hatte den Abend vorher durd) das Stranden einen
To ftarfen Lest erhalten, da das Waifer unanfhörlid hineinftrömte
und es wundert mic, daß wir unfere Fahrt jo gut zurüclegten,
da bie Wellen jehr had gingen und c& den ganzen Tag recht
fürmifh war. Wie jehr wir uns freuten diefes elende fleine
Fahrzeng verfaflen zu haben, fann id) ud) nicht beidhreiben;
wäre es früher als am Ufer des Hafis geiunfen, jo wären wir
alle verloren gewejen; denn wir hatten nicht einmal ein Woot
mit, auf welches wir uns hätten retten fönnen. — Schafen ver-
fießen wir am andern Vorgen auf einem großen, fchlechten Yeiter:
wagen, iu Gejellichaft einer Haushälterin, einer Köchin und eines
Knoten. Die Köchin lachte über alles und die Haushälterin hörte
garnicht auf, über die Nippenftöhe zu lagen, die fie erhielt. —
Bei dem Nönigsberger Thor follten unfere Saden vifitirt werden.
Der Bejucer jagte uns, wir müßten unfere Saden alle durd):
fuchen fajien. Ich idhiefte mic) aljo dazu an, meinen Dianteliad
aufsuichniwen; doch er lieh mich garnicht dazu fommen, jondern
hielt mir immer feine Hand Hin. cd bemerkte es bald, was er
wollte, und jtete ihm einen halben Gulden in die Hand. Drauf
fagte er mir, „wir beide haben mit einander nichts mehr zu thun,
machen Sie Ihren Manteliat nur garnicht auf“, umd lieh; uns
zum Thor hineinfahren. Wir jtiegen in einem Wirthshaufe, die
goldene Noje genannt, ab und id) begab mich num gleich zum
Decan der Philos. Facultät, Confiorialrath Wald. Plein Eramen
fegte er auf den andern Morgen fell. Mit einiger Angit ging
id) hin, freute mid) aber nicht wenig, als ich Tab, daß fie fehr
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 301
bhonnet zu Merfe gingen ımd mir jagten, dai eine ntliche
Disputation jegt umnöthig fey, da jept Ferien wären. Meine
Eraminateren waren die Profefforen Wald, Wrede, Hüllmann,
Hagen, Herbart, Gaspari, Yobed und Later. -—- Das Eramen
dauerte doch Länger ımd war jehwerer als ich glaubte; allein es
ging doc alles recht aut und am andern Tage erhielt ich mein
Tiplom, das ehr ehrenvoll für mich abgefaht it. -- — Genauere
Vefanntichaft habe ich Hier mit folgenden Profeiioren gemad
Bırdac, Later, Gaspari und Wald. Jeder von ihnen fieh mich
zu fid) einladen. Es ift mir fehr erfreulich geweien von diefen
Männern mit jo vieler Herzlichfeit und auferordentficher Zuvor:
tommenheit behandelt zu werden. Worzüglid muß id) YBurdadı,
Saspari und Vater loben. Zie haben mir jo manches Merk
würdige hier gezeigt und wollen durchaus noch feinen Abichied
von mir nehmen; ich joll durchaus immer noch einmal zu ihnen
gehen. — ud) den alten Siruve habe ich bejucht und ihn ganz
fo, wie er in Dorpat war, wiederfunden. Sch muß fait jeden
Mittag und jeden Abend bei ihm fpeifen, mit ihm umberlaufen
und alles, was fid hier nur einigermahen auszeichnet, jehen.
Seine Frau, eine Lioländerin, freute fi außerordentlich, wieder
einen Yandsmann zu Äprechen Unaujbörlich muß ich ihr erzählen,
bald etwas von den Weniden in Yivland, bald etwas von der
diehjährigen Yernte u. dal.
Berlin, den 2 1sı
September a. St.
So wäre ich denn num endlich in Berlin angefommen!
wo id) jo viele thenre Areunde vorgefunden Habe, die mid mit
derielen Herzlichteit und Kreundichaft, wie einft in Dorpat
behandeln: Nraudling, Hartung, Toltien, Hartmann und Körber.
Dit Araudling wohne ic Zimmer an Zimmer, bei der Profeiiorin
hlofjer. Wir führen ein für mich hödhft inierefianteo Leben,
denn jeden rgen find wir zufammen md jprechen über Boefic
und Literatur überhaupt, oder wir machen aud) wohl einen Spazier
gang und freuen uns dann nicht wenig über die jchönen Pläge
302 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
und Gebäude Berlins. - Die Stadt it groß und geräumig,
die Gaffen find breit und die Käufer in einem einfadhen, aber fehr
geichmactvollen Styl gebaut. Vorzüglich anziehend find für mid)
der Wilhelmsplag und die Yinden, die von dem Univerfitätsgebäube
anfangen und fid bis zu dem einfach-ihönen Brandenburger Thor
eritveden. Gleich aus diejem Ihore fommt man in eine redt
hübjche Anlage, den Thiergarten, durch den man in die Zelte
weht. Auf dem ganzen Wege bis zu den Zelten trifft man überall
eine guoie Denge von Spazierluftigen und feinen Jungen, von
denen der eine Cigaros, der zweie Früchte, ein dritter jeine
erde zu Yuftfahrten umd nod) ein vierter Xolslieder (größten:
teils Zpottgedichte auf Napoleon) zum Verkauf anbietet, oder fie
and für ein Paar Grojchen in dem Berliner TDialeft mit lauter
Stimme abiingt. In den Zelten findet man neben Duft, Speiie
und Getränf auch immer viele der berühmteften Schriftiteller,
namentlich habe id) bier den befannten Franz Horn und den
berühmten Juden Beng David fennen gelernt. — — Geitern
wurde ich von dem berühmten Schleiermacher immatrieufirt.
Den vorigen Sonntag habe id) diejen großen anzelredner predigen
wehört und habe ihn anftaunen mülfen; denn eine foldhe Predigt,
ohne Concept, und ein joldher Vortrag ift mir nad) nie vorgefommen.
Leider find aber die Predigten diefes Mannes nichts weniger als
für dus Herz, jondern bloß für den Verftand; fie find treiiliche
vhitofophiiche Abhandkungen. Bon Yandslenten, die ich fenne,
find aufer den früher genannten hier folgende: Gujtav Engelhardt,
Grünewaldt, Fod, ZSeraphim, Wagner, Adolphi und Meiife, mit
welchem lepteren ich wahricheinlid mod) vor dem Anfang der Bor:
leiungen eine Neile nad) Dresden, Halle und Leipzig made.
To ich muß jchliehen, denn eo find jchon wieder mehrere meiner
rende bei mir, die gewaltig ipectafeln. In einigen Tagen ziehe
id mit Hartung zufammen.
EN
in, den 6.18. Oft. 1815.
och nie habe ic mit einer foldhen Vegeifterung die Feder
ergriffen, um am Eud zu Ichreiben, als gerade heute. — Wie
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 303
tommt das? werdet ihr fragen und id) antworte Euch freudig,
dah ich heute früh die Vefanntichaft eines unferer genialiten
deutihen Schriftiteller, des allgemein gefeierten Yaron be la Motte:
Fonque gemacht habe. Schon gejtern lernte ic) diefen ausgezeichneten
Mann von Anfehen im Theater fennen, wo zum erjten Male
fein dramatijcdhes Gedicht „die Heimkehr des großen Kurfürften“
aufgeführt wurde. Hödjt interejlant war es mir, ihn während
der Vorftelung zu beobadhten und bei jeder militäriihen Scene
feine febhafte Freude zu bemerken. Fouque war mit Nußlauds
und Preußens tapferen Kriegern in dem vorlegten Nriege gegen
das ruchloje Heer der Franzofen gezogen umd fehlte in feiner
Schladt, in feinem Gefechte, und Gott jdügte ihn wunderbar
in taufenbfältiger Tobesgefahr und führte ihn durch die Tage von
Lügen, von Yauzen, von Haynau u. |. w. ohne Vermundung als
eine unbedeutende, durch den Sturz eines ihm in der Schlacht
bei Lügen unter dem Leibe ericofjenen Pferdes. Auch in der
Schlacht bei Leipzig focht unjer Held und Dichter noch rühmlicht
mit, forderte dann aber, feiner durchaus geichwächten Gejundheit
wegen, ben Abichied, und erhielt ihn vou dem Könige, für fein
friegeriiches Verdienft mit dem Charafter eines Majors von der
Kavallerie und Nitters des St. Johanniter-Ordens begnabigt.
Seitdem lebt er auf feinem jüillen Yandfige feiner Wiederherjtellung
und feiner Kunfl. — Diefen Dann, den ich ihon als Dichter und
Dienschen, che id) ihm nod) gefehen hatte, innig liebte und adhtete,
ich ich jest und ward für ihm jo eingenommen, baß id) ben Ent-
Ihluß fahte, ihn am andern Tage zu befuchen. Meinen Vorfag
vealifirte id und werde nie aufhören, mid) darüber herzlich zu
freuen. Treuherzig trat ih zu ihm in feine Stube und fagte
ihm grade heraus, daß ic) gefommen jey, um ihm fennen zu
fernen. Diefe Aufrichtigfeit fehien ihm zu gefallen, denn er
nöthigte mic zum Zigen, jegte mir ein Gläschen Wein vor und
unterhielt fi mit mir eine ganze Stunde auf das Lebhaftefte.
Im der Mitte der Unterhaltung ergriff er einmal meine Hand,
drüdte fie herzlid und jagte mir, „es freut mich herzlich, daß Sie
mich bejucht haben; fo fiebe ich die Menihen; — Sie müjlen
mich bald wieder bejucen.“ —- Ueber diefe Worte, die der treffliche
geiitvolle Mann in jo biederem deutfchen Tone zu mir fprad), freute
304 Ans MW. v. Ditmar’s Neifebriefen.
ich mic) in dem Ghrade, da; ich aufitand und freudig einen Sprung
machte, wobei mir die Thränen in die Augen traten. Er bemerfte
mein Entzüden und fagte: „Wir müfen näher bekannt werden.”
Drauf ermiderte ich ihm noch freudiger, dal diefe Stunde m
zu den jchönften, aenufreichjten meines Lebens gehöre und mir
festen uns wieder umd fpraden nod) ein halbes Stündcen über
die tapfern Nuffen und Preußen, drauf über Nlinger und feine
Schriften und endlich Über die Vorftellung feines vorhin erwähnten
dramatifchen Gedichts, wobei er manche jchr intereifante Bemerkung
machte und ich mich wieder innig freute, daß wir in unferm
Urtheile ganz zuammentrafen. Während dieies Gefprächs äußerte
ich einmal ganz naiv, dal cs mir leid thäte, daher, ein Dann,
der in feinen Schriften jo deutic it, einen franzöfichen Nanıen
hat. IE mm, fjagte er freundlich, man mul; mich, worüber ich
mid) immer anfrichtig freue, mit Zeume den neuen Wolfer
nennen. Unter foldien Gejpräcen entfloh mir die Zeit jcneller,
als id) es gewünicht hätte. Ic empfahl mid) ihm, er aber reichte
mir noch einmal jeine Hand, drücte die meinige herzlich und
fagte mir: „Ach mehme von Ahnen nur auf furze Zeit Abichied,
dein ich baffe auf ein freudiges recht baldiges Wiederiehn; Lie
werden mich doch wohl bald wieder beinden. ch bleibe noch
14 Tage in Berlin.“ Und id) gebe wieder zu diefem trefilichen
Mienfchen und follte and die Kölle mit allen ihren qrinzenden
Ungehenern mir den Gang zu diefem wahrhaften Helden und
Dichter erfhweren. Um old föftlices Gut muß man auch
känpfen Eönnen.
Seht, qute theure Eltern, o glüdlich geht es mir bier in
der Fremde. ch glaube, der Zenen meiner Eltern ruht auf mir,
und ich werde in diefem fchönen Slauben immer mehr beitärtt,
wenn ich noch an manches andere glückliche Ereignif denfe, weldes
mir Hier in Verlin begegnet ift. So wurde ich vor einigen Tagen
mit dem alten Scheimen Natb Schmalz befannt. ab munte zu
ihm gehen, denn ich hatte ein Eeines Pädcen von dem alten,
würdigen Gonfijtorial Math Wald in Königeb meinem Promotor,
abzugeben. Wo Schmalz den Brief von Mald geleien hatte,
unterhielt er fihh nod einige Zeit mit mir fehr freundlich und ats
ih weggehen wollte, bat er mich ehr angelegentlich, ihn redht oft
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 305
zu bejuchen. Zugleich jagte er mir, af er jeden Abend von
7 Uhr an zu Haufe wäre, und da; ich ihm, wenn ic mit einer
Taffe Thee, einem Yutterbrod, ein wenig Zleifh) und einem
freundlichen Geficht vorlicb nehmen wollte, immer ein fehr will-
fommener Gajt wäre. cd werde diefe Aufforderung nicht unbe
mußt (ajfen, denn id) veripredie mir in dem Unmgange mit diefem
geiftwollen Manne nicht nur vielen Genuf, jondern zugleidh aud)
Belehrung für mich als Juriften, da Schmalz befanntfich zu den
größten jegt lebenden Nechtsgelehrten gehört. Er it ein Kleiner
itarfer Dann mit marfirten Gefichtszügen; in feinem Benehmen
bofartig; in der Unterhaltung Iebhaft. Auch in dem alten Beller-
mann, an den id) von Hezel empfohlen war, habe id) einen redt
ichaffenen, braven Mann fennen gelernt. Er hat in feinem Wejen
viele Aehnlichfeit von Hegel, dod) mit dem Unterichiede, dal er
männlicer, aber auch zugleich fülter als jener Zwei Mal
habe id) ihn icon bejucht und bei meinem erjten Vejuche eine
fleine Schrift über Phönicifhe und Puniiche Münzen, die der
Alte neulid) herausgegeben Hat, von ihm zum Gejcyenfe erhalten.
ud) er hat mic) aufgefordert, ihm vedht oft zu bejuden, und jo
hoffe ich denn, im Umgange mit diefen Diännern umd meinen
lieben Freunden ein recht glüdliches halbes Jahr in Verlin zu
verfeben. Nur schade, dal es Dier jo unmenichlic) theuer ift.
Für Quartier, mit Heizung, Bedienung und Naffe muh man bier
monatlich, wenn man fi auch nad) jo färglid) einvichtet, 20 Nbtr.
Gourant, alio 20 Rl. Sild. nad) unjerem Gelde zahlen. Für
Eiien fann man monatlich 5 Nhlr. Conr., für Wälde und andere
Kleinigkeiten gewiß; eben jo viel, wo nicht noch mehr rechnen.
Auch die Vorlefungen mu man hier jehr thener bezahlen; id)
höre 3 und die fommen etwas über 30 Ahle. zu ftehn.
Aber es ijt mir nicht vergönnt, Euch heute mehr zu Ichreiben,
denn der Nigiihe Kaufmann Vergengrün, der biejen Brief
mitnimmmt, reift chen morgen früh ab und jet it es chen
12 Uhr in der Nacht. Nur das Cine muf; ich Euch noch melden,
daß ich den alten Greis Körner im Theater aefehen habe. nf
feinem Gefidhte ruht tiefer Ernjt und in jeinem ganzen Mejen
fpricht fid) der tiefe Schmerz, der an feiner Crele nagt, deutlich
aus. Neulich hat er das ichredlihe Schicjal gehabt, feine einzige
306 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
Tochter (fein legtes Kind) zu verlieren. Sie unterlag dem Gram
über den Tod ihres Bruders, nachdem fie furz vorher das Porträt
defjelben und feine Srabftätte gemalt hatte. Lebt wohl! Gott
erhalte Euch bis zu meiner Nüdfehr alle immer redht wohl.
Den 23. Oft. n. St. trifft bejtimmt unjer Kaijer hier
auf feiner Reife nad) Rußland ein.
Verlin, den 11. November a. St. 1815.
6s war doc) ein jhöner Tag, der 13. Oftober a. St. Noch,
ift fein Herbjttag mir in meinem Leben fo heiter, jo flar vor-
gefommen; feine feuchte Nebefwolfe durdzog an biefem herrlichen
Tage bie Luft; alles war jill und ruhig; — in jtiller Majejtät
ftrahfte die Sonne von ihrem fernen, erhabenen Throne auf die Erde
herab und ihr ihöpferiiches Licht gof neues Leben in die ganze
Natur. Nad) einer langen, intern Naht athmete and) id) wieber
freier, €8 ahnen, welch grofie Freude mir an diefem Tage bevor:
fände und 5 war mir unbefhreiblih wohl. Dody wohler noch,
als 06 mir am ganzen Tage gewejen war, ward c6 mir am
Abend, als nicht amerwartet, wohl aber für den Augenblid unver:
muthet, der Poftillon in meine Stube trat und mir einen Brief
von Eudy bradhte. Bei dem Anblid der wohlbefannten, theuren
Schriftzüge jtürzten mir die Tränen aus den Augen umd ich
fchwelgte in namenlojem Entzüden. ud alle grüßte ich) aus der
Entfernung wieder, — hr alle, Vater, Mutter und Gefcdwilter,
Intel, Tante und die lieben einen, und du, mein Bruder
Schwarg, Ihr alle umgabt mid) wieber nad) langer Zeit und viele
viele Schöne Tage verlebte ih durch Euch mit Eud. Nie fann
id) meinen Schranf öffnen, ohne zugleid Guren theuren Brief
immer wieder herauszulangen und ihn mit manden Freuden:
thränen zu benegen. Den 8. Oftober a. St. wohnte
id) zum erften Male den Turnübungen auf der Hafenheide, etwa
3 Werft von Verlin, bei. Cs ift unglaublich mit wie großer
Geihwindigfeit hier die jungen Leute Springen umd flettern. An
der Spige diejer Schaar von Jünglingen erblictte id) einen ziemlich
Aus MW. v. Ditmar’s Reifebriefen. 307
großen, jtarfen, ältlihen Mann, der mir in feiner Kleidung von
Segeltuch jehr auffiel. Id erfundigte mid) nad) jeinem Namen.
Dan fagte mir c6 fen der Dr. Jahn, der Verfaiier des deutichen
Voltsthums. Wie unendlich id) mic freute, diejen wadern Dentichen
fo findlich heiter und froh zu fehen, fann ich Euch) wahrlich nicht
fagen. — Die Leibesübungen werden hier auf einem großen, um:
zäunten, mit Bäumen bepflanzten Plag angeitellt, den der König
dem Dr. Jahn zum Behuf derfelben geichenft hat. Ueber die
Bäume ragen die Gerüfte zum Niettern und Springen hervor.
Kein Seil hängt müflig da; an einem jeden ficht man einen
Knaben von Carlos Größe und Alter hängen und jid) beitreben,
ben höchjten erflimmbaren Punkt zu erreicen. Während ein Theil
fo beichäftigt ijt, Ipringt der andere mit, der dritte ohne Stangen.
Einige fchwenfen ih um jtarfe Stäbe, die an zwei in die Erde
gerammelte Balten befejligt find; andere ipringen über ein grobes,
höfgernes Pferd, oder aud) über ihre Commilitonen und nod) andere
laufen um die Wette. — Cs war ein fcöner genufreiher Tag
für mic, aber nicht minder genufreih; war mir der folgende, an
welchem dem Volke, zur Feier des Zieges bei Yeipjig, ein großes
Volfsfeit gegeben wurde. Jeder, der aud nur einen gefunden
Fuß hatte, lief zu dem Ende in den Thiergarten umd ergößte fidh
an den Gelagen der Harmlos fröhliden Lente. Der große vier:
edige Pas, auf weldem diefer Tag gefeiert wurde, war Abends
ihuminivt, wobei zugleich ein Feuerwerf abgebrannt wurde. Che
«5 aber dumfel geworben war, lieh man alle halbe Stunde ein
Luftballon jteigen, bald in Gejtalt eines Vienihen, bald in ber
eines vierfühigen Thiereo oder eines Vogels; oder man ergögte
fi) auch zuzufehen, wie immer eine große Vienge von Mleniden
fic) bejtrebte, die aufgerichteten, jehr hohen Balken zu erflettern, um
bie an der Spige derielben hängenden Uhren, Löffel u. dgl. mehr,
als Preis ihrer Anjtrengungen, herabzuholen. Ein confujes Freuden
geidjrei wirbelte durch die Luft; jeder hatte etwas, das ihn
entzücte und worüber er fdjreien muhte, und wer über nichts
anderes zu jchreien hatte, rief doch wenigitens mit lauter, Ereiichender
Stimme: „Der König von Preufen fol regieren; der Kater
Napoleon foll Trepiven; Wivat (v wie f ausgeiproden), es Iebe
das Preußiiche Haus.“ So jubelte das unter der jehr lobens-
308 Aus W. v. Ditmar’s Heifebriefen.
würdigen Negierung höchit glücliche Volt bis in bie tiefe ipäte
Nacht und fehrte erit heim, als jchon das Frühroth die Morgen-
wolfen vörhete. -—
Den 8. Oftober a. &t. machte id) der berühmten Dichterin
Gräfin Elia von der Nede meine Aufwartung. Ihr findet: eine
Sammlung ihrer Gedichte unter den von mir Euch zurücgelafienen
Büchern. Einige Tage früher, als ich zu ihr ging, hatte Nraudling
mit ihr von mir geiprochen und fie, dur) bieies Geipräd, ver-
anlaft, den Munich geäußert, mid fennen zu lernen. Freudig
ging ich zu ihr, lieh mich durd den Diener bei ihr melden und
wurde nad) einigen Augenbliden hineingebeten. Ad) trat in eine
einfad) aber jauber möblirte Stube, in welcher die geütreiche Fran
auf einem Zoffa jah. Yei meinem Eintritt: in diefelbe jtand fie
freundlich auf, fam mir entgegen und reichte mir die Hand, mich
herzlich bewillfommend. In den erjten Angenbfiden war ich ein
wenig verlegen, aber bald wieder Muth und jagte ihr, dat;
ich mich jehr glüclic ihäpte, die Velanntihaft einer Frau zu
machen, die ic aus ihren Schriften jhon früher Fennen und innig
lieben und hodichägen gelernt hätte. —- Hierauf erwiderte jie mir:
„Zenn fie mir herzlich willtommen, mein lieber junger freund
und Yandomann. Co ift mir außerordentlich lieb, dab grade Zie,
ein ivländer, mic befunden, deswegen jchon fehr lieb, weil
gewöhnlich eine Heine Feindichaft zwilchen Liv: und Aurländern
angetroffen wird. Doc, da Zie feinen Yandsmannidaftofinn haben,
und wir überdem Unterthanen eines großen Neicheo find, die fi
lieben jollen und müfen, jo wollen denn aud wir uns berjlic,
und innig lieben. Bejuchen Zie mid) mır reht oft; auch werden
Sie bei mir den Herrn Tiedge Fennen lernen." Nadıdem Sie
diefes gefagt hatte, reichte fie mir ihre Hand und führte mid) zum
Soffa, danit id) mich jegen möchte. Noch che id) mich aber nieder
feste, fagte id) ihr einige Verbindlichfeiten und Fühte mit Innigfeit
ihre Hand. Drauf Mnüpfte fie ein höcjt interefiantes Geipräd)
über ihre Neiien durd) Deutjehland und Jtalien an und unterhielt
mid 4 Stunden auf die angenehmjte Weile. Während des
(d)5 jagte jie mir einmal ö
Ir offenes Gefiht fpriht mir dafür, da; fie ein guter Menich,
find, und eo freut mich unendlich, daf; Zie die Jurisprudenz
Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen. 309
ftudiren, denn c& ich, wenn edle junge Männer die
Richter in einem Lande find. Und Zie find ein edler junger
Dann (dieß find alles ihre eigenen Worte). Zchen fie mid wie
Ihre Mutter an. Durd) meine Erfahrungen werde id hnen
vielleicht mandes Mal nügen fönnen.“ Bei diefen Worten traten
ihr die Thränen in die Augen. Auch mir gings nicht bejjer, nod)
einmal fühle ic) dankbar die Hand der edlen Frau und empfahl
mid) ihr. Doch che ich wegging muhte id) ihr nod) meinen voll:
jtändigen Namen und meine Wohnung anfichreiben und ihr nad)
einmal veripredhen, ie öfters zu befuhen. Mittags ipeife ih um
2 und Thee trinke ich Abends um 7, rief fie mir noch nad. —
Bis jest bin ich aber noch nicht wieder bei ihr geweien; doch in
diefen Tagen will id) wieder hingehen; denn erjt ganz neulich)
ichiette fie ihren Diener zu inir und lieh mich auffordern, fie dod)
wieder einmal zu bejuchen. Aljo mehr über die edle Elifa (fo
wird fie allgemein genannt) in meinem näcjten Briefe.
An 12. Oktober a. St. fam der Nailer Alerander hier an.
Alle Einwohner Berlins cilten dem wahrhaft grofien Nriegohelden
entgegen, um ihn zu jehen. Dah aud id, Aheure Ettern, bei
diefem Auflauf nicht fehlte, Tnnt Ihr Euch leicht denken. Gtüd:
licher Weife fand ich einen Plab, von dem aus ich alles jehr gut
überjehen fonnte und daher eben wird co mir jegt and) möglich,
Euch jo mandyes über den Einzug unjeres trefjlichen Naijers in
Berlin zu melden. — Die gefammte Garnifon der hiefigen Nefidenz
war außerhalb des Frankfurter Thores anf dem Wege nad)
Friedrichsfelde (ein etwa eine Meile von Berlin entlegeneo Fü
liches Luitichloi) in großer Yarade dergejtalt aufgeitellt, dal der
vedhte Flügel (die Infanterie) fi) an das Thor anfchnte, der infe
Flügel (die Cavallerie) bio auf die Hälfte deo Weges nad) Kriedriche-
felde hin ftand. Bei der Annäherung des Wagens fan demjelben,
auf taufend Schritte weit, ein Gocadron Garde du Corps entgegen
und bildete die Escorte in der Art, dah ein Zug vor und drei
Züge hinter dem Wagen deo Naifero titten. — Als er nun jo
bei dem linken Flügel angefommen war, wurde er aus 20 bei
der Windinühle von Ariedrichsfelde aufgepflanzten Nanonen mit
101 Schuh begrüßt. Von hier an nun ritten der Kalle, der
König, die Prinzen (aud unfere beiden Grohfürften) und die
310 Aus MW. v. Ditmar’s Reiebriefen.
gejammte Suite die Fronte herunter, wobei ihnen von den Truppen
die Honnens gemacht und Hurrah gerufen. warb. — Als ber
Naifer das Ende des redhten Flügels erreicht hatte, hielten beide
Mojeftäten innerhalb des Thores jtille und lichen die Truppen
in Gefchwindidritt en Parade defiliren und als die Heihe an
das Neferve:Bataillon des Genadierregiments des Raijers Alerander
fam, febte er jih an die Spike des Yataillons und führte das-
felbe, indem er dem Nönige die militairiichen Sonneurs machte,
jelbjt vorbei und nahm dann wieber feinen Plag bei dem Könige
ein. Jept begann unter dem Geläute aller Gloden und dem
Donner des Gefchüges, der feierliche Zug, in welchem die Ravallerie
vorausritt, duch die Frankfurter, Raifer- und Rönigsftraße, über
die (ange Vrüde bei der Schlohfreiheit vorbei, zu dem nach dem
Luftgarten führenden Schloßportale, unter betändigem Vivat des
Volls und bem Hurrah ber, nebit der Vürgergarde, nun zu beiden
Seiten der genannten Strajen aufmaridirten Infanterie. — Unfer
Kaifer Hatte die Prenfiihe Uniform an und trug and) nur den
Preufifchen fchwarzen Abler-Orden ; der König und die jämmtlichen
Prinzen aber den Aufiihen St. Andreas-Trden. — Im Heinen
Schlohhofe, wo der Naifer vom Pferde jtieg, hatten fich die Nönig-
lichen Bagen, Kammerheren und die Hof-Chargen zu feinem Empfange
verfammelt und auf der Treppe Famen ihm die Prinzeffinnen des
Nöniglichen Hauies nebit ihrem Hofflaate entgegen. Der Hafer
führte die Pringep Wilhelm, der Großfürfi Nicolai die Prinzeflin
Charlotte und Michael die Prinzeflin Friederike. — So viel, innigit-
geliebte Eltern, habe id) von dem Einzuge und Enpfange unieres
Haifers gefehen; was mun aber in den geheiligten Hallen des
Schlojfes weiter vorgefallen ift, weil; ich nicht. Mit dem Einbruch
der Nacht war die ganze Stadt prachtvoll erleuchtet, wobei fid
mehrere König. Gebäude theilo dur Transparente, theils durd)
bie architektonifche Art ihrer Erleuchtung auszeichneten, j. B. die
Münze. Weber der Ihüre derjelben jah man ein allegoriiches
Bild, auf weldem Jupiter in feinem Wiergeipann vorgejtellt war,
Blige auf ein Ungehener (Napoleon) fjleudernd und unter dem:
jelben jtanden folgende Worte, die Cud) Schwarg überjegen mag:
„Typhone altero. eum e entenis prorupisset. nune penitus
prostrato alma pax redit cum eaque Plutus et Moneta. —
Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 311
Von Hier veijte der Nailer, wie man fagt, nad) Warfchau, um jic)
frönen zu lajfen und in einigen Tagen wird ihm die Naiferin, die
hier am 6. November a, St. mit ähnlichen Feierlichkeiten wie der
Raifer empfangen wurde, dahin folgen, um ebenfallo gekrönt zu
werden. Noch einige Worte über die Feier des Verlobungs:
tages des GSroßfürften Nicolai mit der Prinzejfin Charlotte. —
An diefem für Preußen und Nuhland gewih; hödit erfreulichen
Tage wurden die hier anwelenden Kuffifchen Truppen für Nechnung
des önigs im Zeughaufe geipeift und am Abend ward ihnen in
eben demfelben Gebäude ein Ball gegeben. Aber erfreulicher als
dief war mir noch, 5 deutlich gemahr zu werden, dah; aud, die
gefrönten Häupter die Wichtigkeit diefes Tages To jehr erfannten.
In diefer Muthmafng ward ich fchr beitärkt, als ich am Abend
die einfache, aber gewiß ehr finnreiche Erleuchtung der Linden
jah. In einiger Entfernung von einander jtanden nämlich ab:
weclelnd bald ein Nufliiher bald ein Preuhiiher Adler von Gnps
und zwiichem jedem Paar Adler foderte neben einer hohen weißen
Fahne eine Opferflamme body in die Luft auf. Ein Bild der
Vereinigung PBrenfens mit Nufland und des Danfopfers dafür,
das man dem alhvaltenden Gotte brachte. Auch hatten an diefem
Tage, als eine befondere Ehrenbezeugung, die man dem Naifer
erwies, die Nuffifchen Truppen alle Wachen bejegen müflen. Ich
fann wohl jagen, dal; id darüber entzüdt war, wieder einmal,
wenn gleich auch erjt nad) jo fehr furzer Zeit meiner Ent:
fernung von Hufland, Nuffiiche Soldaten auf die Wade ziehen
zu fehen.
Den 21. Oftober a. St. bradjte ich eine Heine
Albanıs in Niga und eine andere von dem Nanzelleirath Elevogt
in Vitan zu dem alten berühmten Dufeland, dem Verfaier der
Viatrobiotit. Ich lie mic, durd den Diener bei ihm melden,
mute aber eine ziemliche Zeit warten, che er erichien. Co war
an einem Donnerftage; ungefähr um 11 Uhr Morgens. Nach
einer halben Stunde fam eine ziemlich lange Geftalt aus einer
Scitenthüre zum Vorihein, verbeugte fich jehr jteif gegen mich
und erwartete jehweigend mein Anliegen. Ich trat zu ihm mb
überreichte ihm die beiden Schriften, die er bejah und drauf zu
mir jagte: „Werzeipen Sie, dal; id) Sie jegt nicht länger unter:
u
2 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen.
halten fan, denn ich mu gleich zu einen Patienten fahren.
mic) aber von jet an bis zum März jeden Donnerstag
bejuchen, jo wird e> mir lieb fenn; Sie werden hier mit manchen
intereffanten Vianne befannt werden. Heute Abend z.B. fönnten
Sie herfommen.“ Diejfe Einladung nahm id) danfbar an und
werde nie aufhören, mich darüber innig zu freuen, daß es mir
bier fo glüclicd) geht. Schon ein Paar höchft unterhaltende Abende
Habe ich in dem Haufe dieies größten jept Lebenden Arztes ver:
lebt; beionders interefjant war mir glei) an dem eriten Abende
ein Urtheit über den thieriichen Viagnetismus, das der würdige
alte Sufeland füllte. Er erzählte nämlich, da eine Frau, die
früher geblendet geweien war, zu ihm gefommen fey und ihn um
jeine Hütfe gebeten Habe. Vergebens hätte ex ein halbes Jahr
alfe num erdenfbaren Vittel angewandt, um fie wieder Herzuftellen.
aber feines rechte Wirkung gethan habe, fey er in einer Nacht
auf den Gedanfen gefomsten, fie zu magnetifiren, und nur durch
den Magneliomus wäre er im Stande gewefen, fie von ihrem
Uebel zu befreien. Sonderbar genug, fehle er hinzu, evt vor
furzer Zeit hatte ich gegen diejeo Heilmittel geichrieben und nun
wurde id) plöslich won der Anwendbarkeit besielben ganz über:
zeugt; jeit diejer Zeit glaube id) aber num and) fieif und feit an
die beinahe übernatürlichen Wirfinigen deo Vlagnetiomus. Wirklich
bört man hier aucd von merkwürdigen Nuren, die der Hiefige
‘PBrofejjor Wolfart machen joll; leider fällt eo aber einem Nicht:
mebdieiner jehr jhwer denfelben beiswmvohnen. Dennod) glaube ich
jest aber an alle Heifungen durch den Vagnetismns, obgleich ich
jetbjt noch nichts neiehen habe, weil mich der alte treffliche Hufe:
land, der König unter den Herzten, vericherte, daf; er Durdaus
micht zu verwerfen jey. — Vielleicht wirft aud Du, guter Vater,
jet nicht mehr dem arnıen Schwarg jo Hartnäig opponiren, wenn
er über den heiffamen Cinftuß; des Magnetismus auf die nerven:
ichwachen Patienten spricht. — — Der Ton in dem Hufelandihen
Haufe ift Fehr ungewungen. Um "37 Uhr geht man zum Thee
bin, begrüßt bei feiner Ankunft den Wirt) und die Wirthin,
unterhält fach dann mit den dort verfammelten geiftwollen und
berühmten Männern fo lange man Xujt hat, und verläit die
Gejellichaft wieder, wenn man glaubt, dal co Zeit it nad) Haufe
Sollen Si
Aus W. v. Ditmar's Reifebriefen. 313
zu gehen. Don berühmten Männern habe ich bort geiehen den
groen, genialen Componiiten Zelter, den Botaniker int und den
Philojophen Kiefewetter; befannt geworden bin id) mit dem
Chemiker Tourte, dem Medieiner Ofann, dem erjten jegt lebenden
Ajtronomen Bode und dem rühmlid; befannten Chemiter Hermb-
ftädt. Die beiden zulegt genannten Männer haben mid) aud) ein:
geladen, fie zu befuchen. Mit dem eriten bin id) jchon recht genau
befannt, denn id) höre bei ihm ein Collegium über Ajtronomie
und bfeibe oft no) reiht lange nad) ber Stunde bei ihm. Bei
dem fepteren bin id aber nod) nicht gewefen. — — An eben
dem Tage, an welchem ic das Glüd hatte in dem Hufelandichen
Haufe befannt zu werden, machte id) aud) noch einen Befud) bei
dem berühmten griediihen Spradhforfcher Yuttmann und bem
Staatsrath Nicolovius. Lepterer forderte mich auf, ihn fo oft zu
bejuden, als es meine Zeit erlaubt, und erjterer, ber bei der
Hiefigen Vibliothek angeftellt it, Hat mirs erlaubt, immer in
diefelbe zu gehen, wenn id) jtubiren will. An beide Männer
hatte id) Briefe von meinem alten Struve in Königoberg
abzugeben. —
Einige Tage ipäter lud mid) der Geheimrath Schmalz ein,
im zu befuchen. Es war der Geburtstag feiner älteiten Tochter.
Der Abend, den ich dort verlebte, gehört mit zu den genufceidjiten
hier in Verlin. Die ift denn aud) der erfte Ort, wo id) hier
zum Abendejlen geweien bin. Ich erzähle Eud) die, weil mir
die Reihenfolge der Speifen jehr auffallend war. Juerjt wurde
Schjenzunge umbergereicht; drauf Faltes Salzfleiih, dann Neun:
augen, hierauf Sülz, Pflaumen, Kuchen und dann endlich Räfe. —
Schmalz ift ein Mann, der außerordentlid; viele Feinde hat, mir
aber feiner bedeutenden Nenntniffe und feines Geifteo wegen,
fo wie aud durd) jeine außerordentliche Güte gegen mid) fehr
lieb und theuer ft.
Am 26. Oft. a. St. erhielt id) folgenden Brief, als id
eben im Gollegio bei ‘Burgold war: „Lieber Ditmar! Lies diefen
Brief ja nicht laut und tee ihn gleid) nad) dem Lefen zu Dir,
aber vorfichtig! — Du bijt um 6 Uhr zu — — (ja, zu wem?
Das magjt Du errathen, wenn Du fannjt —) — beidhieden.
Kommft Du aud ein halbes Stündhen fpäter, jo madt es nicht
ur
314 Aus W. v. Titmar's Neijebriefen.
viel aus. Aber eile, womöglicd. -— Entichuldige Dich bei Hrn. Nath
Furgotd mit einem notbwendigen Gange, der nicht anfzuichieben
öl. Yebe wohl und auch hen etwas Injtig, vorahnend, bis zum
baldigen Wicderfehen, das Dich befecligen joll md wird. -- Das
Dpjterimm Löft Dir Tonleih Dein Frennd Narl Nonftantin
strankling.” 39, md das Winfterium löfte fich fo herrlich und
{weiilih, wie manches unerflärbar fdeinende Problem dur den
Scharfiinn eines Mannes gelöft wird. Der gute Nraudling hatte
nänlid dem eriten jest Lebenden Mritifer unter den Deutjchen,
Krauz Horn, erzählt, dah ich zu feinen wärmfien Werehrern
nehörte, wodurch er veranlaft mmrde, mich zu fh zu bitten.
Zugleich fich er mir fagen, da Tiedge den Abend bei ihm
zubringen würde. Neinen Angenbli jäumte ich, mich gleich in
meine elegante j—hwarze Mleidung zu werfen und in die Gefellichaft
ausgezeichneter Männer zu eilen. Schr freundlich nahm mid der
von mir jhon längit jo jehr verehrte Franz Horn auf amd freute
fich, mich gleich in feinen Aamilienkreis einführen zu fönnen,
Meine Freude über diefe abermalige interefiante Belanntichaft
itieg fo Dach, dal; ich Horn jagte: „ic wünfhte, dal Zie co ahnen
fönnten, wie glüdtich ich mich fühle.” Drauf jepten wir alle
uns am den Theetiüch und ich verlebte in der Gefellichaft der
beiden Tichter Horn und Tiedge einen fo göttlihen Abend, als
man nur in dem Arche der gelichten Seinigen verleben fann.
Die Unterhaltung war seht lebhaft ud anziehend; viele fehr
schöne Züge erzählte Tiedge bejonders von Karl Graf, Engel,
Goethe, Herder, Hamann und einigen andern und, als wir zum
zweiten Male dort eingeladen waren, von Yafontaines jchrift
ftellerifchem Yeben md dem Echter Tiedges, Theodor Körner.
Einmal traten fogar dem 6ljährigen Sr die Thränen in die
Augen, als KHorn’s Schwägerin, Yaura Gedife, Körner's Gebet
während der Schlacht fang, nämlich bei dem Lerfe: „'s it ja
kein Nampf für die Güter der Erde“ Tiedges Geftalt ijt fo,
dai; man im ihr ganz gewih nicht die Seele eines Dichters von
fo hohem ange ahmdet, Er it ein Fleiner, jtarf aebauter,
bagerer Mann. In feinem Geficdht it nichts bübiches, bis auf
v ge; diefes ift aber auch jehr geiftwoll, groh und lebhaft,
um 25 mit einem Worte zu Tagen, ch fchön. Das Geficht
fur;
Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen. 315
jelbft iit podennarbig, bejonders die große, die Yabichtsnaie.
In feinem ganzen Wejen jpricht fid aber fein reines, refigiöies
Gemüt jehr deutlich aus.
Am 31, Oft. a. St. fernte ich den rühmlichit befannten
deutichen Sprachforiher Wolfe fennen. Diefer würdige T5jährige
Geis gehört zu den liebenswitrdigiten Menjcen, mit denen. ich
befannt bin. Noch nie habe ich einen Mann gejehen, der bei jo
ausgebreiteter Gelebrität jo aninruchstos und indlich üit, als or.
Denn er ift 08, durch den das ganze Schulwelen eine beifere,
höhere Nicytung gewonnen hat, indem cr den Pbilonthropionms
mit Bafedow jtiftete, er, der befonders durch feine Kinder
schriften jo jehr nüßlich geworden fit, er, der die dentiche
Sprache jo jehr bereichert und vervoflfommnet hat. Von allen
biefen grohen Werdienften fcheint diefer biedere Greis and nicht
die entferntefte Ahnung zu haben, eben jo wenig wie von feinem
hohen moraliichen Werth, indem er jelbit jagt: „Manches Gute,
das an mir ift und das ic gewirkt habe, it von mir fhon Längft
wergejjen worden.” — Auch um Nufland hat diefer geitvolle und
geniale Mann große Verdienfte, indem er 15 Jahre mit dem
raittofeftem Gifer auf die Verbefierung der Echufen hingearbeitet
bat, die ihm wenigitens in Petersburg gelungen it, weft er
denn auch jebt noch eine Wenfion erhält und zum Anil. Safrath
erhoben worden ill. Belonders merkwürdig it mir an dielem
alten Biedermann auch das geweien, daf er, obaleih er in feinen
früheren Jahren feine Anlage zum Dichten gehabt hat, wie er
jelbft erzähft, jest mit der gröhten Yeichtigfeit Berie machen fan,
die wunderichön find. *).
Gen als ich meinen großen Brief an Euch, there Eit
abjdjieen will, erhalte id) einen Brief von der bimmlifchen Ein,
der mich daran erinnert, dab ich mod) eine Eurer Fragen
beantworten muß. Wenn Tu nämlich, gute Mutter, an fie and)
noch jehreiben willft, jo richte einen und denielben Brief
auch an Tiedge, denn er erweilt mir ebenfo, wie Elija, die innigfte
Yiebe. Die beiden edlen 6Hjöhrigen Freunde wohnen in einem
reinen, entzücenden Verhältnifi zu einander zufammen md nehmen
=) Ugl. „Balt. Mon.“ von diejem Jahr &. 140 f.
316 Aus DW. v. Ditmar’s Reifebriefen.
es daher, weil fie innige Freunde find, nicht übel, wenn man
einen Brief an fie beide richtet. Thue es aljo, geliebter Engel,
Du meine gute Mutter. Auf Deinen wahrlich) fhönen Brief, Du
alter trefflicher Water, habe id) von der guten Elifa noch feine
Antwort. — Wahrfcheinlic wird fie Dir jelbft antworten. Lebt
herzlich wohl!
Eifigjt
Euer Woldemar.
(Zortfegung folgt.)
up
Nanibrieje
X
Noch immer fteht die „Berliner Gewerbe-Ausjtellung“ im
Vordergrimd des Iuterefies. Als Schmerzenstind, als Netlame
Unternehmen, als jtolz nerittenes Sterienpferd lofalpatriotiicher
Papigfeit, als Prügelnabe - je nachdem -- aber immer wieder
stoßen wir auf diefelbe Austellung. Freilich -- cs ftedt ja auch
eine Dlafie Geld darin.
Op fie mehr zum Klagen als zum Loben Anlaii giebt
das joll hier nicht weiter unterfucht werden. Was meine perfönliche
Anjhauung von der Sache und da ich mehr zum Klagen Uriache
finde — dürfte Ihnen wohl jo ziemlich einerlei j
überhaupt der Ausftellung Erwähnung the, jo nur, weil fie
eigentlich die Löfung meiner Anfgabe unmöglich madıt.
ift ein Brief über die Vühnenfunjt und das Thenterleben Berlins
umd der eben Läht fh fan fchreiben. lieber
die Kunjt it aus dem Berliner Theaterleben jo aut wie aus
fogirt in den Tagen und Wachen diefer eriten Ausftellungszeit,
auslogirt zu Gunften der Amitfements. Wie die Ansitellung im
Treptower Park jelbit fi nur als ein Appendir, als ein unver:
meidlihes Anhängjel an dem Gefammtrummel der zahllofen Ver
gnügungsunternehmungen präfentirt, jo ijt überhaupt das ganze
Leben bier zur Zeit allein auf dieien Nammerton des „Du joltit
Did) amüfiven” abgejtimmt. Und daß heute das „Amüjement“
318 Kuntbriefe.
nicht unbedingt mit der Nunft was zu Ahum hat, häufig wohl aud)
ihr geflüfentlich aus dem Wege geht — hier jo gut, wie fonjt
wo -— braucht das erit nach bewiefen zu werden? Aber jo
frappant pflegt’ Einem nicht immer in die Augen zu fpringen,
wie eben jeßt.
Schlagen wir 'mal den Spielplan der Berliner
Theater an einem diefer Tage auf. Celbjt das „Schauipiel-
Baus“ begnügt fid) mit (Nrronge's „Doftor Nas“, dad) bot die
Oper dafür „Lohengrin“; Sommeroper (bei Kroll) — das Ballet
„Ruppenfee”; —- „Deutices Theater” — „Lumpacivagabundus“ ;
„Berliner Theater” — „Der lepte Brief“ (von Sardon); „Lelling-
Theater“ Strauf’ neuejte Operette „Waldmeifter”; „Neues
Theater" — „Tuta-Tato”, Schwant von Villaud und Garre;
„Nefidenz: Theater” —- „Hals über Kopf”, Schwanf von Alerandre
Villen; „Ihenter unter den Linden“ — „Orpheus in der Unter:
welt“, Operette von Offenbad); „Schiller- Theater“ — „Vergnügte
Flitterwochen“, Schwant von ,. Keller und Frik Brentano;
„Belle-Alliance-Theater” — „Die Kinder des Capitän Grant“,
goes Ausftattungsftüt mit Ballet; „Adolph;Ernft-Theater“
„Das flotte Berlin“, von Treptow und Jakobjon; „Apollo:Thenter“
„Sprecamazone“, Schwanf von X. Sennjeldt, u. |. m. Ju
Summa aljo: franzöjiidre und deutiche Wollen und Operetten
beherrichen den Spielplan abfolut. Wie foll und fann man da
einen Theaterbrief ichreiben, der id mit Kumjt beihäftigt? Und
der Fremde, der nad) der Deutjhen Neichshauptitadt Fommt,
erwartungsvoll welchen Eindrud vom Berliner Theaterwefen
wird er mit fi nehmen? Denn ähnlid) fieht der Spielplan jegt
immer aus ....
ee
Doc) als gemiffenhafter Chronift mu; id verzeichnen, dal
zwei neue Theater entflanden find, beide zumächft für die Zeit der
Austellung. Das eine it das „Olnmpia-Thenter“, ein
englijchamerifaniiches Unternehmen. Der riefige, aber nicht hähliche
Holzbau auf dem Terrain des ehemaligen Fonrage- Magazins, Cite
Aerander- und Viagazinfirahe belegen, faht 4000 Perionen in
einem in gerader Richtung ampbitheatraliich auflteigenden Zufchauer-
Kunftbriefe. 319
vanın. Von dem großen Orcheter ift diefer durch einen breiten
Kanal getrennt, der aud Schanftellungszwedten dient. Alles üjt
gewaltig in diefem Niefentheater, vor Allem natürlich aud die
Bühne, die etwa die Gröfe des Viarftplapes einer mittelgroßen
Stadt hat; vieljundertföpfige Schaaren, darunter allein 300 Valle:
rinen, fnnen fi) gleichzeitig auf ihr tummeln; zu Fu und zu
Werde, auf Dromedaren und Elephanten treiben bie verichiedenften
Typen des modernen Orients neben enropäfchen Geftalten des
Vittelalters und des Alterthums ihr farbenfunfelndes, augen:
blendendes Weien im Nahmen des großartigen Ausitellungsftüces
„The Orient.” Da 05 engliichen Ariprungs üft, fehlt es natürlid)
and nicht an allerlei „Spezialitäten“, deren Kunftleiftungen mehr
oder weniger mit der Handlung verknüpft nd... Die Sade
hat natürlich ungeheuer viel Geld gefoftet, aber fie bringt audy
viel ein umd Direktor Kiralfy und feine Finanzfräfte erleben all-
abendlich ein ansverfauftes Haus.
Das andere Theater liegt im Ausjtellungspark, dicht bei
„At Berlin”, nad) dem co fd) auch nennt. Im Stile des Grofen
Kurfürften hat es Meifter Sehring erbaut und vorgeichwebt
haben mag ihm bei der maleriichen Ausihmücung der Facaden
das alte Daritallgebände am Schlohplage. Es it and) ein grofies
enter, denn «6 hat über 1800 läge, mehr aljo, als das
Königliche Tperahaus. An der Spige des Unternehmens jteht der
Schriftiteller Paul Blumenreid), nunmehr „Direktor“ Blumen-
veich, der auch das große Theater des Meftens leiten wird. Sein
berregiffenr ift der einftige Direktor des Lobe-Theaters in Breslau,
Herr Wite- Wild. Dbfchen ein Ausjtellungstheater, erhebt fid) jein
Programm über Pole, Schwanf, Feerie, Ballet beträchtlich empor.
Diefes Genre ift überhaupt jo ziemlich ganz ausgeichloifen, wenn:
gleich auf Ausjtattung natilich viel Nacydrud gelegt wird. Di
Idee des Spielplans ift recht finnig. Die Direktion bejtellte bereits
im Winter bei einer Neihe von Schriftitellern zehn dramatiiche
Vilder oder, Einakter aus der Gefchichte Berlins während der
Jahre 1050 bis zum großen Ausftellungsjahre 1896. Diefe Schrift
fteller find Karl Bleibtren („Die Wendentaufe”), Ernit v. Wolzogen
(„Die schwere Roth"), Nonrad Alberti („Die Büherin“), rich
v. Hartınann („Der Meijter von Berlin”), Adalbert u. Hantein
320 KRunfibriefe.
(„Öopfowshy”), Arel Delmar („An mein Voll”), A. €. Etrahl
(„Unfere Viktoria“), A. Baron Roberts („Heimkehr“), Iulins
Keller ımd Lowis Herrmann („Fiddide und Sohn“) —- bis auf
das legte Diosfurenpaar der falauerdurchiegten Poljenfabrifation
lauter mehr ober weniger ernt zu nchmende dichteriic veranlagte
Yühnenichriftiteller. Doch das find nur neun Stüde. Cie ver-
miffen den zehnten Autor und gleichzeitig wohl au den Namen
des offiziellften Vertreters berlineriicer patriotiicher Dramatit —
Ernjt v. Wildenbruh. Nun, er fehlte aud nicht. Aber
„unge von Hennerödorf” wucherte über den Rahmen eines Ein-
akters hinaus und fam, wie id) feinerzeit berichtet Habe, im Leifing-
Theater zur Aufführung, mit nur mäßigem Erfolge übrigens.
Statt dejien wurde als zehnte Nummer ein reines Schauftüd dem
Spielplan eingefügt: „Märkiiches Ningelftechen.“ Außerdem ver-
anftaltet das Theater hiftorische Umzüge durd) Alt:Berlin, mittel
alterliche Jagdzüge u. dal.
Vleibtren, Wolzogen, Aberti, Hanftein und Delmar haben
ihre Fenerprobe fchon beftanden. Oper aud) nicht — wie man’
nehmen will. Sonderlic gefiel feine der von ihnen gebotenen
Dichtungen. Dod darf man nicht allzu jtreng mit ihnen ins
Gericht gehen: ein hiftoriiches Zeitbild und eine padende drama-
the Handlung in den Rahmen blof eines Einafters hineinzı:
jrängen, ift gar fhwer und es erfcheint unausbleiblid, entweder, daß
eine ordentliche Entwidelung dem Sprungbaften und Unvermittelten
Plap macht, oder daf die Handlung in Schaugepränge und Szenen:
malerei fid) verflüchtigt. Und von hifterischen Geist ift meiftens
ebenjo wenig zu Ipüren, wie in ben jogenannten hijtoriichen
Dichtungen eines Viftor Hugo und Alerander Dumas pere, oder
aber in den geidichtlichen Ausitattungsjtüden eines Wictorien
Sardou. Aber an hübfden Hiftoriichen Bildchen ift fein Dlangel.
Bleibtreu führt uns mit der Dramatifirung der Niederlage
und Taufe des Wendenfürften Japto bei Schildhorn an der Havel
am tiefiten in die Vergangenheit hinein. Im 14. Jahrhundert
fvielt v. Wolzogens „Die fdwere Not“, eine Fulturhiftoriihe
Anefdote, ein gejdieft fojtümirtes Lebenobild aus der
dem falihen Waldemar. Alberti hat fid in feiner „Büherin“
die Jugendtage Johann Georg’s, des Sohnes Joahims IL.
Kunjtbriefe. 321
gewählt, und die Heldin des Traueripiels ift Anna Sypdow, jene
Freundin des Kurfürften Joadim, die die Volksjage zur „weißen
Frau“ gemaht hat. In das Zeitalter Friedrichs des Grofen und
in die Tage des Einzuges ber Nuffen ımter Tottleben in Berlin
im 3. 1760 verjegt uns v. Hanftein, der die jo miferjtandene
Opferthat des Kaufmanns Gogfowsti dramatiic zu verwerten
gefucht Hat. Und dramatifch it gewiß das Gejchict Diefes Patrioten,
der fein ganzes Vermögen opfert, um Berlin, das die Kontri-
bution nicht aufbringen fann, vor Brand und Plünderung zu
bewahren und zum Dank dafür von den Landeleuten der Ver-
vätherei bejchuldigt wird. Dramatiich liehe fich diejer Vorwurf
gewiß geitalten, nur nicht im Nahmen eines Einafters. Delmar
endlicd) bietet in „An mein Volt” eine Neihe von Genrebildern,
die die Volfsjtimmung an jenem Tage des 9. 1813 jdildern,
wo Friedrich Wilhelm III. feinen berühmten Aufruf erlieh.
Was die übrigen nod ausftehenden vier Dichtungen bringen
werden — weiß man im Augenblid nicht. Wohl aber glaubt
man zu wifjen, baf ber Worrath der zehn Arbeiten nicht für bie
ganze Ansftellungszeit ausreichen wird — ihre Zugkraft üjt eben
nicht ausgiebig genug und jehs Nummern (das „Ningeljtechen”
ift die jechjte) gelangten allein im Diai zur Aufführung ....
Mit der Thenterhronit wäre ich hiermit fo ziemlich zu Ende.
Ich bin e6 ganz, wenn id) nod) hinzufüge, da bie am meijten
bejprochene Premiere” die von Johann Strauß’ jüngiter, in
den Melodien Einen oft recht befannt „itrauhifch” anmuthenden,
in Handlung und Tert unfäglich jchalen und abgeihmadten und
bis zur Unmöglichleit unwahrideinlichen Operette „Waldmeifter”
war, die die Ferenezyfche Truppe vom Hamburger Narl:Theater -
am erjten Abend unter Leitung des Wiener Maejtro felbjt — feit
vier Wochen hier allabendlich zur Aufführung bringt.
* “ *
Noch ein wenig von den bildenden Künften. Nicht von ber
großen „Internationalen Kunft-Ausftellung“, die fi nur aus-
führlicer und im Zufammenhang beipreden läht, was mir für
fpäter vorbehalten bleiben möge — fondern von zivei interefianten
Eingelausjtellungen.
Kunfibriefe.
Die eine finden wir im Nımftjalon von Schulte. Sie it
ganz flein. Sie bejteht nur aus einer Tafel mit einer Neihe
von farbigen Zeichnungen und folorirten — Notenblättern. Cs
find die Originale zu dem joeben im Verlag von Stargardt
ericheinenden eigenartigen Werfe des genialen Zeichners und
Nadirers Jojef Sattler „Meine Harmonie“ Er hat
es dem Andenfen Battifia Alberti's gewidmet, jenes Venetianers,
der durch fein encnflopädiiches Wien und feine vieljeitige Numjt-
begabung im 15. Jahrhundert glänzt. Alberti hatte fih u. A
aud) vielfah mit dem Problem von der Verwandticaft der muji
falifchen und der maleriichen Tonwerthe beihäftigt, vielmehr cs
erjt eingehender bearbeitet. Beilä bemerkt, ijt alfo dieje heute
wieder modern gewordene und von verichiedenen Nünjtlern praftiic)
verwirflichte Anjhauung icon über 500 Jahre alt. Im Grunde
genommen nur eine Spielerei, wenngleid) eine recht geiftreiche.
Eine Spielerei infofern, als ja in der Muffaffung der Farben-
werthe und der Alangfarbe ganz und gar das individuelle Empfinden
den Ansichlag giebt, wenngleich natürlich Jedermann 5. B. das
Schwarz düfter md ernjt, das Noth; prädhtig und glänzend ericheinen
wird. Und cbenjo ift's in der Viufit mit mancherlei Aktorden
und Eingeltönen. Wie verjdjieden aber zudem biefe Verwandtichafts-
Ichre verwertget werden fann, das beweifen befonders frappant bie
Bilder des jungen Viartin Brandenburg, die id vor ein paar
Vionaten eingehender beiprad) und mun das Sattler’ihe Album,
das bei Schulte ausgeitellt it.
Der tieffinnige Zeichner und Nadirer geht in diefem Falle
fogufagen wifjenihaftlier vor als der romantifch empfindfame und
träumeriihe Maler. Zu der Tat hat Sattler ih ein ganzes
Syftem für feine „Harmonie” fonftwwirt, mit dem er mn das
Purblitum befannt mat. Entiprediend den vier Elementen Luft
(Himmel), Erde, Wahfer, Feuer nimmt er vier Grundfarben an:
das Blau, Grau, Grün, Noth, und diefe Elemente und Farben
find ihm gleichzeitig die Spmbole für Yofimng und Werden
(Blau), Leben und Stoff (Grau), Vergehen md Tod (Grün), Liebe
und Geift (Noth). Die Miichung von Grau und Grün ijt der
Farbenausdrud des Elends, des Truds, der Yajt und Sorge; die
Midung von Noth und Blau der der Freude, des Glüds; Gelb
Kunjtbriefe. 323
bedeuten ihm Gift, Galle, Zweifel. Dieje Begriffe und Empfin-
dungen werden andererjeits durch bejtimmte mufifaliihe Klänge
gekennzeichnet, und fo ergiebt fid) für Sattler eine Harmonie der
Farben: und Mufiftöne. Um das mn Har zu madjen, fegt er
befannte Tonfiguren in Farben um und illuitrirt er ferner durch
einige meifterhafte, leicht getönte Zeichnungen die Uebereinftimmung
zwiichen Farbenton und Gegenftand der Darjiellung. Ta haben
wir z. DB. die „Duntle Lajt“ und „Das arme Mädchen”, bort
einen finjteren Barfenfchlepper, hier eine verfümmerte Fabrif:
arbeiterin, beide Bilder durchweg in Grau md Grün in ver:
ichiedenen Nünncen gehalten; in den „beiden Stimmen“ follen
Not) und Wlan den Eindrud eines anmuthigen Duetts hervor:
rufen, u. j. w. Aber — wirken Ilje Nepin's „Bnrlafi“ („Barfen-
fchlepper“), die den damals jo jungen Maler mit einem chlage
befannt machten, nicht ebenjo düjter und beflemmend, bei aller
Farbenbuntheit, wie Sattler's „Dunkle Laft“? Und ift jegt nicht
in demfelben Schulte/ihen Salon Vödlins „Nuine am Vleer“
ausgeftelft, die top ihrer dunfelblauen und röthlihen Töne
einen tiefernften, ihwermuthovollen Eindrud macht und jomit die
Sattler'iche „Harmonie” ebenfalle in Schwanfen bringt? Wit
einem vollftändigen Spjtem der Harmonie von Farben und Klängen
dürfte es daher wohl immer ein wenig Dapern....
Wenige Worte mur darf id) über die andere Nusjlellung
jagen, da der Kaum zu Ende geht. Aber aufmerkiam machen
muß; id) auf fie zum mindeften diejenigen meiner Lefer, die im
Sommer vielleicht Berlin berühren. Denn die abermals höchit
eigenartige und großes Intereffe beanipruchende Austellung wirh
bio in den Derbit hinein fortwähren.
Es ift eine Sammlung von neun Chriftusbildern
moderner deuljcher Maler. IHre Entjtehung verdanfte fie jenem
idealiftiichen Zuge der Neaktion gegen den Materialismus unjeres
Zeitalters, der fid unverfennbar immer mehr hervordrängt. Der
Spmbolismius und Mojtigiemns in der Dichtkunt und Malerei
find zwei der hauptiächlichtten Ansdrudsformen diejer Neaktion.
Sie bewegt fd) alfo feineswege vornehmlid —- ja eigentlich nur
jelten -- auf dem Boden deo pofitiven Chriftenthums oder auc)
nur der Religion.
324 KRunjebriefe.
Der Aunithändfer Bierd zu Münden war e6, ber auf
den Gedanfen fam, eine Neihe namhafter Nünjtler aufzufordern,
ein Vildnih des HEren zu malen, fosgelöjt von aller perjonen-
reihen und handlungbewegten Kompofition, und das ber „Vor:
ftellung jedes gläubigen Chriften entipricht.” Neun Maler unter:
zogen fih, jeder ohne von der Arbeit des Anderen zu willen, der
Ichweren Aufgabe. Um jo jchwerer war fie, als die meijten von
ihnen, zum mindejten fünftleriich, fid) nicht in dielem Jdeen- und
Empfindungskreife zu bewegen pflegen. Es find das der Berliner
Starbina, bie Düfeldorfer Brütt und Kampf, die Mündjener
Marı, Mar, Stud, Uhde, Zimmermann, der Frant-
furter Thoma, beiläufig der Einzige unter den Neun, der nicht
Profeifor ift. Auch Ihnen find die meijten diefer Nünftler befannt;
ihre Hauptbilder find ja oft gemig vervielfältigt worden. Wie
verjchieden fie in ihrer Auffalfungs- und NAusdrudsweile find,
willen Cie daher. Und ebenfo verihieden geartet zeigen fie fich
aud) hier. Ih ann, wie gelagt, mid) jegt auf eine Einzel:
befpredung ber neun im alten Neichstagsgebäude auf der Leipziger
Straße ebenfo würdig, als ftimmungsvoll ausgeitellten Gemälde
nicht einlafien. Nur joviel — dem nentejtamentlichen Heiland
finden wir in diefen jo veridiedenartig vermenichlichten Gejtalten
jedenfalls nicht, ebenjo wenig aber natürlich Anklänge an den
traditionellen Chritustypus unferer Tage, wie er dod) immerhin
fich herausgearbeitet hat. Aber cben darum it das Sichverjenfen
in diefe Ausftellung um fo intereffanter. Webrigens werden die
Bilder gewii in photographiider Vervielfältigung als Album
herausgegeben werden, zujammen mit dem Kommentar der Maler
felojt, der fi jet aud) im Natalog jchoen findet. Lohnend wäre
das gewiß,
Berlin, im Juni.
I Norden.
Mittagszauber.
1
Am Waldesrande, bei den Tannen dort,
Wo in der Gluth der So€mmermittagsjonne
Das Haidefraut, dem Sand entwachien, duftet,
Da ruht ich oft und dämmee für mid) Gi
In wohl'gem Träumen, ofne viel zu denfen.
Die leinen blauen alter flattern hier
In Menge her und Hin, in muntrem Spiel
Sic, fucend und fich fliehend, bald in Lüften,
Bald wieder fi auf Gras und Blumen wiegend.
Ein Wespden fommt geflogen, faugt fi jet
Am dufe'gen Ylüthenteldh, im Sonnenitrahle
Sich wärmend und den jchlanfen Hinterleib
Wie wollujtatgmend cin und aus bewegend.
ex im metalfijciem Gewand
Dufcht übern Boden hin mit eil’gen Fühen;
Die jitlernd grüne Cieindele tommt
In rajcpem Flug geflogen, wo der Sand,
Der fonnenwwere, fie zur Najt einladet,
Um augenblidlich wieder fort zu cilen,
Sic, wieder fegend, wieder auf zu fliegen,
Unjtät und doch voll fihtlichen Vchagens.
Die Vögel jhweigen, ab und zu nur fhwirrt cs
Durdy das Seäjt, cs narrt ein Baum, es rafchelt,
I weil; nicht welch Gethier, im Unterholz.
Des Habigis Schrei tönt plöglic, durd) die Luft, —
Dann wieder Stile, — jurrend mır erfüllen
Heufchredenfänge, unfictbaren Urjprungs,
US wär's des Sommers Stimme jelbit, die Luft. —
“
fe}
&
Wos it 8, dus an diefen Fleck mic banıt?
Der Mitagszanber? Ja, -- doc, jener nicht,
Ten als ein Schrednik fhon die Alten Ähilvern,
°S üt cin Gefühl, als ob die ganze Welt
Tid) auf des Lebens Mittagshöh befindet,
Durdwrmt, durchleuchtet, munjchlos, voll Behagen,
Der Aub, fih freute und der Sonnenwän
Vis die Gedanken all, die Wilder jetbit,
Die bunten Bilder all im Schlaf verdämmern,
Fan Schlaf, die, ll ad warm, und one Träume!
1.
A Grabenrande, dort, am Walvesjaum,
Wo dur) den moor'gen Grund das Waler leile,
Unmerklich in dem engen Veite binzieht,
Dort, wo die Sum) ia jich erhebt
Und Yafdriam mit blafjen Dolden duftet
Dort, dort entfaltet fih an Sommertagen
Der Mittagszauber, wenn die Sonne glüht,
Umfängt mir feis geheimnitwoll die Seele
Und Hält gebamut mich an dem jtillen Ort,
Der Moorgeruc, vom heihen Sonnenbrand
Hervorgelodt, erfüllt die Luft und milcht fi,
Mit dem betänbenden Geruch des Poric,
Der auf des Waldes Boden fih dahin sicht.
Die fleinen Falter fliegen her und hin,
Fu Schanren fi, der Sonnenwärme freucnd,
Und auf den Elternbürchen jchinmmern Heil
Tie grünen Käfer mit merallnen Olanze.
Libelte Tommt geflogen, fhwirrt under,
Seit Gier fich Hin und dort, —- Die Flügel zittern
Umd glänzen wie Veipinft von Feenhand,
Iideh fie mit den grofen grünen Augen
Hinaus ftarrt in die fonnemwarme Welt. —
Im Graben aber, wo die Wafferlinfen
Und Scyilf und Nalmus wachjen, im dem Hafer,
Dem weichen warmen Wafier waltet ftll
Gang millionenfaden Yebens:
Die Wafferipinne läuft darüber Hin,
Die Fröflplein tauchen huftig auf und unter,
Die Heinen fhwarzen Wafferläfer tummeln
In Schaaren fid), die großen rmmen tauchen
Visweilen auf, un wieder zu verichwinden.
Ungählig Hein Getbier von allen Arten,
Auf allen Stufen der Entwicehung,
Haut hier und wird und febt umd freut fi,
Schwinnmt in dem Wafier munter hin und ber,
Wärmt bald fich oben an durchfonnter läche
And Fühte fidh wieder unten auf dem Orund,
Mir aber üt, als ob ich all dies Leben
Mitlebte, mitempfände das Behagen
Des Golpmbetes, der im Waffer auftaucht,
Des Fufters, der Durch Luft und Duft ich fchwi
Des Nalmus jelbft, der fich der Sonmenwärme,
Des moor'gen Grundes und des Waffers freut
Ein Sommermittogstraum — vielleicht nur Thorbeit,
Und doch das Gerz mit tiefem Glücsgefühl
Erfüttend, gleich als ob de8 Lebens Cuellen,
Ten tiefverborgenen, näher wir gerüct
in Mittagszauber an dem Grabenrande.
& v. Schroeder.
TT
Litteräriühe Streiflinter.
Schilderungen der großen europäiichen Multurländer, ihrer
Yandihaften, Städte und Bevölterung Find heutzutage unmodern.
Die auferordentliche Erweiterung und Ausbildung der Verfehrs
mittel erleichtert dem Europäer den Bejuc ferner Weittheile, jo
dal; eine Neife nad) Amerika oder Afrifa, zum Theil md nad)
Ajten als eine Spazierfahrt betrachtet wird, die man zum Ler-
gnügen oder zur Erholung unternimmt. Neifefchilderungen müjlen
daher gegenwärtig Fon jehr entfernte oder von den gewöhnlichen
Verteprotraien weit abliegende Gegenden und Xölferihaften
behandeln, wenn fie Juterejfe und Aufmerfamfeit erregen jollen.
Die Wölter Europas ftehen in jo unmterbrocenem vegem Verfehr
inter einander, die frühere Trennung dur die Entfernung des
Raumes ericheint gegenwärtig jo jchr aufachoben, daf, wohin in
Europa jest der Neifende auch jih wendet, er dod) nur in einem
anderen Theile deijelben großen Wohnhaufes fi zu befinden
meint. Die Völker unferes Welttheils iheinen fi) To genau zu
kennen und find fi durch die fortichreitende Nultur jo ähnlich
geworden, da Beobachtungen umd Cchilderungen ihrer Eigen“
thümlichteit als etwas völlig überflüfjiges angefehen werden
fönnten. Vetrachtet man blof; die Tberfläde des Völferlebens,
inobejondere die gebildete Gefellichaft, jo hat die nivellivende
Macht der Kultur und der herrichenden Zeitideen überall große
Gteichförmigteit der Yebensanfhammgen und Lebensformen, der
Interefien, Vergnügungen md Zitten bei den höheren Ständen
Litteräriihe Streiflichter. 329
bewirkt. Wer aber jchärfer zuficht, bemerft bald, daß die Völfer
Europas in ihren Weien fich jeit einem Jahrhundert nur wenig
verändert haben, dai; fie fi) im Ganzen nicht viel bejier und
tiefer verjtehen gelernt haben alo früher, dal endlich politiiche
Mb: und Zimeigung die gegenteitige Yeurtheitung in hohem Grade
trübt. Ein fremder Beobachter, der mit offenem Auge und
unbefangenem Zinn in ein Yand fommt, wird daher auch heute
no viel Stoff zu neuen Entdedungen und intereijanten Wahr-
nehmungen finden. Unter den allgemeinen europätfchen Nultur
formen, die oft nur Tündye find, Lebt die wiprüngliche Eigenart
der Völfer ununterbrochen fort und tritt oft in voller Yebendigfeit
hervor.
Am meiten von allen Völtern unferes Exdtyeils leiften
mod) immer die Engländer dem mivellirenden Zuge der zeit
Wiverftand. Man mag jie anklagen «der bewundern die
Engländer find auch heute noch durchweg in fid) abaeichloffene
Naturen, die ohne Nüdicht auf die Meinungen Anderer ihren
eigenen Weg gehen und fich felbft über alle anderen Wölfer
stellen. An die Uneigennügigfeit und Sumanitätstenden; der
englüüchen Politit glaubt heute Niemand mehr, der englifche Parla
mentarismus ericheint nur noch unverbefierliden politiihen Doftri
nären als ideale Staatoverfaflung, die engliiche Yitteratur nimmt
(ängit nicht mehr die hervorragende Stellung im europäiiben
Geifteofeben ein wie chemalo, die einit alo wnübertrefilich be
trachteten engliichen Fabrifate halten faum noch die Nonkurrenz
mit denen des eitlandes aus aber das Yand, die Zitten, der
Charakter des Volkes, die vielen originellen, eigenartigen PBerfön-
licpfeiten feijeln nod) immer das Antereiie und regen immer wieder
zu vergleichender völferpip—hologiicher Betradhtung an. Der einit
viel gelejene und gefeierte, jegt jehr mit Unrecht völlig vergeiiene
3. ©. Kohl, einer der hervorragenditen Schriftiteller und feinjten
Wölferbeobachter Deutichlands, hat vor 50 Jahren in mehreren
Werfen Land und Yeute, jowie das Yeben und die Sitten in
England vortrefflich gefcildert. In anmutbiger Darfiellung bieten
diefe Bücher eine Fülle von feinen Beobachtungen und beiehrenden
Vittheitungen; fie find, wenn auc Einzelnes darin veraltet üt,
dod) noch immer jehr lefenowerth. Diefelde Aufgabe, nie Kohl
a
330 he Streiflichter.
für jeine eit, Hat fih für die Gegenwart der Schwede Guitan
3. Steffen geftellt in jeinem Buche: Aus dem modernen Eng
land. Eine Auswahl Bilder und Eindrüde, die mit einer großen
Anzahl von Jlhftrationen ausgejtattet it. Eine verfürzte Ausgabe des
größeren Werkes führt den Titel: In der Fünfmilionen:
Stadt. Nulturbilder ans dem heutigen England. Ans dem
Schwediichen überfegt von Dr. Tofar Neyher *); fie liegt uns vor.
Es it eine Neihe von Bildern aus dem engliihen Leben, vor
mehmlich in Yondon, welhe uns Steffen vorführt. Er beginnt
mit einer geiftreichen Gegenüberjtellung von London und Paris
in ihren wejentlichen Werfchiedeneiten und führt uns dann durch
die dunkle Nebelatmoiphäre des gewöhnlichen Londoner Tages, auf
die Straßen und die City mit ihrem Neichtpum und der häßlichen
Enge ihrer Gebäude, in die großen Verfaufoläden mit ihrer Pracht
und Herrlichleit und dann wieder in die Quartiere der Armen
und Elenden. Er fchildert uns anichaulich die herrlichen Paläfte
der engliihen Großen, führt uns in die prächtigen fchattigen Parts,
er geleitet uns zu den großen chrwürdigen Nirhen und weilt am
längiten im PBoetenwinfel der Weftminfterabtei; bier wird feine
Schilderung flimmungsvoll und ergreifend. Dann lüht er uns
dns häusliche und das Seiellihaftsleben tennen lernen, urtheilt
aber über beides nicht jehr günfig, wie ihm denn überhaupt in
geielliger Beziehung die Engländer fteif und bölzern und jehr
umgelent und ungeichieft in der Unterhaltung fcheinen. Dagegen
ift er voll Lob und Verunderung für die Töchter Aldions, die er
in Anmut), Schönheit, gefeltichaftlichen Takt und geiftiger Bildung
über alle andern Krauen Europas jtellt. Die Schilderung des
Weitminfterpalaftes und der parlamentariichen Zeremonien giebt
Stefien den Anlab zu Tuzen, aber anfchaulichen Chavatterijtiten
der bedeutendjten englüchen Stantsmänner der Gegenwart, von
Gtadjtone bis auf Chamberlain. Vetrachlungen über die engliche
Preffe, Literatur und das Leben in den Klubs bilden den Schluf
des intereffanten Buches. Steffen Fchreibt geiftreih und anzichend,
er weil; zu beobachten und wenn ev auch bisweilen nur die Ober
fläche treift, wie in dem Kapitel: Soziale Wolfenbildungen, hört
j, Peter Hobbing, 2 M. Tas größere Werk Foftet geb, IM.
gitteräriihe Streiflichter. 331
man ihm auch da 'gern zu. Im Ganzen mrtheilt er nicht. allyır
günftig über die Engländer; das durd Zitte und Neberlieferung
gebundene Leben der Engländer, das nur zu oft den Heuchlerichen
Schein, den Cant ftatt des Wefens aufrecht erhält, Tage dem an
völlig freie Bewegung des Jndividinms gewöhnten Sfandinavier
micht zu. Steffens Buch gewährt einen fehrreichen Einblid in
das engliihe Feben unferer Tage, es verdient von Allen, die fi
dafür inteveffiven, gelefen zu werben.
Das ;eitalter der Aufklärung findet gegenwärtig eine ge
techtere und unbefangenere Würdigung, alo co noch) em vor
einem Menichenatter der Fall war. Die Einfeitigfeiten und
pwächen jener Epoche, ihre Vefchränftheit, ihr mangelnder Zinn
für alleo Wrfprüngliche, oltothünnliche, Hitorifchgewordene, ihre
Flachheit und Verftändnißlofigfeit in religiöfen Dingen werden
nicht verfannt, dagegen aber au) die humanen Veitrebungen der
Menichen jener Zeit, ihr eifriges und thatfräftiges Streben nach
Beiferung und Fäuterung des eigenen MWefens wie der Gefammt
uftände, ihre begeifterte Hingabe an die Neon des Guten, der
Tugend, der Vervolltonmmung des Menjchengefchlechts mit Necht
anerkannt. Ein unverwültlicher Optimiomms erfüllte damalo die
Menfchen, der Glaube an die unendliche Vervollfommnungsfäbigfeit
der Menjchheit lebte mnerichütterlich in den Herzen der Velten:
dab durch beifere Erziehung, durch Verbreitung intelleftueller
Bildung die Menjchen immer mehr zu ihrer wahren Vejtimmung
reif gemacht werden fönnten, war die allgemein berrfchende feite
Ucberzeugung. in der pei hen, materialiftiichen, allen idealen
Anschauungen und Beitrebungen jteptüch gegenüberftchenden Gegen
wart ericheinen einen jene Männer mit ihrem warnen Herzen
und ihrem zuverfichtlihen Glauben an die Verwirklichung der fie
erfüllenden Ndeen wahrhaft ehrwürdig, denn fie fannten doch ein
höheres über den indifden Yebensgenuf Hinausgebendes Daiein.
Einer der charattı ichiten Vertreter der Aufklärungszeit nad) ihren
Vorzügen cbenfo wie nad ihren Schattenfeiten hat jüngit eine bio
graphiiche Daritellung erhalten in dem Huch von %. Burbadı:
Nudolph Jabarias Beder. Ein Veitrag zur Vildungs
geichichte unferes Volfes*), Wer wei; heute nad) etwas von
) Borha, GE, imma. dd Zu Er
332 Litterärifche Streiflichter.
N. 3. Beer? umd doch war jein Name vor 75 Jahren allgemein
befannt und hochgeachtet. zur einen äußern Anlah, das humdert-
jährige Beitehen der von N. 3. Berker begründeten Buchhandlung,
hervorgerufen, giebt das Heine Buch) einen Ucberblid über das
Yeben md die litteräriiche Wirfiamfeit des nach veridiedenen
Nichtungen hin unermüdlich thätigen Mannes. Beder war Pädagog,
DYonrnalift, Buchhändler, Volkoicriftiteller, überall und allezeit ver-
folgte er das eine Ziel: Beförderung der Aufflärung. Burbad's
Schilderung trägt einen etwas panegyriichen Charakter, die
Schwächen und Mängel Veder’s und feiner Beftrebungen werden
nicht genug hervorgehoben. Auherdem wünfchte man mehr indi-
viduelle Züge in der Daritellung hervorheben zu sehen; follten ih
nicht zahlreiche Briefe von Veder erhalten haben? [5 Volt:
Ähriftiteller hat fh Veder durch fein Noth: und Hilfobüchlein
für Vanersfente gewiß mande Verdienfte erworben, aber fein
Mildheimifches Liederbuch, durch weldes er beim Volke die pöb
haften Yieder, d. h. die alten Volfslieder verdrängen wollte, it
der Gipfel der Geihmadlofigkeit. Schon dafs eine ganz unpoetifche
Natur wie Berker, co unternahm, 518 Yieder für das Volk zu
verfertigen, ijt feltfam genug und die Beihaffenheit diefer Lieder
wirft geradezu erheiternd. Berer läht den Bauern und Handwerks:
mann jeine Verufethätigfeit in langen Liedern befingen, ex liefert
dem Vauer Lieder auch für das Schweineichladhten und Ptift
führen, alo ob dao Wolf jid) in feinen Yiedern nicht grade über
die tägliche nüchterne Arbeit hinaus in eine höhere Sphäre erheben
wollte. Aber zu jolhen Werfehrtheiten führte die Nücternheit
der Auftlärungstendenzen. Much über Yedero deutjchen a
triotismus, namentlich zu Heit der Napoleoniihen Herrichait,
urteilt Burbad) zu gnitig, wie hätte aud) ein Journaliit in einem
Meinen Npeinbundjtaate einen jolden bethätigen und hervortreten
lafien Fönnen? Die wahren Yatrioten jener Zeit wiheilten benn
au, Feineowegs anerfeunend über feine journalitiiche Thätigleit.
Dafı ihn trogdem das Mihgeichiet traf, auf Befehl Napoleons ver
haftet und 14 Wonate fang gefangen gehalten zu werden, ift eine
wonie des Schicjals. Schr richtig hebt Burbach hervor, dah
Berker durd jeine Nationalzeitung vor allem für die Verbreitung
des religiöfen und politischen Yiberaliomus in dem Bürgerftande
Litteräriiche Streiflichter. 333
ieh bedeutend gewirkt hat. Beder war fein eigentliher Gelehrter
und fein Mann von hervorragender Begabung, aber geiheit,
praftüch, thätig, Dat er dad) ein Einfluß auf bie Zeitgenofien
gehabt, er lebte ganz in feiner Zeit und ift mit ihr vergangen,
aber aud) folder Männer Gedächtniß, in denen das Durchichnitts-
maß; des geifligen Pebens einer Epoche fidh verkörpert, aufjufriichen
und der Nachwelt zu erneuern, it verdienftlich.
Die biographiihen Blätter?) nehmen ihren ununter>
brocenen Fortgang. Das jocben erichienene dritte Heft des zweiten
Bandes enthält wieder mehrere anzichende Artikel. Dahin gehört
vor alleın der preisgefrönte Auflag von Siegmund Günther über
Heinvid) Bart, den Erforicher des dunften Kontinents, der ebenjo
fachfundig wie pietätvoll geicheieben ift, ferner Georg Stamper’s
Erinnerung an Ume Jens Yornfen, die nur eine furze Stigge it,
aber als Hinweis auf den hachverdienten unglüdlichen Batrioten
der Beachtung werth ift. Wilhelm Golther giebt einen warmen
Nachruf auf den treflichen, zu früh aus dem Leben geichiedenen
idwäbiichen Dichter und Foricher Ludwig Laifiner, 9. Hüffer
bietet eine Charafteriftit Erzherzog Karls bis zum Jahre 1796,
von Jofef Nauf werden Erinnerungen an DB. Auerbach und X.
Anzengruber veröffentlicht. Yon befonderem Antereije endlich
6. Freptags Abichiedsrede an Treitichfe vom 11. Auqujt 1863;
man wird fie grade jest, da ganz Dentichland um den edlen
Todten trauert, mit wehmüthiger Theilnahme lejen. Möge es
den weitern Heften nicht an anziehendem Stoffe gebrechen, mögen
namentlich recht häufig Veittheilungen aus dem Briefwecjlel bes
rühmter Männer zur Veröffentlichung gelangen.
Vor einiger Zeit haben wir an diefer Stelle Wilhelm
ünc’s Anmerkungen zum Tert des Lebens beiprodhen, heute
liegt uns eine and hrift von demielben Verfaffer vor: Ver
miidhte Aufjäge über Unterrichtsziele und Unter-
richtsfunit*). Das Buch wendet fih, wie der Titel zeigt,
zunächjt an Schulmänner und Pädagogen, «5 enthält aber des
Lehrreichen und Beachtenswerthen auch für weitere Areife, nament-
*) Yerlin. Ernit Hofmann.
**) Berlin, N. Gaertner's Verlagsbughhandlung. 2. vermehrte Aufl. 5 M.
Litteräriiche Streiflichter.
lich folche, die fich für Erziehung und Unterricht interefficen, fo
viel, dab wir ihm einige Worte zu widınen uns nicht verfa
fünmen. Wan fpürt «6 auf jeder
exjahrumgsreicher, den Gegenftand volltemmen beherrichender, alle
in Betracht kommenden Momente for abwägender Man
von umfaffender und tiefer Bildung feine wohldurddadhten An
fichten hier ausfpricht, und worüber er fi auch äußert, man folgt
gern und mit Aufmerfamfeit feinen Auseinanderjegungen. Wit
der Pilege der Mutteripradie beiehäftigen fid) mehrere jehr beher-
sigenswerthe Auffäge, jo vor allem der „ein Vlie in die Mutter:
iprache” betitefte und ein anderer die Pflege des mündlichen
deuticen Ausdruds behandelnder, beide find nad) Anhalt und
Form vorzüglich. Lortrefflich handelt Münd) dann weiter über
rachgefühl und Spradunterricht und gibt ferner Fehr beherzigens-
werthe Bemerkungen über die Pflege der deutichen Ausipradhe als
licht der Schule. Ad) was Münd über das Verhältnih der
alten und neueren Sprachen auseinanderfegt, verdient Beachtung;
doc) fcheint der Werfaffer uns hier fi) nicht ganz von der
leider heutzutage immer allgemeiner werdenden Geringihägung
der alten Spraden in ihrer Bedeutung für die Fugendbildung
freisugatten. No mehr unter dem Ginflufi moderner An
icjanung fteht der Aufiag: Einige Fragen des evangelifchen Neligions
untervichts. Man kann mit dem Lerfailer darin einverfianden
fein, dai; die eigentliche Dogmatif nicht in den Neligionsmterricht
und nicht auf die Schule gehört und doc) an der Ucberzeugung
feithalten, daß die Schüler auf der oberfien Stufe in den Yehr-
begriff ihrer Nirdhe und die Unterfheidungslehren der Gonfeilionen
eingeführt werden müjjen. Cs wird dabei allerdings von dem
Tate des Lehrers abhängen, dab er das righlige Mah in der
Behandlung diefer Frage einhätt. Mit dem Wunfce Münds,
die bibfiüche Gefchichte in einer mehr modernifirten Form den
Schülern mitgetheift zu jehen, find wir ebenjo wenig einveritanden
als mit feiner Anficht, der Nömerbrief eigne fid) wegen jener
Schwierigkeit und Dimfelpeit nicht zur Behandlung auf der Schule.
Ueberhaupt legt Münch der jest herrichenden Nichtung in der
Püdagogit nadgebend zu viel Gewicht darauf, dal; der Nnabe
alles verftehe, was ev lernt, und ift in Folge deifen ein Gegner
Litteräriihe Streiflichter. 335
des Einprägens zahlreicher Kirchenfieder und bibliiher Sprüche.
Wir jind dagegen der Meimmg, dab der Schüler damit einen
Scjat für das Yeben erhält, den er auf der augenblidlichen Ent:
widelungsfiufe zwar mod) nicht zu würdigen weiß, der aber in
ipäteren Jahren von ihm mach feinem unvergänglichen Werthe
erfannt werden wird, Ein wirkliches Verftändnif der Schriftworte
erhält auch der gereifte Mann erit durd die Prüfungen und
mannigfaltigen Erfahrungen des Yebens md wer fann audı am
Ende feines Dajeins behaupten, dah er die Worte der göttlichen
Tifenbarung völlig verfiehe? Das allerdings ericheint zweifellos,
da der Meligionsunterricht, wie er meift ertheilt wird, auf die
bevamwacjiende Jugend ohne Wirhung bleibt; wie wäre 6 jonit
erflären, dafi der Mangel an Verftändnik für alles Chriftliche,
ja die ansgeiprodhene Abneigung dagegen unter den Gebildeten
fo allgemein verbreitet ijt? Eigene Gedanfen erwect der Nufiak,
in dem Münch die Erziehung zur Yaterlandsliche behandelt. Cine
folce Anseinanderjegung it doc nur in Deutichland und bei den
Deutichen möglich, Angehörige einer anderen Nation würde ein
foldhes Thema fremdartig anmuthen. Wie, it denn die Vater:
landstiebe nicht etwas Zelbjtverjtändliches, Naturgemähes, Uriprüngs
liches, bedarf fie exit der Erziehung und Heranbildung? Aber die
jahrhundertiange Zeripaltung und Zerklüftung des deutichen Voltes,
jein jahrtaufendatter Entwidelungogang bat das Nefultat gehabt,
daß dieje Frage feineswegs jo einfach zu beantworten ift wie bei
anderen Nationen. Heimat und Stammesgefühl fennt und
empfindet jeder Deutihe ohne weiteres, dazu bedarf er Feiner
Erziehung, aber die Yicbe zum großen, allgemeinen Verbande
muß die Mehrzahl fih erfi aneignen md vermitteln. So it &
noch heute in Dentichland und jo wird c6 wohl mod) Lange fein,
dis die Zeitfommt, wo der Deutjche zur Vaterlandsliebe nicht erit
erzogen zu werden braucht, weil er jie als alles behervichende Kraft
in feinem Herzen empfindet.
Xon Nuno Kiihers fleinen Schriften füht der vierte,
unlängft ericienene Theil, den Titel: Eritiihe Streifzüge
gegen die Unfritit”. Aücher wendet fid darin gegen vers
=) Heidelberg. Karl Winters Univerjitätsbuchhandlung 3 M. 20 Fi.
iv
336 Kitteräriche Streiflichter.
icjiebene Angriffe, welche jeine Arbeiten über Lefiing und Goethe
erfahren haben und unternimmt, e6 feine Widerfacher der Untogit
zu überführen; er bedient ich Dabei meiit der Ironie und des ihm
eigenen geiftreichen Wipes. Ein nanzes Yuc voll Polemik hat
aber immer etwas Müslihes, weil das Negative notwendig darin
vorherricht und den Yefer auch bei geiitreiher Behandlung, wenn
88 fi) nicht um große hodwichtige Dinge handelt, leicht ermüdet.
Dazu fommt, daii e6 fi in dem vorliegenden Falle fait nur um
&. Fücher wenig ebenbürtige Gegner handelt, mit denen der chlag:
fertige geiftwolle Antor leicht fertig wird. Indeiien fann es
Niemand . Fiider verdenfen, dah er feine wohldurddadhten und
Har dargelegten Anfichten gegen umbegründete Einreden vertheibigt.
Am bedeutendjlen find die An Ein Nathanerflärer und ein
litterärifcher Findling als Yeifinge Fauft, dann die ergößlidy
derbe Abfertigung des abenteuerlichen Buches von Louvier über
Goethes Fauft und die vortrefflihe Charakteriitit: Herr Dünker
als Kritiker, worin diefer unermüdlich thätige, aber höchjt geichmad:
und fritiflofe Nommentator des Fauft und anderer Goetheider
Dichtungen mit den Waffen der Jronie umd Satire jowie ber
ftrengen Lögit ad absurdum In dem fegten Auf
jag: zwei Taijoerflärer begr per nochmals jeine Anficht,
dah; Antonio von Goethe erit in die zweite italieniiche Nebation
des Dramas eingefügt und die bedeutende Stellung, weiche er
jegt darin einnimmt, erhalten hat. Dah Fücher F. Kern dabei
ebenfo neringichäbig nbjertigt wie Dünger, bedauern wir, da diejer
verdiente Erflärer von Goethes Tajio, auch wenn man feine
Mnfichten für umeichtig häft, doch eine adjtungsvollere Vehandlung
verbient hat. Wir werden uns freuen, im näcjiten Theile ber
Heinen Schriften wieber pofitiven Nefultaten der Dichtererflärung
und fitterärifchen Forichung X. Fiichers zu begegnen. H. D.
5 *
Trudjchlerberichtigung,
le 1 und 2 von unten fies Wagener jtalt Wagner.
Seine ı
Aoasoseuo nensypow. Pura, 26 han 1896 1. — Buddruderei F. Raud, Riga.
Herausgeber und Redakteur: Wrnold u. Tideböhl.
Ans ®. v. Pitmar’s Reijebriefen an jeine Gltern.
(1815— 1818)
5 Barachee
ortfegung.)
Berlin, den 15. Dec. 1815.
Den 7. Nov. a. St. war ich enblich wieder bei ber trefflichen
Rede, die fid) hier mit mütterlicher Ficbe meiner annimmt. Diejes
Mal war ich ganz allein mit ihr und verlebte mit ihr mehrere
ganz auferorbentlich genuhreiche Stunden. Gleich als ich mich
bei ihr anmelden lief, Fam fie mir entgegen und fagte mir: „Es
freut mich fehr, mein lieber Ditmar, daf; Sie doch wieder einmal
an mic denfen. Nomen Sie und failen Sie ums mm recht
viel mit einander jprechen.“ Ich folgte ihr, nachdem id) einige
Entfehuldigungen wegen meines Langen Ausbleibens gemacht, in
ihre Studirftube, wo fie zuerjt gleich) nad) meiner Familie fragte
und fic) mit mir freute, als ich ihr fagte, da; id) vor einigen
Tagen Briefe von Cu), theure Eltern, erhalten hätte. Drauf
trug fie mir an Euch alle einen Gruß auf und bradhte mn das
Geipräc) auf wiffenfchaftliche Gegenftände; vorzüglich viel unter:
hielten wir uns an diefem Tage von Caglioftro, des berüchtigten
Zauberers Vetrügerien, die fie im zwei Schriften, mit chler
Dreiftigfeit dem Publifum entdedt Hat. Dieies Dal hatte ic)
aud) die Freude ihre auserwählte Bıbliothet zu fehen und von ihr
mehrere Vücher zum Lefen zu erhalten, wobei fie mir zugleich)
I
338 Aus W. dv. Ditmar’s Reifebriefen.
fagte, dal; ich zu jeber Zeit die Bücher aus ihrer Bücherfammlung
erhalten fönnte, die mic) intereffirten. Unter mannigfaltigen
Unterhaltungen waren mehrere flüchtige Stumden dahingeeilt und
ich mußte fort. Wie jehr wimderte id mic) aber, als ih nad)
8 Tagen, am 13. Nov. a. St., jchyon wieder zum Thee zu der
eblen Eliin eingeladen wurde. Diefes Mal hatte fie mehrere ihrer
jungen Sandsleute und Freunde, wie fie uns nennt, zu fid) bitten
fajfen, um uns dem alten würbigen Sıjährigen Grafen Kalfreuth,
Gowverneuren von Verlin, vorzuftellen. ud) der treffliche Franz
Horn und feine Familie war da. Wenig oder vielmehr garnicht
habe ih mich an diefem Abende mit der licbenswürdigen Gräfin
Nede unterhalten, mur einmal trat fie zu mir und fagte: „Ic
werde Sie jegt recht oft bitten Laien,“ ergriff drauf meine Hand
und drüdte fie Herzlich. Natürlich fühte id) bie ihrige. Ich
wünfchte, gute alte Mutter, da Du Deinen jteifen, unbiegiamen
Woldemar bei folder Gelegenheit fähelt. Das Sprichwort ift
wahr, da man auf Reifen ein ganz anderer Menid) wird. Bei
meiner Rücktchr wirft Du Deine Freude an mir haben. Es wurde
diefen Abend viel mufizirt und gefungen; oder cs las aud) ber
herrliche Tiedge von feinen Gedichten welde vor, — ein unbe
fchreiblich hoher Genuß, der mir jegt fo oft zu Theil wird, wie
ic) früher night einmal einen geahndet Habe. Um 10 Uhr verlieh
ich diefe Hödjit interejiante Gefellichaft. Dentt End) meine Ver
wunderung, als id) fon nad) 8 Tagen wieder die große Freude
hatte, zu meiner mütterli—ien Freundin gebeten zu werden. Diejes
Dal verbradhten wir fajt ben ganzen Abend durd) Geipräh, —
dod) wurde aud) mehrmalo mufigirt und gelungen, fowie auc) vor-
gelefen. An diejem Abende jagte mir die Nede, da fie mich
von nun an nur nod) in auferordentlihien Fällen einladen lajien
würde; id) wäre jegt befannt genug in ihrem Haufe, um hinzu:
tommen, wann id) Luft hätte. „Spätejtens müflen Sie aber,“ fette
fie hinzu, „alle 14 Tage mid) bejuchen, jonft werde ich Ihnen
böje." Wie unbejchreiblich glüclic ich mich nach joldyen Aeufe-
rungen fo ausgezeichneter Mlenjhen fühle, fan id Euch, geliebte
theure Eltern, nicht jagen. IH bin ein wahres Glüdofind und
das dante ich Eu. Co it ein ganz eigenes, unbezeichenbares
Gefühl, wenn man jid) fo in dem Zirfel allgemein angeftaunter
Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen. 339
Menfchen befindet und von diefen mit einer fo zuvorfommenden
Güte behandelt wird, als gehörte man zu ihrer Zahl. So mandjes
Mal ift es mir äuferjt auffallend gewejen, wie fie jo etwas ganz
Unbebeutendes, das man fagt, hervorheben, um uns dadurd Muth
einzuflhen. — — —
So weit hatte ih meinen Brief geitern geidhrieben, als
plöglic Hartmann in meine Stube trat und mir eine Einladung
von meinen Landsleuten brachte, mit ihnen den Geburtstag unjeres
Raifers bei unferm guien Weihe zu feiern. Id) eilte hin und
verfebte unter vielen mir herzlid) lieben Freunden einen recht
Ichönen Abend. Heute früh hörte ic eine Predigt von Schleier
macher und jege num jegt am erften Weihnachtötage (d. 13. Dec.
a. St.) meinen Brief an Eud) fort. Es it hier in Berlin jegt
nod) bei weitem mehr Leben, als joujt; denn überall find Weih-
nachtsbuben aufgebaut, die von großen umd Heinen Peuten befucht
werden. Ich mühte die Bände fchreiben, wollte ich alles
beichreiben, was hier jegt zu fehen ült.
Am 14. Nov. hatte ic) die unbeichreiblich große Freude, von
dem alten Wolfe, von dem ich Euch jhon jo vieles gemeldet habe,
befucht zu werden. Er blieb einen ganzen Nachmittag bei mir
und [as mir viel von feinen Gedichten und Fabeln für Ainder
vor. Eins feiner Gedichte jchenfte er mir und da es nad) nie
gedruct worden ift, fo lege ich eine Abfhrift für Euch bei. Die
findlich fromme, reine und fräftige Sprade in demielben wird
Euch gewih vielen Genuß gewähren und j—hon um biejes Giebichtes
willen verdient Wolke, wenn er fonjt nichts geichrieben hätte, bie
innigjte Liebe jedes Nechtlihen und ift eines reichen, vollblühenden
Dicterfranges werth.
Dah ich während diejer Zeit wieder veridiedene Mate bei
Hufeland, Vellermann und Schmalz gewejen bin, brauche ich Eud)
wohl nicht erit zu jagen. Yeßterer ift mir außerordentlich gewogen
und auch ich lerne ihn mit jedem Tage mehr lieben und hody«
fhägen. Sehr oft muß id) ihn befuchen umb verlebe dann die
interefjantejten Abende, die man fid denfen fann, in einem lebens:
würdigen Jamilienkreife. Als id) das legte Mal bei Schmalz
war, reichte er mir beim Abichiede Herzlid) die Hand und danfte
mir jehr liebevoll für die freundliche Gefinnung, die id) gegen
1
340 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen.
ihn hege, und fette nod) hinzu, wir müßten immer in Verbindung
bleiben, wenn wir auch noch jo fern von einander wohnten. Er
redet mir jet gewaltig zu, Privatdozent in Verlin zu werben.
Wirflid) bin ich uud; dazu geneigt, obaleich ich hier wohl nie
Vorlejungen halten würde; in der Zukunft Fann ich aber
manchen Xortpeil durch diefen Titel baben, denn die Hiefige Uni-
verfität ift allgemein jehr geihäßt. Ich beichäftige mid) jegt eben
mit einigen vorbereitenden Arbeiten.
Am 8. Dec. a. St. machte id) umjerem Ptinijter Alopäus
meine Aufwartung. Wahriceinlid) hätte ich eo nicht gethan,”
wenn die Nede es nicht ausdrüdlich von mir verlangt hätte.
Mlopius Hat nänlid) einmal gegen fie geäußert, daf; viele ruf.
Untertanen in Berlin feyen, er aber nad) feinen Tenne. Ich
ging alfo zu ihm Hin und ward fehr artig aufgenommen. Nad)
einigen Minuten lieh er meinen Namen aufichreiben und id)
empfahl mich nun feinem Schuß, worauf er mir antwortete, id)
möchte mid) ur immer am ihm wenden, aud in der größten
Kleinigkeit; er ivürde mir nie, jo viel in feinem Vermögen ftände,
feinen Beijtand verweigern. So lieb mir Diele Neuerung
war, jo lieb war 5 mir aber auch, diefe Staats-Piite gemacht
zu haben.
Solltet Ihr, teure Eltern, nicht durch irgend einen her:
veifenden Studenten Gelegenheit haben, mir dasjenige Heft der
Rofenpläntericen Beiträge zu genaueren Nenntnif; der ehjtnifchen
Sprache zu fchiden, in welchem meine Sammlung von ehitn.
Vollsliedern abgedrudt if? Der gute Unfel Brömfen würde
Euch wohl das Heft aus Pernan verichaffen. Durch eben dieje
Gelegenhait Fönnte id dann aud) Vergmann’o lettiiche Sinn
gedichte erhalten. Benj. Vergm. würde Cu) wohl ein Eremplar
zu Beförderung an mic zufommen faffen, wenigitens eins vo
der zweiten Sammlung. Nittet ihn de in meinem Namen
darum und meldet ihm, da der Rrofeior Friedr. Nüds fie bei
feinen biftoriichen Arbeiten zu bemigen wünfcht. Schr gut Tönnte
auf Diele Art auch jo manches zur Nerewigung des Namens
imeres würdigen verflorbenen Vergimanns beigetragen werden.
Wenn Jr an irgend einen fehreibt, der nur den Namen Bergmann
führt, jo grüßt ihn jedes mal herzlich von mir. Mud) wäre
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 34l
es mir jehr lieb, wenn ich durd) Euch die Addrejie an unfern
guten Heinrich 3. und Sahmen erhalten Fönnte.
Doch id) fehre wieder auf einige Augenblide zu Verlin
zurüd. Da id Eudy nod) feine Enlbe über das hiefige Theater
geichrieben Habe, fo wird es Euch vielleicht nicht unangenehm
jeyn, einige Bemerkungen bier über dafjelbe zu finden. Im
Allgemeinen fann ich von demfelben mr ein ehr günftiges Uxtheil
füllen; — follte id aber Einjelnes hervorheben, jo müfte ic jo
manches tadeln, was ich Hier, um Naum zu eriparen, nicht !hun
will. Nur das eine Wort jtehe bier über die Schanfpieler
Mattoufch uud Devrient, daß ich diefe für die größten jest lebenden
Künjler auf dem Theater halte. ALS Komifer it Devrient gröher
als Nffland, wie mir Fonque fagie; aber merfwürdig ift es, dal
er auch die ernitejte Nolle mit der gröhten Stunjt ipielt. Mattaufch
zeichnet fi befonders in Heldenrollen aus, namentlich fpielte er
neulich in Goethes Göß von Verlichingen den Göb ganz unüber-
treffbar. Durdy ihren Gelang find mir hier in den qroßen Opern
vorzüglich aufgefallen der Baffiit Ailher und Madame Milder-
Hauptmann. Die Stimme der legteren ift jo ftart und fo vein,
wie ic) fie noch niemals gehört habe; leider jcheint fie das, was
fie fingt, aber nie zu fühlen und daher ift mir wenigitens ihr
Gejang nie jo anziehend, als er es fein fünnte. Co ift ein unbe:
fchreiblich hoher Genuß, auf einem jo gut beiepten Theater die
Schilleriben und Goethejchen Tragödien zu fchen; -- unerreichbar
werden hier aber, meiner Meinung nad, die Opern gegeben.
Das Wetter ift hier noch immer jehr milde, über 6-7 Grad
it die Kälte hier Dis jegt mur einmal geweien. Da ichrieen die
verzärtelten Derfiner aber and) hen aewaltig; die Nutichpferde
waren bis zu den Augen und Hufen in wollenes Zeug genäht,
worüber wir Nordländer laut lachten, und beinahe feinen Menjchen
jah man auf der Strafe, der fi nicht den Kopf mit Tüchern
bewidelt hatte und große Handichuh trug. Zelbit die Flüfie
fheinen fih hier leichter von der Nülte bejtriden zu lajlen, als
bei igitens ift die Spree aröhtenthells icon zugefroren.
Auf der Hleinjten Cisfläche fiht man hier Schlittichuhläufer, die
große, mit Gifen beichlagene Stühle vor fi her ichieben, auf
denen Damen figen und fic) Herzlich über die Schlittenfahrt freuen.
342 Aus MW. v. Ditmar’s Reifebriefen.
Selbit die glatten Stellen auf den Strafen und in den Ninn-
fteinen werben zum Gliticen gebraucht. Oft fieht man auc)
wohl einen alten Giraufopf fich dieje jugendliche Freude machen.
Läugnen fann id's nicht, dafi mic) ein jolder Anblid immer jehr
freut, wenn ich gleich auch oft herzlich fahen muß. Die bei-
folgende Norrede, die ich zu Löwis*) Schrift über die Gegend
von Heidelberg geichrieben habe, überihict ihm doc und grüßt
den Guten herzlich von mir. Wenn er mir doch jchriebe, ob er
mit ihr zufrieden if. Der Drud des Werfchens hat icon
begonnen und ich hoffe, da es im einigen Wochen ericeinen
wird. Die ganze Nuflage wird auf velinartigem Drudpapier
gebrudt.
Tiele innigite herzliche Hrühe von mir an Vergmans, Vergs,
VBüld, Sivers, Moltreht, Spindler, an die Nurmisichen, Carl
Engelhardt, Holits u. a. Näcftens jcreibe ih aud an Spindler
und Agathon. Yon Voltrecht, dem alten treuen Freunde, erwarte
ic) einige Zeilen. ud) Schwarg und Tante Dettingen grüßt
recht, recht herzlich. Und nun lebt alle herzlich wohl! Mit der
innigiten und wärmjten Liebe werde ich bis zu meinem Tode jeyn
Euer Eu treuliebender
Woldemar.
Berlin, den 19. Jan. a. ©t. 1816,
Dah ich, geliebte Eltern, in der Zeit, feit ich meinen lepten
Brief an Euch jchrieb, wieder fehr oft bei unierer trefiliden, höchit
liebenswürdigen Gräfin Nedte, bei Hufeland, Schmalz, Fr. Horn u. a.
gewejen bin, braudre id Euch wohl faum erft zu jagen. Mit
ganz bejonderer Liebe werde ich aber von der Nede und Tiedge
behandelt. Cie erjepen mir hier, jo viel es fremden Denihen
möglid ift, Cure Stelle, teure Eltern. Id werde hier jept
nicht jeden Tag nennen, an weldem ic) bei einem diefer mir mit
+) Andreas von Yöwis. Die erwähnte, Hübfch und anregend gefchrichene
Schrift eridien zuerft i. J. 1814 in Dorpat (gedrudt bei }. €. Schüinmann);
die zweite, von W. v. Ditmar mit einer Borcede verjehene Auflage i. 3. 1816
in Berlin (Meurerfhe Buchhandlung). Anm. des Herausgebers.
Aus MW. dv. Ditmar’s Neifebriefen. 343
Liebe entgegenfommenden Menichen gewejen bin, jondern nur bie,
an welchen ich irgend ein Sejpräch von Bedeutung gehabt habe.
Ich fange wieder mit ber Nede an; denn am liebften fprict
man doc von dem, was und das Liebite ift. ALS ich am 14. Dec.
a. ©t. bei ihr war, traf id) fie im Vette. Sie befand ji grade
nicht wohl. Den ganzen langen Abend bradjte id; mit Tiebge
und ihr allein zu, doc jo angenehm, daß; ich gewünjcht hätte,
daß der Abend noch einmal jo lang gewejen wäre. Wir jpraden
fehr viel über die Art, wie die Bauern in Liv, Ehit: und Kurland
frei zu lafjen wären, und die Nede erzählte mir von einer jehr
lebhaften Korreipondenz, die fie über diefen Gegenjtand mit Merkel
geführt hatte. Durd) diejes Geipräd veranlaßt, famen wir auf
die Franzöftiche, Preuhiihe und Auffiiche Gejebgebung und auf
Dierkel, von dem ich erzählte, dah er mit freder Stivn der Welt
fund mache, daß fie den Lorenz Stark nur ihm zu danfen habe.
Tiedge, der herrliche Mann, wiberjprad) biefer Angabe iehr lebhaft;
denn nur durd) Friebländer in Berlin, jagte er, ift Engel bewogen
worden, den Yorenz Stark herauszugeben. in jeiner urjprünglihen
Geftalt ift er unter dem Titel: „Der Hausvater“ dramatiid)
bearbeitet und nad) vielen Jahren endlich zum Drud fertig
gewejen; denn Engel hat immer jehr lange an jeder einzelnen
Stelle gemuftert. Während diefer Zeit eridhien unter demjelben
Titel ein anderes Werk, und mm hat Engel das jeinige durhaus
nicht mehr herausgeben wollen. Friedländer hat ihm aber gar
feine Nuhe gelaffen und ihn dringend gebeten, uns biejes Liebliche
Familiengemähfde doc) wenigitens in einer andern Vearbeitung
zu geben und hierburd jey dann Engel veranlaßt worden, aus
diefem Drama, deifen Spuren unverfennbar find in den im Etart
vorfommenden Dialogen, einen Noman zu macjen, der für uns
um jo mehr Neiz haben muß, da er uns jo treu und wahr Engel’s
eigene Lebensgeidichte jchildert. Auch über den unvergehlichen
Wieland jprahen wir viel und ic erfuhr manden interejlanten
Zug aus feinem Leben, der mir bis jegr ganz unbefannt geniejen
war. Aber vorzüglich ergriff mich an diejem Tage ein Geipräch
über Neligien, zu weldem wir durd) ein anderes Geipräd über
die Liederlichleit in Berlin veranlaßt wınden. Tiedge Towohl als
die Neden find mir als Chriten bejonders achtungswerth; denn
34 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
ihr ganzes Wefen ift durddrungen von den Wahrheiten der chrift-
lichen Religion, fie leben beide und handeln als wahrhafte Chriften.
Dem Tiedge flammt das jchöne bimfle Auge wie eine Leuchte,
die alles um fich her erleuchtet, wenn er von Gott jpridht. Bei
folchen geii; jehr erhebenden Gejprächen ift es mir immer geworden,
als jähe id) Gott in feiner ganzen Herrlidjfeit und Mojeität vor
mir und damit folhe Eindrüde für mich bleibend werden, jo leje
ich jest täglich die Urania diefes edlen Dichters, in der er feine
Hefinnung und feine jenrige Liebe für die Religion in janft
harmonijchen Perjen ausipricht. In die jhönfte Begeifterung
gerathen mir durch diefes für alle finftige Zeiten wmübertreifbare
Gedicht und doch führt e6 uns immer wieder zur ruhigen, flaren
Bejonnenheit zurüd. Kauft Euch, geliebte Eltern und Geichwilter,
dieies Bud) doc) ja gleich und und Leit e6 jo oft als ih, — gewil;
verfeben wir dann im Geifte noch jchönere Stunden mit einander
als jegt. Der edelgefinnte Tiedge jelbft jagte mir in einem Ger
fpräch über die Urania: „Der Dichter mühe immer jtreben durch
feine Schöpfungen Nlaxheit der Verfiandesbegriffe bervorzubringen
und nicht den Verjtand durd das Gemüth umnebeln; denn von
dem Gemüth fen nur zu zeigen, daß cs des Menihen Thun und
Handeln, wie die Sonne die Luft, erwärmen mühe.“ Zur Er
inmerung an diefen mir ewig unvergehlichen Abend ichenfte mir
Tiedge feine „Denkmale der Zeit." Auch die Nede trug aufer-
ordentlich dazu bei, mir diejen Abend zu einem ewig unvergehlichen
zu machen; -— namentlich durch die einfache, aber gewihi fehr
bedentungsvolle Aeuferung für mic, daf fie auf jeden Fall Cud,
meine guten Eltern, bejuchen würde, wenn fie einmal wieder nad
Kurland füme „Ad muß die Eltern eines jo lieben, braven
jungen Mannes, als Cie mein guter Ditmar find, durchaus
fennen lernen,“ fegte fie nod) hin; „Die fo moralifd qut ihre
Rinder bilden, als ihre Eltern Zie gebildet haben,. die müjlen
durchaus jelbit vechtichaffen und brav jeyn. Vorläufig grühen
Sie Ihre guten Eltern aber immer recht berzlid von mir und
bitten Cie fie, da fie Ihnen ihre Vildniffe jhiden, damit ich fie
jegt doc) wenigitens im Wilde Tennen lerne.“ Gewih ein jehr
großer Veweis ihres Wohlwollens gegen mid, den fie jogar auf
das Licbite, das ich in der Welt habe. auf Ench, meine Eltern,
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 345
überträgt. Dod id habe noch größere Beweiie ihrer Güte, ja
ihrer herzlichen Freundidaft zu mir, von denen ich Euch aber
erft weiter unten erzählen fann, um im meiner chronologiichen
Ordnung zu bleiben. Wahrlic, es wird mir jehr jhwer, fie nad)
jo großen Beweifen ihrer Zuneigung zu mir noch Frau Gräfin
oder gnädige Frau zu nennen und wirklich habe ic) fie auch icon
oft fiebe Mutter genannt. Daher fommt cs denn aud, dai; id)
jest in meinem Briefe, wenn ich ihren Namen nenne, fein Beiwort
mehr zu demielben fee, jondern fie wie jeden, den ich liebe, recht
herzlich fiebe, ganz einfach nenne. Am 19. a. Et. (31. n. ©.)
im Dec. ließ die Nede die meiften ihrer hiefigen Landolente zu
Vittag zu fich einladen, um am feßten Tage im Jahre 1815
nady neuerer Zeitrehmung mit ihnen nod ein fröhliches Mahl
einzunehmen und um uns alle zugleich einzuladen, uns zum Syfveiter:
abend nad a. St. bei ihr zu verjammeln. Die Unterhaltung war
an diefem Tage recht jehr anziehend, wie gewöhnlich in Gejellfchaft
diefer geiftreihen rau, -— dad für mid bei weitem nicht jo
anziehend, als wenn ich mit ihr und Tiedge allein bin. Bis
5 Uhr Abends blieben wir diejes Mal zufammen, dann verliehen
wir diefen Cirfel aber und ic ging um 6 Uhr Abends zu meinem
theuren Franz Horn, wo ich umbeichreiblic gem bin. Er und
feine Frau find die bejten Wienichen von der Welt. Lie, die
berzensgute Hola Horn, wird auferordentlid, Fiebenswürbig durd)
ihrem findlich frommen Zinn und ihre große Naivität und er
dur jeinen feltenen Humor. Beide bilden alo Eheleute ein
ichönes Ganze. Doc) ich lenfe wieder ein, weil id) ipäter nad) jo
mandyerlei über Horn und fein trefiliches Weib zu jagen habe.
Jegt müht Ihr, meine Eltern und Sejchwilter, nod) viel Erfreus
liches von meiner Pilegemutter, der Nede, hören. Daß wir alle
am 1. Jan, n. St. wieder bei der Nede waren umd ihr zum
neuen Jahre Glück wünfchten, verficht fi von jelbft. Nad)
8 Tagen, am KRuffiihen Yenjahrsabende, hofiten wir mn erit
unfere gütige Kandsmännin wieder zu jehen. Doc) jo lange follte
es nicht dauern, denn noch) einen Tag vor dem legten im Jahre 1815
nad) alter Zeitrechnung, ud fie Nraufling und mich wieder zu
Mittag ein, um uns mit dem Staatsrath Uhden, einem berühmten
Sprahforicher, befannt zu maden. Aud Schmalz war dies Dial
346 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
da. Für mid) ein hödhft interefianter Tag und befehrend durch
die mannigfaltigen Geipräde über talien. Als wir weggehen
wollten, wiederholte die Nede die Bitte, dab wir am andern Tage
zum Rufj. Sylvejterabende wieder fommen möchten. Natürlich
nahmen wir diefe Einladung jehr freudig an und ftellten uns zur
bejtimmten Zeit ein. As ich hinfam, traf id) eine jehr große
Sefellihhaft jhon vor mir, namentlid waren von meinen Yands:
leuten folgende da: Kraufling, Hartung, Körber, Schouls, Tottien,
Grünwaldt, Gambeca, die beiden YVrüber Vurip und der Graf
Dimten von Nurmis. Außerdem aber aud) nodh Schmalz mit
feiner Familie und Franz Horn. (Meijie und Napp habe id) jegt
bei der Nece auch befannt gemacht). Diefer Abend war für
mid) in verjchiedener Nüdficht auferordentlid interejiant und
bejonders erfreulich dadurd, dah ic) der Einzige von allen An-
weienden war, der bie unbeichreiblich große Freude hatte, daß die |
Nede und Tiedge die Gefundheit der Zeinigen tranfen, -— alio
die Eurige, geliebte Eltern und Geichwilter. Bis 12 Uhr blieben |
wir an diefem Abende zufammen, dann tranfen wir auf das
Wohl unferer Lieben noch) ein Gläschen Punid und gingen drauf
Alle fort. Doc che ich mid empfahl, mußte ih der Neden noch
das Verfprechen geben, am 2. Jan. a. St. wieder bei ihr zu jenn. N
Dah 88 mir gleich leicht wird ein foldes Veripreden zu geben
und es auch zu erfüllen, jeht Ihr mohl voraus und daher brauche
ih es Eu) aud wohl nicht zu jagen, dal ich aljo am 2. Janıar
wieder da war. Doc es gehörte diefer Abend nicht zu den genuß-
reichen für mich, jondern vielmehr zu den recht jehr unangenehmen,
denn ich traf diefes Mal mit zwei jo arroganten Studenten zu
fammen, daß es mir unmöglic war, mid in den Schranten der
Beicheidenheit zu erhalten. Beide fielen mit der ungerechtejten
Hige über einen Mann her, der mir unbeichreiblic teuer it, und
verfeiteten mich daburd) gegen fie ausfahrend zu werden, und zwar
wurde ic die fo fehr, dah die jonjt gewiß jehr gelajlene Rede
fid) genöthigt fah, mir zuzuwinfen. Dieß verflimmte mid) fo jehr,
daß ich mich nad) einigen Augenblien empfahl und mir vornahm,
micht früher wieder hinzugeben, als bis id) eingeladen werden
würde. Dod) dieje Einladung blieb jehr lange aus; denn erit
am 14. Januar a. St. eridien ihr Diener und fagte mir, dab
2. nr, een
Ans MW. v. Titmar’s Neifebriefen. 347
Frau Gräfin mich zu diefem Abende ganz allein bitten liche,
Etwas beengt ging ich hin und traf dort zwei Damen, eine Madame
Forfter und eine Fräulein Lorenz, die id) j—hen mehrere Mat bei
der Nee geiehen hatte. Gleich nad den erjten Erfundigungen
nad) dem gegenfeitigen Wohlbefinden, entichuldigte id mid), neulic)
fo aufbraufenb mich betragen zu haben. „Gott bewahre,” fagte
die Nede, „es bedarf hier feiner Entihuldigung; denn ich winfte
Ihnen, mein junger Freund, nicht um Cie zu berufen, fondern
weil ich beforgte, daß Sie fi wohl gar idhlagen müften. Und
ih habe Sie viel zu lieb, um Sie in irgend einer Gefahr ruhig
zu willen.“ Wahrlich eine jehr ichöne Aeuferung, wenn fie gleic)
auch nicht zu den Anfichten eines Studenden ganz paifend it!
Herzlidy dankte ich der edlen Frau für ihre liebevolle Bejorgniß
um mich und fühte ihre Hand mit fo großer Innigfeit, daß mir
dabei die Thränen in die Augen traten. Die bemerkte fie und
Tprad) folgendes mit freundlicher Dliene zu mir: „Segen Sie fih
nun, mein lieber quter Ditmar, und laflen Cie uns froh jeyn;
Sie haben Gefühl für Dankbarkeit und eine reine gute Seele
und verdienen daher meine ganze Liebe, wie Sie fie denn aud)
wirflid beigen.“ Drauf verbradten wir die Zeit von 6 Uhr
Abends bis *4 auf 9 mit verihiedenen bald interejfanten, bald
gleihgültigen Geipräden und drauf wollten wir ums empfehlen.
Die beiden Damen gingen wirflid weg, allein ic) mußte mod
bleiben, denn fie verlangte e8 von mir ausbrüdlid. In einigen
Vinuten war aud Tiedge wieder bei uns und nun begann ein
hödjit lebendiges Geipräh über das Werhältniß ber Kinder zu
ihren Eltern. Während dejfelben äußerte die Nede einmal, daß
man immer das Schlechtefte erwarten mülle, wenn man lange
zeit feine Nachricht von feinen Lieben hat, um bei einer traurigen
Nachricht gefaßt zu bleiben. „In einer ähnlichen Lage befinde
ich) mich jet, jagte id; denn jchon jeit beinahe 10 Wochen habe
ich feine Nachricht von den einigen“ und dabei traten mir
die Thränen jo häufig in die Augen, da id fie garnicht mehr
verbergen fonnte. Durd) diefe Aeuferung von mir tief ergriffen,
traten and) Tiedge und der Neden die Thränen in die Augen, beide
umarınten mic mit der größten Innigfeit und nahmen mir das
heifige Verfpreden ab, daß id gleid) zu ihnen fommen jollte,
348 Aus W. v. Ditmar's Neijebriefen.
wenn ich Briefe von Euch erhielte. Diefe herzliche Theilnahme
an meinem Schidjal traf wie Blig und Schlag in meine Seele
und regte mein Gefühl jo jehr auf, da id mid) ihm ganz über:
ließ und meinen Dank, von einem Thränenftrom unterbroden,
ganz jo ausiprad, wie das Herz ihn mir eingab. Und nun wollte
ich gehn, reich in meinem Innern ausgejtattet; denn es war jdhon
3211 Uhr geworben und gewöhnlich gehen diefe beiben gefühl-
vollen, biederen Menfchen icon um 10 Uhr zu Bette; allein ic)
mußte durchaus nod) bleiben; muhte veriprechen hinzufonmen,
wann ich Luft hätte, um mid) aufzuheitern; von Tiedge erhielt
id) zur Erinnerung an diefen jchönen Abend, der mir der fecligite
in Verlin gewejen ift, feine Heine Schrift Nobert und Nennden
zum nbenfen und num begannen fie wieber ein anderes lebhaftes
Gejpräd) über Ericheinumgen und erzählten auch mandyes von
‚Herder, um meine Gebanfen wieder von dem einen geliebten
GSegenjtande abzulenfen, der meine ganze Phantafie beihäftigte.
Es wart Jhr, meine Eltern und Gefchwilter. Doc, da fie endlich
fahen, daß ic) durdaus nichts mehr genau hörte, jondern mic
ganz meinem Gefühl übertich, jo liehen fie mich endlich um 11 Uhr
gehen, -—- aber id war jo aufgeregt, dak ich erjt gegen Morgen
einfchlafen Fonnte und viele, viele Thränen nod) am andern Tage
wergofi. Noch jest tönen mir des eblen Tiedges Abihiebeworte
im Herzen nad): „Kommen Sie doch ja recht bald und recht oft
wieder, mein Lieber. Cie find hier ja jo gern gefehen und jo
sehr geliebt.” Von dem legten Geiprädhe, das wir an biejem
mir ewig ımvergehlihen Abende führten, ift mir nur noch eine
Anecdote von Herder gegenwärtig. Er hat nämlid einmal, in
einem Seiprädh über Rogebue zu der Nede ironiih gelagt, da
& ihm unmöglid fen zu glauben, dah; Nopebue den Vahrdt mit
der eifernen Stirn allein gejchrieben haben fönnte, weil er für
ibn zu gut geichrieben jey. Gewik eine jehr merfivürbige Neue:
rung von einem fo frommen, duldfamen Manne. Aber Nopebue
verdient aud) ein joldes Urtheil, weil er zu anmalend it. So
hat er zu Straufling, als er durdh Königsberg reifte, in einer
Unterhaltung über des Epimenides Erwachen gejagt: „Nach dem
60. Jahre muß man nicht mehr dichten. Ich werde bald aufhören
und Hr. d. Goethe muß durdaus aud) aufhören; denn er ift
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 349
ichen über 60 Jahr alt." Zo fpricht ein Rotebue jtrenge ver
dammend und enticeidend von einem Goethe! Doch nad) einige
Worte über meine mütterlihe Freundin, die liebenswürdige Nede.
Xier Tage nad) dielem unvergfeichlich beruhigenden Abend, von
dem ich Euch, theure Eltern, eben Kumde gegeben habe, erhielt ich
von ihr folgenden Brief: „Haben Sie Briefe von Haufe? Vefuchen
Sie mich, mein lieber junger Freund, biefen Abend mit ein Paar
Landsleuten, die Sie mir mitbringen wollen! Clija.“ Wie
einfah und jchön. Für mich ein bleibendes Denfmal ihrer
Freundfchaft zu mir. Ich ging mit Hartung und Straus bin
und traf Schmalz mit feiner Familie dort, den fie, wie fie mir
fagte, deswegen hatte bitten laffen, weil fie wühte, dab id ihn
derzlich liebe. Wieder ein ichöner Zug ihres edlen Charakters.
IA Habe den Schmalz aber auch) redht innig fieb und freue mich,
daß er mich wieder eben fo ficb hat, als ich ihn. Das hat mir
die Nede, Tiedge, Schmalzens Frau und einmal fogar er jelbjt
gefagt. Aber er hätte es mir nid)t einmal zu jagen gebraucht,
denn aus feinem Vetragen muhte ichs fon Längit deutlich exfennen.
Jeden Tag, im buchitäblichen Sinne des Worts, mul ich bei ihm
feyn; feine auserwählte Bibliothek jtcht zu meinem Gebraud) offen
und jelbft Gerichtsacten tHeilt er mir aus feiner Sammlung mit,
damit ich belehrt werde, wie die Nechtotheorie in der Praris anger
wandt werde. Noch mehr als dies alles jind aber die Geipräde,
die ich mit ihm führe. So mandyes vertraut er mir unter bem
Verfprechen der Verfchwiegenheit an. Diejen Abend verlebten
wir bei der Necken wieder Höchit angenehm; denn bald unterhielten
wir funs, bald wurde auch wieder muficirt und gefungen. Als
id) weggehen wollte, trat die Alte noch einmal zu mir, legte die
eine Hand auf meine Schulter und ergriff mit der andern die
meinige, fie herzlich jhüttelnd, und prad) darauf zu mir: „Da;
Sie © ja nicht vergeffen, uno gleid) zu bejuchen, wenn Sie Briefe
von Ihren lieben Eltern befommen. Gedicht das aber nicht bald,
jo fommen Sie doc) in diejen Tagen wieder.“ Gott, wie glüdlid
wäre ic, wenn ic) ihr bald vecht gute Nachrichten von Euc) bringen
fönnte!
(2. 20. Jan. a. St.) Bei meinem geliebten alten Vater
Wolfe, den Ihr nun schon genau aus meinen frühern Briefen
350 Aus W. v. Ditmar’s Reijebriefen.
fennen werdet, bin ic) in diefer ganzen Zeit nur vier Mal gemweien.
Am 6. Ian. a. St. erfreute mic) der alte Wolfe zum zweiten Mat
mit feinem Beluch, nadjdem id) am Morgen bei ihm geweien war.
Er blieb von 5—8 Uhr Abends bei mir. Dieh mußte ic) Euch,
theure Eltern, melden, weil mir biejer Veh zu viel werth ift
und hr Euch herzlich mit mir über meine Freude freut. Doch
auch die Scene müht Ihr hören, die id) mit Wolfe am Neujahrs:
tage Hatte, alo id) zu ihm gegangen war, um ihm Glüd zu
wünfchen. Ganz bejtürzt jtand der fromme Greio mit filbergrauem
Haar vor mir und mod liebenswürdiger, als fonft gewöhnlich,
durd) eine Thräne, die jeinen Greifesblid feudhtete. Er war durd
meine Xufmerkjamteit jo jehr gerührt, da er mich in Findlihern
Tone fragte: „Ad, wodurd Habe id) Ihre Liebe verdient? Nönnte
id) mid) dod) ihrer werth madjen.“ Diefe Worte ergriffen mic)
fo fehr, da; id fhmweigend, aber mit recht aufrichtig gefühlter
Herzlichteit, die Hand diefes 75jährigen Greileo an meine Lippen
brücte und in einer wehmithig-beitern Stimmung forteifte. Zur
Erinnerung an den jcönen Abend, an weldem uns Molfe
mehrere eigene Arbeiten vorlas, hat er in mein Stammbud) unter
einige“ eigene wunderihöne Were folgende einfad:ichöne Worte
geichrieben: „Es wird mid) freuen, mein jehr geliebter Ditmar,
wenn diefe Feberjtriche beitragen, fid zu erinnern des alten Rinder+
freundes Chriftian Hinrich Wolte aus Jewer.“
Bei Franz Horn bin ich in diefer Zeit nur zwei Dal gemeien.
Von dem einen Wale babe ich Euch icon oben gefchrieben und
am 25. Dec. a. St. war id wieder da. Cine Einladung zum
18. Jan. a. St. fonnte id) nicht annehmen, weil id bei der Nede
fen muhte, Am 25. war der Geburtstag der liebenswürdigen
Roja, zu welchem Tage der brave Horn mehrere Freunde einger
faben Hatte, ohne da; jeine Frau etwas davon wußte. Aud) der
gute Tiedge war da. Nachdem der Thee getrunfen war, wurde
ein feines, von Horn zur Feier diefes Tages gedichtetes Drama
aufgeführt, welches ganz herrlich it. Aud) Ihr joll tes lejen, wenn
id) einmal wieder bei Cud; bin. Die war ein jchöner, genub:
reicher Tag, der nie meinem Gedächtniffe entjchwinden wird. Er
hat etwas jehr VWleibendes zurücgelafien und mir deutlid) und
erfreulich bewährt, da; das eheliche Glück das gröhte auf der Erde
Aus MW. v. Ditmar’s Neijebriefen. 351
jey; denn mit welcher Liebe und mit wie vielen IThränen, bie bie
Freube ihren Augen entlodte, dankte das chle Weib dem gleich
edlen Manne für die Ueberraichung, die er ihr forgfam bereitet,
und für den Beweis jeiner treuen Liebe. Dies ift wohl ber höchite
Lohn, den es überall in der Welt geben kann und dies ijt das
Bedeutungsvolle, das ich am diefem herrlichen Frühlingstage in
Horns Leben gelernt habe und immer treu im Tiefiten des Innern
bewahren werde. Noch möge hier ein Gefpräd, das Araudling
und ich an diefem Tage mit Tiedge über Lavater hatten, jeinen
Pag finden, weil es uns manden Aufichluß über einzelne Stellen
in den Schriften diefes religiöfen, doch zugleich frommen Schwärmers
giebt. Tiedge erzählte nämlich, da Lavater feft daran geglaubt
habe, dak man durd) ein recht Träftiges Gebet alles bewirfen
fönne, ja jogar die Wiederbelebung eines theuren Verjtorbenen.
In dem Glauben, daß das Gebet alles vermöge, ilt 2. einmal
durdy folgende Begebenheit jehr beitärft worden: Cin Dann, der
in jehr bürfligen Umftänden mit feiner Familie lebt, Tommi eines
Tages zu Savater und bittet ihn fehr, er möge dad) zu Gott
beten, daß er ihn in günjtigere Vermögensumftände verjege.
Savater, durch das Elend des Mannes tief ergriffen, geht in die
Kirche und betet andächtig zu Gott, da er beiftchen folle dem
armen Leidenden. Dranf geht er nad) Haufe und findet auf
feiner Treppe eine in Papier eingewidelte Nolle Ducaten und
einen Brief, in weldem jtehet, Yavater möge bdiejes Gelb zur
Unterftügung Nothleidender anwenden. Diefe Vegebeneit ijt Ver-
anlajfung geweien, dal biefer liebenswürdige Schwärmer feit Davon
überzeugt worden üit, durd) das Gebet könne man alles erringen,
und ift es ihm mißlungen, einen Todten zu erweden, fo hat er
fich gleich darüber beruhigt, weil er zuverfichtlid geglaubt hat,
dab jein Gebet nicht ganz Fräflig und rein geweien jey. Den
3. Jan. a. ©t. machte id) die Belanntihaft des berühmten Ge:
fchichtsforihers Friedrich Nühs. Er hatte mic auffordern lajlen,
dab id für fein hiltoriihes Journal eine Abhandlung über das
in Kurland wohnende Völfden, Nreewinen, jcjreiben möchte. Als
ich mit diefer Arbeit fertig war, ging id) zu ihm und wurde jehr
freundlich aufgenommen. Zwei Stunden unterhielt id mich mit
diefem gelehrten Dianne ehr angenehm über nordiiche Geichichte
352 Aus WM, dv. Ditimar’s Neifebriefen.
und mußte, als id) wegging, veriprechen wieder einmal vorzus
fommen (ein Ausdrud, der bier in Berlin jehr üblich it). Nody
bin ich aber micht wieder bei ihm geweien. Won Nraudling und
$. Engelhardt, die aud) mit Nühs bekannt find, erfahre ih, dal;
er mit meiner Arbeit recht jehr zufrieden jeyn foll, nur meiner
Hypotheie über die Herftammung dev Kreewinen will ev nicht bei-
ftimmen. Ex hat gejagt, dafi fie Fühn jey und ihm wohl gefiele;
allein dennoch nicht haltbar und daher jehe er fich genöthigt, gegen
mid) zu jcreiben. Die it mir fehr lieb, weil es mir jehr
nüglid) werden Tann, da ein Mann wie Rühs ih die Mühe
nimmt, gegen mid), da ich nod) ganz unbefannt bin, zu jchreiben,
und aud fon deswegen lieb, weil cs ohne Bitterfeit von feiner
Seite geidieht; denn gern will er meine Vertheidigung gegen
feinen Angriff wieder in feiner Zeitihrift abdruden lafien, wie er
geäußert haben joll.
Den Ss. Jan. a. &t. bradjte ich einen jchr interefianten
Abend bei meinem alten trefflihen Vellermann zu. Er beichenfte
mic), ehe ich wegging, mit 6 Kleinen Schriften, die er eben heraus:
gegeben hatte, und [ud mic ein, in zwei gelehrten Gejellfchaften
fein Gajt zu jeyn. In der einen, der naturhijtoriihen, hatte ich
wenig Freude, weil ich mid) ein wenig verjpätet hatte und daher
au) der ganzen Verhandlung nur zum Theil beimohnte. Aber
bödjjt genußreich war mir der Abend, den ich am 15. Jan. a.
in der Gefellichaft der Freunde der Dumanität verlebte. Diejer
Verein feierte grade an diefem Tage jeinen Stiftungstag und «6
waren über 200 Perfonen, Damen und Diänner zu diefer Feier
Gichteit eingeladen. Nachdem von mehreren Mitgliedern Ab-
handlungen verlejen waren, jepten wir uns zum Abendeijen und
tafelten an drei, beinahe nicht zu überfehenden Tijchen bie um
12 Uhr in der Nacht. Mitunter wurde viel Wein getrunfen und
gelungen, jelbjt die älteften Greife fangen mit, 5. B. ein 6Ojähriger
Vellermann und der cbenfo alte Bode, der diejen Abend ganz
ausnchmend licbenswürdig war. Yon den vielen Befanntichaften,
die id an diejem Abende machte, war mir die liebjte die mit dem
Stantsrathe Ver aus St. Petersburg. Der alte gute Vellermann
hatte mich ihm empfohlen und jiellte mich ihm aud) vor. Lange
unterhielt id) mich mit dem wadern Wanne und mußte ihm ver
Aus MW. v. Ditmar’s RNeifebriefen. 353
inrechen, ihm am andern Tage recht früh zu beiuchen, weil er um
Mittag abreifen wollte. Natürlich ih Hin und mußte nun
mit ihm zu Mlopacus, dem Gejandichaftsiecretairen Nrafit umd
dem GSeneralen d’Anvray gehen, bei denen er mich überall jehr
empfahl. Er ingte mir, dah er ‚mic deswegen zu fich gebeten
hätte, um mic diefen Männern zu empfehlen; denn das fünnte
mir fehr helfen, verficherte er. Wirklich hat co mir aber auch
Nupen gebracht, denn der. berühmte d’Auvray, der dem Wittgenitein
in dem legten Nriege jo imentbehrlich war, lud mid gleid ein,
ihn während feines Aufenthalte in Berlin öftero zu bejuchen.
Früher batte ih ihm hen einmal bei der Nede geipraden.
Wie jehr mich die zuvorfommende Güte von Ber erfreut hat,
fann id) Euch wirklich nicht beichreiben, und das um jo mehr, da
ich deutlich gemwahr wurde, dal; ev mir in diefen wenigen Stumden
fogar perjönlich gut winde. Er mich nicht früher wegachen,
als er fortfuhr, nahm er von mir fehr herzlich Abichied und als cr
fchon im Wagen jah, holte er no) fein Tajchenbud heraus und
verlangte von mir, dah ich meine Adrejie bineinfchreibe, weil er
mir noch einmal fchreiben wollte, wie er jagte. Zugleich erbot er
fich, alles für mich in Petersburg zu beiorgen, wenn ic) einmal
von dort aus ehvas braudıte. An diefem ichönen Abende wurde
ich and mit dem Chemifer Hermbjtädt befannter, alo co mir Dis
jebt bei Hnfeland möglid) geweien war. Ehe ich nod) an diejem
Tage mit ihm ein Wort geiprochen hatte, trat er zu mir und Ind
mic) fehr herzlich ein, ihn am 19. Jan. a. St. zu beiuden. Ich
ging hin und fand dort eine Gefellichaft von mehr als 100 Rerfonen.
Es war mir ein vecht intereffanter Abend, denn ein Paar durch-
veifende Nünjtler gaben dort ein recht bübicheo Fleines Konzert
und drauf wurde bio in die ipäte Nacht hinein getanzt. YA)
dieje Bekanntibft ift mir vecht jehr erfreulich, denn Hermbtädt
it ein in der gelchrten Welt jchr bedeutender und zugleich braver,
ahtungswürdiger Dann.
Da mein halbes Jahr hier in Berlin num bald um üit, jo
wird eo Zeit fenn, daß ich mich mit Euch, gute Eltern, über
meinen Neifeplan beiprede. Id gevente nämlich am 26. Pärz
a. Zt. von hier nad Tresden abzureiien und 8 Tage daielbit
zu bleiben. Yon da gebe ih auf eben jo lange Zeit nach Nena,
u
354 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen.
wo alle Sandslente fid) zu veriammeln beichlofien Haben. Hier
werde ich denn auch meinen guten Sahmen und Baer wiederjehen.
Griterer ichrieb mir vor einigen Tagen einen recht liebevollen
Brief aus Würzburg und lieh Euch alle grüßen. — Von Jena
gehe ich grade nad) Heidelberg und von dort nad) einem Auf-
enthalt von wenigen Wocen mit Schoulg, Sivers und 9. Ber:
mann in die Schwei. Ju diejem idhönen Yande gedenfe ich bis
zum Oftober zu bleiben und dann wieder nad) Heidelberg zu
reifen, um dort noch einmal Pandecten bei Thibaut zu hören.
Hier bleibe ich dann entweder ein ganzes Jahr oder auch nur
ein halbes und gehe, bleibe ich nur ein halbes, nad ein Semeiter
nad) Göttingen und fehre dann nad) Yivland zurüd. Heinri,
Bergmann schrieb mir vor 14 Tagen aus Heidelberg und läßt
Eu) auch recht sehr hen. Mit vieler Yicbe erinnert er fi
Ener. Er hat eine große Neiie gemacht; denn er ijt durch Frank:
reich bis an die Spaniiche Grüne gegangen und nachher wieder
durd) die Schweiz bio an die Jtalieniidhe Gränze. — Aud) von
Benjamin Bergmann habe id) einige wenige Zeilen erhalten, die
mic) gang ungemein gefreut haben. Yejonders intereiiant war «8
mir durch ihm zu erfahren, da unferem trefflihen Berg eine
magnetische Eur an ılein Ulrich) gelungen jey. Wenn Ihr
Ausführlicheres hierüber wiht, jo meldet es mir dod).
Und mm noch viele, viele herzliche Grüße an Eud) alle,
die Ihr im dem lieben Kennen jend. Gott erhalte Euch alle
gelund und mir in dem Grade Eure Liebe, wie Jhr die meinige
befigt. Noch ein Lebewohl von Eurem Euch treu Liebenden
Woldemar.
Verlin, den IR. März 1816 a. St.
Die Zeit der Angit md qwälenden Vejorgniß; it vorüber,
herzlich geliebte Eltern und Gejdwilter! Rürwahr id) fann Eud)
das mich bejeeligende Gefühl nicht beichreiben, als in den eriten
Lengestagen mid ein Brief von Euch wieder ganz glüdlich machte.
Merkwürdig it mir die Ahnung, die ich einige Tage vor der
Ankunft Eures Briefes hatte; id) war nämlich durch einen Traum
Aus W. v. Ditmar’s Reifebriefen. 355
davon ganz überzeugt worden, da der nächite Pojttag mir einen
Brief von Euch bräcte. Ach legte mid) eines Abends mit den
auäfenditen Gedanfen zu Bette, wohl manche Thräne entquoll
auc) dem Auge, bis der Schlaf den müben Wandersmann durchs
Leben mit feinen Feileln umftriete. md faum erjt erquidte ber
erite Schlummer mid), da chen jchloß fi die Traumwelt mir
auf und es jdhien mir, als jtiege aus ichwarzer Erde ein nebel-
grauer Greis empor, der mand, idaudererregendes Wort zu mir
fpra. Dumpf tönten die Worte durd) die Tiefen meines Innern
und j—merzlid) ward die Seele mir bewegt. Da blidte ih im
fchweren Traume himmelan; das rauhe Walten der Nacht hatte
aufgehört und der Morgen blidte mir tröftend entgegen aus ber
blauen faren Tiefe. Ruhig ichlummerte id wieder fort; des
Morgens friedliches Bild blicb meiner Seele und jelbit in dem
furzen Morgenichlummer erfreute mic ein tröftender Traum. Aus
des Aethers Bläne jenkte fid) ein Engel zu mir hernieder, drüdte
fanft meine Hand, blidte mit jeinem großen blauen Yuge mich
freundlich an und iprad: „Höre auf zu Hagen, Armer, das Dank
deiner Leiden ijt voll und aus den Yeiden werden dir hohe Freuden
erwachien.“ So iprady der Engel tröjtend zu mir und entichwand.
Voll Heitrer Nuhe erwachte ich zum zweiten Male; ichnell Fleibete
ich mich an ımd eilte in die freie Natur, um mic) ganz mir felbjt
zu überlajfen. Jegt blieb ich heiter und war in diefer Stimmung
allen meinen Freunden ein Näthjel. „Nun, wahrhaftig,” fagte
der eine zu mir fogar, „die Falten von Deinem Gefichte find io
i—hnell verihmwunden, dai id) glauben muß, der Frühling bat fie
ausgefüllt, oder Du Haft frohe Nachrichten von Kaufe.” Nad)
nicht, war meine Antwort; aber morgen betomme ich welde.
„Woher weit Du denn das?” fragte er mid), ein wenig ver:
wundert. Ich erzählte ihm meinen Traum. Cr verlachte mic)
darüber und ich antwortete ihm nur darauf: „Nun, Du wirjt 8
fehen, morgen habe ich frohe Nachrichten von Haufe.” Und
wirklich eridhien aud) den andern Tag der Poftillon in meiner
Stube wub fagte: „Ich bitte mir die 8 Grolden aus, die Sie
mir veriproden haben; hier it ein Brief aus Aufland.”" Mit
einem fo furdhtbaren Geichrei iprang id von meinem Sike auf
und lief mit dem Vriefe in der Stube umber, dai durch die
ur
356 Aus W. v. Ditmar's Neifebriefen.
eine Thüre Hartung und Rraudling ganz erichroden erfchienen”
und durch die andere die gute Profeiforin Schlofier mit ihrer
Tochter. „Herr Gott, was ift denn vorgefallen,“ fragten mich alle
ganz bejtürzt. „Nicht, nichts,“ war meine Antwort, — und
diefen Worten tobte ich weiter, wobei ich ganz entzüdt ausrief:
„Ein vothgefiegelter Brief, ein rotbgefiegelter Brief.“ An das
Lefen der Iheuven Zeilen dachte ich To wenig, daß Nraudling den
Brief erbrad) und ihn mir offen hingab. Mit Freudentpränen im
Ange durchlief id ihn mit flüchtigen Vtiet, aber aud) jo flüchtig,
daf; icho erit am andern Tage gewahr ward, da; ic) dieien lichen
lieben Brief ganz faljch veritanden Hatte. Nur das, daf; ihr alle
gefund wart, wuhte id), und darüber freute ich mich jo innig, dab
id — — einer Ohnmacht nahe fam. Xicle Tage habe id den
{euren Brief immer am Herzen getragen und war von dem
Anhalt dejielen To voll, dab ich Euch nicht früher als jept
ichreiben fonnte.. Und nun it die Zeit, die id in Berlin nod)
bleibe, fo Furz, md die Veforgungen haben jid) jo jehr gehäuft,
dab ich Euch nur diefe wenigen Zeilen ichreiben kann, die Euch
aber einen vecht herzlichen Dank für Eure mir erwielene Licbe
bringen nnd Euch jagen follen, dai ich mich hurcans ganz wohl
befinde und daß ich froh und glüdlid bin. Aber, wie gelagt,
mehr erwartet diefeo Dial von mir nicht; denn chen übermorgen
verlaife ic) Werlin und veiie mit unferes Nybero Bruder den
übrigen Yandoleuten nad) Jena nad. Yon dort gehe id) mit
Kapp nach Dresden und treffe mit meinen lieben Freunden Straus
und Nupffer zufammen. Erjterer geht mit uns nad) Heidelberg;
Kupfer aber, in dem id) einen höcht trefificden Menichen Fennen
gelernt habe, geht von Weimar aus nad) Berlin zurüd. Was
werde id) Eud), herzlich geliebte Eltern, nicht alles von dieler
Neije zu melden haben? An die meisten bedeutenden Männer,
die ich auf diefer Tour treffe, habe ih von Schmalz, Zavignn,
meinem väterlichen Freunde Tiedge und der himmlischen Elifa,
bie Eich alfe wieder herzlich grüßen laffen, Empfehlungsichreiben, -
felbit an den großen Goethe. Yun br werdet eo duch den
Defect, den Enre Gafje erleiden wird, gewahr werden, dal mein
erftier Brief aus Heidelberg — eine wahre Abhandlung jeyn wird.
Ah Habe Euch no jo vieles zu melden; nod) Habt Ihr, aute
Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen.
Sttern, ja nichts von der Ießten, gewi fehr bedeutungsvollen
und glüdlichen Zeit meines Aufenthaltes in Berlin erfahren, nod
‚nichts von den neen Vefanntichaften, die ich hier wieder gemacht
babe. Damı jollt hr and durd eine ganz eigene, gedrudte
Brojdüre die edle Elifa genau fennen lernen; denn jchon fange
arbeite ich an diefem Denfmale, das id der großen Frau jegen
will. Es ift vollendet und liegt jest bei Vater Tienge zur Did):
ficht. Auch jollt br dann die von mir herausgegebene feine
Schrift über Heidelberg erhalten. Meldet 06 dad dem guten
Andreas Yöwis, da das VBüchelchen erichienen und bier in Berlin
vielen Veifall findet. . Hrüßt ihm ud vet herzlich und innig
von mir. Diefes Mal, gute theure Eltern, müht Ihr ichon mit
diefem corrupten Briefe von mir vorlieb nehmen; aber vecht bald
follt Ihr einen vernünftigeren erhalten, das veripreche ich Euch,
einen ganz vernünftigen befommt hr aber exit aus Heidelberg,
jedod; nur ımter der Bedingung, dab ich einen Brief von Euch
dafelbjt vorfinde. ie Adreije macht wie gewöhnlich; nur jhreibt
ftatt Berlin nach Heidelberg über Berlin. Auch bitte id) Eud),
nod) folgende Worte hinzuzufügen: „Cs wird vet jehr gebeten,
diejen Brief jo lange auf der Pojt aufzubewahren, bis der Cigen:
thümer fi meldet.”
Dresden, den 19. April 1816 a.
(Der erfte Theil diefeo Briefes jcildert die wenig intereilante
Neife von Berlin bis Naumburg. Ich hebe aus derielben nur
einen Theil der Schilderung von Halle heraus: „Die bedentendite
Stadt, in die id) jet zumächit fan, war Halle — ein Ort, der
mir durchaus garnicht gefallen hat. Cr liegt in einer großen
fruchtbaren Ebene, und um fo ımausjtebliher üt es für den
Reifenden, hier die Yemerfung zu machen, dab fait jeder Menich,
den er gewahr wird, ein Bettler it. Selbit in der Stadt üjt die
Polizei jo fchlecht, dalı man in Gefahr fommt, von jolhen Menfchen
aus dem Wagen gerüffen zu werden. Wach die Bauart Halles
hat michts freundliches. Die Hänfer find gröhtentheils alle mır
von Fachwert und fo über einander gethürmt, daß die höchit
358 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
baufälligen obern Etagen oft eine Elle über die untern hervorragen
und mit dem Einfurz drohen: die Straßen find eng, jhief, frumm
und fchmierig und in denfelben treibt fi zu jeder Tagesgeit das
liederlidjite Gejindel umher. — So viel weiß ich, dak id in
diejer Stadt nicht todt jenn wollte!“ — Meiter unten führt ber
Verfaifer fort:)
In Naumburg blieben wir eine Nadıt und eiften am andern
Tage jo früh ale möglich fort, um bei Zeiten in Iena zu fenn.
Hier (angten wir denn aud) jhon zu Mittag an und id) traf hier
folgende meiner Yandoleute vor: Mlmann, Dullo, Hollander, Sivers,
Grünmwaldt, Engelhardt, Dyvjen, Weile, Namm, Asmuth, Sahmen,
Hebenberg, Stoffregen, Pander, Fenerabend, Napp, Baer, Stegmann,
Bofle, Gobr, Wilpert, Schmölling, Straus, Scoulg, Hoc,
Aldanus, Sengbuih und außer biefen nachfolgende Freunde meiner
Landsleute, lauter brave Ienaiihe Burihen: Schröder, Horn,
Hartog, Rus und einen fielen Preußiihen Offieier Krüger.
6s jen genug, daf ich Eud) die Namen biefer innig mit einander
verbundenen Menichen genannt habe und dah id) Euch age, daß
wir auf die mannigfaltigite Weife 10 Tage mit einander verlebt
haben. Weber bieie, die zu den glüdflichjten meines ganen
Xebens gehört haben, jollt hr etwas recht ausführliches ipäter
erhalten, das Euch gewiß viele, viele Freude machen wird. —
Vom Viorgen bis zum Abend liefen wir in den jchönen Um:
gebungen Jenas umher und waren in jeden Dorfe und Ctäbtchen
willfommene Säfte. Die Bewohner Jenas und der um die Stadt
liegenden Dörfer find im Stande für Studenten ihr Leben hin:
zugeben. — Gott, es war eine jchöne Zeit, die jept vorüber-
geeilt it, und nie nie fann fie jo Ichön and freundlich wieber-
fehren! Von den Gelehrten Jenas habe ich fennen gelernt
den Whilologen Eichjtädt und den Mineralogen Lenz — Gejehen
babe ich außer dieien den Naturphilofophen Ofen, den Theologen
Schott und nur jehr flüchtig den herrlichen Schubert, der als
Qurchreifenber in Jena war. Sahmen, der gute alte unveränderte
Sahmen hat ihn kennen gelernt. —
Von Jena reifte ich allein mit der ordinären Poft über
Naumburg und Merfeburg nad) Leipzig. Naumburg fannte id)
icon und ducch Derjeburg zu fommen war mir interejlant, obgleid)
Aus W. vo. Ditmar’s Neifebriefen. 350
ih den Ort eigentlich nur von der Yuhenfeite fennen lernen
fonnte. Aber interejlant war es mir doc immer, in dem
Biihofsfig des alten verbienitvollen Ditmar von Merjeburg zu
fenn und das berühmte Bier in feiner Heimath trinfen zu fünnen,
von dem ich Eudy aber mit gutem Gewiljen jagen fan, dab ich
es jehr jchlecht gefunden habe, obgleich der Pojthalter fid iehr
freute, mir grade jebt jehr jchöneo vorjegen zu Fönnen. Won
Dierfeburg fam ich nad Yeipyig, wo ich drei Tage blieb, die mir
aber höchjt merkwürdig find und die durch ein feltfames Zufanımenz
treifen der Umjtände vielleicht einjt anf mein fünftigeo Leben ehr
einflußreih werden Fönnen. Tbhne aud nur einem Wienfchen
befannt zu jeyn, Fam ich in diele freundliche Stadt, die nad jehr
Ähtbar die Spuren des Nrieges an jih trägt, md jchen nach
wenigen Stunden war ich jo bekannt, da id) & Tage hätte dort
bleiben fünnen, ohne auch nur ein einziges Mal zu Mittag oder
zu Abend in meiner Wohnung jpeifen zu müfjen. Elifa bat viel
an mir gethan! Gott vergelte es ihr, der edlen, der großen |ran,
— mm er fann es, ich nicht. Meine Neifebemertungen werden
Eud) einiges Licht geben, aber vollfommen far Tann Euch erjt
bei meiner Nüdfchr alles werden. ch bin von jo guten, trefilichen
Menihen umgeben, daf; ich dindaus aud nicht das geringite
Verdienit habe, wenn ich aud qut werden jollte. „Aber wer
führt dir jo viele gute Menjchen zu”, werdet hr, meine Meltern,
fragen. Id antworte Euch darauf nur mit einem Namen, der
aber alles im fich ichlieht, — er heißt: „Eliia”. Ueberall bin
ich von ihr empfohlen worden, ohne «6 zu willen. In ihren
Briefen nennt fie mid immer den Sohn ihres Herzens oder and)
ihren jungen Freund, den jie wie ihren Zohn liebt. - Watt! «o
it ein herrliches Weib, die edle Sängerin der Religion. Mit
Dankbarkeit und inniger Nührung werde id mod ihre Aiche
jegnen! -— Möge fie zum Wohl der Menichheit nod; recht lange
leben. Aber ich befürchte das Segentheil, denn jie ift jehr Fränklich.
— Als ich den legten Abend in Berlin bei ihr war, gab fie mir
nod eine Beichreibung ihres Yebens, mit den Worten: „TDieje
Kleinigkeit gebe id) Ihnen als einen Beweis meiner mütterlichen
Liebe. Neifen Sie glüclic und erfälten Sie fih nicht!" — Und
was Elifa nicht für mid) thun fan, das thut Tiedge, der Sänger
300 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
Gottes und der Unfterblichfeit, in ihrem Gifte, und beglüdt mich
zugleich mit feiner herrlichiten Yiebe. Zche ich Euch wieder, Jbr
Altern, die Ahr mir das größte Glüc der Erde gewährt, und
Euch, meine geliebten Hejchmwiiter, ich werde Euch jo mandes
erzählen fonnen, das manche Thräne Eurem Age entloden joll.
Von Yeipyin fuhr ich über Vleihen nad) Dresden, wo ich
and) wieder durd Elifa befannt war. Aber hier made id von
ihren Empfehlungen weniger Gebraud, denn ich fühle mich zu
alüdlih bei dem quten Onfel Nrüdener und feiner trefflichen
Dinna. Täglid) jahren wir in die fhönften Theile der
Zächliichen Schweiz und find unbeichreiblich glüclih im Genie
der Naturichönheiten. Durd) jolche Yujtparthicen und mannigfaltige
Neberraihungen nehmen dieje beiden trefflihen Dienihen, die wie
Engel mit einander (eben, meine geit aber and jo fehr in
Anfpruch, dab ich co nur mit Mühe durchführe, täglid die idönen
und merfvindigen Nunftihäge Dresdens zu beiuchen. — Morgen
ja bier an; die will ich noch durch meine Anwejenheit
in Dresden überraichen und dann gehe ic über Würzburg, wo
ich einige Tage bei Yaer bleibe und von mo id) Euch vielleicht
wieder‘ jehreiße, nad) Heidelberg.
Bis an das Ende der vorigen Seite hatte id), meine geliebten
eltern, eben geihrieben, alo id durd die Ankunft eines neuen
Yandomanne überraicht wurde. Cs war der ältere Yurjy, der
jest nadı Wien reift. Naum war Burfy in meine Stube getreten,
fo fan aud) der qute Pander, der mein Neifegefährte bis Würzburg
jein wird, und gleich nachdem diejer liebe Freund bei mir angelangt
war, fam auch der gute nfel Nrüdener, der mir eben aufs
getragen bat, Euch herzlich von ihm zu grüßen. Tiefe Vefuche
haben mir viele Zeit geranbt und beitimmen mic, icon jebt
meinen Brief an Euch zu jchliehen, den ich font noch febr lange
hätte fortiegen können. Findet br, qute Neltern, dah dieje
geilen an Gud) confuo geichrieben find, jo idhiebt nicht alle Schuld
auf mich, jondern einen Theil derjelben and auf meinen Yande
mann Hamm, der zu Mittag abreifen will und fh unaufhörlich
in meiner Stube mmnbertummelt.
Schtuh jolgt.ı
hunibrieie
IE
Je häufiger man internationale Nunjtausitellungen befucht,
zumal alo Verichteriiatter, der prüft und fichtet und vergleicht
deito unaufbaltiamer drängt fihh Cinem die frage auf: wozu
eigentlich? d.h. wozu eigentlich werden fie veranftaltet?
Das Jahrhundertende, in dem wir jest eben, ijt jo recht
ein geitalter der Ansftellungen. Die riefige Entwidelung des
Völferverfchrs allein aber erklärt Diele Ericheinung gewiß nicht.
65 fommen auch ned) andere Faktoren und Elemente unjeres
zeitgenöfftichen Yebens in Wetract, das u. A. einen geradezu
eritaunlichen Wettbewerb, Erwerboneid u. j. m. gezeitigt hat.
Der Markt ift die grofe Yolung, aud auf dem Gebiete des
Tienjtes des Schönen.
Von diefem Ztandpunfte aus verfteht man gewiß auc)
die vielen internationalen Nimftausitellungen der legten 20 Jahre.
Und zu verjtehen find fie eigentlich — in Anbetracht ihrer raihen
Aufeinanderfolge und theihweife gar Gleichzeitigleit — überhaupt
nur von diejem Standpimfte aus.
Yäht fih denn annehmen, daß von Jahr zu Jahr in den
bildenden Nünjten eine fortichrittliche Entwidelung, ja auch nur
eine Aenderung der Anihaingen mönlid wäre? Dod) wohl
ganz gewiii nicht. Das macht fich, Telbit in unierer jo unbeimlich
fäpnellebigen zeit, immer böcitens nach einer Neihe von Jahren
bemerfbar. Zo beiteht j. DB. zwilchen der diesjährigen inter
nationalen Runjtausitellung in der deutjchen Neichshauptitadt und
362 Kunjtbriefe.
der von 1886 zweifellos in Bezug auf das Mas? ıumd Mie? in
Vioferei und Skulptur ein augenfälliger Unterfdhied, denn feitbent
hat die „alte” Richtung, d. h. was heute jo genannt wird, jo
ziemlich abgewirtbicaftet. uch die Münchener Ansjtellung von
1888 unterjchied fc noch vet merklich von der heutigen Berliner
Jubiläums Austellung. Was damals neu war, zum Theil als
eine Offenbarung betrachtet wurde — Heute hat fid felbit das
Publifum längit ihon daran gewöhnt, und mandes it zubem
bereits gewichen, oder wenigitens im Begriff Anderem Plag zu
machen. ber jeit ber legten internationalen Ausitellung in Berlin,
der von 1891, find fi dad wohl Stoff und Ausbrudsmittel
in allen Ländern jo ziemlich glei) neblieben. Dabei ift nidt zu
überjehen, daß ja jeit mehreren Jahren bereits in allen größeren
Kunftzentren alljährlich die großen genoifenjhaftlichen Ausftellungen
ebenfalls mehr oder weniger einen internationalen Charakter
tragen, felbjt wenn fie gar nicht als jolhe angemeldet und ange:
fegt find. Zum Beifpiel die vorjährige Berliner Ausftellung.
Sie war offiziell auch feine internationale, es aber thatlädlich in
gewiflem Sinne jogar mehr, als die im Mai diejes Jahres im
Gtaspalajt beim Lehrter Bahnhofe eröffnete: mande Staaten
hatten fid) reger, jedenfalls aber beijer betheiligt, als jegt.
Und wie fangathmig und prunfhaft it der Titel der dies:
jährigen Ausjtellung. man muß ordentlich Luft ichnappen, um
ihm anjtoßlos herzufagen: „Internationale Aunjt-Aus-
ftellung, Berlin 1896, zur Feier des zweihundert:
jährigen Beitehens der föniglihen Akademie der
Künjte.”
Noch) Hatte eben jede internationale Nunftausitellung zu
Berlin einen befonderen Ehrungszwed. Die erite fand gerade vor
zehn Jahren jtatt umd galt dem hundertjährigen Gedenktag der
erften afademijchen Ansftellung überhaupt, die ja int einer für die
Berliner Afademie fonft fehr trüben Seit auf Betreiben des
Dinifters v. Heinig i. X, 1786 veranftaltet wurde. Jns Jahr 1891
fält die zweite. Sie jollte das 50jährige Jubiläum deo Vereins
Berliner Nünftfer verberrlihen helfen. Den Ehrenzwed der
dritten und jüngiten giebt der foeben angeführte Titel an. Dab
aber immer ein befonbderer Chrungsziwed mit jolden Ausftellungen
Kunjtbriefe. 363
verfnüpft wird, will mir, wie gejagt, jehr bezeichnend ericheinen.
Rein, als ob die Veranftalter jelbjt meinten: an und für jid it
die Sade wirklich vecht zwedilos.
Ei ” +
Abgejehen natürlich von dem unzweifelhnften Runfigenuß,
den man ja au auf jolden Ausitellungen findet, obzwar er
Einem recht erihwert wird — gelangt man auch heuer nad) viel-
tägigem Umberziehen durch bie endloie Meihe von Zälen und .
Kubineten zu feiner anderen Ueberjeugung umd Frage, als: „ou
der Lärm“
Neues bringt uns die Ausitellung nichts, gar nichts. Cs
fei denn, was wir jden im vorigen Nahr hier, vor zwei Jahren
in Münden und Paris bemerfen fonnten, daß nümlid immer
ftärfer ein Zug der Neaftion gegen naften Naturalismus ic)
geltend zu madjen beginnt, Hand in Hand mit einer Neigung
zum Spmboliihen und Miopftiichen in Vorwurf und Behandlung.
Vielleicht gab’s am Ende au irgend wo wirflid etwas
Neues, aber in der umgeheuren Maffe ging es unter. Das ift
der lud) diejer internationalen Aunjtausitellungen — die Waiie
der Nunitwerfe, die fih gegenfeitig behindern und todtmadhen und
bei dem Durchichnittsbeiuder nur ein Sammelfurium von Farben:
Hecfen hinterlafien, eine Niefenpalette, die fi rajend jchnell um
die eigene Achie dreht, cin toll hinwirbeindes Maleivoifop. Nur
der Kumdige mag fih in diefem Gewier zurechtfinden und aud)
der bloß jehr ichwer und mit großen förperlichen und geiftigen
Mühen. Vielleicht erleben wir noch einmal einen Umihwung
auf dem Gebiete internationaler Nunjtausitellungen, einen Um:
ichmwung im ntereije der Nunjtpflege und des KNunitjtudiums.
Dann werden fie vielleicht nur nun jagen wir höchjtens alle
feche Jahre jtattfinden; dann auch wird man fid) vielleicht zur
Erfenntniß durdgerungen haben, dah nicht die Quantität es
macht und man wird aus jedem Lande, je nad) jeiner Bedeutung
für Rumjtpilege und Entwicefung, nur eine ganz beichränfte Zahl
von Kunjtwerfen zulaifen, über deren Werth daheim eine jtrenge,
wirklich unparteiiihe und wirklich kunjtiinnige Jury zu Gericht
geleiien, ehe fie Hinausgelajfen wurden ohne Anjehen der Akademiven
361 suunftbriefe.
und des Antoritätenglaubens, des Namensfultus und der Kligue.
Tann wirden wir eine internationale Ausjteltung- nicht ‚von
Tanjenden von Numjtwerten haben, von denen 75 pGt. mn, Die
Altäglihfeit und das Mittelmähige marftichreierifch ilfuftriren,
jondern Ausftellungen von bloß 6900 Bildern, Skulpturen
wi mw, die nun wirklich das Neueite und Bejte darjtellen
würden, was im gegebenen Zeitraum im betreffenden Lande
geibaften worden. Und follte cs dann auf foldhen Ausjtellungen
auch noch einen „Ehrenjaal“ geben, dann wäre er fiher -—- wie
jetst fait inmer, wie aud) in diefem Jahre wieder in Berlin —
wicht bo der ‘Plag für Witdniiie hoher Proteftoren und Arbeiten,
die deren Seichmad am meijten entiprechen, fondern Werfen
würden wir dort begeanen, die lediglich mit dem Mahitabe
Füntleriichen Nönnens qemeflen wurden, eine Nuhmeohalle wäre
er dann nicht der Targeftellten, jondern der jchaifenden Daı
iteller jelbit.
Doch ich muß die Nonjunftive ımd Cptative fallen lafen.
34 ftebe ja im Zeichen deo Anditativs md habe damit zu redhnen,
was da ift, wicht mit den, was fein fünnte oder jollte ....
Tab ih mich aber gegenüber den in 92 Zälen und Nabineten
untergebrachten ca. 4500 Nunftwerfen auf Cinzelnes nicht aut
einlaffen fann, das verjteht fi von jelbjt. Jenen Theil der Auss
fteltung zudem, der dem Ganzen den Namen gegeben hat, den
Diftoriichen, habe ich bereits in einem früheren Brief zu fcildern
gelucht. Auf Anderes wird fd gelenentlich zurüdgreifen laflen,
mit mehr Nupen als jebt, wo doch nur wenige Zeilen felbjt bedeu-
tenden Eriheimumgen gewidmet werden fönnten.
Daher mr einige allgemeine Bemerkungen,
Ta ml denn hervorgehoben werden, dah id Deutichlands
Kumjt vedlich bemüht hat und am zahlreichiten vertreten iit. Ein
Viertel aller Säle haben deutiche Künftter in Anfpruch genommen
und unter ihnen die Berliner allein gar 9 und wahrlid nicht
die Heinften und chlechteiten. Das ift ihnen aber and) zu gönnen.
Lie haben fich diefes Dial tüchtig ino Zeug gelegt und bejtchen
in Ehren. Einige der Yauptmimmern der Gelammtausitellung
Stumftbriefe.
entfallen gerade auf fie, in der Minlerei jo gut, wie in der
Sfulptur. Mebrere Nünftler vom Nlub der „N1“, den ich Abnen
einmal im Winter geicildert babe, vor Allem Yudwia vd.
Hofmann, dem feine römische Meile, wie einit dem jungen”
Goethe, Flärend und feitigend zum Zegen geworden it — Ichichen
wohl den Vogel ab. Daneben fommen einige Bildhauer in Be
trat, Peter Breuer, Otto Petri, Midael Yod, Mar
Cevi, Yudwig Mangel, der gleich Hofmann Yntifeo und
Neuzeitlicheo in Geift und Kormen fünftleriich zu verichmelzen
wei, endlich au Mar Nrufe, der das originellite plajtiiche
Wert der Anstellung beigeitenert hat ein durchlichtiges und
von innen magüich befeuchtetes Nelief, ein marmorneo Schweihtuch
der DL Veronifa, Dofmann'o „Novi“, ein großes mon
mentales Gemälde von berüdender Einfachheit und heurlicher
Farbemwirkung, vergiiit man nie mehr, wenn man co geichen.
Nicht von vielen Bildern dieier Ansftellung läht ih das Gleiche
jagen. Und ich fann mic dad nicht enthalten, cs Ahnen bier
etwas näher zu vüden: Zwei lebensgroße junge Penichentinder,
unjagbar Klare Kuhe in den Gefichtszügen, auf grüner Wicie an
ftillem Weiher, der das Jarbenipiel des Abendhimmels wieder
jpiegelt. Der dunfellodige Nüngling, nadt, im Grale fitend,
finnend, träumend in die Kerne blidend; das Mädchen, mm mit
einem rothen Unterrod befleidet, wie der Jüngling in jugendlicher
Kraft und Frische itrogend, das bramrotbe Haar zulammenneftelnd,
umifpielt vom Abendionnenlicht .... Das ijt Alles. Aber welch"
ein Zauber in der Verfchmelsung der Deforatio aufgetragenen
Farbentöne; welch" Stimmung erzengende Harmonie in dem Ju
jammenflang ihrer Werthe, eine weltentrücte tannbaft Fünjtleriiche
Stimmung. Waflig Änd die weißen Wolfenballen, die am blauen,
nad unten zu grünlich verbfafiendenden Simmel jtehen, ohne
Nüdficht anf Einzelheiten find die Baumgruppen geformt, inter
denen rofige Dunitjtweifen glimmen, mit virtwoier Cinfachheit iit
das Waler behandelt und doch welch" ftarfe Sejammhoirfmg,
eine, die, wie alle wahre Mumit, uns tbatfächlid) vom Wut des
Altäglichen und Gewöhnliden befreit und in höhere Zphüren
Hinaufjicht .... Auch Kranz Zfarbina's „Alerieeentag“
gehört zum Velten, ebenio wie Noner's Bildniff des ro,
366 Runftbriefe.
A. v. Werner. Noch mandes Andere ebenbürtige wäre aus ben
Berliner Sälen zu nennen. Aber es gilt fich beicheiden.
Trogallebem jedody find unter den deutichen Zälen nicht bie
Berliner die hervorragendjten, fondern das find die beiden Fleinen
Salons der Karlsruher. Da haben wir einmal einen einheit-
lichen und abgefchlofjenen Eindrud. Wohl wurde jeinerzeit daheim
viel gezetert über die Strenge der Jury, aber dafür hat fie auch
einen auferordentlichen Erfolg zu verzeichnen. Denn da iit nichts
Gewöhnlices, nichts Meittelmäßiges, Alltäglices, jondern Alles
ift Höchit talentvoll, Tünftleriich jchön dirchgebildet. “Man erkennt
unf—hwer ältere Müncener Schule; jedod fie ift verändert und
vertieft worden durd) Wermiichung mit wohlverjiandenen und fein
finnig angewandten Errungenihaften der neneiten Zeit. Und wie
vieljeitig zudem die feine Nünftlerihaar auftritt. Neben den
herrlichen Landichaften eines Schönleber, v. Volkmann,
Rampmann u. X. die Tierbilder der Weiihaupt und
Julins Bergmann, die Figurenmalerei Carlos Srethe's,
Torahn’s, Narl Nitter'o, R. Taepelberger's.
Was die übrigen deutichen Nunftzentren betrifft — die
Münchener „Sezeifion” fehlt befanntlic, wie ich jhon berichtete —
jo war eigentlich das Interefjanteite das geichloilene Auftreten der
„ZSxzellionen“ von Dresden und jogar Düffeldorf. Ia,
and das alte Düheldorf, eine unter Wilhelm Schadew, dem
Sohne des großen Berliner Meifters, und aud) nad) ibm nad,
eine führende Stellung beanfpruchend, dann für lange Zeit in
Traditionen eritaret, bat jegt feine „Zezeifion“. Und nicht etwa
bloi; junge Stürmer bilden fie, Tondern gerade die lautejten
Künder Düffeldorfer Aunfıruhme Haben ich ihr angeichloiien,
darunter auch unfere Yandeleute Gregor v. Bodmann und
Eugen Dürer, jener, der Yandicaft und Figurenmalerei io
innig mit einander verbindet und dabei in Bezug auf die Motive
der alten ehjtländijchen Heimatl) ‚der Strandwict, jo jchön die Irene
bewahrt hat; dieler, der Zänger idplliicher Schönheit mordiicher
Meereofüiten. Dagegen it der Sezeifion fern geblieben unier
dritter Yandomann in Dühjeldorf: Profejjor Eduard v. Gebhardt,
der tiefjinnige biblijche Maler, dem man jeine DMarotte mittel:
alterlicher chjtniicher Lofalfarbe gern nadhficht gegenüber der
Kunfibriefe. 867
Innigfeit und Kraft, womit er feine Stoffe erfaht und darftellt,
mie auch jegt hier wieder in der „Auferwecung des Lazarus.“
Hier jehen wir eine Heilandsgeitalt, wie fie auf ber neulich
beiprochenen „Ehriitus-Ausitellung“ vergeblich geiucht wurde.
* i »
Von den ausländiihen Gruppen find die ca. 11-12 Zäle
und Nabinete der Standinavier, die in reicher jülle
erichienen, ebenjo jehr ein Sammelpunft aller ’Aunjtfreunde, mie
die Austellung der Narlsruher. Aus einem anderen Grunde
freilih. Es it weniger das Einheitliche uud die burchichnittlich,
fi) gleidybleibende beträchtliche Höhe des Geleifteten, als vor:
mehmlich der früche eilt, der, gepaart mit ausgeipradhen
nationalem Zinn, joweit es ih um die Wahl der Motive handelt
und infofern der Vortrag durch Schlichtheit, die Empfindung durd
Innerlichfeit ji) auszeichnet — was jo feilelnd wirft. Cine
ungemein pifante Verichmelzung von Parifertfum und Natur
mwüchjigfeit von Chic und Gemith, von glänzender Tehnit und
geiftiger Schlichtheit — ganz To, wie co auch das MWeien des
Standinaven jelbjt Fennzeihnet. Und dazu eine unfagbare Freude
an Farben und Formen, die unbefünmert it um den Gegenftand,
die Szenerie, welche mit jenen gerade des Dlalero Nönnen reipten.
Mand't olles Zeug darunter namentlid bei den Norwegern —
was in den alten äjthetiichen Formeltram abjolut nicht Hineinpaßt,
manch” fühner Griff andererjeito in graue Vergangenheit Alles
aber padend und feilelnd, Alles voll durdweht von friicheitem
Lebensathem.
Spärlicer, alo jonjt und aud minder bedeutend, z. 3. als
nod) im vorigen Jahre, find die Franzoien, die Amerikaner,
die Schotten, die Engländer, die aber, mit Ausnahme viel:
leicht der Frangojen, denen der Triumph von 1895 offenbar
genügt, wenn auch nichte Neues, dod) viel Schenswerthes in alter
Dianier bieten. Also herrichende Note dabei der melandoliiche
Bauber, die ichleierhafte, mpjlizirende Matweile der Schotten.
Spanien und Jtalien dringen mun erjt recht nichts Neues,
allenfalls daß auf der appeninischen Yalbinjet allmählich der
Veriomus und die „Stimmung“, die dort in der Yitteratur fchon
368 Sunftbriefe.
yängit ihren Ginzug gehalten, auch in der bildenden Kunit heimild)
zu werden beginnen. Die allzeit auoitellungofrohen Holländer
und Belgier find and die Mal jehr zahlreih umd fait
durchweg sehr gut vertreten. Aber das iii man bei ihnen jcheon
längit gewohnt von zahlleien Ausitellungen her. Jahlreich and
hat Tefterreich die Ausitellung beichieft und wie hamer berrict
in diefer Gruppe ein bunter Eflettiziomuo, der das Ganze mn
individuelleres Sepräge bringt. Neu find die Portugieien
md die Schweizer. Beide Volker haben aber natürlich nur
wenige Vilder aejandt. Dafür begegnen wir im Nabinet der
Schweizer einem neuen Vödlin, der jedod) in feinem „Aagdznge
der Diana“ leider weder die alte Nunft, nod den gewohnten
Farbenreiz, noch endlich den üblichen Schwung der Phantafie zei
Voffentlich io nur ein Antermesjo, feine Etappe . Und nicht
weit davon, in der biftoriichen Abtheilung, da find jein gewaltiger
„Brometheus“, feine ergreifende „Rietä“, jeine entzücende „Venus:
Geburt“ zu Tchen!
Die Staven find, wie immer, getrennt erjchienen: hier die
leivenfchaftlichen, unrubigen, zumeit unter Pariter Einfluß tehenden
Polen, dort die weichen, tänmerifchen, jtets von warmem
Heimathsgefühl erfüllten, Friich aufitrebenden Nufien, die aber
teiver bier nicht To aut, namentlich nicht jo vichjeitig vertreten
find, wie wohl möglich geweien wäre, hätten nicht Die Nrönunas:
feier in der alten HJarenjtadt und die große Wuoftelluna in
Nühni Nomgorod vermuthlich ablenfend gewirkt ....
Berlin, im Anguit.
L Norden.
Litteräriihe Streiflicter.
Die großen deutichen Hirtorifer find jest alle dahingegangen,
66 fehlt der deutichen Geichichtoforichung und Geihichteichreibung
gegenwärtig an einem anerfannten Oberbaupte. Namentlic) die
politiiche GSejchichtoichreibung it Teit dem allzufrühem Tode
9. v. Treitichfes ganz verwait, fie, Die ohnehin icon jeit 1871
ipre frühere dominierende Ztelluig allmählich eingebüht hat.
Es ill das begreiffich und erklärlic, da die nationalen Ziele, für
die fie wirkte, jebt erreicht find, die politiichen Jdeen, die fie ver
trat, verwirklicht find. Seitdem zuerit 8. W. Nisjch die Bedeutung
der wirthichaftlichen Verhältnifie für das Verftändnih der deutichen
Gedichte im Mittelalter energiich geltend gemacht, drängt die
Behandlung wirtbichaftlicher umd jozialer Ericheinungen in der
Vergangenheit die Veihäftigung mit den verfaffungogeichichtlichen
Fragen immer mehr zurüc. Cine neue Nichtung, ganz anf dem
Boden der Wirtbichaftsgefchichte fechend und von ihr ausgehend,
wendet fich gegen den Standpunkt überhaupt, von dem aus bisher
die Geichichte aufgefaht und behandelt worden it, alio gegen
Nanfe jelbjt und nicht weniger gegen Treitichfe; fie erjtrebt die
Vegründung der Geichichtowiienichaft als einer induftiven Wifjen-
icaft mit naturwifienichaftliher Methode. Der eigentliche Ver:
treter diejer Richtung it Brofeflor Narl Yamprecht in Yeip in
jeiner viel gelejenen und bewinderten, aber auch jcharf angegriffenen
dentfchen Geichichte fommen feine Anfhanungen md feine Methode
u
370 Fitteräriiche Streiflichter.
zur vollen Durchführung. Der MWiverfpruch der Anhänger Nantes
und Treitichfes, überhaupt aller derer, welche die bisherige Ber
Handlung der geihicjtlihen Probleme für die richtige halten,
tonnte natürlich nicht ausbleiben und hat zu energiichen Angriffen
auf Yampredts Vlethode und Anjchauungen geführt. Yampredt
üt darauf die Antwort nicht jchuldig geblieben, in einer vor furzem
erichienenen Schrift: Alte und neue Nihtungen in der
Seihidtswiiienihaft*) vertheidigt er nidt nur mit
Nachdrud seine Anihaunngen und feine Methode, jondern richtet
auch einen nacdrüdlichen, forgfäftig begründeten Angriff gegen
Nanfeo eenlehre, d. b. gegen Nanfes ganze Yuffaiiung von
den in der Gejchichte wirfjamen, fie bewegenden Nräften. Wir
haben die Schrift mit lebhaften Jnterefie geleien, «s fommen
darin die wichligiten priuzipiellen Fragen der Geihichteaufaflung
und deo Betriebes geichichtlicher Foridung zur Sprade, Yamprect
verteidigt einen Standpunkt geidhiet nnd im Einzelnen nicht ohne
Gtüd, feine Ausführungen über die Wurzeln von Nantes Welt
anjhauung und geidichtlicher Auffaffung find jchr beadytenswerth;,
er schreibt überhaupt mit Geijt und jdarfer Logik. Aber wir
müjen trogdem klären, dab er uns durchaus nicht überzeugt hat,
dak wir vielmehr nad wie vor die von ihm befämpfte Gejchichts:
auffaifung für die allein richtige Halten. Zu einer eingehenden
Auseinanderfegung mit den von Yampredht verfochtenen Gedanfen
und Prinzipien ift hier nicht der Ort, wir mitifen ums auf wenige
‚Rurze Andeutungen beichränfen. Der Auficwung der Wirthichafts:
geichichte, um fie fürz jo zu nennen, in der Gegenwart ijt gewik
eine beredjtigte Neaktion gegen die Verfennung der materiellen
Faltoren im Völferleben bei den früheren politiichen und univerjal-
biftoriichen Sejchichtsichreibern; fie ift eine notwendige Ericheinung
in unferer Zeit, die jo ganz von fozialen und öfonomiüchen Kragen
erfüllt it. Aber fie idießt nun weit über dao Ziel hinaus, wenn
fie noch viel einjeitiger alo die frühere idealiftiiche Gejchichts-
ng, alle hiiterichen Erieinungen mehr oder weniger auf
materielle Srimdlagen und Voransfegungen zurüdführen will. Die
Wirtbichaftshiftorifer Fommen dabei bewuht oder unbewußt dem
*) Berlin, N. Guertners Verlagsbuchhandlung. IM. 60 Mi.
Kitteräriiche Streiflichter. 371
ia vorherrichenden praktischen Materialismus entgegen,
leider auch auf die Wiffenichaften nicht ohne Einfluß ge:
Lamprecht pratejtirt zwar entichieden dagegen, dah; man
naterialijtiiche Weltanichauung zujchreibe, und bezeichnet
ich. Nudem er aber alle
g richtige
ihm eine
eine Geihichtsaufiailung al evolution
teleologiiche Weltanichamng verwirft und für das cin
Prinzip der Erklärung geihichtliher Dinge das Ianiale erflärt,
gehoben durch die Hilfe der jtatitiichen Methode, und jeine faujafe
Methode als die wahrhaft wiilenichaftliche bezeichnet, exicheint jeine
Geidichtsanfiaftung doc als prattiiher Waterinliomns. Yamprecht
meint freilih, es Handle fi bei dem Gegenjag ywiichen ihm und
den Schülern Nanfeo nur um eine Werichiebenheit der Wethoden,
aber indem er evil es fan feinen wahrhaft wiilenichaftlichen
Betrieb der Gejchichte geben, der fi) abhängig däd)te von den
Vorauofegungen irgend welcher Weltanfhauung, bringt ex jelbit
den fundamentafen Unterichied zwiichen feiner und der bisherigen
Gejcichtsbepandlung zum Ausdrud. Yamprehts Zap jteht au)
mit den bisherigen Erfahrungen und den Thatjachen in Wider
iprud), denn Niebuhr und Hanke, Momfen und Treitichte, Dahl:
mann und Zpbel, Macanlay. und Garlyle haben alle eine jchr
bejtimmte Weltanihaummg gehabt und dodh das Vedentendite
geleitet. Jene Meuferung hat ihren Grund in Lamprechto Ueber:
zeugung, da; die Gefchichte eine induftive Willenfchaft jei wie die
Naturwiijenichaften; bei der Unterfuchung und Beichreibung eines
Käfers, einer Bilanze, bisher unbekannter Dieerqnallen fommt die
Weltanicamumng des Forihers allerdings nicht in Betracht. Di
aber ift grade der Punkt, wo fich die Unichaunngen entgegenitehen.
Nach unjerer jeiten Weberzengung it die Seidichte eine Geiftes-
wifienihaft und wird es allezeit bleiben, die Anwendung der
induftiven Methode wird bei ihr nie zum giele führen. Der
Fehler der neuen Gefcichtobehandfung und Geicichtenffaifung
it der, daii jie die auf dem Gebiete der jozialen und wirtbichaft
(ichen Eridjeimungen mit Erfolg geübte Methode einfeitig auf das
der politiichen und Judividualgeichichte überträgt; ie fieht fi
genötigt die menjehliche Willenofreiheit, dieje Orumdvorausiegung
alles fittlichen Kandelns und aller morafiichen Zuredhnung, u
verneinen oder wenigiten Dahingeitellt fein zu lafen. m Grmde
u
372 Yitteräriiche Streiflichter.
nähert fich diefe neue Wejchichtobehandlung mit ihrer faufalen
Diethode und ihrem Vejtreben alle Geichichte vationell zu erflären
den Anfchaunngen Buckleo. Sie fteht im ihärfiten Gegenjab zu
Kanfes ganz idealiftiicher Gejcichtsauffaffung; deifen Jdeenlehre
harafterifirt und bekämpft denn and Yamıpredit in dem Kaupt
abichnitt feiner Schrift. Yon einer „Jdeenlehre” Nantes kann
wohl nur im jchr wmeigentlichen Sinne die ede fein, da Nante
nicht fpftematijcher hilofopb war und alle feine dahin gehörig
Aeuferungen nur gelegentlich) gethan Hat; dabei ift auch auf
die verichiedenen zeiten zu achten, aus denen fie Ttammt. Go üt
ein wahrer Genuß, den man beim Yejen der bier zujammenz
geitellten finnigen Gedanken eines der ten, und in jeiner
Art einzigen Veiftero in der Hiftorie empfindet. Lamprecht weilt
dann jcparffinnig nad, wie Nanfes Weltanichemung auf einer
jehr eigenartigen Yerbindung des von Jugend anf tief in ihm
eingewunzelten Lutheriichen Glaubens, des am Anfange deo Jahr
hunderts herrichenden Nosmepolitismus und des Einflufes der
Nentitätophilojophie beruht. Nankeo Grundgedante it, dab die
geihichtliche Welt nicht aus fid) Telbit erflärbar, dal das
Jrrationelle das geicichtliche Agens it; die feitende und bewegende
Nteaft der Gejcichte liegt außerhalb diejer Welt. Wenn Lamprecht
Hantes Geihichtsnuffailung als Meyftisismus bezeichnet und jeinen
andpunft als den des perjönlichen Glaubens fennzeichnet, jo hat
er im Wefentlichen vet. Wenn er aber dur den Nachweis der
fonftitnivenden Elemente von Nanfes Jdeenlchre ihre Unhaltbarfeit
nachgewiejen zu haben meint, jo irrt unjerer Anficht nach
durdhans. Die univerjalgiftorijhe Auffaflung hat neben der
nationalen auch heute noch ihre volle Berechtigung in der Willen:
Ichaft ud da; die große Geiftesarbeit der Jdentitätophilofopbie
umb der andern gewaltigen philojophiichen Zniteme in den eriten
nien unferes Jahrhunderts völlig nugloo und nichtig geweien
jei, it wohl die heute herrichende Deinung, wo man alle Wetapbyiit
als Unding und Unfinn betrachtet, aber feineswegs nod das
endgiltige Urteil der Gefcichte.
Da endlich Nantes religiös
hriftlicher Standpunft and heute nod) vollberechtigt üt, veritcht
Sich für unfere Anfhamıng von jelbjt. Modifitationen der Geichichts-
anfhauung Nanfes, Ergänzungen im Einzelnen find dabei nicht
Yitteräriiche Streiflichter.
ausgeichloffen; dal er die materiellen Nräfte und Einflühe neben
den geiftigen im Yeben der Wölfer nicht gemmg beachtet und
gewürdigt, fan bereitwillig zugeftanden werden. Aber jeine
Weltanichanmng im Ganzen fcheint uno durch Yampredts Angrif
durchaus nicht evichlittert. Doc felbjt angenommen, daß er die
Unhaltbarteit von Nanfes „Adeentehre“ bewielen hätte, jo würde
daraus dad mır folgen, dat das bisherige Yrinzip, die bisherige
Aufiaffung der ideafiftiichen Geichichtobehandfung ich nicht weiter
aufrecht erhalten faffe, Feinesmegs aber, da; dieje felbit falich Tei,
fie wäre dann mr genöthiat eine neue Grumdlage für ihre An
ichanmmgen zu Ichaffen. Yamprecht bat allerdings nicht To unvecht,
wenn er meint, den Aungranfianern (feine Idöne Wortbildung!)
fehle die Myftit der Dieifters und damit einer der Kaftoren feiner
Weltanihauung; ud Nachfahl, der Dauptgegner Yanprechts,
nähert fid) mit feiner Hoffnung auf die Begründung einer wahrhaft
wiifenichaftlichen ipchologie, die ein werthvolles Mittel der
biftriihen Erfenntnih; fein werde, unferes Erachtens gar zu fehr
dem gegneriichen Ztandpunft. Auf Lamprechts Auseinander
febungen mit Nachfahl einzugehen, unterlaffen wir; er icheint ung
wider feinen Gegner oft mit Süd zu pofemifiven. Aber wenn
er ihm auch vollitändig widerlegt hätte, io wäre das dod) nur ein
:g über einen einzelnen ihrer Vertreter, nicht über die Dealijtiiche
Geidichtsauftaftung felbit. ampf zwiichen der evofutioniftiichen
Geichichtsbehandfung der Wirtbihaftshiftorifer und der politiich
iveatiftifchen Geichichtsnnffaifung wird noch lange fortdanern, wir
glauben fogar, dal; die erfleren zeitweiig das Uebergewicht erlangen
werben. Aber da; zuletst doch die ivealiftiiche Geiichtsbehandfung
den Zieg behalten wird, davon find wir fejt überzeugt. Yamprechts
Schrift ift für Alle, die fih darüber orientiren wollen, worum c5
Äh in diefem Nampfe eigentlich handelt, ein empfehlenswertbes
Hilfsmittel, das allerdingo mit Nritif gebraucht werden mul.
Eine umfaflende, auf forgfättigem Quellenftubium beruhende
dentihe Geidichte, die nicht blos in Umriffen fich hält, Sondern
auf das Einzelne eingeht, zu ichreiben, überfieigt bei dem gegen-
wärtig immer mehr überhandnehmenden Spezialismus bie Nraft
aud des fleihialten md arbeitiamften Hiftorifers; mr durch bie
Verbindung einer Anzahl von Forichern zu gemeinjamer Arbeit
371 Litteräriiche Streiflichter.
oder durch eine Neihe won imabhängigen, fh ergänzenden Mono-
graphieen verjchiedener Verfafier hält man die Aufgabe für lösbar.
Yruno Gebhardt hat den eriten Weg eingeichlagen, Undens
allgemeine Weltgeicichte und die bei F. X. Perthes in Gotha
ericheinende Gefcichte der europälichen Staaten haben den anderen
gewählt; treiflihe Arbeiten enthalten beide Sammlungen. Yu
ihnen gejellt ih in würdigiter Weile Die treffliche Bibliothek
deuticher Geichichte herausgegeben von 9. v. Zwiedined-Südenhorit,
weldye die Witte hält zwilhen ftreng gelehrter und populärer
Darjtellung. Co find bereits mehrere Bände diefer Sammlung
erichienen, jegt liegt ein neuer abgeichloffen vor: E. Mühlbader,
deutihe Geihichte unter den Narolingern *.
Die Gejchichte der Narolinger in Deutichland bietet der Darftellung
nicht geringe Schwierigfeiten, fie Hat zwar im der Perfon und
Karls des Großen einen glänzenden Mittelpunkt, aber
die Sejcjichte einer Nachfolger it jo verwidelt und zum Theil
jo unerquictlich, daf es faum möglich jceint den leitenden Faden
in diefem Gewirr von Begebenheiten zu finden und feitzuhalten.
Engelbert Mühlbacher, neben B. Simjon und Ernjt Dümler der
vorzüglichfte Nenner diefer Epoche, hat fi nad) Kräften bemüht
diefer Schwierigleiten zu werden und es ijt ihm das aud)
größtentheils gelungen. Nicht alle Abjchpnitte find von ihm mit
gleicher Ausführlichfeit behandelt, den gröhten Naum nimmt,
wie billig, die Darftellung der Negierung Narls des Großen
ein. Auch Ludwig der Fronmme wird eingehend behandelt; die
Zeit vor Narl dem Großen wird dagegen mehr überfichtlic, aber
durchaus nicht zu furz dargeftellt und cbenjo werden die leiten
‚Yyeiten der Narolinger in Dentichland in gedrängterer Zulammenz
fallung geicildert. Die Slanzpunfte des Werfes find die Abichnitte
über Narlo Perfönlichfeit und Hof und über feine Gefepgebung,
in ihmen fommt die ganze Gröe des gewaltigen Herricers jowie
fein machtvolles, tief eingreifendes inneres Matten anjcanlic zur
Darftellung. Aber auch feine Schwächen und die Schattenjeiten
feiner Verwaltung werden betont. Man freut fid) Narls Größe
und feine die Jahrhunderte beherrichende Periönfichfeit von
*) Stuttgart, Verlag der 3, ©. Cottajgen Bucyandlung Racfolger. 8 N.
Litterariüche Streiflichter.
Mühlbader wieder voll anerkannt zu fehen, nachdem Ranfe in
feiner MWeltgeihichte deo Naifers Vedenting jo gering angeichlagen
und in ihm fajt nur den Ausführer und Lollender der Gedanfen
und Pläne feines Vaters Pippin geichen bat. Die Begründung
des abendländichen Staiferthums und die dabei in Betracht
kommenden Momente werden von Mühlbacher ıchtvoll erörtert.
Bei der Behandlung der Ehejtreitigfeiten Yothars 11., welde dem
Papitthum die Handhabe zu feinem bedentungsvollen Vorgehen
gegen die fränfiihe Geiftlichfeit und das Karolingiihe Königthum
jelbjt boten, hätten wir gern eine nähere Auseinanderfegung über
die Entjtehung und den Zwed der pieudoiliboriihen Defretalen
gewünfcht. Merfwürdig, wie das in feiner eriten Periode jo
überaus fraftvolle, gewaltthätige Geichlecht der Narofinger zuleht
jo ganz fchwach, unfähin und elend endet. Mühlbadhers Dar:
ftellung ift ar, einfad) und überfüchtlich, wenn auch nicht befonders
ichmnngvoll und anichaulid, fie verflicht oft Stellen aus den
Quellen in die Erzählung. Leider fehlt dem verdienftvollen Buche
ein Negifter, das doch bei der Xülle der darin vorfomnenden
Namen und Thatjaben zum Nachichlagen geradezu unentbehrlich
it. Für ein joldes würden wir gern, wenn cs nicht anders
ginge, die Weberfiht der Quellen hingegeben haben; der Yaie
wird an diejem Abjchnitt dody nicht viel Jnterejie nehmen und
für den Biftorifer it er entbehrlich. Cine amımtafel der
KRarolinger und eine Narte des oftfränfiichen Neiches bilden den
Schluh des allen Gejcichtsfreunden zu empfehlenden Werkes.
Die von F. U. Perthes in Gotha vor bald 70 Jahren ins
Leben gerufene Geidichte der enronätichen
fort. Die Namen ihrer drei auf einander folgenden wi
lichen Leiter U. 9. L. Hreren, W. Giefebrecht und N. Lamprecht
bezeichnen ebenfoviele veridiedene Phajen in der Geichichtsichreibung
diejes Jahrhunderts. Nachdem die Gejchichtsdarjtellungen der
großen Neiche Curopas abgeihloifen oder din den Tod ihrer
Verfaifer unterbrochen worden waren, gerieth das große Unter:
nehmen eine Zeit lang ins Stoden. Seit Siejebredt die Yeitung
der Staatengeichichte übernommen hatte, nahm fie wieder einen
frischen Aufihwung. Er jorgte nicht nur für die Weiterführung
der noch nicht abgeichlojfenen Geichichtswerfe, jondern ebenio für
376 Eitteräriiche Streiflichter.
die Griegung veralteter Darftellungen durd) neue und gab dem
uriprünglicen Programm der Sammlung dadurd) eine Erweiterung,
dah; aud) Fleinere Yänder und Staaten Aufnahme und Bearbeitung
fanden. Auch nach Giejebrechte Tode hat das Unternehmen
ungetörten Kortgang und der Name des neuen Herausgebers
N. Lamprecht bürgt dafür, dai die Sammlung aud in Zukunft
den Charakter der willenihaftlihen Gründlicteit behalten wird.
Der nenejte uns vorliegende Band der Staatengeidichte enthält
die Geihidhte Kinnlando von Schubergieon,
deutihe Bearbeitung von Krig Arnbeim‘)
Das Triginal ift im Jahre 1889 erjchjienen, die deutiche Ve
arbeitung hat aber der Verfaifer jelbjt durchgeiehen und
und durd) eine Weberjiht der Geicdichte bis 1893 fortgeführt.
Die deutihe Ausgabe ift feine wörtlidie Ueberfegung, jondern eine
Vearbeitung, in der die erjte Periode, die fatholiiche Zeit Zinn
lands, nur im Auszuge wiedergegeben ift, die jpätern dagegen
mehr oder weniger vollitändig ins Dentjche übertragen find;
dasielbe gilt von den Fulturgeidhichtlichen Abihnitten des Triginals.
65 giebt abgeichen von dem jegt veralteten Bude von }. Nühs
icon eine Darjtellung der Geichichte Ninnlando in deuticher
Spradje, Nıjd Koftinnen’s Finnifche Geicbichte von den frühejten
geiten bis auf die Gegenwart, welde IS74 erichienen üt. Der
Verfaifer Heißt eigentlich Georg Zoromann und ijt der Führer
der Fennomanen. Diefer fein Standpunkt macht Tich auch in dem
Vuche vedht bemerkbar, das im ebrigen orgfültig gearbeitet it
und jich dincd) febendige Darftellung auszeichnet. Schpbergions
Sejchichte hat vor der von Nosfinnen jchon den großen Vorzug
da fie 18 Jahre ipäter veröffentlicht wird und daher nicht nur
die geichichtliche Entwicelung bis zum Gegenwart fortzuführen,
jondern auch die zahlreiche, zum Theil fehr wichtige feit dem
Jahre 1874 erfchienene Yitteratur zu verwerten vermag; aufer
dem hat ubergion auch das idhwodiiche Neichs- und das finniide
aatsardiv für fein Geidichtswert benugt. Es ift ihn dad
möglic) geworden, vieles .in ein helleres Yidht zu jtellen, alo co
Kosfinnen zu thun im Stande war, für Anderes den wahren
*) Gotha, Friedrich Andreas Perthes. 12 M.
an
Yitteräriiche Streiflichter. 377
Zufanmenhang zu finden. Schnbergjon iit Schwede ımd verleugnet
feinen Standpmt nicht, aber er jchreibt unparteiiich und umbefangen,
mandmal vielleicht etwas zu farblos. Die Zeit vor der jchwedijchen
Eroberung it mr furz, aber alles Wejentliche hervorhebend dar-
geitellt; hier bietet Nosfinnen mehr. Die weltgeichichtliche Bedeutung
Finnlands beruht auf dem Jahrhunderte fangen Nampfe zwiichen
Schweden und Nurzland um die Herrichaft über diejes Yand, einem
Nampfe, bei dem eo fidh zugleich um die Vorherridaft im Nord-
often Emvopas und um die Yerrichaft auf dem baltischen Meere
handelte. Tiefer Streit beginnt gleich im XII. Jahrhundert und
endet 1809 mit dem vollen Siege Nuflande. Im Junern bietet
die Entwidelmg Jinnlands die merkwürdige Griheinung, dar
zwei verfchiedene Nationalitäten, Finnen und Schweden, fi politiich
zu einem Ganzen, zu eirem finniichen Bolt vereinigt haben. Schr
lefenswertb find die fulturgeibichtlihen Napitel in Schybergions
Bud), welche die Sufellicpaft, Vildung und Yitteratur in den ver:
ichiedenen Epochen ihildern. Zu größerer Bedeutung gelangt
Finnfond erit jeit der Neformation; für die innere Entwidelung,
jowie für den Nampf der beiden nordiichen Mächte it die Zeit
von 1721 bio 1809 die wichtigite, inhaltreichhite. In der Ehil:
derung diefer Periode liegt der Schwerpunft und das Hauptverdienit
don Schpbergiong Wert. Sehr eingehend und belehrend ift jeine
Darfteltung der Vereinigung des Grohfürjtenthums Finnland mit
Rußland und der damit zujammenhängenden Vorgänge und Ver:
banktungen, ehr verdienftlidh aucd) jeine Schilderung der inneren
Entwidelung Finnlande unter Werander 1, Nifolaus 1. und
Merander |1., an die fih eine Furze Ueberficht der Negierungs
thätigfeit Merander IM. in Bezug auf Finnland fchlieht. Schy
valons Bud) bietet eine jehr Überfichtliche Gruppiinng der That
fadjen, die Daritellung ift einfach und ichmuclos, bisweilen könnte
fie anichaulicher fein; doc) ift diefer Viangel vielleicht auf Rechnung
des deutichen Vearbeiters zu jegen. Dah; der Verfafier ein grün:
licher, genan mit dem vertranter Foricher üft, merft man
überall; für den Hitorifer it die Anführung der wichtigjten Yitteratur
bei jedem gwößeren Abfchnitte ehr erwünscht, auch fehlt es bei
bedeutjamen Ztellen nicht an Verweilen auf die Quellen. Um
dem Lejer die Benugung und das Nadhichlagen zu erleichtern, it
378 Litteräriiche Streiflichter.
alles nur Wünfcenswertbe geichehen: dem Werte voraus gebt
detailfirte Inhaltsüberfiht und am Schluh findet fich
gearbeitetes Perjonenregifter. Wie jehr unterfcheidet
nem Vortheil Schpbergions Gejchichte von Kostinnens
Bud) und wie viele andere deutiche Seichichtswerfe fönnten ji
diefe Einrichtung zum Mufter nehmen! Auch bei uns it, namentlich)
in neuerer Zeit, ein lebhafteres Interefje für das jo nahe gelegene
Finnland erwacht; Schybergions Geidhichte wird jedem zur Ein
führung in die Kenntnik der Vergangenheit des merkwürdigen
Xandes und der politiihen Entwidelung feiner Bewohner die
beiten Dienfte leiften.
Der Neberjegung des Buches von Jojeph Turquan
über die Generalin Vonaparte iit ieh bald die Fortjegung: die
Kaiferin Jofephbine, übertragen und bearbeitet von
Dsfar Varihall von Vicberftein *) gefolgt. Dieler zweite Theil
it im Ganzen weniger pifant als der erite. Turquan beurtheilt
Jofephine auch hier mit derfelben Härte wie früher und Läht fd
nichts entgehen, was die Chronique ffandaleuie jener Zeit zu ihren
Ungunjten berichtet und aufgezeichnet hat, es liegt aber für diefe
geit fein jo weicher Stoff mehr var. Den größten Naum im
Buche nimmt die Scheidung Napoleons von Xofephine, die ihr
vorausgehenden Verhandlungen und die vorbereitenden Edhritte
ein. Es it jehr merkwürdig, wie viel Zuneigung Napoleon aud)
als Raifer und troß aller feiner Liebichaften immer nod) für
Dojephine hegte und wie jdhwer es ihm, der jonit jo rüdjichtslos
und brutal jeinen Willen fundthat und Ddurdiegte, wurde feiner
Gemahlin gegenüber den nefahten Entihlu auszuiprechen; wäre
nod) Ausficht geweien, daR fie ihm einen Sohn jehenfte, er würde
fi) nie von ihr getrennt haben. Auch nad der Scheidung ver-
tehrte Napoleon mit Zofephine in ber herzlichiten Weite, er ichrieb
ihr oft und bejuchte fie häufig. In den Tagen feines Unglüds
und feines Sturzes zeigte auch Jofephine große Anhänglichfeit an
ihren früheren Gemahl. In das Hofgetriebe und in die Parteiungen
unter den Gliedern der bonapartiihen Familie gewährt Turquans
Buch mannigjachen, wenn aud) nicht eben erfreulichen Einblid.
>) Leipzig, Schmidt u. Günther. 4. M. 60 Bf.
Yitteräriiche Streiflichter. 379
Ein Bud) ungewöhnlicher Art, eines derer, denen man nur
jelten auf dem Yücermarft begegnet, find die Tagebuch:
blätter eines Sonntagsphilojopben. Sejammelte
Grenzbotenaufiäbe von Hudolf Dildebrand* Wir
haben dieje Aufläge, die ungleich an Umfang und Behentung bad)
alle den eigenartigen Charakter ihres Xerfaifero zum Ausdruck
bringen, mit herzlicer Freude umd tiefer Befriedigung gelejen und
fühlen uns zu aufrictigem Dante gegen den Herausgeber, G.
Wuftmann, verpflichtet, der fie der Vergejienheit, dem gewöhnliden
Schichjale der Zeitjchriftennufiäge, entzogen hat. Nudolf Hildebrand,
Gpmnafial-Lehrer und Profefjor an der Umiverfität in Leipzig,
war einer der ausgezeichnetften deutichen Sprachforicher, der durd)
feine Mitarbeit und Fortiegung des deutichen Wörterbuces der
Brüder Grimm aud weiteren Nreifen befannt geworden ft. Bes
windernswürdige Selchriamteit, feines Sprachgefühl und ein
ungemein lebendiger Zinn für alles Volfsthümliche, alle Negungen
der Volfsieele, wie fie in Sprade und itte zur Ericeinung
tommen, waren dein jeltenen Wanne eigen; dapu ein herrliches
Semüth von wunderbarer Tiefe, glei empfänglid für Ernit und
Scherz. Hildebrand war ein Sealift und Optimift, wie fie heute
immer jeltener werden, er war eine echt deutiche Natur durd und
durch, ihm erichloß fi in der Betrachtung der Sprade das
innerjte MWejen des deutjchen Geifteo. Bei ihm hatte ji der
Foriher nicht auf Noften des Menichen entwidelt, er war eine
liebenswürdige, friiche, itets angeregte und anregende Perjönlichkeit.
So zeigt er fi in allen hier vereinigten Auflägen, jugendfriich
und hofinungsfrah, gedantenvoll und fenntnißreich, tieffinnig und
findlich zunleich, nur das reife Urtheil verräth, dal; die Aufjäge
im fpäteren Lebensalter neichrieben find, es fpridht aus ihnen zu
uns ein Diann in weihem Daav, aber im Herzen ein Kind, wie
er eo jelbjt bezeichnet. 16 Ddiefem YBuche fann man lernen,
wenn man eo noch nicht weiß, was deutich üft, deutic) im ebeljten
njten Sinne, es ij dem Lefer, der id) darin vertieft, oft,
das deutjche Gemüth jelbit zu ihm und offenbarte ihm
iefiten Geheimniffe. Hier ift nic)ts von der gejuchten und
>) Keipgig, Fr. Wilf, Orunom. 4 M.
380 Litteräriiche Streiflichter.
raffinierten Geiftreichigfeit modern-jüdiiher Feuilletonijten, aber
bier ü wahrer und echter Get, genährt am Marke der
großen deutihen Dichter und Denfer, und man hat feine innige
Rreude an der gebiegenen Fräftigen Korn, in die er fich Heidet.
Sollen wir Einiges aus dem reichen Inhalt des Wändehens her-
vorheben? Vielleicht der Ihönfte Aufiap darin ift: Trauer und
Treue, geichrieben unmittelbar nad) dem Tode Haifer Wilhelm’'s 1.;
man fieft ihn immer wieder mit Erhebung und Wehmuth. Schr
ichön und tief it auch der Aufiag: Gute alte Zeit md Kortichritt,
in dem Hildebrand (ebhaft für das Necht, die gute alte Zeit zu
preifen, in ihr ein anjpornendeo Xdeal zu jehen, eintritt. Höchit
inhaltreih und große Gelehriamfeit befundend ift der umfang
veichite Artitel der Sammlung, der den Titel: „Prophezeijungen“
führt. In ihm werden die Verfündigungen und Hinweilungen
anf eine Erneuerung des römisch-dentichen Neicheo von alter Zeit
ber aufgeführt und gedanfenvoll erläutert; auch die Stimmen der
Schnjucht nad) einem großen mächtigen Neid aus neuerer Zeit
werden nicht vergefien. Was Xildebrand hier über Gocthe's
Haltung der nationalen Erhebung und den nationalen Beftre
bumgen gegenüber jagt, ift vortrefflic. Auf feinem eigenften
Gebiete ift Dildebrand, wenn er aus „aus ber Gejchichte unferer
Zitte” befehrt oder „etwas zur Geichichte des Nunjtblideo“ mit
theilt. Cine ullertiebfte, fchalthafte Perfiilage der Ausmwüchie der
modernen Goethepbilologie it der Artikel: Ein Nnopf von Goethe.
And) wo er „vom Sterben” und „vom Leben“ Äpricht und fich,
darüber ausläßt, „wie Wahr und Gut zujammen hängen,“ hören
wir ihm gerne zu, da er jiets Semüth und Stimmung anregt.
Sein ganzer Findlic.naiver Optimiomuo fommt in dem legten
Aufag: „Ein Wunjchjettel an den Zeitgeift“ zum Ausdrud. Dod)
genug der Hinweifung anf Einzelne. Möge Niemand, der Zinn
und Neigung für das Ndeale, für uriprünglides, echtes Weien
hat, Hildebrand’s föjtliches Buch ungeleien lafen; cs wird An
vequng, Erfriichung und Erhebung Alten bieten, die noch von der
modernen Unnatur umjtridt find. Uber nicht in einem Zuge,
iondern in Abfäten muß; dreier foftbare Tranf genoffen werden,
dann erjt wird er jeine volle Wirtung ausüben.
Litteräriiche Streiflichter, 381
Wir haben vor ein Jet das inhaltreihe Yuch des
Pfarrers 9. Gebhardt „gu bäuerlichen GHlaubens- und Eitten:
Iehre” eingehend rohen. SHente liegt uns ein Seitenjtüc
dazu vor in der Schrift von Baul Gerade „Meine &
lebnifje und Beobadtungen als Dorfpajtor (1883
bis 1593)” %). Während Gebhardt thüringiche Verhältniffe im
Ange hat, jcildert Serade feine Erfebnifie in der preußiichen
Provinz Sachien. Sein Buch hat einen mehr periönlicen
Charakter und dadurch gewinnt feine Darftellung an Anichaulichfeit
und Lebendigkeit. Pit jugendlicher Vegeifterung ift 2. Gerade
in dao Aınt getreten und jchildert nun offen und wahr die vielen
Enttänihungen, die er erfahren hat; zum Pelfimijten hat er id)
aber dadurd nicht machen lafen. Vergleicht man feine Mit:
Meilungen mit den Schilderungen GSebhardt’s, jo nimmt
nicht ohne Verwunderung wahr, wie ähnlich der Baner nad)
und Charakter in beiden Gegenden ericheint. Auch in Gerade's
Schilderung zeigt er feine Spur von der Naivität amd unjchulds:
vollen Pocfie des NAatunfindeo, womit jo viele Dorfgeidhichten die
bäuerliden Verhältniffe ausftaffirt und geichmüct haben. Die
fittticen Zuftände deo Banernjtandes weilen aud) nad) Gerade's
Mittheitungen viele dunkle Schattenfeiten auf, aber es fehlt dod)
auch an Lichtieiten nicht und der im Guten wie im Schlimmen
äußerjt Fonfervative Charakter der Bauern tritt and in diejem
Buche lebendig hervor. B. Gerade's Schrift bietet ferner längere,
durch viele Veiipiele iluftrirte Ausführungen über die veribiedenen
Arten der Sceflorge und der Aufjicht über die Schule, die für
junge Geiftliche Tchr Beherzigenowerthes enthalten. in einem
Muhabichnitte Äpricht fd Serade Über die Angehörigen des
geiitlihen Standes, ihrer Yebenshaltung und ihr Verhältnih zum
Volfsleben aus und tritt energüich für die Theilnahme der Seit
lichen am öffentlichen Yeben ein. Gerade'o Büchlein, von pofitivem
Geifte Durchweht, gewährt eine anziebende und belchrende Yektü
Aus der Menge neuer beifetriftiicher Ericheinungen fein
zunächit Charlotte Nieje'os Geidhichten aus Yolitein**)
tag von Albert Narbe,
Kit. Gran. 3 M.
382 Litteräriihe Streiflichter.
hervorgehoben. Die mit Necht raich allgemein beliebt gewordene
Erzähferin bemegt fih in Diefem vorzüglich ausgeitatteten Buche
wieder auf ganz heimiichem Boden. Go find, jo viel wir ums
erinnern, alles alte Belannte aus den Grenzboten, welche hier zu
einer Sammlung vereinigt find. Ch. Nieie offenbart aud) hier
bie von früher bekannte Vorlicbe für abjonderliche Perfönlichkeiten,
durd) Natur und Yebensichicjale Teltjam entwidelte oder vers
früppelte Menichenwefen und bewährt überall ihr Talent mit
Icharfem Dice die harakteriüiichen Züge der Berjönlichteiten zu
erfaifen und dem Xefer lebendig vor Augen zn jtellen. Nicht die
Erfindungsgabe, fondern die icharfe Charakterzeichmung it ihre
bervorragendte Eigenichaft; fie idhildert To lebendig, dal wir an
ihre Gejtalten glauben, aud) da, wo fie etwas unwahricheinlice
Züge tragen. Co ill ein Beweis ihrer daritellenden Nraft, dab
ihr paffive, unielbjtändige Aaturen in voller Lebenswahrheit und
Anichaulichleit zu idhildern fuft noch beiler gelingt alo energüüche,
willensfräftige. Gin wahreo Nubinetitüd unter den Erzählungen
it die Geichichte des Etatoraths, der um alles Anjehen fam, weil
er feine Geichichte erzählen fonnte, ernjt und ergreifend die Er-
zühlung vom verrüdten Flinsheim, bie in tiefer Tragif endet.
Die umfangreichite Geichihte der Sammlung, „Die erite Liebe”
bat am meijten den Gharatter einer eigentlichen Novelle, Der
Baron Rolf und feine Fran Ada Navenftein find in ihrer Zorg-
fofigfeit und Gleihgültigfeit gegen die Vedrängniiie deo Lebens
vortrefflich gezeichnete Gejtalten, auch der alte Hraf Nöffing it
eine echte Charakterfigur. Dagegen ift Frig Neumann, der
Amerifaner, etwas verblaft und Frau von Zehlened doch etwas
gar zu jehr als Narrifatur heranogefommen. Der Grundgedanfe
der Erzählung, dab die erite Yiebe gewöhnlid die erite große
Dummheit des Yebens jei, während die legte Yiebe, von der man
niemals ipreche, oft die tiefite und wahrfte fei, frappirt dd) feine
Ungewöhnlichteit; jo unbedingt hingeitellt, Fann er fiherlich nicht
auf allgemeine Zutimmung redmen. And in den fleinern,
weniger bedeutenden Stüden ift das Talent der Berfaiferin
bemerfbar. Wenn, wie wir dod) annehmen müjjen, Ch. Nieje's
Schilderungen auf Beobachtungen der Wirklichfeit beruhen, wie
reich an originellen Perfönlichfeiten it dann diefes Holitin! Wir
Litteräriiche Streiflicter. 383
zweifeln nicht, daf; aud; dieie „Geihichten“ viele Lejer finden
und von Niemandem ohne Vejriedigung aus der Hand gelegt
werden werden.
Adolf Wilbrandt bat eine neue Novellenfammlung
unter dem Titel „Water und Sohn und andere Ge-
fhidten“*) veröffentlicht. Wilbrandt's Eigenart als Erzähler
und Novellit ijt bekannt; im jeinen dichteriichen Erzeugniffen
fenbart fid weniger große Erfindungsgabe als feine piychologiiche
ung und Entwidelung. Er it ein Birtuofe in der Dar-
ftellung und Entfaltung deo Seefenlebens und verjteht es aus“
gezeichnet, mit wenigen Strichen die Grundelentente der Charaftere,
welche er ung vorführt, zu zeichnen und ir Handeln pinchologüid)
überzeugend zu motiviren. Die beiden Erzählungen diefer Samm-
fung haben ebenjo wie das ihnen beigefellte Wären denjelben
Sharafter, den wir alo pincologiich-pädagogüich bezeichnen möchten,
denn allen drei Liegt eine gewille didaftifche Tendenz zu Grunde,
In der erjten jchildert der Dichter die Verliebtheit eines Gymnalial-
abiturienten in eine Teihtfertige Theaterpringefiin, in der er im
blöber Jugendefelei ein hohes dent ficht, und das gewagte Viittel,
durd) weld;es der Vater, der zugleich) der nächite und beite Freund
des Sohnes it, ihn von diejer Verirrung zurücbringt.. Die beiden
Badtihe, die als Nebenfiguren auftreten, find mit ihrer ver-
götternden Bewunderung für die herrliche Thea, die Schaufpieferin,
ganz vortrefflic geichildert umd meifterhaft gezeichnet, ebenjo reigend
naiv, wie jelbitbewußt altklug. In der zweiten Erzählung „Die
gute Loreley" athmen wir volle warme Nheinluft. Die Heldin,
Frau Mälhe, die Gattin deo etwas jteifen und fdhwerfälligen
Sanskritgelehrten Benno, bezaubert did ihre Schönheit und ihr
holdes Weien alle Männer, die mit ihr in Berührung fommen.
Sie wendet ihre Macht aber nur zum Guten an, nöthigt junge
Nichtsthuer und nur dem Genuß; lebende Meltmänner zur Arbeit
und zur IThätigfeit und führt von ihrer Schönheit verblendete
Verchrer wieder zur Piliht und Yicbe gegen ihre Bränte zurüd.
Wenn aud im Einzelnen manche Umwahriceinlichfeiten mit unter:
Laufen, jo hinterläßt die ganze ganze Erzählung doch einen früichen,
Srungart, Verlag dir J- ©. Eotiaichen Yuchhandlung Nachfolg. 3 3.
384 Litteräriiche Stveiflichter.
erfreulichen Eindruck, eigentliche Bandkung hätt bier cbenfo,
wenn aucd etwas weniger, als in dev erjten Erzählung, binter der
piochologiichen Entwicelung zurüd. Tas Märchen „Dütchen” it
: die Ausführung des Gedanfens, dah man zur rechten Zeit abzu-
reifen veritehen mühe, d.h. dah man in dem Augenblide, wo
man jid) durch Yeidenihaft und Zorn zu unüberlegtem und unver:
antwortlihem Handeln hinreiiien zu laffen im Begriff jteht, Tic,
ichnell entfernen mühe, um fpäterer Neue und fchwerer Ver:
ichuldumg zu entgeben. An Dielen Märchen. fehlt es nicht an
einer Nülle von Begebenheiten und Wechielfällen. Die Form der
Darjtellung jo wie die Sprade it, wie fih das von
erwarten Läht, vorzüglich. H. D.
bi 5
Aosposeno nenaypoo. Prra, 31. Amı yera 806 y. — Yachoruderei A
Vrrausgeber und Nedaftur: Arnold v. Tideböhl.
Aus B. v. Pitmar’s Reifebriefen an feine Eltern.
(ıs — 1818)
uf)
Heidelberg, den I. Mai 1810 n. St.
Aus Würzburg folltet Jbr, geliebte eltern, wie ich Euch
aus Dresden fchrieb, wieder ein Briefchen von mir erhalten. Doch)
«s ändern fid die Zeiten und auch unfer Wille ändert fd) bi
weilen in ihnen; wenigitens ift es mir jo gegangen, denn diefen
Brief an Euc) dative id) nicht aus Würzburg, jondern jdon aus
Heidelberg. — Das jdöne Dresden, in dem ic mit Yandsleuten
und Freunden mir unvergeilihe 14 Tage verlebt hatte, verlieh
id am 4. Diain. St., nachdem ich zuvor noch drei unbeichreiblich
glückliche Tage mit meiner himmliichen Elia und meinem vor:
treiflichen Tiedge verlebt hatte. Grade an dem Tage, an
weldem die gute Elia mit ihrem frommen Begleiter erwartet
wurden, war id) mit dem guten herrlichen Intel Krübener und
feiner lieben Minna (id) fann eo Euch nicht bejchreiben, was das
für überaus gute Leute find) im den höchft reizenden Plauenfchen
Grund, etwa 2 Meilen von Dresden, gefahren. Erjt Abends um
7 Uhr langten wir von diejer Luftpartie wieder in Dresden an
und ich geftehe Euch, da; ich mic) icon lange aus den reizenden,
belebten Umgebungen der füllevoliten Natur wieder in die todten
Diauern der Stadt gejchnt hatte, denn meine gute ahndete
br
386 Aus W. v. Diimar's Neil efen.
ich in denfelben. Ungeoufdig iprang ich ans des Onfels Wagen,
neh che er gehalten hatte, und eilte, ich weil jetbit nicht wie
fehnell, in das Hotel de Et. Yetersbourg, wo €
wollte. Dos, ald ih hinten, wer meine Eite vergebens gewele
denn noch war fir nicht angekommen. Chne mich zu Gefinnen,
machte ih mich auf den Weg, lief ihr entgegen und traf fie Jchon
nach 1 auf der Dresdener Brüde, Die Freude,
die Tiedge und fe Dec meine unerwortete Ericheinung gefühlt
haben müilen und die fie air auf eine einfache, aber herzerhebende
Art zu erlernen gaben, fan ich Gucd nüht beichreiben, cbenfo
wenig wie die Oifühle, die res tief durchglühten. [Es
folgt eine Heine Abichweifung, dann heit es weiter:] Doch meine
alte 66 jährige Clin witt ich wicht auf der Dresdener Brüce in
Aube laden, fondern Euch jagen, daR ich bis zu ihrem Quartier
neben ihrem Wagen hergelaufen bin und dabei ihre Hand, die
fie mir aus dem Wagen gereicht hatte, garnicht loslich, fondern
fie voll berzlicher Areude mnaufhörlih Fühte. Dieler Zug, der
durch die Hanptiwahen Dresdens ging, machie jo großes Anfichen,
dah die Vente jtehen blieben und uns gan verwundert nadhlahen.
Tas minchte mich aber nicht irre, jondern ich Ächritt vielmehr
fröhlich weiter, vi meine weiiliche Elifa bei ihrer Wohnung fait
aus dem Magen, führte fie die Treppe herauf und Fich mid)
dann von ihr, mit Jreudenthränen, finfen und herzen; Darauf
begab ich mich in Tiedges Arme und hörte mit Nührung von
ibm die Worte, die er mit Alamımen zeichnete: „Ach würde Jhnen
gern viel Serzliches Tagen, wäre das Herz mir nicht zu voll von
dem, mas ich für Zie fühle.” So ungefähr denkt End) unfer
erjtes Wiederfehen. Weiter kann und mag ich Euch von demielben
nichts jagen; außer nur nod das Cine, da ich fpäter weit Die
Jeit überfchritt, um welche Ciife qewöhnlich zu Bette zu gehen
pilegt. Viele intereffante und herztihe Geipräche wurden in der
durch unaufborliche Beiuche unterbrochenen Zeit von Ts Uhr bis
gegen 12 gewedhielt und nicht wenig Fuchten mich die Rede,
Tieoge, Elijas jesige Pilenetochter Mina Mitterbader aus
Karlobad und ihre vormalige Vianta Low (eine Tochter des
berühmten Weiher, die mich au Cliias allerböchtten Befehl
Vrnder und ich fie Schwerer nennen mh) zu überreden, nach
ja abjteigen
en Mi
Sn
Ans W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 387
Töplig mitzureifen. ch joltte freie Meile bis dahin und freien
Anfenthait daielbft haben, wenn ich mich nur ontichliehen ın
I
binzufonmien, Nirtlich war ich dur dieles Anerbieten, weiber
mir ein newer Schr erfventicher Yeweis der Yiebe diefer trejlihen
Menichen zu mir war, br meinem Neileplan irre gemacht;
zu meinem OtÜdE bat ib wir aber Verentzeit bis zum anderen
Tage ans md weigerte mich an bemietben, Den freundlichen
Vorihlon anzunehmen, weit ich überlegt batte, dab eo für mich
die jet wahrzunehmen, in welcher ich mich
;bilden Ta
flicht jei, durchaus
wilenichaftlich, und namenttich als Auriit au Ar
diejen Eurihluh befam ih num freilich ein wenig Schelt; allein
ich tröitere mich Damit, dap ich das Sprichwort: „Der Geil üt
willig, das Keiich aber Ihwadh” Dieles Mial gerade wutchren
fonnte, Areitich Tan ich es nicht (ongnen, daf; ich geure mit
der quten van vo. Yow gereiit wäre; denn in deren Wagen war
für mich cin Klag beftimmt; weil mir diejes gebildete Weib
außerordentlich intereffant Üt, ıheilo weit fte in ihrer Were
die größte Aohmtichfeit von unferen Yivländiihen, überhaupt
nordiihen grauen hat, tbeits auch, weit wir ihr Tiedgeo Alerio
ud 0a, und NHobert und Wennchen zu danfen haben. Die
Lieder, aus denen diefe beiden Nomane beftehen, hat Tiedae ihr
und ihrer schönen Stimme zu Oefallen anf betannte Melodien
gedichtet und fie exit Ipäter ats ein Oiniges zulanmmengentelit.
Doc das gute Yrinzip behielt band, der
GSeift war järter als das Keil md ich wertieh am 4. Mai
Dresden, nachdem ich ned an demfelben Tage von dem guten
tät
an einmal Die Cbe
Intel, der mir ein jehr Finnreiches Andenten gab, wıd von der
guten Cifa und dem geliebten Tiedge Abldied nahm. Bei ber
Nee entjchnldigte ich mich, da ich in meinen Neifetleidern zu
ihr käme; und ich geitche, daß eo wir nicht feid hut Diefe Heine
Artigfeit gehabt zu haben; denn dadurd wide fie zum erften
ale verantaht, mic) en und von der Zeit
an hat denn audı die Benenmng „Mama“, nach) der id fie gern
zuweilen nannte, auf immer das Bürgerrecht erhalt
fange es Ahnen noch einmat, co freut mic in Abrer Berfon einen
jo draven jungen Mann formen gelernt zu haben. Bortieren Zie
nicht den Vinth, fondern wirken Sie einft für unjer Vaterland,
one
„mein Mind“
BAU)
388 Aus W. v. Ditmar’s Reifedriefen.
fo wie ic) es von Ihnen hoffe. Ieyt leben Cie wohl; behalten
Sie im Andenken, worum id) Sie jegt gebeten, und fchreiben
Sie bald an Ihre Elifa.” Dieh waren die [epten Worte, die
Mama (ich muh diefen Ausdrud hier gleich anbringen, damit
Ihr Hört, wie er flingt) zu mir iprad, und die mich zum Glüd
beichäftigten, bis id am Abend in Freiburg anfam, — zum
Glüd, fage ih, weil id) ichlechtes Wetter, einen ijlehten Poit:
wagen und einen überaus langweiligen Nsifegefährten Hatte. -—
Während hier die Pferde gewechielt wurden, bejuchte ich ben
größten Dineralogen der Welt, den alten würdigen Werner, dem
ih in Elifas Namen einen Sohn des berühmten Componiften
Naumann, der die Bergwerksfunde jiudiren will, empfehlen jollte.
— Interefjant war es mir, in jreiberg, das im Sädfiichen
Erzgebirge liegt, Bemerkungen über die Vegetation anzuftellen.
Am Morgen reijte id) aus Dresden, wo alles fon grünte und
blühte, und con am Abend befand ic) mid) in einer Negion,
wo das Veben fih faum erjt in der Anospe regte und wo es
fcpneite und hagelte, während unten ein milder Frühlingoregen
das vegetabiliide Leben bis zum höditen erreichbaren Gipfel
fteuerte. — Von Freiburg fam ic) zunädjt nad) Jwidan. Dah
mein erfter Gebante an diefem Orte der war, unjeres biederen
Vergs Mutter und Gejchwiiter, jowie aud) feinen wadern Lehrer,
den berühmten Whifologen Johannes Aloys Martyni:aguna
aufzufuchen, Fönnt Ahr Euch, geliebte Aeltern, wohl denfen. Zu
meiner großen freude ward mein Wunjc erfüllt, denn ih traf
unferes geliebten Vergs alte würdige Mutter in ihrem Heinen,
aber reinlihen und friedlichen Quartier gefund und wohl, nicht in
fo großer Armuth, die unfer treffliher Berg fih mit ihrem Leben
verbunden denkt. Ic) fand bei diefen redlihen Leuten vielmehr
eine gewilfe Art von Reichtum, die es eben nicht erlaubt üppig
zu leben, wohl aber anjtändig und ohne Mangel zu leiden. —
Von Laguna, der an Berg mit der Herzlichiten Liebe dentt, wird
unjer geliebter Gotteomann mm mohl jchon einen Brief erhalten
daben, — wenigjtens zeigte mir Yagıma einen jehr langen,
den er an in angefangen Hat und den er vedht bald abzufchiden
veripradh, als id) ihm erzählte wie jehr fh Berg nad) Nachrichten
von ihm jehnte: „Ja, ich werde und muß ihm jchreiben, denn
Aus W. v. Ditmar’s Neifchriefen. 389
- Thon liegen zwei Briefe von ihm unbeantwortet hier. — Ich
verdanfe ihm unendlich viel; denn nur er hat mich unterftüßt,
als ich in der jdhredlichiten Armuth lebte und beinahe nur ihm
habe id) mein Leben zu verdanfen.” Die war Kagunas Antwort,
— Soll id Euch, geliebte Neltern, nun mod fagen, wie mir
diefer Gelehrte eridienen ift und wie ich von ihm geichieden bin,
fo werden folgende wenige Worte hinreiden, um ud; mein
jebiges Verhältnih zu ihm ar zu machen. Exichienen ift er mir
als ein veblicher, waderer Mann von dem ungeheueriten Geijte;
denn jeder Gebanfe war höcjt bedentungsvoll, war Blig und
Schlag; — jein Gefühl mu außerordentliche Tiefe haben; id)
bin davon auf eine fehr erfreuliche Art überzengt worden. Nur
wenige meiner Yeußerungen zogen mir feine wahre Freundfhaft
zu; er jelbft hat cs mir gejagt und falich ift Yagına nicht, was
Ihr aud) von Berg werdet erfahren fönnen. Er bdrüdte mir
Togar einmal mit Innigfeit die Hand und jagte: „Von biejent
Augenblide an“ (ic) hatte nämlid) eben etwas geäußert, bas id)
dem Papiere nicht anvertrauen mag) „find Sie mein wahrer
Freund, im eigentlichften und ur wahren Sinne des Wortes.
Wollen Sie in Heidelberg mein angenehmer (der Ausdruc
fiel mir ein wenig auf) Gorreipondent jenn, jo werden Zie mid)
dadurch ganz gewiß jehr erfreuen und ich veriprede Ihnen
pünftlih zu antworten.“ — Bald darauf eilte ich wieder zur
Pojt, weil die Zeit jchon verftrichen war, die id) wegbleiben durfte.
— Echt, meine Neltern, jo gebt cs mir in der Welt. Begegnete
mir nicht auch jo mande Widermärtigfeit in meiner Wanderung
durd) das mängefvolle Pilgerthal des Lebens, jo würde mid) mein
günftiges Gejdhie übermüthig machen.
Von Zwidau fuhr ich über Plauen nad Hof, die erite Stadt im
Königreich Baiern, wo id) denn auch zu meiner größten Freude die
icheußfichen Sächfühen Poftwwagen verlieh und dagegen einen treff:
lichen Baierjhen bejtieg, neben dem in der Nacht ein Eoldat von
der Gensdarmerie als Bededung reitet. Die Gegenden, durch die ich
von jegt an fam, glicen einem höchft romantif—hen, unaufhörfichen
Garten, in dem alles duftete und blühte und in dem Städte und
Dörfer in ungezähfter Menge lagen. — Die gröhte Stadt, in
die wir zunädjit von Zwidau famen, war Vaireuth, wo id) einen
us W. d. Ditmar’s Neiichriefen.
. Mob blieb, Unvergehlid bleibt mir diefer
ibm
1q, den
Tag, bean er hat mir viel acnemmen, aber ich verdai
f bat er mir eine Schnjucht,
& aber ich verdanfe ihm eine
jer Toeil der gebiideten
iblid) viel. Oenoam
nes Annere durchafü
1, ma Die nich gewiß ein are
Ab oil Euch den an, den ich Fennen lernte,
To qui co acht, beihreiben, dann Jucht, geliebte Neltern, den
Kamen felbit zu erraten. Ju ibm geführt wınde ih von einer
or Heinen, alterlisbiien Tochter. Unser Weg führte uns durch
bis fing Zimmer, die ein wenig öde ausfah in dem
en Fish hogar ein von Weinbonteillen;
ben waren eben aogepadt, andere Ion anogeleert
md no andere aar zerihlagen. us Diefem Jinmer führte
eidet.
verlegten bei
einige derfeil
Heine Benleiterin in eine enge Stube, in der um
1 2 Binberbretter Banden, amd de glei beim Cintritt
„Raten, ea Arender. Gteid Darauf hat der Vater
dinter den Witt tin einem, von gelblichenn
db neh
den Ti
in dielel
breiteren hervor, yetlch
Yo gemachten Uebsero.d, an dem der Jahn der Zeit unten viele
© oengenagt hatte; der Salo der langen, Ttaltlihen Gefalt
war eatbloit, das vötblih-branne Haar zuräcgeitrigen, die Ztin
i arofie Dane geiftwolle Augen,
heit des Verjtandes in dem
bach, Fart gewölot; unter derieiben zur
tiefes Gefühl und Nta
ofiche gewahrt wird; die Nafe it ehwa
rund anmuihsvoil kbon gejtaltet. Auf dem ganjen
Gefihte ruhte, einem Worte ju Tagen, Die hödte
Genielität und zugleich die böchfie Outmüthigteit. Diele Geftalt
nun mabte fa air, mit ihrem Äbwanienden Gange, schnell,
verbuiute | pflaa von mir den Brief, den
ic) von Wolte ihr abzugeben hatte. Olleih daranf entfernte fich
der Diaan von meiner Zeite und ging ihweigend in der Stube
Der; id nahm meinen Sit und wollte nid ibm
5 er zumir rat amd jagte: „Weiben Zie dod)
und d iebte ihenve eltern und Gejchwift
Worte, Die ich in meinen ganzen Leben aus
in denen ıı
eriien Auge eingebogen
md tar:
gegen ih und
Dich Find dic erjen
de d09
tbegreifbaren Jean Pant gehört habe. dh
blieb und nun ward das Weipräch Tehr lebhaft, beionders drehte
Horn; aber taufend hohl intereflante
es Jh un Wolte und Srany
Aus WB v. Titmar’s Neifebriefen. 391
und merkwürdige Dinge fammen nebenbei vor, wie wir das jchen
von Jean Paul gewohnt find. Ciniges über unter Geipräd)
erhaltet ihr ausführtich detailliet in meinen Neifebemertungen;
hier würde «5 zu vielen Naum einnehmen. Dana überihide ich
Euch) auch das Handbriefhen, das er in mein Stammbuch ein
geihrieben hat. - Unfer Geipräh war fo intereflant, dal zwei
ganze Stunden vergangen waren, als id zum eriten Male nad)
meiner Uhr ja. Nm wollte ich fort und entichutdigte mich bei
dem überaus liebenswürdigen Jean Paul, ihn jo lange aufgehalten
zu haben. Diefer Entichuldigung babe ich folgende für mich gewin
jehe genugißuende Worte zu verdanfen. Hier Leit fie bucjtäblic)
jo, wie er fie ze min iprach: „Dah Zie fange Zeit bier geweien
find, weil; ich nicht; — dal mir die Zeit aber jehr Fury vor
gekommen ift, weil ich. Ich mu eo Ahnen geradezu jagen, dal;
unter den vielen Beuchen, die ich erhalte, lange feiner mir jo
beventend gemeien it, als der Abrige, und ic bitte Sie recht
jehr (mobei er mir hevzich Die Hand Prüdte), dal Zie, wenn
Sie wieder nadı Baireuty fonmnen, ganz bei mir wohnen, wenn
ic) Shnen anders jegt (eb geworden bin und gefallen habe.“
Drauf ging ih hoch erfreut fort, von Nichter noch durd einen
frummen, jchiefen Gang begleitet, in dem er mir nach folgende
fpahbafte Worte jagte: „Zehen Sie einmal, it der Eingang zu
mir nicht ebenfo, wie der zu meinen Nomanen“, und hierauf vier
er mir mod) ein vecht freundliches Yebewohl nad. —- Was mir
Jean Paul jonjt mod gelagt bat, z.B. über jeinen Namen, von
den Schriften, die er jebt gerade jhreibt u. |. m, das erfahrt
Ihr alles fpäter, zum Theil jhon Ciniges aus meinem Briefe an
Verg, den ich jest angefangen abe. + Nur das will id Euch
bier noch melden, dab ich von Jean Pants Tochter Bernd)
im Wirthshawie erhalten babe. Zie brachte mir mämtich mein
Ztammbuc von ihrem Later.
Von Bairenth ging ich nach Bamberg, wo ih 2 ©
blieb und in Dielen wich auf der Yeciie, die in Barern die
Dante genannt wird, ner zankte md endlich von bier, mit
einem Heinen Umwege, über Nigingen nach Würgburg, to ich
anderthalb mir unvergehliche Tage mit meinem alten biederen
vortreiflichen Baer und Bander verlebte. Von diefer Stadt fun
in
ven
392 Aus W. v. Ditmar’s Neijebriefen.
ich Euch nichts jagen, als da jie eine jehr veizende Lage bat.
Der Main teilt fie in zwei ungleiche Hälften und bejpült ein
ichönes jruchtbares Thal mit feinen Weinpflanzungen und Objt:
gärten. Bemerfenswerth ift die Ausficht nad) der hart am Viain
auf einem hohen Berge gelegenen Gitadelle und auf der andern
Seite nad) dem Füniglihen Schloiie, das zu den jchönften gehört,
die ich bis jeyt geiehen habe. -— Doc Städte und Gegenden
mag id) Gud) nicht bejchreiben, weil die Schilderung dod) weit
hinter der Natur zurücbleibt und für den, der fie lejen muß,
doc) immer wenigen Neiz hat. Wündlich werde id Cud) alles
das einjt lebendiger vor die Seele zaubern können. — Nod
weniger jage id) Eud) aber etwas über den Genuß, den id in
der Gejellichaft meiner Freunde Baer ımd Pander gehabt habe;
denn des Freundes Bid und des Freundes Wort faht der
Freund mur einzig und allein mit dem Gefühle auf, nicht aber
mit den Gedanken, und daher fann und mag id Gud) aud) nicht
einzelne Broden von meinen Gefühlen vortragen, ohne empfindelnd
zu eriheinen. Nichts fchene ich aber mehr, als den Echein der
Empfindelei. —- Aljo aud) in Würzburg bin id) glüdlid geweien;
— das ift nun einmal das alte Einerlei, das Ihr immer wieder
hören müht. Von Würzburg reilte ih in Gejellihaft eines
fatholiichen Paters, eines Dr. Lampredt, eines Advofaten Halen
und eines Dr. Wenneis nad) Heidelberg ab. Mit jedem
zurücgelegten Schritt ward die Gegend immer —höner; aber in
ihrer höchjten Anmuth entfaltete fie fi etwa eine Meile von
Heidelberg im Nedargemünd, wo wir in das himmliice Nedarthal
famen. Der von hohen Vergen, die mit echten Kaftanien, Eichen,
Vuchen und anderen Yänmen bewachlen waren, eingefdhloifene
Weg lief bis Heidelberg immer am Nedar Hin und durd) dieje
veigenden Umgebungen gelangten wir denn am 11. Main. St.
in dem jehönen Heidelberg an, das ich Euch nicht weiter beichreibe,
jondern Euch nur auf Löwio (grüßt ihn herzlich) treue Beichreibung
dejjelben verweije. Nur dns weiß ic, dal; der Gottesleugner
hierher fommen muß, um gläubig zu werden; denn wer einmal
auf dem Nönigsjtuhle, dem bödjjten Berge bei Heidelberg, jtcht
und von dort das jchöne zertrümmerte Schloh auf einem hohen
Berge, dennod zu feinen Zühen erblidt, und ned) tiefer die
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 393
Stadt jelbjt; zur Linfen in der Tiefe das Nedarthal, zur Nechten
eine weite Ebene, die dev Nedar und der am Flujfe der Vogefen,
aus denen der Donnerberg fein Haupt Hoc in die Luft ftredt,
binftrömende Nhein durdfregen, gewahr wird, der muß einen
Gott ahnden, wenn er nicht anders ganz unempfänglid) ift für
das Große in der Natur. Und wer nicht an Unjterblichfeit glaubt,
den verweile id) auf das Heidelberger Schlofi. Hier Überzeuge
fid) der Unglänbige, dab aus dem Tode das Leben hervorgeht,
indem er finnend ven lebenden Ephen betrachtet, der aus den
todten Mauern hervorwächit und fie mit jeinem Grün befleidet.
— Ja, id verfichere Euch, geliebte Aeltern, dal; Heidelberg in
jeder Nücficht auf mich einen fcönen, erhebenden Eindruck gemad)t
hat. — — Bon Yandsleuten habe ich hier folgende angetroffen:
Rapp, Baur II, Straus, Schmölling, Feuerabend, Nemmert,
BVienenjtamm, Gerziwshy, Martens, Node, Niefemann, Bachmann,
Rod), Kolb, Nnüpffer und Volle. Wir alle zuiammen haben uns
in einem Gajthofe, der n genannt, ein Zimmer gemietet, in
dem wir uns zum Vittag und Abend verfammeln und gröften
Theils die Effengzeit froh verfeben. Abends werden gewöhnlich,
naddem man während deo Tages fleifig jtudirt hat, eine
Lujtparticen gemacht, — leider ift eo hier nur jehr teuer, beinahe
noc) ärger als in Baı eberhaupt find co goldene Träume,
wenn man glaubt, dah man in Deutjchland beinahe alles umfonjt
hat. Ich verfichere Cud, co it nirgends beiler, als in unjerm
Livland, darüber bin ich mit allen meinen Yandsleuten ei
verftanden. Bei uns findet man doch mod Nedlichfeit, -— hier
wird aber unter dem Scheine altdeutjcher Treue mit der Redlichfeit
gehandelt. — Bis jegt Habe ih nur einen Vlann getroffen, an
dem ic) das gefunden habe, was ich im edlern Sinne des Wortes
Altdeutfch nenne und diefer Mann iit der berühmte Jurift Thibaut
hier in Heidelberg. Durd) die Verwendung unferes geliebten Garl,
id) meine Nyber, bin id) in feinem Haufe befannt geworden.
Gleich, als id das erite Mal hinging, muhte id) veripreden nad)
an demjelben Tage zum Abendeiien wieberzufommen und als ich
nad dem Ejjen wegging, muhte ich verjprecden, mid als ein
Mitglied der Thibauticen Familie anzujehen und drauf baten fie
nich, fie jo oft zu befuchen, als ich nur immer Luft hätte. Ueber
dieje liebenswürdiaen Vienihen in meinem nächiten Briefe mehr,
304 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
Seivelberg, den 13. Ali ISI6 a. St.
Was mein hiefiges Leben betrifft, To Fann id Euch) von
demfelben nur jagen, dah es Fehr einfach it. Ach lebe hier
gröftentheils nur meiner wiienihaftlihen Ausbildung, Ttelle im
Freien Vetrahtungen über die Menfhen an md lege mir
Necenichaft ab über mein eigenes Dandeln. Umgang babe ich
hier im Ganzen nur jehr wenig; fetten beiuche ich einmal den
würdigen Tpibaut und den tiebenswirdigen Greis Lo, an den
mich die Himmliiche Elia empfohlen bat. Yen beiden Wiännern,
fowie auch von dem Philologen Greuzer, werde ich mit großer
Herzlichteit aufgenommen; feider geitatten € mir aber die vielfachen
Arbeiten nicht, den Umgang Ddiefer Viedermänner fo häufig
genießen zu fönnen, als id) es wohl wünihte. Zu dem Theologen
Panlıs gebe ich wur fer fetten; deito öfter aber zu dem lieben
Wagemann, den Nr, geliebte Aeltern, aus Yivland fennt, und
zu meinem gewefenen theuren Lehrer, dem Wrofeifer Neumann
aus Dorpat, der Füh bier jeiner Sefmdheit wegen nur nod fu
Zeit aufhält. Die beiden zulett aenannten Männer beindhen
and mich recht oft. Die nenefte Bolanntiaft, Die id gemacht
habe, it die mit dem Doctor Witte denn älteren, an den Nr
Euch gewii gleich erinnern werdet, wenn ich End erzähle, dat
er der Vater des Mnaben it, der in feinem 13 hie Toctor
der Phitofopbie wurde und von dem man fo viel Oefchrei in den
Zeitungen machte. Der Zohn, ein recht Fieber junger Pienich,
{Dirt hier in Heidelberg die Nechte und promovirt nad) in dielem
Zemeiter als Doctor juni Er it jest 16 Jahre alt. Ich
werde ihm, auf feinen Wunfch und die Witte des Waters, wohl
opponiven; weshalb ich mic jegt feilig im Yateinifch-Iprechen
übe und mit ihm täglich eine Stunde über das Griminalredht
disputive, worin ihm fein anderer opponiven will. Meine
Veranutfhaft mit dem jungen Witte it wirklich auf eine ganz
mertwärdige Art entitanden. Er bhette namlich meinen Namen
von einer Prönumerationslite ausgeitrichen. Id ertundigte mid)
nach dem Thäter, und fiche da, nad) wenigen Stunden evichien
der junge Witte und bat taufend Mal um Verzeibung, meinen
Namen ausaeftricben zu haben. „IH babe es aetban, fügte er,
weil viele ji darüber Kufiig machen, dab; ich mich fchreibe, wie
Aus RW. v. Ditmar’s Neifebriefen.
ich mid) jchreibe ver chreibt jich Dr), und da alanbte ich denn,
dal auch Zie eo getban hätten.” „Nun, da hätten Zie fi dod)
erfundigen Fünnen, od bier wirtlic cin Dilmar it, dem der
Titel Dr. zubommt,“ war meine Antwort. „Aber co il gut,
dak Sie 05 mir jelbft gelaat haben; bie Zace möge vergeifen
jeyn. Nur mu ich es Ahnen offen Tagen, dah ich mich über
Ihre Intoleranz fer wundere, feinen andern Doctor neben ich
zu leiden.“ &o floh unfer Gefpräd. Witte beitwebte fd) aber
jtets, feinen Fehler micder ganz gut zu machen und bradjte «6
durch feine Snvortommenheit genen mich fo weit, dal ich ihm
eintd, mich zu beiuchen. Gr thats md mm bin ich im
eigentlichtten Zinne des Wortes fein trenefler Nathgeber, von
dem er die härtenten Urteile dankbar aufnimmt. Seinen Neltern
hat cr jo viel Guten von mir erzählt, daR er den Later
wahricheintich veranlaht hat, mir folgenden Zettel zu Ichreiben:
„Da Zie viel Sewogenpeit für meinen Sohn haben, jo wünscht
meine Gattin mit nie das Vergnügen Ihrer näheren Befanntihaft.
Haben Sie daher die Güte, heute Nachmittag um 2 Uhr eine
Tajie Kaffee mit ums zu triuten“ 2 ch ging bin umd num
muhte ich viel von meiner Anfict mittheilen, wie der Sohn
fernerhin auoubilden jey. Meine Matbiehläge jund alle an
genommen, jetbft der, den Zahn nad etwa 112 Jahren nad)
Huhland zu fehlen. Der Junge mul aus Deutihland weg, cr
mul bier vergeiien werden; denn jonjt wird er die Erwartungen
nicht erfüllen, die man fi von ihm macht; obgleich ich glaube,
da er einit viel fehlten wird, weil er thatig it und viel, \chr
viel Talent bat“. )
9 Anier Wo. Tümars binterlaftenen Papieren füder fit) eine cine
Zammlung von Zonetten, Darm erhss Mau Die Anfiariie wg: „Me
Areude Dr. Woldunae von Tier von Carl Wine“ Tas als Wiomung
am der Zoiin
der Zaramlany ichenne Grit „un Ditmar“ huncı
Behreht im nmoerhohlenem ar
& hillgen en
&o hab’ ich Kinyit in
Denn Kiget schon duniont Tu
Uno wait wie ws im Yisde gan werte
Dinafi jarigewobnes Band,
nd erkannt,
ir den Ar
cin Amtes Ihauen.
Zo üit der Arcand dem Yiede and wor
ir wandten gern mit beiden Kane in Hand
Turch dies xedans wegylelvotte Aucn.
396 Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen.
Veidelberg, den 6;
Muquit 1810 a.
(Der erfte Theil diefes Vriefes beichäftigt Fich mit der Thatjache der
Verlobung des Freundes Schwark mit der Schweiter Annette, welcher Ditmar
freubigit zuftimmt. Dann fährt er unter anderem Datum fort:)
Erft jegt, am 16. Auguit a. St, wird e6 mir, geliebte
eltern und Gefchwifter, wieder möglid, den am 6. a. Et.
angefangenen Brief fortzufegen. Ih habe in diefen 10 Tagen
jo viele Zerftreungen gehabt, — die durd) die Anweienheit der
liebenswürdigen Dorothea, Herzogin von Curland, herbeigeführt
wurden. Die edle Clifa hatte mic jchon von der Ankunft diefer
wahrhaft vortrefflichen Fürjtin durd einen Brief von ihrer Neife
durch Heidelberg benachrichtigt und mich dringendjt gebeten, diefe
geliebte Schweiter von ihr während des Mugufts hier abzuwarten,
um, wie fie mir fchreibt, „eine Vefanntichaft zu machen, bie
meinem Herzen wohl thun wird.“ — Wufridtig muß id) Euch
geftehen, dab ih nur diefes Mal den Worten der herjvollen
geliebten, Himmliicen Elifa nicht traute; denn bei einer Fürflin
fuchte ich feine jo edle Seele und fein jo zartes Gemüth, als
die Herzogin, nach Glifens liebem Briefe zu urtheilen, haben
follte.- Alles Gute und Lobenswerthe, was Elija von ihr jdrieb,
maaß id) der jdhweiterliden Liebe bei. Aber wie jehr freute ich
mich, als ih am 7. Muguit a die Herzogin fennen lernte
und fand, daf es einer Schweiter möglid) geweien war, von der
Schweiter ohne Parteilicheit zu fchreiben; denn id) befenne es
Eud) nad der jtrengjten Wahrheit, daß ich nicht leicht ein
bumaneres, ein fiebenswürdigeres, ein welterfahreneres und ädt
menfhenfveundlicheres Wejen fennen lernen werde, als die
erhabene Dorothea von Curland es it. Zürmahr, Ihr könnt es
Damit fidy mun die beiden Führer Fennen,
So nimm den aufpruchstofen Liederfrany,
Wenn mich von Dir des Lebens Stürme trennen.
© mödhtejt Du am ihnen freude finden;
Dann wird, auch in der fernen Wogen Tanz,
Die Trennung von Eu cd) beiden mir emtjdwinden.
Man erficht aus die erfprechlich, wie wert. dem fon
früh berühmten Carl 2 (dat W. 0. Timars war. — Die
Sammlung enthält zwei Sonette an die frtiniiche Madonna, ferner „Borgefühl
Jtaliens“, „Sonnenuntergang“ u. a. 11.
Aus W. v. Ditmar’s Reijebriefen. 397
mir glauben, ic) bin nid)t durch Ihre äuferft gütige Behandlung
gegen mich beiten, — cher dadurd, dab ich wußte, daß
Dorothea Elifas zärtlichit geliebte Schweiter it. — Gleich) nahdem
die Herzogin hier angefommen war, überidictte fie mir einen
Brief von Elifa, nebjt den neuen Gedichten diefer Sängerin Gottes
und der Uniterblichteit. Schon die eriten Zeilen diefes langen
DVriefes, der vom Anfang Dis zum Ende mit recht eigentlich
mütterficher Liebe niedergeichrieben worden ilt, rührte mid) ganz
unendlich; denn er bradte mir die Nacıricht von Eliias
ichmerzhafterm Förperlichen Zuftande, der nur dadurch gemildert
werde, dal; fie fih) mit dem theuren, innigjt geliebten Sohn ihres
Herzens — wie fie mir jchreibt — unterhalte. — — Sagt,
geliebte eltern, jagt, wodurd habe ich diefe Liebe der vor-
trefflihen Clifa verdient! Nur mit IThränen des allertiefften
Danfgefühlo fann id) Gott dafür danken; denn id) erkenne es
far und immer Flarer, daß mir ein folk hohes Glüd nur zu
Theil wird durd den Seegen meiner eltern. — — „Mit
Herzlichfeit werden Sie, mein geliebter Sohn, von meiner Schweiter
umd meiner Jugendfreundin Piattoly, die jet in Heidelberg bleibt,
empfangen werden, wenn Sie fie befuden“ —- heißt es in Elifas
Briefe weiter. — Und jo mars, denn als ich gleich nad) der
Ankunft der edlen Dorotjen am 7. Augujt a. St. zu ihr ging,
waren die erften Worte der trefflihen Herzogin, die fie zu mir
fprad), Herzlich und Vertrauen einflöhend. So ofngefähr lauteten
fie: „Es freut mich jehr, mein lieber Ditmar, Ihre Belanntichaft
zu machen; meine Schweiter hat mir fo fehr viel Gutes von
Ihnen gelagt, dah ich mich wahrhaft nach Ihrem Umgange,
wenngleich er auch mur Kurze Zeit dauern fann, geiehnt habe.
Id) bleibe 3 Tage Hier und lade Sie für jeden Mittag und
jeden Abend zu mir ein. Aber geniren mühjen Sie fi durchaus
garnicht; denn jo wie Sie, jo nenne aud) id) meine Schweiter
Mama und ich bin aljo gleichham Ihre Schweiter.” — Id) bedanfte
mid) jehr für diefe Gnade, ein Wort, das die Derzogin nicht
bejonders gut aufnahm, denn jie jagte mir: „Das Wort Gnade
dürfen Sie garnicht brauchen; für hren Character, wie ihn mir
meine Schweiter geidilvert hat, paht fi ein foldes Wort
durdjaus nicht." - Wer war froher alo ich; aller Gomplimente
398 Aus W. v. Ditmar’s Reifebriefen.
ih denn 3 gemmfreiche, mir
ft Dieier fiebensmrdinen
mırde ich überhoben und To verfe
unvergehlihe Tage in der Ge
Fürftin, führte fie am Wen auf den
mit ihr, in ihren, mit berjonlicen Anfignien geyierten Wanen,
und, was mich am meilten freute, ic feierte meinen Geburtstag
bei der geliebten Schweiter der von mir geliebten Elifa. Zpäter
noch im reife meiner Yandolente und einiger biefigen Arennde,
won denen Ahr and noch Ciniges in diefem Briefe hören fotit.
Sie aaben mir eine verht che Gejel fi, die mich che
überrafcht und erfreut hat Am 10. Nuguit verlieh die
edle Herzogin Heidelberg, — ihr hiefiger Aufenthalt hat meinem
Yeben aber eine ganz andere Nichtung gegeben; Denn dur fie
bin ih in vielen guten Hünfern, und Durch diele wieder in
andern befannt gemorden, namentlich bei der intereilanten Ara
von Ende und Elijens Jugenpfremdin, der Seheimrätbin Biattoly,
von der id) wie bei dev Nele aufgenommen werde. hrehvegen
schließe ich denn auch für heute Diefen Brief, denn fie hat mic
joeben zu fi bitten lavieı. Eine huge Eharafteriftit von ihr
erhaltet hr, wenn ich fie ct aenamer als jest fennen gelernt
haben werde. xür fie ipricht beinders das, dah Elfe und die
Herzogin fie jeit 30 Jahren mit jeden Jahre immer mehr lieben
und hocachten müfen.
Kachdem ich num den geftrigen Abend fo intereffant zugebradt
babe, als fange teinen, Tepe ich, geliebte Aeltern, heute meinen
usiergängen umber, fuhr
id
Brief an Euch wieder fort. Tie Fiattoly Wr cin vortreifliches
ejen, fein wie eine Hofoame, aber arade und aufrichtig.
Sie erzählte mir jehr viel Merhoürdiges von der Herzogin,
wodurch ich dieje höchft edle Aürftin immer mehr babe hodidhäten,
ja, ich fann wohl fangen, vereheen fernen. Auch theitte fie mir
einen Brief von Elifa ud Tiedge mit, den fie an dem gejtrigen
Tage erhalten hatte und in dem ich wieder jchr aebsten werde,
diefen Winter bei Ctija auf dem Yandaute der SHerzogin von
Curland, Yöbihan genannt, zuzubringen. Yeiver erlaubt eo mir
aber mein Studienplan nicht, Dieje gütige liebevolle Einladung
anzunehmen, -—- wie glüdlib würde ih mich bei meiner Manın
fühlen! No mh ich Euch, che ich meinen Abjenitt über
Elija und die Harzogin Ichliehe, eine Stelle aus dem vorlegten
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 399
Briefe der eriteren an mich heriesen, die politifches Intereffe hat.
Sie heißt wörtlich fo: „Peine Schweiter, die einen Iharfen Blit
hat, machte uns mit der gegenwärtigen Volfoftinmmung in Frankreich
(die Herzogin wohnt in Pario) bekannter, alo die Zeitungen es
vermögen, und die Unfichten, welche diefe treiflihe rau mir und
Tiedge gab, nähren in uns bie Hoffnung, dah troß der in
ronfreich berrfchenden Partbeien, die Edferen dort dad e
Gonftitntion bewirken werden, die Voltoglüc begründet, und wi
uns, wenn England nicht Nriege anf dem jeiten Yande anzettelt,
um dich bie Derrichaft über die Meere feine Macht inmmer mehr
zu vergrößern, wir uno eines fangen Friedens zu erfreuen haben
werden.” Dieje Yenberung einer Stau, die in fo großen
Gonnectionen in Aranfreich jetbft Lebt, die die Schwiegermutter
Tatteyrands it, it wirklich ich erfreufich und füft wenigitens
bei mir große Hoffnungen jür die Jufunft in Anfehung des
allgemeinen Volfsgtüds aufteimen. Belonders wenn ich nad)
das berüchichtige, was mir die Herzogin Felbft hier in Veidelberg
sagte. Sie verfiberte nämlich, dah, wenn Napoleon je wieder
nach frantreich fäme, 09 ibm geben würde, wie Murat in alten.
Denn nad der Schlacht von BeBe allianee fen der Enthuliasmus,
den man für ihn gehabt habe, durdano ganz aelhmwunden,
weil man es deutlich gejehen habe, daß er gegen das Ende der
Schlacht nur noch immer Truppen in Ddiejelbe geichidt habe, um
bloß feine Perion zu reiten. Diefe niedrige Sandlungsweiie hat
das Volf jo jehr gegen ibn erbittert, dal man in ganz Paris
gleich nah der Schlacht überall Anichläge mit der Anichrift
gefunden hat: „Art mit dem Torannen!* — ur Strafe für
diefe Neuerungen bat ev Paris wollen anzünden laffen; aber co
hat ihm an Zeit gebvohen, Diefen lan auszuführen. Ja wahrlich,
ich glaube, dal die Sonne nicht leicht eine jcheußlichere Greatur
bejcienen Hat, als dielen Napoleon!
Sollte ib End mm nor) mando von intereffanten
Vefanntichaften ichreiben, die ich bier gemacht habe, jo würde
ich diefes Mal meinen Brief garnicht Ächliehen fonnen. Denn
außer den vielen Abendbeinben, die ich bejonders bei Vol,
Thibant, Zahariae, Ara v. Ende und einigen andern zu madıen
babe, bin ic jebt noch befamut geworden bei der Hafräthin
400
. dv. Ditmar’s Neifebriefen.
Dapping, der Hofräthin Zedel, der elegiic-Flagenden Dichterin
Elife Sommer — md bei dem alten höchit verchrungswürdigen
Hofrathd Arndt, nicht dem berühmten, fondern dem gewelenen
geheimen Gabinettojeeretüren der Naiferin Catharina, der Dir,
lieber Vater, wenigitens als der Weberjeger der Adels: und
Stadtordnung befannt jeyn wird. Er ijt ein hödjit lebens:
würdiger Greis von einigen 80 Nahren. — Bei der Elife Sommer,
die auch mehrere höchjit geiitreidhe Ninder hat, Habe id) geitern
einen fehr genufreihen Abend verlebt in einer fleinen aus:
erwählten GSefellichaft. VBejonders freute ich mich, mit dem vors
trefffichen Niecenrath Schwarz näher befannt zu werden, den
Eud) Heine. Bergmann, der nun wohl in Yivland fen wird,
ichitdern mag. Aud) bei diefem biedern Geis, jowie auch bei
dem hier angebeteten Prediger Abegg bin ich im Haufe befannt.
- Ih fagte Euch, dafs ich geitern bei der Elife Sommer geweien
bin, — das ift ganz wahr, denn wir jchreiben heute jhon den
18. Augujt a. St. Oft gebt es mir fo, dab ic aus Gonfujion
das Datum zu fchreiben verfäume; denn ich bin mit Geichäften
überhäuft und fajt jeden Abend — eingeladen. So Habe ich zu
Heute Abend hen zwei Cinfadumgen erhalten, die eine zum
Prof. Wagemann und die andere zu Tibaut, -- die dritte in
eine fleine Gefellfchaft zu einem meiner hiefigen Freunde, einem
gewiffen Franz Burchard Fauth. Diefer Zanth, fowie auch noch
ein gewiffer Stud. Abegg, der Bruderjohn des hiefigen Predigers,
tragen nächjt meinen Yandoleuten Vienenjtanım, Schmölling und
Straus ganz ungemein viel zur Verfchönerung meines Lebens bei.
Alle lieben mich jehr und ich muß fie wieder fieben, denn eo find
le Jungen. Gang befonders hat mir aber der fiebe brave
Fautd din eine höchft edle Handlung gegen Hartung — und
dincd) feine Liebe zu mir mein Herz geranbt, — dafür ichenkt er
mir aber auch das feinige ganz wieder. Er ijt ein Schwärmer
in feiner Yiebe zu mir. Cs geht jo weit, dah er mid) neulich
fchriftlich bat, ich möchte eo ihm doch erlauben, dal; er fich Fauth,
genannt Ditmar, schreiben dürfte und dah ich ihn als meinen
Sohn adoptiven möchte, weil er dad) feine Aeltern habe und
feinen jo innig lieben fönne, alo mid, Er will durdans mit
mir nad) Hufland und nennt mich jegt immer „alter Vater
Aus W. v. Ditmar’s Neifebriefen. 401
Ditmar.* -— Ich werde Euch fein Bild fhiden. Cr bejucht mid)
täglich, und wenn auch nur auf einen Agenbli, ud in dielem
hut ex oft nicht mehr, als mir einen guten Morgen zu bieten
und mir herzlich auf die Schulter zu fchlagen. Cs üit ein engel»
reiner, vortrefilicher Menfch. Grühet ihn und alle meine andern
genannten Freunde, mamentlid; in Eurem näcjten Briefe an
mich. Auch wünfchte id) es iehr, af Tu, geliebter Vater, und
Dur, there Vutter, einige freundliche Zeilen an Elia und Ticdge,
in einem Briefe zufammen, fdheftet, in dem Ahr ihr für die
Mutterlicbe, die fie mir — auch jegt abweiend erweilt, banft.
a
Herbitfäden.
Das Herz fo fcnwer und bie Yruft jo weit,
&o fern das Glüc und To nah das
Und ver Schnfuiht troittoie Aragen
Die Verge blanen {ws Yand hinein,
Kühl weht der Wind und ich gehe allein
Und lanjche den Heimlichen Aogen.
Die zeirtofe blüht am Wiclenhang,
Der Sommer verglädt, -- die Strafe entlang
Viel filberne Füden wandern.
Vom Yaume Löjt fh cin müs Blatt,
€s fintt zur Erde herab jo malt,
nd Iegt fich fill zu den andern.
&o Har der Vi und das Glüd jo weit,
Meiner Jugend Traun, meines Lebens Leid
Verdämmern in blanender Ferne.
Auf die Lorten braun fiel herbtlicher Neif,
Es biinfen durch filberner Aäden Streif
Dos Alters erblafjende Sterne.
Kitteräriihe Streilihter.
Ton der trefflichen Bibliothek deuticher Geidhichte liegt uns
ein neuer Band vor, dev zweite Theil von Mori; Nitters
deuticher Geihichte im Zeitalter ber Gegen:
veformation und des dreißigjährigen Nrieges,*)
welcher die Periode von 1586 bis 1618 umf 66 ift einer
verworrenften md amerguiclichften Abfchnitte deuticher
Vergangenheit, welchen Nitters Daritellung uns bier vorführt,
und 5 gehört eine nicht geringe Vertrautheit mit dem Stoffe
dag, am Licht amd Zufammenhang in dieies Chaos fich
befämpfender Beftrebungen, geheimer Intriguen, politiicher Kämpfe
und Firchlicher Gegenfäge zu bringen. M. Nitter, einem der
genauejten Nenner diefer , it das in hohem Mahe
gelungen, er hat den jpröden Stoff völlig durchgearbeitet und
überfichtlich aruppirt, und giebt uno in lebendiger Darftellung ein
anichanfiches Bild der Ereignifie und Kämpfe jener Zeit. Aber
auch für den Silteriter von ach bietet diefer Band mandje
Ergänzungen und Vereicherungen der bioherigen Nenntnif, denn
der Verfafer hat nicht nur die gedrudte Yiteratur benugt, jondern
au zahlreiches archivaliiches Vinterial verwertget. Wir Heutigen,
die wir den weiteren Gang der Dinge fennen, haben beim Leien
diejes Buches immer wieder das Gefühl einer dumpfen Echwüle,
eines Herannahenden furchtbaren Unbeilo, «6 ift uns immer
uttgart, Verlag der I. ©. Cottafchen Buchhandhu
a Nachfolger. GM.
Lilteräriiche Streiflichter. 403
wieder fo, als empfänden wir die unaufhaltiam näher rücenden
en des Dreißigjährigen Mrieges jchon voraus. Die Zeit:
hatten natürlich dieies Gefühl nicht, doch fehlte es
namentlic) in den festen Jahren vor dem Ausbruch des furdtbaren
Strieges, nicht an vereinzelten Stimmen, welde das drohende
Undeil ahnten. Ein befonderes VBerdienft Nitters it es, den
engen Zufommenhang der damaligen Greigniije in Deutichland
mit den politiihen Verhältniffen Wejteuropas, inobejondere
Spaniens ımd Franfreichs, in helles Licht geftellt zu haben. In
der Beurteilung der handelnden Perjonen und Verhältniffe zeigt
fi der Verfaifer gerecht und unparteiiich, aber in farbloje
bjektivität verfällt er trogdem nicht; des Pfälzers Johann
Rafimir, des Vorfänpfers des Proteftantismus, moraliichen
Charakter beurtheift er febr ftrenge, während er des NHurfürjten
Varimilians 1. von Yaiern hervorragende Gigenichaften voll:
fommen würdigt. Cin Wufter Lichtvoller Behandlung fchrwieriger
Fragen ijt Ritters Darftellung des Nülichichen Erbfolgeitreites,
fehr befchrend die allmäbliche Entjtehung der Union und der Liga
dargelegt. lan empfängt bei der Lektüre immer wieder und
am ftärhiten, jemehr fie fih dem Schluß nähert, den nieder:
ihlagenden Eindrud von der grofjen Weberlegenheit der damaligen
fatholijchen Partei, befonders feitdem Marimilian I. von Baiern
an ihrer Spise jteht; einig, feitgefchlofien, zielbewuht dringt fie
maufhaltam vor, während der Proteitantisimus, uneinig, in Tich,
geipalten, durch die Veichränftheit und Giferfucht feiner füritliden
Führer und den Eigenfinn feiner Theologen gelähmt, es immer
wieder an dem nöthigen Wideritande fehlen läft, geidhweige denn,
daß er jeinerfeits die Tffenfive ergriffe. tters Bud), insbefondere
dieier Theil, ih in der gegenwärtigen Zeit bejonders Lehrreich für
Deutichland; umwillfürlid) drängen fih einem beim Lejen nahe
liegende Paratellen aus unferen Tagen auf. Wieder jteht die
Tatholijche Gentrumspartei dominirend da und beeinflußt die
innere Politif des Neiches und wieder ijt der Proteftantismus
firdhlic und politiich uneinig, zeripalten, voll inneren Habers,
und daher ohmmächtig. Sönnte man nicht endlich einmal ciwas
aus der Gejchhichte lernen! In einem Schlußbande will Ritter
den jährigen Nrieg behandeln. Wir fürdten, das wird
[
4304 Litteräriihe Streiflichter.
ohne den gewaltigen Stoff gar zu fehr zuiammenzudrängen, Faum
möglich jein, und hoffen, da der Verfaffer fih lieber entihlichen
werde nöthigenfallo noch zwei Bände zu liefern, um den Gegenftand
in der bioperigen trefilichen Weife zu behandeln.
Einen eigenthünichen Verfuch, den Yaien und angehenden
Kiftorifer unmittelbar in die Nenntni der Geihichtoquellen des
deutichen Mittelalters einzuführen bat Wilhelm Gundlad
in einem Werfe gemacht, das den etwas langathmigen Titel
führt: Heldenlieder der deutihen Naiferzeit aus
dem Lateiniihen überiegt, am zeitgenöffiihen
Berichten erläutert und eingeleitet durdy Weberjichten über
die Entwidelung der deutichen Seichichteicreibung im N, N.
und XI. Jahrhundert, zur Ergänzung der deutichen Yiteratur-
geihichte und zur Einführung in die Gefcichtswifienihaft. is
jet find zwei Vände *) diefes Wertes erichienen, von denen der
erfte Krotsvitdas OttoLied enthält, während der zweite den Zang
vom Zadjienfriege bringt; ein dritter, deifen Anhalt die
von Mailands Eroberung dur Kriedric Varbarojja bilde
jtcht nad) aus. Gundlach gebt von der ganz richtigen Voraus
jegung aus, daß nichts jo ummittelbar und jo lebendig in die
Anfhamıngen und die geiltige Almoiphäre vergangener geiten
einführt als die Berichte der Zeitgenofien. Am find ja allerdingo
von allen bedentenderen Gejchichtsichreibern des deutichen Wittel:
alters Ueberjegungen vorbanden, aber fie jümmtlic der Neibe
nach durchzulefen it für den Seihichtöfreund eine jehwere Aufgabe
und das Wichtigite über einen Zeitraum aus ihm fich zuenmen
sufuchen erfordert fchen eine Art Studium. Gundlach verfährt
num jo, dah er ein hifteriiches Gedicht aus der jüchftichen wie
der fränfiichen Naijerzeit zum Mittelpunkt madıt, co überjegt und
mit den nöthigen Erläuterungen über den Verfaffer begleitet und
dem Ganzen dann Auszüge aus anderen gleichzeitigen Geihichts
quellen vorausjcict und nachfolgen läht. Seinen Zwed „eine
literar: und fulturgeicichtlihe Ueberficht der Geichichtsquellen der
deutjchen Matlerzeit“ zu geben erreicht er auf diefe Weile wirklich
*) Zunsbrud, Lerlag der Wagnerichen Univerfitärsbuchhandtung. Band 1.
TOM, Band ILS. M. 10 Wi.
Litterärifche Stveiflichter. 405
und fein Werk ift in der That eine Einführung in das Studium
der Gejchichte nicht nur für den angehenden Hiitorifer, fondern
auch für jeden Gebitdeten. Svotsvithe, die berühmte Nonne von
GSaudersheim, war für Gundlahs Zweit eine befonders geeignete
Perjönlichkeit; er hat ihr Gedicht von den Thaten Ottos des
Großen ebenjo wie das Epos vom Zaclentriege im zweiten
Bande nicht in den Herametern des Triginals, fondern in fieben-
fühigen Jamben, die dem neuen Nibelungenverfe nabe tommen,
wiedergegeben. Ueberfegung lieit id) im Ganzen gut,
manchmat ift fie etwas Wocen, mitunter etwas |chwerfällig; doc)
darf man nicht vergejen, dal and die Originale ji durd)
Schwung und dichteriichen Flug der Phantafie durchaus nicht aus:
zeichnen. Kür den zweiten Band war die Einheit fchverer zu
finden, da darin Die Regierungen stonrads I1., Heinriche IH.
und bejonders Heinricho IV. behandelt werden, auch war hier die
Auswahl des Wejentlichen aus den Quellen zur Erläuterung
ichwieriger. Doc giebt Gundlach auch bier in der Einleitung
uud in den Erläuterungen zum Zang vom Zadhienfriege alles
zur Einführung in die Seidichtolitteratur der Zeit Erforderliche
und zum VBerjiändnih des Gedichtes Nothwendige in hinfänglicher
Weile. Gefhichtsfreunde, welche Giefebrechto Gedichte der
deutichen Naiferzeit Fennen, werden fi gern durch) Gundlachs
Bud mit den Dauptquellen, auf die jenes befiebte Wert fic)
wozu wünjchen wäre, da;
jtügt, bekannt machen lajien.
Gundlad fi der Polemif gegen andere Hifteriter und mander
iehe fubjeftiven Neuerung gegen bejtimmte Perfonen mehr
enthielte; man fann zugeben, da er nicht jelten berechtigte
Abwehr übt, aber in cin Buch, wie Ddiefes, das jid an den
weiteren Mreis der Sebifdeten wendet, gehören joldhe Auseinander
jegungen feinesfalls. m Uebrigen wünjchen wir Gunblacds
Bud) viele Verbreitung, 05 fann eine ernjte VBelhäftigung mit
der Gejchichte mm fürdern; boffentlich Aäßt der Schlußband nicht
allzulange auf id) warten.
Pit einem Gefühle tiefer Wehmuth nimmt man ein Buch
in die Hand, das unlänait erichienen if: Heinrich von
Treitihfes Neden im deutihen Neihstage 1571
1584. Mit Einleitung und Erläuterungen herausgegeben von
406 Litterärifche Streiflichter.
Dr. Otto Mittelftädt.*) Es erwedt von Nenem die Ihmerzliche
Trauer über das allzu infcheiden des umerjeglichen Diannco,
deifen Verfuft gerade in diefer Jeit die Deutichen nicht genug
beklagen fünnen. Aus diefen Neden tritt uns die außerordentliche
jonlichfeit Treitichtes aufs lebendigite entgegen und viele
ältere Yejer werden fid) noch deutlich des Eindruds erinnern, den
nicht wenige der hier vereinigten Reden einft gemacht haben.
Pan fann es dem Herausgeber, der vor Jahren aud) ein badı
geihäster Mitarbeiter der „Walt. Mtonatsichrift“ geweien ii,
nur Danf willen, daß er diefe Perlen edler parlamentariicher
Veredjamfeit aus dem Zande der jtenographiichen Reichstags
berichte Herausgeiucht und vor unverdienter Vergeiienheit bewahrt
bat. Viele Gedanfen drängen fi einem beim Velen diefes
parlamentariihen Vermächtnifies eines der hochfinnigiten umd
fraftvolljten Geifter auf, die Deutihland je gehabt hat. Wie
haben fi die Zeiten gewandelt, feit Treitfcle im eriten Heide
tage nad dem aroien Nriege zum erjten Winl das Wort er
wie vieles, was nachher gekommen, hat er mit prophetiichen
Vlit voransgeiehen, aber wie manche Erwartungen und Hoffnungen,
die er hegte, find unerfüllt geblieben! Wo wäre in dem heutigen
Neichstage Raum fi en Diann wie Treitjchte, für die feurige
Kraft nationalen Empfindens und Denfens, die ihn erfüllte? Er
hielt fi als Neichstagsabgeordneter zu den Nationalliberaten,
aber ein eigentlider Parteimanır it er nie geweien und er jtand
in vielen Dingen den Nonjervativen weit näher als dem linfen
Flügel der nationalliberafen Partei. Fraktion: und Partei
intereifen galten Treitichfe nichts, wenn 05 fi um das hödjite
‚Interefie handelte, das es für ihn gab: das Vaterland, das er
mit der ganzen Kraft jeiner ftolzen und reichen Zeele liebte.
Das englifhe Wort, das der Herausgeber feiner Cinleitung
vorgefegt hat: Right or wrong-my country für den Ausdrud
von Treitichtes Yaterlandslicbe wie geprägt. In ihm war der
alte deuifche Ndenlismus nad) einmal, zum legten Mal für
fange, wie es jcheint, in feiner ganzen Fülle und feinem votlen
lange verförpert, mit dem Flariten und freieiten Denfen verband
Verlag von S. Dirzel. 2.M. 40 Pi.
Litteräriiche Streiflichter. 107
fich in dem feltenen Mann ein jugendfriicher, hoffnungsfreudiger
Optimismus. Cine geborene Nänpfernatur ichonte er
zahlreichen Widerfadder nicht und Ipradı jters rüdhaltlos feine
Meberzeugung aus, frei von jeder Menichenfurdt und Mienichen
gefälligfeit; ev Hat das offen und unumwunden, wenn &8 ihm iu
Intereife des Yaterlandes geboten jchien, and da gethan, wo er
dadurd feine Popularität Ichwer Ichädigen mußte, das Äte
Opfer wohl, das ein Wolitifer zu bringen vermag. Aber bei
aller Streitbarfeit und Nampfesluft bejah Treitichfe doc eine
unverwütlihe Heiterfeit des Gemüthes, echte Yiebenswürdigfeit
und einen wundervollen Sumor. Ja er war eine echte Ziegfried-
natur, jtarf und heldenhaft und Findfich und milde zugleich, eine
jener Naturen, wie fie das beutjche Volk von jeher am meilten
geliebt hat. Man hat feinen biftoriichen und politiichen Anflägen,
wie aud feiner deutichen Geibichte oft vorgeworfen, 09 herriche
in ihnen ein gefteigertes Pathos jo ftarf vor, dal co zulet
ermüde. Mag dieie Ausftellung auch für manche feiner Aufiä
aus jüngeren Jahren nicht unbegründet fein, im Ganzen it fie
mm wenig berechtigt. Dah eine leidenfchaftlice, von Yiebe und
Abneigung bewegte ftarfe Seele in der Darfiellung einen höheren
Flug nimmt als ein ruhiger, Fühler Erzähler ift jelbftverftändlicdh.
Der geiteigerte Schwung der Darftellung wide aber nur dann
zum Fehler, wenn alles ohne Unterihied im gleichen Tone
behandelt würde; das it jedod) bei Treitichfe nur vereinzelt und
ausmahmsweife der Fall. Grade in den bier aefammelt vor
liegenden Neden, wo man es dod am eheiten erwarten joltte und
«5 ganz an feinem Maß wäre, fommt das jo oft alo Treitichtes
Ächriftitelleriiche Eigenart charakterifirend bezeichnete Pathos nur
felten zur Erideinung. Die Neden find immer Ear und
durchdacht, aber meift einfach und ohne großen Umfang; nur
jelten, wo es der Gegenftand mit fi bringt, erheben fie jih zu
höherem Schwunge. Feine Jronie und charfen Sarfasmus wendet
der Redner oft bei der Bekämpfung der Gegner an und in der
Gliederung und Gruppirung der Sedanten zeigt er Nidh als
geübter und gewandter Dialektiter. Als wahrer Nenner des
Stils umd Meifter der Nede Ipricht Treitichte oft Ichmuedtos und
einfad), dis ihn der Gegenjtand fortreißt: auch wo cr zum
408 Yitteräriiche Streiflihter.
Verftande fpricht, verleugnet fich fein Gemüth nicht. Die lebendige
raft der Uleberzengung giebt allem, was er jagt, ein beionderes
Gewicht, die Tiefe der Gedanfen, die Originalität der Auffaifung,
die überall hervorbredyende leidenjchaftliche Vaterlandsliebe maden
jeine NHeden jtets angiehend und ergreifen den Yeler mie früher
den Hörer. Worüber Treitichfe auc jprehen mag, über die
Vereinigung von Eljaß-Lothringen mit dem deutjchen Reiche, über
den Arnimparagraphen oder über Getreidezölle, über das Tabafs-
monopol oder über die Verlängerung des Sozialijtengejeges, über
das Fonjtitutionelle Nönigthum oder das Militärgejeg — er feflelt
ftets und ift immer gang Treitjchfe. In der Einfeitung macht
Diitteljtädt, der Treitichte perjönlid) nahe gejtanden, einige Turze,
aber fehr intereffante Mittheilungen über die Stimmung des
großen fers und Politifers in den legten jede Jahren;
fetbjt diefer Hoffnungsvolle Optimift hat fid) darnach peflimiftifcher
Anwandlungen nicht erwehren fünnen. Mögen alle die vielen,
denen Treitichte hitoriicher Lehrer und politiiher Führer geweien
it und mod it, aud) dieje Neden des großen Jnterpreten der
innerften GSedanfen und Stimmungen des deutichen Volkes,
aufmerfam lejen, in fh aufnehmen und beherzigen.
Einer der igiten Mitarbeiter der „Örenzboten” G.
Jentich hat unlängjt feine Yebenserinnerungen unter dem Titel
„Wandlungen“*) veröffentlicht. waren größtentheils fchon
in den Grenzboten veröffentlicht unter der weit bezeidhnenderen
Auficrift: „Wandlungen deo Jchs im geitenjtrome*, baben aber
in der vorliegenden Buchausgabe mandertei Ergänzungen und
Erweiterungen erfahren. Jener weitere Titel war deshalb
tichtiger, weil in dem Buche nicht von mannigfachen, ungewöhnlichen
Wechielfällen des Äußeren Lebens berichtet wird, jondern die
inneren Ummandlungen eines fathofiichen PBriejters zur Daritellung
gelangen. Aeuherlih it Jentihs Leben nicht anders verfaufen
als das vieler Taufende: eine im Ganzen harte Jugend, Sorgen
um feine und der einigen Criftenz, endlich ein beicheidener,
mähigen Anjprücen an das Leben genügender Beruf, mit
geringem, aber dod) genügendem Ginfommen; diefen aufzugeben
*) Keipgig, Fr. Wil, Grow. 4 M.
Litterärifche Streiflichter. 100
möthigt ihm zulegt fein Proteft gegen das vatifaniihe Konzil
und der Konfliit mit feiner Kirche. Was dem Bude Interejie
verleißt, ift die Anihaulichfeit der Schilderungen und die pindhologüiche
Entwidelung der Wandlungen in den veligiöfen und geiftigen
Anfhauungen des Verfaffers. Die Darftellung feiner Nindheit,
des Lebens im elterlichen Haufe in dem ichlefihen Gebirge
Htädtchen Yandeshut muthet uns wie ein Jdpll an, aud von den
Schuljahren in Glag giebt Jentih einen jehr anziehenden Bericht,
er darafterifirt die Lehrer vortrefflih und läßt uns in die
geiftigen Bejtrebungen und nterejjen der fatholiichen Jugend
damaliger Zeit hineinfhauen. Won noch allgemeinerem uterefie
üt die Erzählung von Jentichs Univerfitätszeit und feinem Aufenthalt
im geiftlichen Alumnat: er bietet bier eine Neihe lebendig
gezeidmeter Bilder damals vielgenannter Univerfitätsprofefforen
und Sirchenmänner, auch Förfter, der jpätere Fürjtbiichef von
Breslau, wird eingehend charakterifirt. Das Kapitel, welches des
Verfaifero Aufenthalt als Naplan in veridiebenen Pfarchäujern
behandelt, Läht ums einen tiefen Einblid in das Leben und
Treiben der tatholiichen Yandgeiftlichen thun; was wir da
erfahren, ift jehr Iehrreich, wenn aud) zum Theil wenig exbaulic.
Ob es heutzutage wohl anders fein mag? Cb es an anderen
Orten bejjer gewejen jein mag also in Schlefien? Wohl kaum.
Unwillfürlich drängt fi nach der Vektüre dieleo Abjchnittes uns
die Betrachtung auf, dah das Durdichnittsniveau des evangeliichen
‘Barrhaufeo doc) etwas höher it als das der fatholifchen, wie
fie Hier geihhildert werden. Auch die Erzählung von der allmählichen
religiöjen Wandlung des Verfaifers und feinem fortichreitenden
inneren Zerfall mit der Kirche, feinem Proteft gegen die beabfichtigte
Proflamirung der Unfehlbarteit deo Papiteo und die ji daraus
für ihm ergebenden Schwierigkeiten und Bebrängniffe lieit man
mit Jutereife. Aber Jentihs Mangel an Stonjequenz und
feine Schwäche, die ihn zu einem halben Widerruf beitimmt,
beeinträchtigen die Sympathie des Yejers für jein Geihid; in
des Mutors Natur liegt eben nichts Heldenhaftes. Nachdem er
dann in abgelegener Waldgegend eine zeit lang der Nuhe sich
erjreut, ficht er fi dann doc veranlagt, feine Weberzeugung
auszuipreden und verfällt nun der Erfommunifation und Abjegung,
+10 Litteräriiche Streiflichter.
worauf er fi den Altfatholiten anfchlieht. Damit ichlieht das
Buch, dem vielleicht Ipäter einmal eine Fortfegung folgen wird.
Wie man fieht, jtedt in dem Buche ein gutes Stüd Nultur-
geihichte und verleiht ihm bleibenden Werth. Der Verfahler zeigt,
wie in feinen früheren jo auch in diefer feiner neuejten Schrift
Hares und geiundes Urtheit, Undefangenheit der Auffalung, einen
durch Parteitendenzen ungetrübten Bid, er fpricht feine Meinung
ohme Nücficht auf herridende Zeit: und Modeanfichten aus, er üt
ein Vertreter des gefunden Dienichenverftandes im bejten Sinne
des Wortes. Seine Darjtellung bewegt fid) oft in behaglider
Vreite umd co fehlt darin nicht an mancherlei Grkurien, jo in
Bezug auf die moderne Ueberbürdungsfrage der Jugend, über die
Jentich jehr vernünftig uetheilt, über die viel angegriffene Kafuitit
der Selniten, die er mit bemerfenswerthen Gründen in Schuß
nimmt u. M. Der Verfajfer ift eine durchaus nüchterne Natur,
ganz überwiegend Leritandesmenfch, alles Wnftifhe geht ihm ab,
er hat dafür weder Sinn noch Verftändniß; daher endet er, der
als glaubenseifriger Natholif in der Jugend begonnen als allem
Sirchlichen gleichgiftig gegenüberjtehender Nationalüit. Man nimmt
bei Jentjc) diefelbe Eriheinung wahr, die fi jo oft bei Katholifen
und fatholifchen Prieftern beobachten läht: indem fie mii ihrer
sürche zerfallen und fid von deren Dogmen abwenden, geben jie
aud) den Glauben an die Wahrheit des Evangeliums auf und
verfallen einem vagen Deismus. Wenn wir jo aud) das End-
refultat der religiöfen Wandlungen in Jentichs Leben bedauern
müflen wir wollen übrigens hoffen, dal; fie damit nod nicht
ihren legten Abjchluß erreicht haben jo hindert uns das doch
nicht das inhaltreihe Bud) allen Freunden ernjter Lektüre
angelegentlich zu empfehlen.
Wir haben schon ein paar Mal einzelne Theile der von
A. Vettelheim unter dem Titel „Seiiteshelden" heraus
gegebenen trefflichen Sammlung von Biographien hervorragender
Männer aller Zeiten und Wölter beiprohen. Gegenwärtig liegen
uns drei neue Bände vor. Dante von Zcartazzini*) üt
ein sehr empfehlenswerthes Buch. In einem Bändchen von
*) Berlin, Ernft Hofmann. 2 D. 10 M.
Litteräriiche Streiflichter. 4
mähigem Umfang giebt der Verfafer, einer der genaneften Kenner
Dantes und der gefammten Danteliteratur, eine fritiich geficherte
Darjtellung von Dantes Leben und Dichten, jowie eine bei aller
Münze zur Cinführung für den Yaien fehr geeignete Weberficht
über Inhalt und Bedeutung der göttlichen Komödie. Nır bei
vollfonmener Beherrihung des reihen Stoffes war es möglich
alles Wilienswerthe über Dante und feine Dichtungen in jo engem
Naume zufammenzudrängen. Den Schluß des Buches bildet eine
Vibliographie, die denjenigen, der fich eingehender mit dem großen
Dichter beichäftigen will, über die neuere Danteliteratur in
vorzüglicher Weile zu orientiven geeignet it. Scatagini’s Bud)
gehört zu dem Velten, was bisher in der Sammlung „Geijtes-
beiden“ erichienen ült.
Zwei grofie Männer der Wiienichaft behandelt ein anderes
Vändchen der Sammlung, in dem Siegmund Günther das
Leben ımd die Verbienfie Neplers und Salileio*) darftellt.
Die hier zu Löjende Mufgabe war mod) jchwieriger als bei Dante,
indem es darauf anfam außer der Biographie auch eine gedrängte
Zufommenfafiung der wiienichaftlichen Ipätigleit der beiden
Forfcher und eine Darlegung ihrer Stellung und Bedeutung in
der Sefcjichte der Willenfchaft zu geben, die alles Wefentliche
hervorheben und doch allgemein verftändlich fein jollte. Nur ein
jo gründlicher Nenner feiner Wilfenichaft wie S. Günther vermochte
es die jhwierige Aufgabe jo zu löfen, wie «5 in diem Buche
geichehen. Ueber den fachwiiienichaftlichen Theil jteht uns fein
Urtheil zu, aber aud der Laie hat beim Yeien der betreffenden
Abjhnitte den Eindrud, da bier alles, worauf es anfommt,
gelagt ift umd zwar in der flarften verftändfichjten Form. Colde
Vücjer wie diejes md mande andere der legten Jahre liefern
den erfreufichen Yeweis, daß jegt auch in Deutihland die
Gelehrten zu lernen anfangen, über wilfenihaftliche Dinge
gründlich und geihmadvoll und allgemein verfländficd zugleich zu
fhreiben, eine Munft, in dev die Franzojen jchon jeit mehr als
einem Jahrhundert nadahmenswertbe Vorbilder find. Günther’
anfepaulicer Schilderung des Yebensganges und der grolien
*) Berlin, Eruft Hofmann. 2 M. 40 Bi.
+12 ichter.
Geiftesarbeit des deutichen Ajtronomen und Nathematifers, wie
des größten italieniichen Natwrforjchers wird jeder, der für
bewundernowürdige willenfchaftliche Ihaten irgend Zinn bat,
mögen die bier in Betracht fommenden Hebiete ihm aucd nod)
jo fern liegen, mit Iebhafter Theilnahme folgen. Man freut fich
von Günther zu hören, da Kepler nicht, wie die allgemein
verbreitete Meinung it, der Macjtner in einem Eprigramm jo
trefflichen Ausdruc gegeben, in Hunger und Elend untergegangen
üt, Tondern in leiblichen Wohlitande fein Leben beichlofen hat:
schwer genug it co im Ganzen doc gewelen. Aus der Darftellung
von Galileis Yeben jei befonders Die Behandlung des traurigen
Inquifitionsprogefies hervorgehoben. Der Verfaffer bat da nicht
nur die gefammte Diefen Punlı behandelnde Yiteratur der lebten
Jahrzehnte benußt, er niebt in diefem Abjchnitt auch ein Mufter
lichtvoller, unbefangener, alle Umftände ruhig abwägender Dar-
ftellung. Das berühmte Wort: „e pur si muover, „und jie
bewegt sich Doc” hat Walilei nad feiner Abihwörmg nicht
geiproden, co it apofryph und fommt zuerjt im Wuc eineo
deutichen Schriftitellers vom Jahre 1774 vor. Am Schluß des
Vandes finden fih zahlreiche Anmerkungen, die aud weitere
werthvolle Nacweifungen enthalten.
Einen ganz anderen Charalter alo die beiden vorgenannten
trägt der dritte der uno vorliegenden Bände der „Beifteshelden“,
Sörres Viograpbie von Job. Nep Zepp.') Ter geile
Verfaffer, wohl der Ältefte nad Lebende Schüler von Görres,
bietet in diejer Schilderung des Yebens umd der politiichen und
patriotiichen Wirfiamfeit feines Meiftero gewiilermafen fein leptes
Vermächtnih an das deutiche Volt, tt das dritte Mat, dab
Sepp «0 unternimmt der Nadwelt ein Wild von Görres
überliefern, er dat 05 zuerft 1548 in einer Brodüre, dann 1:
in einem umfangreichen Buche getban, jegt am Abende des Yebens
drängt 09 den Achtzigjährigen noch einmal dem Wanne, der
jeinem Yeben den Weg gewicien, eine Gedächtnißichrift zu wiomen.
Sepp hat jeit Göres Tode bedeutende Wandlungen in feinen
Anfchanungen durchgemacht: einft überzeugter Ultramontaner und
*) Berlin, Ernit Yolmann. 2 M
wi.
che Streiflichter. 413
fenriger bairifcher Partitulariit bat er ich durdh fein begeitertes
Eintreten in der Zigung der bairiichen Nammer vom 19. Juli
1870 für die Ariegserflärung gegen Aranfreich und den Anihhuß,
an Preußen, wodurd damals der Mnappe Majoritätsbeichluß im
inne der Negierung herbeigeführt wurde, großes Verdienjt um
die nationale Sache erworben. Er ift denn auch Äpäter cin
eifriger Anhänger des neuen deutichen Neiches geworden. Mit
dem Uiramontanionms jteht er feit dem vatifaniichen Nonzil durch
feine Schriften und Nritifen auf geipanntem Aub. Die vorliegende
Biographie it fein jorgfältig gegliederte Nunftwert, aud eine
zulammenfafjende, die Größe und die Schwächen von Wörres
forglam abwägende Charafteriitit findet man hier nicht, vielmehr
Handelt der Verfaffer darin in behaglicher Breite und mit vielen
Abihweifungen über des auferordentlichen Mannes Lebensgang
und politihe Wandlungen, fewie über feine große national-
patriotifche Thätigfeit. Die legten Jahrzehnte von Görres Yeben
treten in Zepps Torftelung ganz zurüd umd werden mm
andeutungsweiie beiwachen. Die große Wandlung in feinen
veligiöfen und firdlichen Anichauungen, feine Zuwendung zum
Ultramontaniomus, wie fie im der „ahriftlichen Mpftit” und in
dem „Athanafins“ zum Ausdruc fommen, wird von Sepp fanm
erwähnt, geichweige denn pinchotogiih entwidelt und erflärt. Er
Hebt eben num die Zeiten von Sörreo Perfon und Wirken hervor,
die für alle Dentichen jompathiih und anzichend find und geht -
über die Schattenjeiten valb hinweg. Cine in die Tiefe gehende
Sharaktericilderung won Görres böchft originellen, _ vielfach,
räthielhafter, mächtiger Periontichteit muß; no exit geichrieben
werden. Bei der Beurtheitung von Zepps Buch aber darf man
nicht vergejien, dah; co ein Werk der Pietät üt, das wir vor uns
haben, und die vührende Anhänglichkeit des greifen Verfallers an
den längit dahingefchiedenen großen Meifter läßt die Nritif
verftummen. HD.
Dei der Medattion der
zur Veipredung cinnsnungen
Marholm, Yaura, Wir Arann und unlere Dichter.
ul. Berlin, Narl Dunder
in.“ fund ferner nachjtchenee Schriften
414
Litteräriiche Streiflichter.
Hanfion, Ter X
Karl Tunder.
Bocid, Lucn. Sic Iaben feine Ehre! Erzählungen und
ijgen. Yerlin, Mid, Edftein Nachf. (9. Arügen),
9 sum Yeben. Sechs Geichichten. Berlin,
Freyer, €, Mlerli aus dem Leben. Samburg,
des Rauben Yauics,
Xiederausder Hleinften Hütte Dresden, Truderci
atur
Gtö
Anort, N, Foltlor. Dresden, Trucderi Gtöf.
Vhilippi, 4. Nunit der Hede. Eine deutiche Nhetorif.
Leipzig, Fr. W. Grumon.
Andre, Aug, Aus der Aranjolenjeit. Was der Groß:
vater und die Orofimutter erzählten. Yeipzig, Ar. M. Grunom.
Wolff, Eug., Geicichte der deutichen Yittcratur in Der
Gegenwart. Yeipsig, S. Dirzel,
Beide, E, Lrolegomena zur Geicidte des Tocaters im
Aterthum. Yeipsig, 3. Hirzel,
Haabe, W., Oelammele Gr
©. Jane.
Hansiufob, 9. Bauernblut. €
Schwarzwald. SVeidelberg. 6. Weil
Arenbe, Dr. 4, Aawit und Parzival. Cine Nacht: und
eine Lihtgeitalt von volfsgechichtlicher Vedcutung. Gütersloh,
Verielsmann.
Biograpbiiche Blättern getfheift für Ibens
geibichtfiche Aunft and Torihung. Derausgeg. von A. Bertelbeim.
Yard, 3.9. Berlin, E Hofmann ı. No.
Meyer, HM. Gocihe. Preisgefrönte Arbeit. Berlin. €.
Hoimann it. No.
Wonatsiarift für Gortesdienit mir fird«
iger Aunit 1. Jabra. 3.9. Göttingen, Yandenbord 1. So.
lungen. 2. Band. Berlin,
zählungen aus dem
von der Brüggen, Laron Edvard, Oitadıten über
Firchenrechtliche Fragen. Verausgegeben von 4. Baron Senfing,
Mitan, Ferd. Veithorn.
Arögen, Dr. mod. Sigism,
ligjer Weltanichauung. Yeipsig. U. Deichert’iche
(6. Böhme),
Wartens, Dr. Tstar, Ein Kaligula unferes Jahr:
bunderts. Verl
Weber A MW. Serbitblätter,
Paderborn, Ferd. Schöning).
Vradvogel, 4. &., Der Aels von Erz. Laterländiicer
Noman. 3. Aufl. Werlin, ©. Jane,
Grumdbegrifte hrüt
ierlagsbuchhandlung
1, Gcorg Neimer.
hgelaffene ebichte
Kitteräriiche Streiflichter. 415
Denihel, A, Hrbitblätter. Lnrühes und Epifches.
Dresden, €. Picrjon.
Meinem Auitus zum Gedähtnih. Yon MH. &
Dresoen, €. Pierjon.
Niemann, Aug, Die Erbinnen. Noman in 2 Bänden,
€. Pierlon.
Epitein, M., Erzählungen und Mugenblietsbilder. Dresden,
Pierjon.
Rreger, DM, Die Blinde. Maler Wrich. Novellen. Drespen,
€. Pierfon.
Hügli, €, Dorf Tüel. Eine Satire. Dresven, €. Pierjon.
Sterm MN. 0, Dagmar, Yeifeps und andere Gedichte.
Dresden, E. Pierjon.
Torrefani, #. Baron, berlicht. Wiener ünitler-
Noman. 2. Aufl. Tresen, E. Pierjon.
Haarhans, 3. A, Auf Goches Spuren in Oberitalien.
Keipzig, €. 6. Naumann.
Denfs, Paul, Die Fornarine. Lraueripiel. Leipjig, €. ©.
Yaumann.
Veder, u Der Wilohiet. Cine oberhefftiche Dorigeicicte.
geipjig, N. Werther.
Beer, %, Naribänferich Anndort. Eine oberbefi. Dorigeich-
N. Wertber.
Beer, I Tas Goldjeuerden am Mitftrauh. Eine ober:
beiftiche Dorigeid). Leipzig. N. Werther.
Haud, €, Wigelm gaben. Ein Noman aus der yeit
Ehriftians des Zmeiten. Yeipsig, N. Werther.
Hammermann, F Tie Aunft glüdlich zu
gemeine Plaudereien. Yeipzig, N. Werther.
Bayichke, F, Durh Sum zur Stille. Ein Bild aus
der Gegenwart. Yeinjig, H. Werther.
Dugdes. 9. %, Der arbeiftiche Schuhmacher. Leipzig,
R. Werther.
Wagner, Kaltor
2. Aufl. Leipzig, N. Werthe
Sipalı, Ed, Samvere Roth im Nährs, Wehr: und Schritan.
geipzig. N. Werther.
Cippmann, Die Frau im Nommunalvienft. Vortrag.
Göttingen, Yandenhoct u. Auprect.
Das Deutihthum in Eljah-Yorhringn 1870
Nücblide und Petrachtungen von einem Deutfchnationaten.
Fr. W. Grunow.
Söhre, Pant, Diee
Fr W. Orunow.
Drosoen
Keipzi
in. Ernits
Tie Sirticpeit auj dem Yanoc,
ngeliich;josiale Bevegung.
416
Litteräriiche Streiflichter.
Whitmann, 3. Aus deutichem Leben. Autor. Ueberf. .
Dr. W. Hndel. Hamburg, Haendde und Yehmtubl.
Rofapp. Dr. ©., Charlotte von Schiller. Cin Lebens
und Eharatierbild. Heilbronn, M. Kichnann.
Dart, Jul, Geibichte der Weltlitieratur und des Theaters
aller Zeiten und Wölfer. Mit gegen 100 Abbild. 2 Be. Reudanın,
I Reumauns Berlag,
Zwei Bücher genen den Nuhammedanismus.
Bructü einer Steeitfcprift von Perrus dem Ehrwürdigen. Abt von
Elngny. Aus dem Yateiniich. von X. Thomä. Yeipjig. erlag der
Atadem. Bucl. W. Aabı
Keller, Ad, Ter Geiftestampf des Ehriftenthums genen
den Islam bis zur zeit der Arcizsüge Yeipsig, Verlag der Aladem.
Vuchhandl. W. Faber.
Prager M.
der Aadem. Buch.
Andreas. Dr. A €, Die Babis in Perfien. ne Os
Ähichte und vehee quellenmähig umd nach cin, Ani. Dargeitellt.
geipsig. Perlag der Aaden. Buch. W. Faber.
itolaus Yonaus Briefe an Emilie von
Neinbed und deren Satıcn Georg von Neinbed
1824. Herausgig. von Dr. Anton Schloflar. Stuttgart, X.
Bonz u. Co.
Nocbell, Kid. Der Anti ieder I. 9.
Vie Wihmann-Erpedition. Leipsin. Ierlag
Aaber.
kerds und der
Miniiter fr. N. von Moler. Darmitadı, Kuguit Alingelböffer.
Niesler, Sigmund, Gehhichte der
Baycın. Zrurgart, 3 ©. Eona'ihe Pachb. Nacht.
Herausgeber und Ndatteur; Arnold v. Tideböhl.
Aossoaeı
Yuchdruder
nenaypow. Pira, 25. Cenraöpu 1806 1.
der „Balt. Nonarsichrift”, Nign.
Septemberabend.
Aus dunflem Gelb die Birten fteigen,
Die Eipe j iltert goldig.bunt,
In fahlem Gram die Weiden neigen
Zu junger Sant fmaragpnem Grund.
Weit winkt, unendlich weit herüber
Ein purpurn:violetter Glan,
Und fchinmernd, raufchend rayt darüber
Der Wald in ewig granem Aranz-
3) jah des Kenzes Neich im Süden,
SG ruhte unterm Palmendad);
Was gilt's mir alles vor dem rieden
Yn baltifchen Scptembertug!
© Heimat, Heimath, theure Erde,
Nie preif ich |höner dich Fürwahr,
AUS mit der flummen Schmersgebärde,
AUS mit dem Aternfranz im Haar.
ie fhöner, da ein leis Lerfärben
Tie Wangen rofig dir umitrahlı,
Nie fchöner, da vor ftillem Sterben
Dein Aug’ in Wehmuthsglüdt eritrahlt.
Wie eigen paht wm Yicht und Schatten
zu deines Schietjals Düitrem Drang,
30 deinem Ringen und Ermatten,
Zu deinem ftummen Untergang.
Alerander Freiherr von Mengden
Lied
Komm, Iehn’ Dein Haupt an meine Schulter teilt,
I fing” ein Cied Dir, tief mus Dergensgrund,
©, würde Dir beim Alang der fühen Weife
Tas arbeitsmüde, franfe Herz gelmd!
Wie blift Dein Auge ichniuchtsvoll und bange,
Wie matt Dein Herz, vom Yeide fait befiegt!
Komm, lauiche wie ein Aindlein fl dem Marge,
Denn Mutterliche 5 in Schlummer wiegt.
Sab draußen falte Herbitesitürme wüthen,
It finge Dir vom heller Lenzesprat,
Ib finge Dir von Sonnenjchein und Blüthen
Und jungem Olüd, zur Yenzeszeit erwacht.
Und halten uns des Schidjals raue Bande
Hier feit, wo Watt und Blume längit verderrt,
Ich trage Dich zum goldnen Märchenfande
Auf des Gefanges weicher Welle fort.
IA Ächmeichle Tir in's Herz mandı fühe Weile
Und fünge Liebe, Frieden Tir, und Hub —
Komm, Icon’ Dein Haupt an meine Schulter Life
Und jchfiche Deine müden Augen zu!
N.
Sad
Annitbriefe
Xu.
Der jammervolle Herbft, der dem erbarmungswürbigen
Sommer folgte, geht zu Ende. Nur zu guterlegt brachte er uns
einige ichöne Tage des Sonnenfcheins, des Farbenglanges, der
Wärme. Den fchönften gerade zum Schluf der großen Gewerbe-
ausjtellung im Treptower Part. Nein zum Hohn. Co prächtig
war's draußen, als drinnen im gewaltigen Nuppeljaal deo Haupt:
aebäudes beim feierlichen Schluhatt der Bericht verlefen wurde,
der einen nicht unbeträchtlichen Fehlbetrag eingeftchen muste und
dafür, zum Theil mit Necht, die überaus nicht günftigen Witterungs
verhältniffe des Sommers 1896 verantwortlich machen fonnte ...
Und in diefer Halbjaifon zwiichen Herbit und Winter, da
giebts eine Heine Nuhepaufe im Sumjtleben: man zehrt zumeiit
von Grinnerungen an feon Gebotenes und man ergeht fid) in
Hoffnungen in Bezug auf das Nommende.
Aud) zwei andere Ausfteltungen find inzwilchen geichlofen
worden. Da aber gab's nur zumeift Exfreuliches zu berichten.
Gerade das fchlimme Wetter Fam ihnen zu gute, namentlich der
„Snternationafen Kunftausftellung” beim Lehrter Bahnhof, deren
Vorjtand damals im Mai vielleicht mit iger Vellemmueg an
die gefährliche Nivalin im Treptower Park gedacht Haben mag.
Aber 09 fam anders: der Velud) war jehr gut, der Verfauf von
Kumftmerfen flotter als je zuvor, der Handel mit Yotteriebilleten
durchaus befriedigend. Und aud) der fünftleriiche Erfolg
6
420 Kunitbriefe.
ber Jubelansftellung — fie jollte ja das 200-jährige Befichen ber
Afabemie ber Nünfte feiern — war im Ganzen nicht unbefriedigend.
Das Alles fonnte nicht blos Aultusminifter Dr. Bolfe am Tage
ber Schliehung freudigen Herzens feititellen — aud) das Rubliftum
hat fi davon überzeugt, während der 4",2 Monate, die cs hinaus
pilgerte über die Moltkebrüde zur „Internationalen“.
Diefe Austellung habe ih genugiam beiprochen und Sie wii
daß man den Optimismus des Herrn Minifters nicht unbedingt
zu theilen braucht, wenn er auch von einem großen fünjtleriichen
„Gewinn“ der Ausitellung fprac, der darin beitanden, dab „Te
bie verfchiedenen Geftalten zeigte, welhe die Strömungen der
heutigen Runit bei den Nationen und Individualitäten annehmen
und die Verjchiedenheit d26 Geihmads und der äjthetiidhen
Empfindungen bei den Wölfern erfennen lich.“ Dem gegenüber
Könnte man immerhin, troß der fünftehalb Tanjend Kunitwerfe,
die zur Ausitellung gelangt waren, ein qut ausgewacienes Frage
zeichen aufftellen. An diefem fann aber ein offizieller Schtuf-
Feitredner natürlich nicht anders, als vorübergehen bei einer
Ausftellung, die unter Alterhöchitem Proteftorate ftand.
* ”
*
Nachhaltiger wohl dürfte der Erfolg einer anderen inter:
nationalen Austellung geweien fein, die am 1. September eröffnet
und diefer Tage gefchloffen wurde. Zum mindeften war fie höchit
interefjant und ich bedauere Tebhaft, fie nicht To eingehend
beiprechen zu fönnen, als fie verdiente.
€ mar das die erjte in Berlin veranftaltete „Inter
nationale Austellung für Amateur-Khotograpbie”.
Die Anregung zu ihr ging von der Kuiferin Friebrid aus
und das verdienftliche Werk zu Stande bradten die „Deutiche
Gefellfehaft von Freunden der Photographie” und die „Areie
Photographifche Vereinigung“, beide zu Berlin. Ahnen gelang co,
in weiten Kreifen Intereffe für die Sade zu wegen ımd gewichtigen
Namen begegnete man in dem Ehrenfemits, dem Arbeitsnusichuß,
dem Preisrichter- Kollegium, Yenchten der deutichen Melt der
Wiffenichaft und Kunft, denen fi joldhe in Yondon und Paris
anfchloffen.
Kunftbriefe. 421
Heutzutage it ja die Photographie — und am mwenigiten
die fogenannte Amateur Photographie -— gewiß nichts neniger,
als ein blofer Zeitvertreib und Sport. Mit Net führte Pro]
1. Tobold, Vorfüsender der Gef. d. Fr. der Photogr., in feiner
röffnungsrede aus, wie jeit dem 19. Augujt 1839, wo Arago
in der frangöfifchen Afademie die Entdedung Daguerre's, mit
Hilfe des Lichte Bilder darzuitellen, bekannt gab, faum irgend
ein anderer Zweig der Wilfenfchaft und Kunft jo ungeheure Fort
Schritte gemacht habe. In den lepten 15-20 Jahren ift die
Baht allein derjenigen, die fid) nicht berufsmäfiig mit dem Lichtbild
verfahren beichäftigen, auf viele Zehntaufende angewadhyien, wobei
natürlich die Spielereien Unerwachlener nicht in Betracht fommen.
Denn mit der Spielerei bringt man nicht viel vor fi. Vielmehr
erheifcht die Photographie von ihrem Jünger viel Liebe, Ernit,
Stndinm. Gerade auf diefem Gebiete deden fih die Worte
„Amaten“ und „Dilettant” ganz und gar nicht. Nr als
Gegeniag zum Verufsphotographen Läht fih vom Amateur ipreden
und diejem hat jener Vieles zu danfen. Thatiählih find gerade
die bedeutendjten Neuerungen und Lerbefferungen vom Aınateur
ausgegangen, der unbeeinffuft von Erwerbsintereffen nur der
Sache felbjt lebt.
„Aber das find ja gar feine Photographieen“ -—- konnte man
ot genug auf der Nusitellung im Publifum ausrufen hören. In
der That die aufdringlich oder auch nur matt glänzenden Porträts
und Landiehaftsaufnahmen in braun-rofa und violetten Tönen mit
ihrer todten, jtarren Schärfe und Härte in den Linien und Gegen:
fägen von Licht und Schatten — fie fehlten fajt ganz. Die neuen
Aufnahme: und Kopirmethoden, die modernen Objektive, Platten,
Papiere Haben fie verdrängt, verdrängen fie aud) immer mehr in
den Verufs-Aeliers. Cine wahrhaft fünftleriiche Weihheit wird
erzielt, vornehm jtumpfe grünfiche, bräunfiche, graue Töne Herrichen
vor. Man glaubt oft eine Lithographie, ja eine imprejfioniftiiche
Sepia: oder Tufchzeichnung vor fi) zu Haben. Dabei machen fid)
zwei Hauptrichtungen geltend: die eine jucht photographiiche Arbeiten
im ftrengjten Sinne des Wortes zu liefern, verzichtet daher gänzlid)
auf die Netouche und will ohne fie möglichit Vollendetes jchaffen.
Der anderen Nehtung dient das natürliche Bild nur fozufagen
u
4
Kunfibriefe.
als eine Vorlage für weitere fünftlerüche Bearbeitung und
Verarbeitung.
Naturgemäh finden mir jene erite Richtung mehr auf dem
Gebiete der in den Dienft der Wijlenichaft und der Technif
geftellten Photographie, diefe bei der rein fünftleriihen. Aber oft
genug verwilchen fi die Grenzen umd and) unter den Arbeiten
von fünftlerifchem Selbitzwedt begegnen wir ängitlicher Vermeidung
jeglicher nachhelfenden Netouche. Und felbit im Portraitfac)
waren derartige vortrefflich gelungene Arbeiten zu jehen.
Wenn jene Richtung ms die Beobachtung von Natur und
Kreatur erleichtert, oft überhaupt erjt ermöglicht, fo erichlicht diefe
uns die ganze Schwierigkeit nacdjichaffender Kunft. Beide zuiammen
aber find fie heute für den ausübenden plaftiicen Künftler, den
Maler, wie den Bildhauer, und
den Nunitgelehrten zu einem
mumgänglichen Hilfsmittel geworden. Und nicht allein für diefen,
fondern aud) für den wiljenichaftlichen Koricher: für den Archäologen
und den Sultuehifterifer, für den Meteorologen und Aftronomen,
für den Diediziner und den Jurilten.
Unter foldien Umjtänden erweitert ich der Beqriif der
Amateur Photographie immer wefentlicer und weit richtiger hätte
die nunmehr geichloffene Austellung, wie Profeiior Guftav Keitich
in einem orworte zum reichhaltigen und vortrefflic; vedigirten
Natalog bemerkte, „Ausftellung der angewandten Photographie für
Kunft md Wifienichaft” gehiehen.
* ”
*
Danf der hohen Proteftorin des Unternehmens hatte die
Ausitellung im neuen Neichstagebau am Nönigsplas eine prächtige
Heimftätte gefunden. An und für fi macht das freilich auf
Manden, der eine hohe Meinung vom Zige der Volfsvertretung
bat, feinen günftigen Cindrud. Und «6 zeugt bejonders beredt
von dem Viangel an guten Anoftellungsräumlichfeiten in Berlin
— ein ganz frappanter Mangel in diefer Millionenftadt. Aber
abgejehen von diefer Profanirung des ftolzen Gebäudes, fünnte
man fid nur darüber freuen, denn eine bejfere Stätte lift fd)
jchwertich denfen.
Sie wäre auch fchon in Anbetracht der Srü
je der Aus
Nunftbriefe. 123
jtellung fehr ichwer zu befchaffen gewefen. Ueber 1700 Quadrat:
faden nahm fie in Anjpruch. Die große Wandelhalle, die beiden
Gänge zu Seiten des Eigungslaales, der Saal des Bundesraths
mit den beiden anftoßenden Nänmen, der Lelejaal, der Schreibe:
faat, die Neftaurationsjäle, furz die ganze Klucht der Räumlichkeiten
des mittleren Stods zum Nönigsplap bin umd ein Theil der
Zimmer am Neihstageufer und der Simfon-Etrafe — Alles,
Alles war voll von Photograpbien, photographiichen Apparaten
und Hilfomitteln, Wappen, Albums u. |. w., überfitlih und
einheitlid neordnet. Dah tr ejer Trdnung den Bejucher beim
eriten Mal fo etwas wie ein Schwindligwerden anfam und er
Ängftlich ausrief: „Simmel, durch das Alles foll ich mic durch
arbeiten!” Tas war weiter nicht verwunderlic) bei der Mafie
des Gebotenen. Aber bald jchon fing das Einzelne an auf ihn
zu wirken und ging er foflematifch vor, jo erichloflen fic) ihm
Quelten des Genmuffes und der Belehrung, die ihm Immer wieder:
tommen (ich
Raft die Hälfte des Naumes beanfpruchte die Fünftleriiche
otographie. Sie and zeigte dus am meiften internationale
Oepräge. Das heifit aflo, da das Anoland am zahlreihjten
diefe Gruppe bejchict hatte. Was hier an Porträts, Yandichaften,
Genrebifdern, Stil Yeben, an Akten, Charakterföpfen, Beleuhtungs-
und Luftjtimmumgs Studien und gejcidt gewählten Bildmotiven
mit md ohne Staffage zu fehen war, das verriet) jo viel
Seihmad, Phantafie und techniiches Können, das war fo vieljeitig
of und individuell in Tönen, Methoden, Auffaflung, daf
das Schiefe in der Vezeihuung „Amateur“ jofort far wurde,
Und doch fein einziger WBerufophotograph darunter und fein
Berufsfünftler, fondern lauter Damen und Nerven in den
verfchiedenften gefellichaftlichen Stellungen, unter einander gleid)
num in Numjtfinn und Kunftitweben.
Tab Berlin vorherrichte, verfteht fich von jelbit, da die
Verhicung ja für den Berliner am leichteften war. uch
Defterreich war gut und zahlreich vertreten. Desgleichen Frankreich
und Belgien, wo wir origineller und phantafiereicher Rünjtler-
auflaffung in Tonung und Motiv befonders häufig begegnen
tonuten. Der franzöfiete Graf Tyskiewicz leitet darin wohl das
424 Stumftbriefe.
Hervorragendfte. Wie had) die Nunjt des Photographirens in
England und Amerifa fteht, it von allerlei früheren Ausjtellungen
her und durch Numjiblätter auf dem Handelsmarft icon längit
befannt. Auch Holland, Italien, die Schweiz, jelbit Portugal
fehlten nicht. Sehr dürftig leider war Nuhland vertreten. Schon
allein fo ziemlich der namhajteite „Amateur“ Rhotograph Dberft
Lawrow, General Neiwetowitich, Schulz (in St. Petersburg) und
zahlreiche andere befannte „Dilettanten“ fehlten, desgleidien die
wiifenfdpaftlichen Inftitute und die Anftalten für vervielfältigende
Nunft, jo weit fie auf photomechaniihem Verfahren beruht, vor
Allen die S. Expedition zur Anfertigung der Staatspapiere. Aus
den baltiichen Provinzen fand ic) jogar nichts vor. Ueberhaupt
war ganz verichwindend wenig vorhanden; dafür aber waren die
ethnographiichen, himmelsphotographiidhen und tagesgeihichtliden
(Krönungsicenen) Vlätter von Peter Preobraihensfi in Mivsfau
recht jehenswerth.
Hecht beichrend war auch die Abtheilung für das photo:
mechaniüche Verfahren. Alle Arten des Hohdruds (3. B. Zintdrud
und Autotypie), des Tiefdruds (wie Heliogravire, Photogravire 2c.),
des Flahdruds (Lightdrud, Zinkdrud 2), der Farbendrud, der
Dreifarbendruc 2c. fonnten hier eingehend iudirt werden an den
fchönen und vicljeitigen Ansjtellungen der Hof: und Staat:
druderei in Wien, der Neicsdruderei in Berlin, der Yehr- und
Verfuchsanftalt für Photographie in Wien, der befannten Firmen
Angerer (Wien), VBaufod, VBaladon & No. (Paris), Meifenbach,
NRiffartd & So. (Münden), Albert & No. (Münden), Albert
Friich, Cosmos, N. Schufter (alle in Berlin). Auch in diejer
Abtheilung fogar begegnen wir „Amateuren“, wie Schulg-Hente
in Berlin, A. Fiedler in Pofen.
Nahezu 200 Ausiteller zeigten von welcher großen Wichtigkeit
die Errungenfhaften der modernen Photographie für die Kumft-
wifenichajt und das Runfigewerbe, die auf diefe Weije heute die
Nunjtwerfe aller Völker und Zeiten Allen zugänglich machen fönnen.
Da gabs alte werthvolle Yandichriften, die Ergebniffe der Aus»
grabungen in Troja und Olympia, die Schäge der vatifaniihen
Diufeen, Intunabeln und Stieimufter aus dem Mittelalter, alt:
deutihe Geräthe u. j. w. u. |. w.
Kumjtbriefe. 425
Wenn alle dieje Gruppen und die Abtheilungen für photo:
graphiche Optik, Vlechanit und Chemie in erjter Linie den Künftler
und Kunftfreumd, den „Amateur“ und den Berufsphotographen
anzogen, jo waren es bie rein wiflenfhaftlihen, die für das große
‘Publifum den „elou” der Ansftellung bildeten, namentlid die
htliche Photographie mit ihrer Aufdedung von Fälfhungen
aller Art; die medizinijche mit den oft graufigen Aranfheitsbildern
und mifrojfopiichen Yufnahmen und folden erftaunlichen Leiftungen,
wie die Wiedergabe der Zellenbewegung während der Entwiclung
des Eis oder die Serienmomentaufnahmen nervenkranfer Lente;
die aftronomiicdhe und meteorologiiche Photographie, die u. A. aud)
böcjft intereflante photogrammetriiche Aufnahmen zur Bejtimmung
der Höhe und Lage der Wolfen und der Luftitrömungen, die fie
tragen, Aufnahmen von Negenbogen, leuchtenden Nadhtwolten
u. dergl. boten.
Tod) genug. So Fury und flüchtig aud) diejer Bericht aus:
gefallen — Eins erhellte au aus ihm fchen: daß man beim
Durcwandeln diefer Ausftellung fi wirflid, wie Jemand meinte,
in einer modernen Univ. as litterarum befand. Man fcritt
dort in der That:
„Den ganzen Kreis der Ecyöpfung aus
Und wandelt! mit bedächtger Schnelle
Vom Himmel durd) die Welt zur Hölle“,
* *
Und was es font noch zu jehen gab und giebt? .... Nun
die Salons von Schulte und Gurlitt, die id) Ihnen
im vorigen Winter geichildert habe, verfandten bereits jtilvolle
Programm-Einladungsfarten zu ihren eriten Herbftausftellungen,
die wieder gang im Charalter diefer beiden vornehmiten der
Berliner Nunfthandlungen gehalten find. Dort, bei Schulte
der gewohnte Ellettiziomus md das Gepräge des Zufälligen;
bier, bei Omlitt - die Unterftügung der radifalen Modernen
und der Kultus internationaler eriflaffiger Namen einer älteren
Periode, wenn jdon fie aud) der Neuzeit angehört.
Mebrigens waren jegt bei Schulte zwei Vöcklin zu jchen,
von denen der eine hier ned) ganz unbefannt war: „Adam und
Sunftbriefe. 126
Gott Vater“. Ein Fnabenhafter, föftlid naiv blidender nadter
Adam, der vor einem Sott-Vater in leuchtend vothem, fternen
befätem Miantel, einer Geftalt von reinftem germaniichen Tupus,
über die Herrlichleiten des Paradiefes und über feine Rechte und
Pilichten in dem farbenleuchtenden, frühlingsprächtigen, aber
merfwürdig fteinigen, die Welt bedeutenden Garten aufgeflärt
wird. Cine Legende, in malerifch-legendenhaftem Tone vorgetragen.
Von befonderem Jnterejfe war auch eine größere Vilderreihe des
in Dresden, Münden und Paris gebildeten, von vielen inter:
nationalen Ausjtellungen des In- und Auslandes her befannten
Bitorien- md Genremalers Frank Ktirdbadh, der feine eigenen
Wege wandelt, Wege, die gerade die Witte Halten zwilden
überzeugtem Afademizismus und radifalem Naturalismus. An
jenen gemahnt die finnige Nompofition, die Wahl des Stoffes;
au diefen die Farbengebung, der Waprheitstrieb in Haltung und
Ausdrud. „Sanymed“, „Ehriitus treibt die Wechsler aus dem
Tempel aus“ find au wohl Ahnen aus Holzihnitten fchon
befannt. Hier gab's u. X. jein romantiich:phantaftiüches Nachtitüc
„Yeonore“, das die legte Strophe der Vürgericen Voltoballade
mit großer Kraft, Fünftleriicem Schwung und reizvoller Yandichafts:
ftimmung behandelt, jowie das tief zu Herzen gehende Galferiebild
„Laffet die Nindlein zu mir fommen“ zu fehen. Gurlitt bot
allerlei Lederbiffen der reproduftiven Munft, Lithographien,
zeichnungen, Stiche, Aadirungen von Gandaja, Yunois, Vallaton,
Nofaclli, Zuttler, Yeibl, Menzel, Döring u. X. und ferner, neben
verfchiedenen modernen Malern, einige todte Meifter, wie Anjelm
Feuerbach, der jo lange verfannt war, Meiflonier, Pettenfojen,
Spigweg, Tilgner (der große Wiener Bildhauer) u. j. m.
Au) einige Sonderausitellungen hatten wir chen, doch
brauche ich an diefer Stelle weder anf des Wieners Arthur
Nurh nadzügleriihes Ehriftusgemälde, das eigentlid für die
neulich erwähnte Nuoftellung im alten Neichstagsgebäude beftimmt
war, noch auf der Berfinerin Anna Goftenobte hnilerifchen
Enklus „Tragödie des Weibes“, den fie nur im ihrem eigenen
Atelier auszujtellen wagen durfte, näher einzugeben.
3 Norden.
Berlin, im Oftober.
Fitteräriihe Streillihter.
Später als ich wünfchte und es mir lieb ift fomme id) dazu
einer litteräriichen Ericheinung eine Veiprehung zu widmen, die
vollen Anipruch darauf Hat, daf ihrer auch an diefer Stelle gedacht
wird. Cs ift das Bud) von Profeffor Dr. Wolfgang von
Dettingen in Berlin: Daniel Chodowiedi. Ein Berliner
Nünftlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Mit Tafeln und
lnjtrationen im Tert nad) Originalen des Meifters.*) Im
doppelter Beziehung nimmt diefe Schrift unfer Juterejie in
Anfpruch, durch ihren Autor und durd den Dann, welchen fie
bedandelt. Ahr Verfafler ift ein Sohn unferes Landes, der
Träger eines in unferen Provinzen weithin befannten Namens,
und der Stünjtler, deifen Leben und Schaffen er in dem vor:
liegenden Bude fchildert, it der originelljte und in mander
Veziehung hervorragendite, den Deutfchland in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts befeifen hat. Wenn ich im Folgenden
die Schrift W. von Dettingens zu würdigen unternehme, jo tue
id) das nicht als Fachmann, ein folcher bin ich nicht —
fondern nur als Liebhaber der Kunft Chodowiedi's, an beijen
Vücjerilluftrationen und Einzelblättern id) mic) oft erfreut und
erquidt hab
Pro W. von Dettingen Hat für fein Buch ein fo
reiches Material von Aufzeichnungen und Briefen des Meifters
*) Berlin, ©. Grotefche VerlagsbuchHandlung.
128 Eitterärifche Streiflichter.
und andererjeits fünjtlerifchen Arbeiten feiner Dand zu Gebote
geftanden, wie cs wohl nur felten dem Darfteller eines Nünftler-
lebens vorgelegen; dadurch allein war «6 ihm möglich alle
Entwidelungsphafen der fünftlerifchen tigfeit Chodowiedi's
nachgveifen und darzulegen. Allein ber Stoffreichthum giebt an
und für fi) noch nicht die Gewähr einer befriehigenden Dar-
ftellung, «5 fommt auf die Art jeiner Behandlung und Verwertbung
an. Oft genug gebt in der Maffe von Einzelheiten das eigentliche
Bild der Perjönlichfeit verloren, der Mangel an Beherridung
des Stoffes hemmt den Fortgang und die Wirkung der Dar
ftellung, endlich, was heutzutage jehr gewöhnlich, der Autor führt
uns in feine Werfftätte, nöthigt uns alle feine Unterfuhungen
und Vorarbeiten mitdurehzumachen und entläßt uns zulegt verwirrt,
ermattet und unbefriedigt. W. von Oettingen’s Buch zeigt das
Gegentheil von alle dem. Das Vinterial ift vollfommen durch)
gearbeitet, alle Vorarbeiten wöllig befeitigt, nur das Nefultat
forgfältiger Forihung wird uno geboten. Der Verfailer hat der
Verfuhung zu viele Einzelheiten zu geben fo räftig widerftanden,
dafi er bisweilen fd) darin gar zu große Beichränfung auferlegt
zu haben jcjeinen Fönnte, Doch die Beherrichung und Behandlung
des biographiichen Stoffes ift bei der Lebensdarjtellung eines
Künfilers nur bie eine Ceite der Aufgabe, die andere nad)
wichtigere ift das eindringende Verftändnii feines fünftleriichen
Schaffens. Und da erfennt jeder Lofer, der fi darauf verjteht,
teicht, dab diefer Theil des Buches auf jahrelanger, fiebevoller
Veihäftigung mit den Arbeiten des Meifters und einer ur
durch die forgfältigfte Beobadytung und fortgelegtes Studium zu
gewinnenden vollfommenen Wertvautheit mit der Eigenart feiner
Kunft und feinen harafteriftifchen Gigenheiten beruht; nur durch
immer ernenerte Betrachtung, wie fie dem Yerfafjer dur feine frühere
amtliche Stellung allerdings erleichtert wird, fann ein jo fiheres
Urtheit über alles Einzelne fi berausbilden, wie eo i
Buche uns entgegentritt. Aber mod) eine Cigenfchaft mi
rühmend an der Schrift hervorheben, es wird darin nicht mit
der Gfeichgiltigkeit und Kälte des Anatomen ein Menjchendafein
zergliebert und feine eingelnen Beftandtheite uns vorgewielen, wie
das heute night felten und in einer für ein feineres Empfinden
Litteräriihe Streiflichter. 429
geradezu abftoßenden Weile geihieht, vielmehr behandelt W. von
Oettingen das Leben und fünjtlerifche Wirken feines Helden mit
perjönlicher Antheilnahme und warmer Sympathie, die auch dem
Leier id) mitteilt. Dadurch) ift MW. von Oettingens Cchrift nicht
nur ein jehr befehrendes, fondern aud jehr anziehendes und
erfreuliches Bud).
Der Verfaffer behandelt feinen Gegenitand ect hifteriich,
d.h. er lehrt uns Chodowiedi aus den Verhältuiffen und Zuftänden
feiner Zeit heraus und nach feiner befonderen Entwidehung verftehen
und würdigen, er zeigt mo feine Vorzüge, aber auch feine
fünftlerischen Mängel und legt feine Stellung in der Gedichte
der deutjchen Kunit Far dar. Bei aller Liebe zu feinem Helden
identifizirt fi) W. von Dettingen doc) nicht mit ihm. Au) in
diefer Beziehung erhebt fih unjer Autor weit über bie Majie der
heutigen Cchriftiteller auf dem Gebiete der Kumjt und Litteratur;
entweder begegnen wir da einem verjtändniflofen unbedingten
Verurtheilen und Verdammen oder einer blinden fritiklofen
Venmmderung und Anbetung. Für das legtere geben viele der
heutigen Goethephilofogen das merfreulicjite Veijpiel, indem fie
ebenfo jhwählih in ihrem äfthetiihen Urtheil find, wie fie
ängjtlid) alle Schwächen des großen Dichters zu verhüllen und zu
entichuldigen jucen. Wie gut fi) aber liebevolle Auffafiung und
Behandlung des Gegenftandes mit umbefangener Kritit verträgt,
dafür giebt Tettingen’s Bud) den vollgiltigften Beweis.
&s fann nicht unfere Abfiht fein, Hier den Gang von
Shodowiedi’s künjtleriicher Entwidelung und Thätigfeit nad W. v.
Dettingen’s Yuche eingehend darzulegen. Dag verbietet fi) fhon
dur) die Veichränftheit des uns zur Verfügung ftchenden Naumes
von jelbjt uno würde ung aud, abgejehen davon, nicht in den
Sinn fommen, denn wir wünfchen, daß unfere Lejer fi mit
W. von Dettingen's Buche jelbjt befannt machen. Ich will nur
die Hauptzüge aus dem Leben und der Fünftleriichen Entwidelung
ChHodowiedi’s, wie fie von W. von Dettingen gefchildert wird,
hervorheben und an fie eine Charakteriftit des alten Mieijters
fnüpfen.
Chodowiedi it gewifjermaßen eine internationale Perfönlichfeit,
feine Vorfahren väterlicherfeite waren Polen, die des Olaubens
430 Litteräriiche Streiflichter.
wegen ihre Heimath verlaffen hatten, unier Nünftler bezeichnet fich
jelbjt mehrfach als wahren Polen. Seine Mutter dagegen war
mütterlicherfeits franzöfiicher Herkunft, von ihr hatte der Zahn
die Vorliebe für die frangiifche Spradie geerbt, deren er fi
aud im intimen Verkehr der Familie und in feinen Tagebücern
bediente und die er aeläufiger und forrefter handhabt alo das
Deutihe. In feiner politiichen Gefinnung war der Meiiter cin
guter Preufe und in feiner Yebenshaltung und Zinnesart ein
ehrlicher Deuticher. Diefe mannigfaltigen, in einer Perjönlichfeit
vereinten nationalen Elemente fpiegeln ih and in feiner
fünjtleriihen Thätigfeit wieder. Der Nnabe wuchs als der Zohn
eines Nanfmannes, eines Mannes von zjarter und weicher Art
und einer energüchen, thätigen Wutter in dem altehrwürdigen,
Yalbpolnifchen, halbfreiftidtifchen Danzig auf. Ad darin zeint
fid) die echt hiltoriiche Art, in der W. v. Tettingen den Gegenitand
behandelt, daß; er tets den Hintergrund, auf dem id das Yeben
feines Helden entfaltet, anfhaulidh zu ehildern nicht unterläht.
&o giebt er denn uns gleich am Eingange feines Buches ein
farbenreihes Bild von Danzig in der erjten Hälfte des adhtzchnten
Jahrhunderts, er verfegt uns daducd) auf's lebendigite an die
Stätte und in die geiftige Almojphäre, in welcher der Nnabe
erwuchs und feine Seele und feine Yırgen die erjten Eindrüde
empfingen. Ebenjo führt uns Oettingen jpäter das Berlin der
eriten Jahre Friedrichs des Großen vor, er macht uns mit den
zahlreichen jegt vergeiienen Nünftlern jener Zeit befannt, wir
lernen den Gejchmad des damaligen Verlin Fennen, jehen die
Stellung riedrihs „des Großen zur deutjchen Kunft umd feine
indivette Ginwirtung auf fie heil beleuchtet. Wir rechnen Diele
Abjcpnitte zu den glänzendjten Partien im Tettingen’ihen Bude
und find überzeugt, da Niemand diefe jachlundigen and fein
finnigen Ausführungen ohne Vergnügen und Belehrung lefen wird.
Ehodowiedi's Yebensgang it einfach, Dejto merkwürdiger und
verwigfelter fein fünjtleriicher Entwidelungogang. Er war in
Allem Autodidaft und, was gewiß feltfam genug üt, er Tuchte in
dunklem Drange auf verwirrten Wegen nach) einem unklaren Ziele
und es war fange genug ein faliches, dem er zuftrebte. Ex hatte
beim Vater etwas zeichnen gelernt und jegte das eifrig fort in
Litteräriiche Streiflichter. 431
mühjam dem Schlafe abgerungenen Abenditunden als ein den
Tag über in Anjprud) genommener Lehrling im Gewürzladen
feiner Tante, ohne gründliche tedhnifche Ausbildung und irgend
melde Anleitung; er zeichnet und malt nad) mangelhaften Yor-
bitdern und mit wenig befriedigendem Erfolge. Dann fommt er
nad) Berlin in das Quincailferiegeihäft feines Cheims und bier
lernt er Email- und Piniaturmalerei wieder nach manirirten und
geichmacktofen Vorbildern, bis ihm endlich ein wirklich fundiger
Lehrer der Gmailmalerei zu Theil wurde. Er brachte es in
diefer damals jo fehr nefhägten Kunftübung allmählich jo weit,
dab er ih jelbjtändig als Email: und Miniaturmaler etabliren
und 1754 einen eigenen Hansftand begründen fonnte. Durc)
feine Heirath mit Jeanne Varez wurde er ein Mitglied der durd)
ihre Rechte und Privilegien angefebenen franzöfiihen Kolonie in
Berlin und gewann dadurch jelbjt eine geficherte Stellung in der
Sefellichaft. Zeine Miniatur und mailarbeiten waren elegant
und anmuthig, aber doch nur handwerfsmäfige Arbeit, Chodawierfi
fühlte fidh jelbft von feiner Thätigfeit nicht befriedigt, er Tuchte
fid) durch dao Studium Funfitheoretiicher Merle weiter zu bilden,
fonnte aber dadurch nicht gefördert, Fondern mir auf den falichen
Weg der Neflerion geführt werden. Mic ehwer eo Chodowiedi
wurde, fi ohne Dilfe eines Führers von den bisherigen Jrrwegen
auf den vehten Pad der wahren unit hinanszufinden, zeigt
W. von Teltingen in ganz vortrefjlicher Ausführung. Dur das
Studium des nadten Körpers, der jogenannten Afte, geht ihm
das Verfländnih der Natur auf, er lernte fehen und will fortan
die Welt jo malen, wie fie it; die Natur allein foll meine Yehr-
meifterin fein, wuft er in einer ergreifenden Herzensergiehung au.
Er beiihritt fortan die Bahn des Lünftlerifchen Realismus, auf
dem feine Größe und feine Bedeutung für die Nachwelt beruht.
Und doch verlor fid) Chodowiedi aucd) jept noch auf einen Abweg,
indem er fih der Delmalerei zuwandte und fi eifrig mühle
Hiftorienmaler zu werden, wozu co ihm dod) an der erforderlichen
technischen Schulung und an dem rechten Farbenfinn, auch an
eigentlichen Talente gebrad. Wie al fein eifriges Vemühen
auf diefem Gebiete etwas Hervorragendes zu leilten erfolglos
Dlieb, wie er zulegt in Fhmerzlider Nejignation darauf verzichtete
432 Litteräriihe Streiflichter.
ein Mieifter im großen hiftorischen U zu werden und wie dann
fein mit befonderer Liebe gemaltes Bild: „der Abidhied des Jcan
Galas” für ihm die Veranlafiung wurde, endlich das vedhte Feld
zux Entfaltung feines Fünftlerifchen Talents zu finden — das
fchilvert W. von Dettingen in einem der intereffanteften Kapitel
feines Buches mit faft dramatifcher Lebendigfeit. Das allgemeine
Verlangen nad) Vervielfäftigung diefes Bildes, das die Zeitgeneiien
tief ergriff, lieh Ghodowiedi zum Nadirer werden. Wud) in der
Tednit der Nepkhunit war Chobowiedi NAutodidalt, aber hier
überwand fein Talent alle Schwierigkeiten. Er fuhr zwar nod)
fort Piniaturen zu malen, aber die Nadirungen gewannen immer
mehr das Uebergewicht und drängten bald alle anderen
VBeihäftigungen in den Hintergrund. In der Mitte der fichziger
Jahre hat er die wolle Meifterfhaft erreicht, feine Nadirnadel
fhuf nun jene amüberjehbare Fülle von Vücherilluftrationen,
Almanachblättern und CEinzelblättern. Alle angejehenen Kalender
wollten Kupfer von ihm haben, die Verleger beitürmten ihn, um
Bilder oder wenigjtens Wignetten für ihre Verlagsmerte. Nimmt
man dazır, was Chobowiei nad) an Einzelblättern geliefert hat,
jo fait man über die Mafe feiner Produktionen; nur einem jo
auferordentlich fleifigen, vom Vorgen bis zum Abend tätigen
Künftler war es möglich jo viel zu leiften. Natürlich ift nicht
Alles von gleichem Werthe und er Alngt jelbit, dab die Haft des
Produzivens ihn Hindere feine Werke ansreifen zu laffen, aber
doc) erwedt fein unerihöpflies Talent und feine unvergleicliche
Arbeitskraft immer von Neuem unfere Bewunderung. Dabei war
Shodowiedi aud nod) Kunftyändler und als folder wie überhaupt
ein guter Rechner und Kaufmann. Die Nraft und Freudigfeit
zu fo umverdroffener und unermüdlicher Arbeit idhöpfte er aus
dem glüclichiten Familienleben, das ihm zu Theil geworden war;
mitten unter feinen Kindern, welche die Mutter, eine gute Hausfrau,
liebevoll, der Vater ernft und ftreng erjog, malte, zeichnete,
radirte er, jo zeigt ihm der jchöne Stid vor Tettingen’s Buch.
Im häuslichen Kreife fühlte er fi am glüdlichjten, bier empfing
er Freunde, Belannte und fremde Veluche, hier machte er nicht
zum geringiten Theite feine Beobadhtungen und Studien der
verichiedenen Charaktere. Nur jelten führten Mleinere oder größere
Eitteräriiche Streiflichter. 433
Neifen, wie die von ihm fo föftlic in Zeichnungen dargeitellte
nad) Danzig zu feiner Mutter, zeitweilige Trennungen von der
Ramilie herbei. Ein unerfeglicher Verluft für ihn war das
Dinfcheiden der Gattin nach breifiigjähriger glücklicher Ehe 17
die Töchter verbeiratbeten fich, 09 famen die Nahre des Alters,
aber der Künftler arbeitete ratlos weiter, freifich nicht mehr mit
der Frifche und jcöpferiichen Nraft wie früher. Schon feit einem
Menjchenalter Mitglied der Akademie der SKünfte, wurde der
Ziebzigjährige 1797 zu ihrem Direftor ernannt, in einem Alter,
das zu durchgreifendem Sandeln nicht mehr angethan ift, auch
wenn joldes feiner Natur überhaupt eigen newejen wäre. 6
der Tod dem unermüdlichen Arbeiter am Rebruar 1801 den
Griffel aus der Dand nahm, da war fein Tagewerf vollendet;
fchon länaft war eine neue Zeit angebroden, die ihm fremd und
unverftändlich mar: die Glanzepache unferer Kaffiichen Dichtung
mit ihrem heilenijchen Schönbeitsivenl und das zunberifche
Dämmerlicht der Nomantit.
Vergegenwärtigen wir uns mun noch in aller Nürze
Chodowiedi'o Perjöntichteit und fünftlerichen Charakter, wie fie
uns in Oeltingen’s Bude entgegentreten. Obgleich) feine Jugend
entwidelung in eine frühere Periode fällt, berührt er fi in
feinem inneren Wejen doch vielfach mit den Anfchauungen der
Aufflärungszeit; wiewohl ein ftreng veformirter Chrift in Firchlicher
Beziehung, ift er im Lebrigen von jener vein verftandesmähigen
Auffaliung der Welt, der Menjchen und Dinge beherrict, weldhe
für die Wiänner jener Epoche jo arafteriftiich if. Auch ibn
erfüllte der den Menjchen jener Tage eigene naive Optimismus,
er glaubte an den Zieg des Guten durch fortichreitende Auf
flärung. Er war überhaupt eine liebenowürdige Natur voll
unverwiftficher inne deiterfeit und frifchem Arobmutb. Dabei
war er ein feiner, Ichnrflichliger Beobachter der Menichen und
Tinge um ihn ber, fein Nünftlerauge erfaßte das Chavakterif
an allen Erjeheinumngen im Leben und in der Natur und führte
jeiner feidht angeregten, beweglichen Khantafie immer neuen Stoff
zu. Ehrlichfeit und hrheit waren Srundzüge feines Charakters,
dieje Eiaenfchaften find auch die havakterijtiichen Kennzeichen feines
chen Schaffens. Er jah die Dinge, wie fie wirficd find,
5;
434 Litteräriiche Streiffichter.
und stellte fie auch jo dar, das macht ihm zum Nealiften; mur
das eigentlich Häfliche ichloh er von der fünjtlerichen Wiedergabe
aus. Seine Kunjt aber bewies er darin, dah cv das MWirfliche
mit jener leichten Jdenlifirung daritellte, ohne welche die Wiedergabe
der fichtbaren Erjcheinung nur eine jchlechte Kopie der Natur üt.
Er hatte einen auferordentlich entwicelten Zinn für das Anmutbige
und Zarte und wuhte jeinen Arbeiten eine foldhe Grazie und
Zierlichfeit zu geben, fie mit folcher Keinheit zu behandeln, dah
fie dadurd und durch die Meichheit feiner Nadirung die Meijter:
werfe wurden, welche die Jeitgenofien entzückten und die uns
noch heute entzüden und erfreuen. Aber Chodowiedi's Phantafie
hatte weder mächtigen Schwung nod hoben Alug, er vermochte
nur das wirklich Angefchante echt Fünftleriich und wahr darzuitellen,
das war die Schranke feiner Vegabun: Die Darfitlung des
bürgerlichen Yebens feiner Zeit, das ift die engbeqränzte Domäne
feiner Runft; ging er darüber binaus, jo gerieth er in Umnatur
und theilte alle Kehler feiner fünftleriichen Zeitgenoiien: er wird
maniviet, theatralifch und unwahr. Kür die Darftellung mytbo
her Gegenftände verfant ihm die
£ ebenjo it das eigentlich Tragiiche, Yeidenjchaftliche,
‘Rathetiiche nicht feiner Natur entiprechend. Das zeint fi auc
bei feinen lluftrationen der Werfe der Yitteratur; was da über
eine mittlere Höhe hinausgeht, das verjagt fid feinem Verjtändnii;.
So hat er z.B. Leifing’s Minna von Barnhelm trefflic illuftrirt,
aber zu Emilia Galotti und Nathan dem Weifen bat er feine
Nadirungen geliefert. Bon Goethe hat er Stiche zu Wertber's
Leiden gegeben und wie Vortrefflicheo er da zu Leiten vermochte,
zeigt das entzücdende Fücherblatt in Dettingen’s Yard; dagenen
find die Darftellungen der leidenschaftlihen Szenen in diefem
Roman völlig mijlungen. Gr bat dann and) Stella und Ciavigo,
Erwin und Elmire illuftirt, zum Süd aber nicht Söß von
Berlichingen; vollends Schöpfungen wie Xpbigenie und Taflo
gingen weit hinaus über den Vereich feiner Auffaftung und feines
Nönnens. Interejfant ift es, dal; Ehodowiedi in feinem Alter
noch Bilder zu Hermann und Dorothea geliefert Hat; wir haben
fie nie gefeben und Tettingen giebt leider Feine nähere Auskunft
über fie; wir glauben aber nicht, daß der Künftler der einfachen
Kitteräriiche Streiflichter. 435
Hoheit diejes Epos gerecht geworden fein wird. Schiller's Jugend:
werfe mit ihrem qewaltiocn Pathos und ihrer leidenichaftlichen
hetorit entipradhen des Künfters Begabung draus nicht md
was er an Nluftrationen zu ihnen lieferte, ift daher auch wenig
erfreulih. In den Bildern zu Hippel's Lebenstäufen, zu Nifolais
Schaldus Nothanker, zu Baedaw’s Elementarwerf fid)
dagegen Chodowiedi auf der Döhe feines Nönnens, desgieihen in
den Illuftrationen zu phiens Neite umd anderen jet längjt
verichollenen Werten. Ebenfo bewundernewürdig find feine Sitten:
Schilderungen in einer Neihe von Einzelblättern, nicht felten mit
Teicht fatirifcher Tendenz. Wie froftig nehmen fid) dage
feine Allegorien aus, wie völlig mißlungen
fajt alle feine Darftellungen von Szenen geichichtlicher Vergangenbeit!
So unbiftoriich wie die Aufflärungszeit war, jo wenig vermochte
auch er fih in das Yeben und die Menichen früherer Zeiten
bineinzudenfen und bineinzufinden, fie jtanden ihm nicht vor
Augen und darum Fonnte er fie auch nicht daritellen, fie gerierhen
ihm theatrafifch und unnatürlich. Aber in feiner Zeit, da it er
zu Haufe wie fein Anderer. Wie prächtig find feine Bilder des
alten Frig, wie tief haben fie fi dem Lotfe eingep, ia
Altes, auc das Heinfte in feiner Umgebung und jtellte © dar,
diefer Meifter des Genres. Kein Bud, feine Schilderung, feine
gleichzeitige Veichreibung vermag uns das Leben jener Tage jo
anfcaufih vor Augen zu ftellen wie feine Zeichnungen und
Nadirungen, die uns wie mit einem Jauberichlage mitten hinein:
verfegen in eine längjt untergegangene Welt. In feinen Werfen
febt das Zeitalter der Aufklärung unvergänglich fort und wer «5
wahrhaft fennen und verjichen fernen will, der muß fich in fie
vertiefen. Durd) feinen Realismus aber hat Chodowiedi nicht
wenig dazu beigetragen, die neue wahre Kunjt heraufzufürhren.
Die vorftehenden Furz zufammengedrängten Andeutungen
folten nur den Zwed haben, den Lejern eine Vorftellung von
dem reichen Inhakte des Oettingen’ihen Buches zu geben und fie
dazu anreigen es jelbft zu lejen. Wie bedeutend der Gehalt
eines Wertes aber aud) fein mag, jeine eigentliche Wirfung hängt
doch wejentlich von der Form ab, in welder er geboten wird.
Im diefer Beziehung nun müflen wir MW. von Oettingen's Buche
436 Litteräriihe Streiflicter.
die Höchjte Anerkennung zollen. Die Darjtellung des Verfaniers
it jo durdfichtig, anmuthig und lebendig, wie fie nur ein
fünftleriiher Sinn zu geitaften vermag; man bat die Empfindung,
da ein Hauch vom Geift des alten Meijters auf ihr rubt. Die
Gruppirung des Stoffes iit böchit zwedmäfiig und überfichtlicd),
der Gang der Erzählung trefflich dieponirt, gleihmäig dahin
fchreitend, die Nubepunfte und Abjchnitte wohlüberlegt. Durd-
zogen ift die ganze Darftellung von geiftreichen Gedanken, fcharf:
finnigen Beobachtungen und feinen Bemerkungen fünftleriicher,
pinchologiicher und Funjtphilofopbiicher Art; fie verleihen ihr einen
bejonderen, anziehenden Neiz. Auch der Stil ijt vortrefflid, er
bält fi ganz frei von Phrafen und Nedeblumen, ift leicht und
einfad, auf's feinfte durdhgefeilt, furz ein folder, der von wahrhaft
durchgebildetenm Geihmad zeugt. Dazu fommmt nun eine Sprade,
die wir nicht anders alo ect goetbiich bezeichnen Fönnen, ein
böheres Lob giebt cs in unieren Augen nicht; fie it das Nejultat
einer tiefen Vertrautbeit mit den Werfen des großen Meijters.
Auch in der Verwendung des deuticen Wortichages zeigt W. von
Tettingen das feinfte Spradigefühl; nur ganz ausnahmaweiie
begegnet man bei ihm einer der Mihbildungen des modernen
Zeitungsdeutich, wie dem aus Ceiterreich importirten „Gepflogenbeit”.
Nadı dem Gejagten wird man e5 verftändfich finden, wenn wir
erflären, da die Yeftüre des Dettingen’ichen Ynches rein formell,
aud, abgeichen vom Inhalt, uns einen wahren äfthetiichen Genuß
gewährt hat. Es ift uns eine Freude zu fonjtatiren, da5 neben
dem vielen Schlehten und zabllofen Mittelmähigen, womit der
Bücjermarft jahraus, jahrein überfchwemmt wird, dod) aud) nad)
foldhe Bücjer eridjeinen, wie das vorliegende; wir geitehen offen,
dab uns feit Karl Jujtis Werfen über Windelmann und Velasquez
fein Bud) auf dem Gebiete der Kunfigeihichte begegnet ift, das
uns nad) Form und Inhalt jo befriedigt und erfreut hat, wie
MW. von Tettingen's Biographie Chodowicdi's.
Doc) e3 gehört nun einmal zu den Pflichten und Gewohnheiten
eines Kritifers auch an den beiten Produkten diefe und jene Aus
ftellung zu maden und Vlängel hervorzuheben. So wollen wir
denn aud) einige Defiderien und Wünfde nicht unterdrüden.
Zunächit hätten wir es gern geiehen, wenn der Verfailer nad)
Litterärifche Streiflichter. 437
häufiger Neußerungen Chodowiedi's aus feinen Briefen in die
Tarfiellung verwebt, überhaupt noch mehr individuelle Züge ein-
geflocdhten hätte, von denen jegt mande in den Anmerkungen
verftecft find. Dadurch würde namentlid) der biographiihe Theil
noch größere Anichaulichkeit und Lebendigkeit erhalten haben.
Sodann in Dettingen’s Buche eine eingehende
Charatte jen Stellung Chodowiedi's; der hödjt
intereffante Brief des Künitlers an Nikolai, den wir in den
Anmerkungen lejen, bietet dazu allein jdon bedeutiames Material
uud co lohnte wohl feitzutellen, ob in Chodowicdi's religiöfen
Anjhmmungen während jeiner jpäteren Lebenszeit eine Aenderung
eingetreten ift. Weiter bedauern wir &6, dah MW. von Dettingen
nicht aud über Chodowiedi's zweite Neife nad) Dresden 1789
ums einen eingehenderen Bericht gegeben hat, wenn er ihr aud)
nicht eine jo ausführliche und prächtige Schilderung zu Theil
werden laiten fonnte und wollte wie der Neife nad) Danzig.
Ferner müjlen wir an die Auswahl der im Bud) mitgetheiften
Bilder einige Bemerfungen fnüpfen. Mande von ihnen Fönnte
man ohme Schaden milien und jähe fie gern durch andere, die
jegt fehlen, eriegt. So bedauern wir jehmerzlich, dah feine ber
Iluftrationen zu Dippel’s Lebensläufen fi) Hier findet; wenn fie
auch der Bearbeitung des Buches von A. v. Tettingen beigegeben
find, jo durften fie doc in unferem Buche nicht gänzlich fehlen.
Auch aus dem Sehaldus Nothanfer hätte man gern noch mehr
Proben gehabt, ebenjo aus dem Göttinger Tafchenfalender.
Andererjeito wäre es von ntereiie, eine oder ein paar der
Nadirungen zu Hermann und Dorothea oder zu Schiller’s Iugend-
dramen hier reprodueirt zu jehen. Auch Chodowiedi’s Sitten:
ihilderungen, etwa die Wallfahrt nach Buchholg oder den
Lebenslauf jähe man jehr gern in unferem Yud) vertreten. Wir
willen freilich nicht, ob ber Verfajfer bei der Aufnahme der
Iluftrationen fi nicht eine beftimmte Beichränfung hat auferlegen
müfjen. Endlid vermifen wir eine, wenn aud nur Furze
Ueberficht der bisherigen Literatur über Chodowiedi; wenn fie
Dettingen jelbit, der aus dem Xollen jchöpfte, aud) bei Seite
lajien fonnte, jo wäre jie für den Leer, der nicht Kunfthiftoriter
von Fad üt, zur Orientirung dod jehr erwünjcht. Tod das
438 Kitteräriihe Streiflichter.
Alles find Kleinigkeiten, die dem Merthe des trefflichen Buches
feine Eintracht thun fönnen. Wir haben uniere Winjde nur
deshalb hier ausgeiproden, weil wir hoffen, der Verfafier werde
fie in der zweilen Auflage feines Buches, die gewiß nicht aus
bfeiben wird, vielleicht nicht unberüfichtigt tafien.
W. von Oettingen’s Bud) über Daniel Chodowiedi ift ein
durch den Neichtbum des darin benußten Materials, bie auf
voller Sachtenntnif beruhende, echt hifteriiche Behandlung, die
Tiefe der Anffaflung und die geiftvolle Darftellung abicht
Werk. CHodowiedi's Stellung in der Entwicelung der deutihen
Kunft Hat der Autor- endgiltig irirt; Cinzelheiten mögen fünftig
berichtigt, Manches ergänzt oder näher beitimmt werden, Ddas-
Gejammtbild des Künjtlers und feines Schaffens, wie Dettingen
65 gezeichnet, wird bleiben. Wenige Künftler der neueren Zeit
erfreuen fid) einer folden Darftellung und Würdigung, wie fie
dent alten Meifter der Mepkunft jept zu Theil geworden it. Wir
mwünfchen e$ mehr, als wir e6 hoffen, daf der Verfaifer uns in
nicht allzu ferner Zeit eine weitere Frucht feiner Studien darbieten
möge; wir willen nur zu gut, weld” andauernde Arbeit und
forgfältine Vorbereitung, welche tiefeindringende, unermühete
Veihäftigung mit dem Gegenftande die unerlälichen Vor:
bedingungen find, um folhe Früchte zu jeitigen. Cine neue
Schrift diejes Autors werden wir jederzeit mit rende begrüßen.
Indem wir von Dettingen’s Bud) Abichieb nehmen, über:
fonmt uns ein Gefühl zugleih der Freude und der Wehmuth:
der Freude, weil 6 ein Sohn unferer Provinzen ift, dem mir
eine foldhe Leiftung verdanken und auf den unfer Land ftolz
zu fein Urfache hat; der Wehmuth, weil e8 wie eine Natur:
nothwendigfeit zu fein fcheint, daf die befähigtiten Söhne bes
baltischen Landes der Geimath den Nücen fehren und einen
größeren Schauplag auffuchen müflen, um bie Talente und Gaben,
die ihnen geworden, zu rechter voller Entfaltung zu bringen.
Herausgeber und Nedattenr: Arnold o. Tideböhl.
Honsoaeno nenaypow. Pıera, 22. Otnöpn 1806 r.
Buchruderei der „Balt. Monatsjchrift", Riga.
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